Ethische Orientierung in der Pflege - Hans-Ulrich Dallmann - E-Book

Ethische Orientierung in der Pflege E-Book

Hans-Ulrich Dallmann

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Beschreibung

Für die professionelle Pflege wird es immer wichtiger, sich nicht nur wissenschaftlich und fachlich, sondern auch ethisch zu orientieren. Entgegen einem weit verbreiteten Verständnis von Ethik, das diese auf normative Fragen verkürzt, stehen das Verständnis zentraler Orientierungsmuster und deren kritische Reflexion im Zentrum. Das Buch diskutiert Fragen der Orientierung in der Pflege in unterschiedlichen Dimensionen des pflegerischen Handelns. Thematisiert werden allgemeine Fragen wie Menschenbild, Gesundheit und Krankheit, Sterben und Tod, aber auch der Umgang mit PatientInnen und BewohnerInnen, Konflikte im Team, die Organisation und Profession sowie pflegerelevante gesundheitspolitische Fragen. Es richtet sich sowohl an Studierende als auch an alle Personen aus der Praxis, die sich für den pflegeethischen Diskurs interessieren.

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Ethische Orientierung in der Pflege

Hans-Ulrich Dallmann ist Professor für Ethik am Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen der Hochschule Ludwigshafen am Rhein.

Andrea Schiff ist Professorin für Pflegewissenschaft am Standort Köln der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen.

Hans-Ulrich Dallmann, Andrea Schiff

Ethische Orientierung in der Pflege

Mabuse-VerlagFrankfurt am Main

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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Lektorat: Anne Büntig-Blietzsch, ErfurtSatz und Gestaltung: ffj Büro für Typografie und Gestaltung, Frankfurt/M. Umschlagabbildung: Christa Geiger, Germering, www.christa-geiger.com

ISBN 978-3-86321-290-2eISBN 9783863213503Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1. Die guten Gründe – Sich in der Pflege orientieren

Orientierung

Orientierung in der Ethik

Ethische Orientierung

Literatur

Kapitel 2. Der gute Mensch – Anthropologische Aspekte für die Ethik der Pflege

Der Mensch – das Tier, das sich zu sich selbst verhält

Subjekt

Personalität und Identität

Leiblichkei

Literatur

Kapitel 3. Gesundheit und Krankheit

Die Verborgenheit der Gesundheit – und die Aufdringlichkeit der Krankheit

Ethik des Heilens

Ethik der Prävention

Ethik der Optimierung

Gesundheit als ein Gut

Literatur

Kapitel 4. Das gute Leben und Sterben

Wann ist der Mensch tot?

Umgang mit dem menschlichen Leichnam

Pflege am Lebensende

Hospize und Palliativstationen

Intensivstationen

Patientenverfügung

Literatur

Kapitel 5. Die guten Pflegenden

Motive und Motivationen – Weiblichkeitsideal und Nächstenliebe

Nächstenliebe

Care und Caring

Individuelles Gut-Sein – Tugenden und Kompetenzen

Literatur

Kapitel 6. Die gute Patientin, Bewohnerin

Pflegebedürftigkeit

Patientenautonomie

Compliance und Eigensinn

Eigenverantwortung

Kategorisierungen, Typisierungen und Vorurteile

Einfache Mittel gegen Missachtung

Literatur

Kapitel 7. Das gute pflegerische Handeln

Pflegen als zweckrationales Handeln

Pflegen als kommunikatives Handeln

Paternalistische Interventionen

Verantwortung

Literatur

Kapitel 8. Das gute Team

Multiprofessionelle Teams und das Verhältnis zum ärztlichen Personal

Zwischen Loyalität und Komplizenschaft

Umgang mit Erwartungen

Literatur

Kapitel 9. Die gute Einrichtung

Räumliche und zeitliche Kontrolle und Macht

Die Organisation Krankenhaus

Qualitätsmanagement

Die klassische Organisation und ihre Probleme

Ethische Konflikte durch Asymmetrie und Macht

Literatur

Kapitel 10. Die gute Profession

Was Professionen auszeichnet

Pflege und Medizin

Akademisierung der Pflege

Selbstregulierung durch Kammern, Berufsverbände und Berufskodizes

Zielbestimmungen der Pflege

Professionelle Haltungen

Literatur

Kapitel 11. Die gute Pflegewissenschaft und -forschung

Erkenntnis und Interesse

Forschungsethik

Gütekriterien der Forschung

Literatur

Kapitel 12. Die „gute Policey“

Entstehung der Gesundheitspolitik

Orientierung an der Ökonomie

Das gesellschaftliche Gut Gesundheitsversorgung

Ziele der Gesundheitsversorgung

Rationalisierung, Rationierung und Priorisierung

Orientierung am Einzelfall

Inklusion/Exklusion und Teilhabe

Literatur

Kapitel 13. Die gute Urteilsbildung

Gründe und Kontexte

Urteilskraft – und ihre Grenzen

Schemata der Urteilsfindung?

Ethikkomitees und Ethikkommissionen

Literatur

Einleitung

Ethische Orientierung ist eine Notwendigkeit für eine Profession, die sich hohen fachlichen Standards verpflichtet weiß. Eine Profession muss nicht von anderen orientiert werden, sie will, kann und muss sich selbst orientieren. Diese Orientierung will dieses Buch anregen, es kann und will sie nicht ersetzen. Pflege vollzieht sich in unterschiedlichen Kontexten und Bezügen, die jeweils ihre eigenen Orientierungsfragen haben, zu deren Beantwortung die ethische Reflexion beitragen kann. Solche Fragen zu thematisieren, ist das Ziel dieses Buches.

Ethische Fragen stehen in einer langen Tradition, das gilt auch für die Pflege. Damit stellt sich die Aufgabe, in dieser Geschichte eine Position zu finden. Dem dient die Erörterung eher allgemeiner Themen in den ersten fünf Kapiteln. Wer Interesse hat, sich weitergehend mit diesen allgemeinen Themen zu beschäftigen, findet am Ende der jeweiligen Kapitel unseres Erachtens hilfreiche Literaturhinweise. Im Einzelnen behandeln die Kapitel des Buches folgende Inhalte: Unser Verständnis von Pflegeethik entfalten wir zu Beginn (Kapitel 1), dem folgt eine Verständigung über für die Pflege relevante Menschenbilder (Kapitel 2), eine Klärung des Verständnisses von Gesundheit und Krankheit (Kapitel 3) sowie von Fragen von Tod und Sterben (Kapitel 4). Im Anschluss daran werden wir, ausgehend von den pflegenden Personen (Kapitel 5) in immer weiteren Kreisen bis hin zur Politik die Themen ansprechen, die ethische Relevanz für die Pflege besitzen und daher der Reflexion bedürfen.

Ethik fragt nach den Möglichkeiten und den Kriterien einer gelingenden Praxis. Es geht ihr darum, was eine solche Praxis gut macht. Dies bezieht sich auf Patientinnen und Bewohner (Kapitel 6) ebenso wie auf pflegerische Handlungen, die zwischen Pflegenden und zu Pflegenden vermitteln (Kapitel 7). Professionelle Pflege vollzieht sich in unserer Gesellschaft in Organisationen, daher ist es notwendig, ebenso ein Auge auf das arbeitende Team (Kapitel 8) zu richten wie auf die Einrichtungen (Kapitel 9), in denen Pflege angesiedelt ist. Den weiteren Rahmen bilden Profession (Kapitel 10), Pflegewissenschaft (Kapitel 11) und (Gesundheits-)Politik (Kapitel 12). Anmerkungen zur ethischen Urteilsbildung schließen die Darstellung ab.

Wir haben uns bemüht, die manchmal komplizierten Zusammenhänge auch für Leserinnen und Leser verständlich darzustellen, die keine Vorkenntnisse im Bereich von Philosophie und Ethik besitzen. Studierende der Pflege sind ebenso angesprochen wie Pflegende, die sich für ethische Fragen interessieren. Wir haben weitgehend auf Fußnoten und andere Literaturbelege verzichtet. Wo wir uns direkt auf andere Literatur beziehen, haben wir darauf im Text verwiesen; weiterführende Literatur wird jeweils am Ende der Kapitel aufgeführt. Wir haben uns entschieden, die geschlechtlichen Personenbezeichnungen zu variieren, das jeweils andere Geschlecht ist in der Regel mitgemeint.

Natürlich fällt die Idee, ein solches Buch zu schreiben nicht vom Himmel. Zum einen sind die Verfasserin (Pflegewissenschaftlerin) und der Verfasser (Ethiker) in der Lehre an ihren Hochschulen mit Fragen der Ethik in der Pflege konfrontiert. In nicht geringem Maß ist dieses Buch im Zusammenhang der Lehre entstanden. Zum anderen nimmt es konzeptionell Anleihen an einem Buch auf, das der Autor mit einem Kollegen verfasst hat: Hans-Ulrich Dallmann, Fritz Rüdiger Volz – Ethik in der Sozialen Arbeit, Schwalbach im Taunus (Wochenschau Verlag) 2013. Manche Passagen sind an diesen Text angelehnt, andere greifen Ideen auf, die die Autorin und der Autor an anderer Stelle veröffentlicht haben und wieder andere sind komplett neu verfasst.

Frankfurt, im Mai 2016

Andrea Schiff     Hans-Ulrich Dallmann

Kapitel 1. Die guten Gründe – Sich in der Pflege orientieren

Zwei Patientinnen haben die Klingel gedrückt. Zu welcher Patientin soll ich zuerst gehen, zu Frau Schreiber oder zu Frau Wilhelm? Im Alltag gibt es immer wieder Situationen, in denen ich mich für eine Alternative entscheiden muss. Meistens sind die Situationen unproblematisch, ja trivial. In der Kantine: Nudeln oder Reis? Fernsehen oder ein Buch lesen? Zuerst zu Frau Schreiber oder zu Frau Wilhelm? Meistens fällt die Entscheidung leicht. Ich weiß, was ich – zumindest im Moment – will, oder ich entscheide mich spontan für das eine oder gegen das andere. Manchmal ist es aber nicht klar, was für mich und in dieser Situation die richtige Entscheidung ist. Dann stehe ich vor der Herausforderung, mich orientieren zu müssen. Sich orientieren bedeutet, den eigenen Standpunkt zu bestimmen, ein Ziel zu finden, Alternativen abzuwägen, Rat einzuholen, Prioritäten zu setzen.

Das pflegerische Handeln braucht – wie jedes Handeln – Orientierung. Orientierung zunächst in dem einfachen Sinn, dass ich mich in einer Situation zurechtfinden muss, um über den weiteren Weg entscheiden zu können. Und wie in jedem Handeln hat auch im pflegerischen Handeln die Orientierung verschiedene Perspektiven. Zunächst und selbstverständlich die fachliche und professionelle Perspektive. Pflege ist in erster Linie keine ethische oder moralische Profession, sondern sie ist bestimmt durch ihre eigenen Regeln der Fachlichkeit. Daneben gibt es eine rechtliche Perspektive, eine der Organisation, der Politik und eine der Gesellschaft – und eben auch eine ethische Perspektive. Die ethische Perspektive gewinnt vor allem in zwei Konstellationen ihre Bedeutung: Zum einen, wenn mir andere Perspektiven in einer konkreten Situation keine Orientierung bieten, zum anderen, wenn die anderen Perspektiven selbst fraglich werden. Es kommen im pflegerischen Alltag immer wieder Situationen vor, in denen ich von fachlichen Standards abweiche, weil für die Patientin – zumindest im Moment – andere Belange von Bedeutung sind. Und es gibt Tätigkeiten, die Pflegekräfte wegen ihrer Überzeugungen nicht übernehmen wollen, obwohl sie etwa rechtlichen oder fachlichen Standards entsprechen. Das am meisten diskutierte Beispiel hierfür ist die Beteiligung an einem Schwangerschaftsabbruch.

Orientierung

Bevor wir die Besonderheiten ethischer Orientierung erörtern, sollen kurz Besonderheiten der Orientierung im Allgemeinen erläutert werden. Denn das Bild der Orientierung liefert eine Reihe von Hinweisen, die für die spätere Entfaltung ethischer Perspektiven hilfreich sind.

Dabei ist erstens auffällig: Die Frage der Orientierung entsteht für mich erst dann, wenn ich mir des Weges nicht mehr sicher bin. Solange ich das Gefühl habe, zu wissen, woher ich komme und wohin ich gehe, suche ich nicht nach Orientierung. Allgemeiner gesagt: Das Bedürfnis nach Orientierung entsteht in einer als krisenhaft erlebten Situation. Krise verstehen wir hier ganz allgemein als eine Situation, in der unterschiedliche Optionen bestehen, wie ich weitergehen kann. Krisen sind Entscheidungssituationen, in denen abhängig von der eigenen Entscheidung der weitere Weg in unterschiedliche Richtungen gehen wird. Krisen setzen – um im Bild zu bleiben – mindestens eine Weggabelung oder eine Kreuzung voraus, von der mehrere Wege abzweigen. Im Normalfall bin ich oder fühle mich zumindest orientiert – und erst, wenn ich eine Entscheidung über den weiteren Weg treffen muss, stehe ich vor der Aufgabe, mich zu orientieren.

Die zweite Beobachtung innerhalb dieses Bildes: Für die Frage, wie ich mich orientieren soll, ist es weniger wichtig, woher ich komme, wichtiger ist, wohin ich will. Orientieren kann ich mich nur, wenn ich ein Ziel habe. Allgemeiner gesagt: Orientierungsfragen setzen Zielbestimmungen voraus. Diese erfordern eine besondere Art von Überlegungen. Und je nach der Antwort, die ich mir gebe, kann es sogar sein, dass ich zurückgehen muss, weil das Ziel in einer anderen Richtung liegt, als die, in die ich bisher gegangen bin. Nun ist deswegen die Herkunft nicht belanglos für die Frage, wie ich mich orientieren soll. Wo ich herkomme, ist insofern wichtig, als ich abschätzen kann, welche Strecke ich bereits zurückgelegt habe – und wie viel in der Folge noch vor mir liegt. Die zurückgelegte Wegstrecke kann mir z. B. Aufschluss über noch benötigte Ressourcen geben. Aber der Blick zurück sagt mir nicht, wie es weitergehen kann. Das Leben wird zwar rückwärts verstanden, aber vorwärts gelebt.

Eine dritte Beobachtung: Die Situation verschärft sich, wenn ich nicht allein, sondern mit anderen unterwegs bin. Jede, die auf einer gemeinsamenWanderung unterwegs war, kennt Episoden, in denen über den richtigen Weg diskutiert, oft sogar gestritten wurde. Da gibt es die eine, die glaubt zu wissen, wo es langgeht und den anderen, der das ganz anders sieht. Mehrheitsentscheidungen sind dann auch nicht unproblematisch. Es stellt sich vielmehr die Frage, wem oder was man traut: der eigenen Überzeugung, der Autorität von Führungspersönlichkeiten oder der Schwarmintelligenz (wobei es natürlich auch so etwas wie eine Schwarmdummheit gibt). Auch der Blick auf die Wanderkarte verspricht nicht unbedingt eine Klärung, weil verschiedene Interpretationen der Karte miteinander konkurrieren (können).

Damit ist die vierte Beobachtung angesprochen. Um mich orientieren zu können, muss ich meine aktuelle Position kennen. Wenn ich nicht weiß, wo ich bin, ist die Wahl des weiteren Weges beliebig. Diese Position ist mehrfach bestimmt. Natürlich zunächst durch den physischen Ort, aber auch durch die Zeit (Wann wird es dunkel und sollte ich nicht besser nach einem möglichen Quartier oder zumindest einem Unterschlupf Ausschau halten?). Allgemein formuliert: Die Position ist durch ihren Kontext bestimmt – durch verfügbare Ressourcen, durch den Abstand zu anderen Positionen, durch meine Reserven und Vorräte, durch meine Kraft und Zuversicht, mein Ziel erreichen zu können.

Mehrfach angesprochen sind fünftens die Orientierungsmittel. Orientierung hatte ursprünglich die Bedeutung, sich am Sonnenstand auszurichten, nämlich den Osten (Orient) zu bestimmen. Später benutzte man einen Kompass dazu. Damit können heute wahrscheinlich nur noch die wenigsten etwas anfangen. Stattdessen treten Google Maps oder die Karten-App für iOS an die Stelle von Kompass und topografischer Karte. Allerdings helfen auch die nicht weiter, wenn ich kein Netz habe oder die Batterie leer ist – und mitten in der Landschaft gibt es selten Steckdosen für das Ladegerät. Anders gesagt: Es gibt Situationen, in denen die Kenntnis traditioneller Orientierungsmittel hilfreich sein kann. Aber die Handhabung solcher Mittel will erlernt sein. Wenn ich nicht weiß, was man damit wie anfangen kann, helfen mir Karte und Kompass nichts. Ich muss eine Karte lesen und sie mithilfe des Kompasses einnorden können. Das setzt allerdings auch eine gewisse Erfahrung und Vertrautheit mit diesen Orientierungsmitteln voraus. Aber selbst bei den modernen Navigationssystemen ist deren Qualität vom hinterlegten Kartenmaterial abhängig. Ich muss darauf vertrauen können, wenn ich mich von diesen Systemen wirklich orientieren lassen will. Und eines nimmt mir kein Navigationssystem ab: die Eingabe des Ziels.

Und der letzte Punkt: Irgendwann muss ich eine Entscheidung treffen. Und ich werde mich eher unwohl fühlen, wenn ich einfach rate, welchen Weg ich weiter nehmen will. Mir geht es in einer solchen Situation deutlich besser, wenn ich gute Gründe für meine Entscheidung habe. Das trifft wahrscheinlich auch dann zu, wenn sich herausstellen sollte, dass ich mich geirrt habe. Einen Irrtum kann ich mir selber zurechnen; wenn es gut geht, kann ich aus ihm etwas lernen, auf jeden Fall kann ich ihn korrigieren. Das funktioniert mit dem blanken Zufall nicht. Und nur, wenn ich Gründe für eine Entscheidung habe, kann ich selbstbestimmt eine Entscheidung treffen. Ich kann sie mir zu eigen machen. Zufälle bleiben mir immer in einer gewissen Weise fremd und äußerlich. Autonomie ist Selbstbestimmung und nicht reine Willkür, genauer gesagt: Sie ist Selbstbestimmung aus Gründen.

Mit der Angabe von Gründen antworten wir gewöhnlich auf Warum-Fragen. Zum Glück müssen wir solche Fragen nicht dauernd beantworten (es sei denn, wir haben kleine Kinder). Warum-Fragen werden uns gestellt, wenn andere unser Verhalten nicht verstehen. Mit der Antwort auf solche Fragen machen wir unser Handeln anderen gegenüber verständlich. Zuweilen stellen wir uns selbst solche Warum-Fragen; meistens dann, wenn wir uns nicht sicher sind, ob wir richtig gehandelt haben, oder wenn wir über Alternativen zu entscheiden haben. Die Antworten auf diese Fragen haben (neben anderen) eine funktionale und eine evaluative Komponente („Ich bin zuerst zu Frau Schreiber gegangen, weil sie Schmerzen hat.“). Die evaluative, also bewertende, Komponente dieser Antwort besteht in meiner aktuellen Überzeugung, dass die Schmerzen von Frau Schreiber es vordringlich machen, zu ihr zu gehen, weil die Behandlung der Schmerzen wichtiger ist als von anderen geäußerte Wünsche (etwa das Essenstablett wegzuräumen). Die Ethik der Pflege hat mit Orientierungsfragen und den Gründen für unser Handeln zu tun. Deshalb muss zunächst die Frage geklärt werden, welche Gestalt solche Gründe haben und wie die Sprache aussieht, die explizit moralische oder ethische Gründe ausdrückt.

Orientierung in der Ethik

Die ethische Orientierung umfasst verschiedene Dimensionen, die sich hinsichtlich ihres Bezugs und ihrer Reichweite unterscheiden. Diese Dimensionen überlagern sich in der Regel. Trotzdem ist es sinnvoll, sie zu unterscheiden, weil mit ihnen jeweils unterschiedliche leitende Fragen und darauf bezogen unterschiedliche Antworttypen verbunden sind. Wir stellen diese Dimensionen in der folgenden Tabelle dar und erläutern sie ausführlicher.

Zunächst ist in der Tabelle zu sehen, dass es eine auf einzelne Handlungen bezogene und eine stärker auf die Lebensführung sowie die Verfassung des oder der Handelnden bezogene Dimension gibt. Die eine bezieht sich auf das Gut-Sein von Personen oder sozialen Zusammenhängen, in die die Personen eingebettet sind, die andere auf das Gut-Sein von Handlungen, sei es nach dem Gut-Sein der Handlungen selbst oder der Regeln, denen diese Handlungen folgen. In der ethischen Tradition lässt sich diese Unterscheidung festmachen an Strebens- und Tugendethiken auf der einen und Sollensethiken auf der anderen Seite. Womit natürlich nicht gesagt ist, dass in Tugendethiken die Handlungen der tugendhaften Menschen schlicht belanglos oder dass in Sollensethiken die Verfassung der handelnden Personen unwichtig wären. Theorien des Ethos wiederum fragen nach den (alltäglichen) Orientierungen, die in einer Gruppe oder einer Kultur immer schon vorausgesetzt sind.

Für die erste Dimension wird meist der Begriff Moral gebraucht. Er stammt vom lateinischen mos (Gewohnheit, Sitte, Brauch, aber auch Gesetz, Vorschrift) ab und wurde von Cicero als Übersetzung des griechischen Begriffs Ethik eingeführt. Hier geht es darum, was sich schickt, also um das, was üblicherweise erwartet wird. In der philosophischen Diskussion wird spätestens seit der Aufklärung der Begriff der Moral auf das bezogen, was sich Menschen prinzipiell, also unabhängig von Sitten und Gebräuchen, gegenseitig als Menschen schulden. Moralische Fragen treten spätestens dann auf, wenn Handlungen die grundlegenden Interessen anderer berühren. Moral setzt einen Perspektivenwechsel voraus, bei dem die Beteiligten die Position des anderen immer mitberücksichtigen müssen. Es geht um Regelungen normativer Art, denen prinzipiell alle zustimmen können müssen. Die strikte Verallgemeinerung ist das Kennzeichen moralischer Diskurse. Verkörpert wird dies im „Kategorischen Imperativ“ Immanuel Kants, demzufolge die Handlung entsprechend einer Maxime (eines grundsätzlichen Prinzips) nur dann moralisch ist, wenn alle wollen können, dass alle in vergleichbaren Situationen dieser folgen. In den Worten Kants: „Dass wir wollen können, dass diese Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werden kann.“

Weil es um grundlegende Normen und Prinzipen geht, haben moralische Fragen eine gewisse Nähe zum Recht. Moralische Orientierungen sind der Pflege nicht fremd. Oft sind sie in rechtlichen Normen kodifiziert, wie z. B. im Verbot, Personen gegen ihren Willen über mehr als 24 Stunden ohne richterlichen Beschluss zu fixieren. Grundsätzlich gilt für alle Pflegehandlungen, dass sie nicht gegen den Willen der zu Pflegenden durchgeführt werden dürfen. Ausnahmen von diesem Grundsatz müssen gut begründet werden (wir kommen darauf ausführlicher in Kapitel 7 zurück) und sind oft nur – wie im genannten Beispiel – nach einem richterlichen Beschluss erlaubt. Ebenso sind in der Pflege leitende Prinzipien bekannt. In den meisten Pflegeethiken findet sich der Bezug auf die Prinzipien der biomedizinischen Ethik, die von Tom Beauchamp und James Childress als Autonomie, Benefizienz und Nonmalefizienz sowie Gerechtigkeit formuliert wurden. Autonomie meint hier die Ausrichtung an der Selbstbestimmung der zu Pflegenden, Benefizienz die Ausrichtung am Wohl dieser Personen, Nonmalefizienz die Verpflichtung, ihnen nicht zu schaden und Gerechtigkeit das Absehen von äußeren Merkmalen und die Gleichbehandlung aller.

Für die zweite Dimension wird zumeist der Begriff Ethik gebraucht. Der Begriff geht auf den griechischen Philosophen Aristoteles zurück. Er spricht von ta ethika, der Sittenlehre. Das Wort bedeutet dabei zunächst Gewohnheit, Sitte oder Brauch. Aristoteles geht es um die Erörterung der Frage, welche Güter erstrebenswert sind, um ein „glückseliges Leben“ in der Gemeinschaft zu führen. Der Fokus liegt auf der gelungenen Lebensführung des Bürgers (Aristoteles schloss Frauen und Unfreie in diesen Fragen aus) in seiner Bürgerschaft (polis). In den heutigen Sprachgebrauch überführt geht es um die Frage, welches Leben man führen will und welche Person man ist und sein möchte. Solche ernsten Fragen stellen sich an Wendepunkten im eigenen Leben, wenn die Berufswahl oder die Familienplanung im Zentrum stehen. Solche Probleme sind immer auch Identitätsprobleme. Fragen des guten Lebens stellen sich für einzelne Personen oder Gruppen. Sie können fragen: Wie soll ich oder wie sollen wir gut leben? Welcher Mensch will ich sein? Die Identität einer Person ist allerdings in lebensweltlichen Zusammenhängen verankert. Zwar führt jeder sein Leben selbst, ist dabei jedoch nicht allein. Die Lebensführung ist geprägt durch soziale Beziehungen, durch gemeinsame Geschichte und Erfahrungen, Erfolge und Niederlagen. Antworten auf Fragen der individuellen und kollektiven Lebensführung geben Ziele an, die erreicht werden sollen, und Vorstellungen, die meine oder unsere Identität bestimmen. Es geht um Güter (etwa Gesundheit, Wohlstand oder das Eingebundensein in soziale Beziehungen) oder um Werte (wie etwa Teilhabe, Freiheit oder Authentizität).

Das Vokabular der Güter und Werte lässt sich nur schwer trennscharf unterscheiden. Gemeinsam ist den Begriffen, dass sie Ziele formulieren, die in sich wertvoll und bedeutsam sind. Güter und Werte werden um ihrer selbst willen geschätzt – und nicht deshalb, weil sie noch für etwas Anderes wichtigsind. Und wie seinerzeit bei Aristoteles verbindet sich die Frage nach den Zielen mit der, wie ich selbst sein sollte, um diese Ziele auch erreichen zu können. Klassischerweise spricht man von den Tugenden einer Person, die deren Charakter bestimmen und damit die Lebensführung prägen (wir kommen in Kapitel 5 ausführlicher darauf zurück). Charakteristisch an solchen Zielformulierungen ist, dass sie nicht auf die gleiche Weise verallgemeinert werden können wie Normen und Prinzipien. Ich kann meine Werte schlecht anderen Personen verbindlich vorschreiben (auch wenn ich das manchmal möchte). Zwar fallen Werte nicht vom Himmel, ich finde sie schon in den Gemeinschaften vor, in die ich sozialisiert und kulturalisiert worden bin. Mit dem Vorgefundenen kann ich mich aber – und in der Regel werde ich das auch von Fall zu Fall tun – kritisch auseinandersetzen. Werte wandeln sich, sowohl meine eigenen als auch die von Gruppen, Gesellschaften und Kulturen. Sie sind aber nicht schlicht beliebig, sondern geben mir einen Rahmen vor, in dem sich die Auseinandersetzung um die richtigen Ziele der Lebensführung, um das gemeinsame Selbstverständnis und gegebenenfalls auch um die Berufsausübung vollzieht.

Selbstverständigungsfragen spielen auch in der Pflege eine wichtige Rolle. Während in den Anfängen der Pflege als Beruf Werte wie Nächstenliebe und Weiblichkeitsideale eine zentrale Rolle spielten, drehen sich aktuell die Debatten um Begriffe wie Autonomie, Professionalität und Caring. Die alte Frage nach den pflegerischen Tugenden hat sich transformiert in die nach pflegerischen Kompetenzen. Ein Blick in einschlägige Stellenanzeigen verschafft eine gute Übersicht, was erwartet wird – und was Pflegende oft von sich selbst erwarten: Teamfähigkeit, Selbstständigkeit, Empathie, Flexibilität, Engagement. Zumindest ethiknahe Themen werden auch in Pflegetheorien erörtert, wenn es um die Zielbestimmung der Pflege geht: etwa die Wiedererlangung der autonomen Lebensführung bei bestehenden Selbstpflegedefiziten bei Dorothea E. Orem. Auch auf diese Thematiken werden wir später (in Kapitel 5 und 10) ausführlicher eingehen.

Für die dritte Dimension wird meist der Begriff Ethos gebraucht. Dieser Begriff findet sich gegenwärtig vor allem im Zusammenhang mit einem Berufs- oder Standesethos. Ethos bezeichnet das, was üblicherweise in Geltung ist, Üblichkeiten und Selbstverständlichkeiten, angefangen von Formen des Grüßens, über die Tischsitten, bis hin zu gesellschaftlichenHierarchien. Unser Alltag ist ganz wesentlich von solchen Üblichkeiten und Routinen geprägt. In ihnen müssen wir uns nicht orientieren, wir sind schon in ihnen orientiert. Meistens bleiben diese Alltagsorientierungen implizit. Zum Thema werden sie aber, wenn wir unseren gewohnten Bezugsrahmen verlassen. Das ist an kulturellen Gepflogenheiten zu spüren: Wenn wir in London in einen Pub gehen und darauf warten, dass eine freundliche Bedienung uns ein Getränk bringt, werden wir durstig nach Hause gehen. Aber auch der Wechsel auf eine andere Station in einem Krankenhaus oder in eine andere Einrichtung konfrontiert uns mit ungewohnten Abläufen und Gepflogenheiten: Wie grüßt man sich? Wer räumt die Kaffeetassen weg? Wie ist das Verhältnis zu anderen Berufsgruppen, insbesondere zu den Ärztinnen? Welchen Kommunikationsstil pflegt man mit Patienten? Das verweist darauf, dass menschliches Handeln immer schon an dem orientiert ist, was in Gruppen oder Gesellschaften üblicherweise erwartet wird. Wir finden Orientierungen vor, die eine gewisse Verlässlichkeit des Verhaltens garantieren, und gehen von einem – oft implizit bleibenden – Wissen aus, welches das alltägliche Handeln voraussetzen muss. In der ethischen Tradition ist dieses alltägliche Ethos nur selten thematisiert worden. Eigentlich unverständlich, wenn man sich klarmacht, welch große Rolle es in der täglichen Lebensführung spielt.

Der Begriff Ethik taucht in der oben stehenden Tabelle „Dimensionen ethischer Orientierung“ zweimal auf: zum einen zur Bezeichnung der zweiten Dimension, zum anderen in der oberen Zeile, wo Ethik als Reflexionstheorie bezeichnet wird. Das hängt damit zusammen, dass Aristoteles, auf den diese Begriffsbildung zurückgeht, es als Ziel der Ethik verstand, die Grundfragen eines guten, gerechten und vernünftigen Lebens methodisch gesichert (also wissenschaftlich) zu beantworten. Diese Grundfragen sollen ohne Berufung auf Autoritäten und Konventionen gültig und einsichtig mit den Mitteln der Vernunft geklärt werden. In diesem Sinn bezeichnet Ethik also nicht nur eine spezifische Dimension, sondern auch die methodisch geleitete Reflexion.

Der Soziologe Niklas Luhmann analysiert die Ethik als eine solche Reflexionstheorie. Sie bezieht sich auf die tatsächliche moralische Kommunikation. Dabei taucht die Frage auf, warum eine bestimmte Handlung – und damit eine konkrete Person – als gut oder als schlecht zu bezeichnen ist. DieEthik entwickelt in diesem Zusammenhang Programme (Theorien), die es erlauben, begründet entsprechende Urteile zu treffen und sich an ihnen zu orientieren. Solche Programme gibt es allerdings – auch in der Ethik der Pflege – viele, die zum Teil miteinander konkurrieren. Doch die Vielzahl ethischer Theorien entbindet niemanden von der Notwendigkeit, eine begründete Antwort zu geben, wenn er oder sie im Blick auf das Handeln gefragt wird: Warum hast du das getan?

Ethische Orientierung

Eine Ethik in diesem Sinne trägt zur Orientierung dadurch bei, dass sie versucht, die Prinzipien, Werte, Ethosformen, die unsere Lebensführung leiten, bewusst zu machen und sie besser zu verstehen. Ethik ist so verstanden eine Hermeneutik der Lebensführung. Der Begriff Hermeneutik bezeichnet die Lehre vom Verstehen. Zwar verstehen wir den Sinn von Aussagen immer schon „irgendwie“, wenn wir kompetente Sprecherinnen einer Sprachgemeinschaft sind. Wie es sich nicht nur bei literarischen Texten zeigt, erschöpfen sich Sinn und Bedeutung sprachlicher Äußerungen nicht mit dem so Verstandenen. Insofern will die Hermeneutik zum immer wieder neuen und nach Möglichkeit besseren Verstehen anleiten. Das ist nötig, weil sich das Verstehen immer in einem Zirkel vollzieht. Ich gehe immer mit einem Vorverständnis an sprachliche Äußerungen heran. Dieses kann – und sollte sich – in der Auseinandersetzung mit diesen Äußerungen verändern. Zudem nehmen mit meinen Erlebnissen und Erfahrungen mein Vorwissen und mein Vorverständnis eine andere Gestalt an. Wenn ich ein Buch nach vielen Jahren abermals lese, werde ich es anders verstehen als bei der ersten Lektüre. Deshalb ist das Verstehen ein Prozess, der nie zum Abschluss kommt.

Dieses Verstehen richtet sich auf alle drei Dimensionen der ethischen Orientierung. Es untersucht, was schon in Geltung ist und wie ich mich zu diesem Geltenden in Beziehung setze. Das Verstehen, um das es in der ethischen Orientierung geht, ist also kein Selbstzweck. Es dient dazu, mich besser zu verstehen. Dieses bessere Verstehen wiederum kann mir helfen, das Verhältnis zwischen meinem Denken und meinem Handeln zu klären, wenn es darum geht, mich in einer Situation zu entscheiden. Der Anlass einer solchen Klärung ist meist eine erlebte Dissonanz zwischen der Art und Weise, wie ich lebe, und den Vorstellungen davon, wie ich leben möchte. Die Auflösung dieser Dissonanz kann in zwei Richtungen erfolgen: Entweder kann ich mein Denken ändern oder mein Handeln. Meine Vorstellungen von einem gelingenden Leben können z. B. überzogen oder nicht realitätsgerecht sein. Umgekehrt kann ich beispielsweise erkennen, dass mein Handeln „eigentlich“ nicht zu mir passt. Dann sollte ich etwa meine Berufswahl überprüfen oder das Zusammenleben mit dem Partner anders gestalten. Die Voraussetzung dieser Klärung ist in beiden Fällen das Verstehen.

Die Aufgabe der Ethik erschöpft sich nicht darin, Wertungen und Orientierungen zu beschreiben. Vielmehr ist die Aufgabe der Ethik auch die Kritik der Praxis