Falsche Loyalitäten - Arn Strohmeyer - E-Book

Falsche Loyalitäten E-Book

Arn Strohmeyer

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Beschreibung

Die Erinnerung an den mörderischen Antisemitismus der NS-Zeit, der im Holocaust gipfelte, war in Deutschland schon immer problematisch. Nach 1945 wurde von oben das Dogma verordnet, der Massenmord an Jüdinnen und Juden wäre das Werk einer kleinen Clique gewesen. Diese Lüge verhinderte eine Aufarbeitung der deutschen Täterschaft. Ende der 1960er-Jahre schwenkte die offizielle Politik zu einer neuen Haltung um, die die Erinnerung an die Shoah mit einer Unterstützung des Staates Israel verband. Seither soll Sühne für die deutsche Schuld durch ein besonders enges Verhältnis zum Staat Israel erlangt werden. Über die Tatsache, dass Israel durch ein großes Verbrechen – die Vertreibung der Palästinenser (Nakba) in den Jahren 1947–1949 – zustande kam, sieht man dabei hinweg. Strohmeyer kritisiert die Übernahme des zionistisch geprägten Gedenkens an den Holocaust, mit der die Verfolgung der PalästinenserInnen indirekt legitimiert wird. Das enge Verhältnis zu Israel führte in Deutschland zur Herausbildung einer regelrechten Israel-Ideologie, die bürokratisch von eigenen Antisemitismus-Beauftragten überwacht wird. Leitsatz der Israel-Ideologie ist die These von der Einzigartigkeit des Holocaust. Der australische Historiker A. Dirk Moses kritisierte dies in einem Aufsatz als "Katechismus der Deutschen" und löste damit eine breite Debatte aus. Dazu kommt, dass die Sicherheit Israels zur deutschen "Staatsräson" erklärt wurde. Diese Politik macht einen offenen Diskurs über die Themen Nahost, Israel, Holocaust und Antisemitismus kaum noch möglich. Die Erinnerungspolitik hat sich vor allem durch ihre völlige Identifizierung mit dem zionistischen, nationalistisch-zweckgebundenen Gedenken an den Holocaust in eine Sackgasse manövriert. Um sie nicht scheitern zu lassen, muss sie sich davon befreien und neu aufstellen, damit das Holocaust-Gedenken in eine universalistisch verstandene Globalgeschichte eingeordnet werden kann.

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Arn StrohmeyerFalsche Loyalitäten

© 2022 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

ISBN: 978-3-85371-903-9(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-507-9)

Coverfoto: Shutterstock

Covergestaltung: Gisela Scheubmayr

Der Promedia Verlag im Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I. Die kritische Sicht auf den Holocaust in Israel und im Judentum
1. Die Juden in Mandatspalästina zeigten wenig Interesse am Holocaust
2. Die Zionisten unternahmen kaum etwas zur Rettung der bedrohten Juden
3. Das zionistische Establishment verachtete die Überlebenden
4. Das große Schweigen über den Holocaust endete erst mit dem Eichmann-Prozess
5. Die Zionisierung des Holocaust und seines Gedenkens
6. Die Instrumentalisierung des Holocaust blieb im Judentum nicht unwidersprochen
7. Wie der Zionismus den Konflikt mit den Palästinensern ideologisch umdeutet
8. »Die Notwendigkeit, den Holocaust zu vergessen«
9. Die Israelis und der Holocaust
II. War der Holocaust einzigartig?
1. Absage an Manipulation und Taschenspielertricks
2. Der Holocaust und die jüdische Idee der Auserwähltheit
3. Der Holocaust als »Geschwätz« und »polemische Ware«
4. Vorwürfe gegen das jüdische Establishment
5. Warum der Holocaust zur ausschließlich »jüdischen Tragödie« wurde
III. Wie es zu dem Glauben an die Einzigartigkeit des Holocaust kam
1. Der »zweite Tod« der Überlebenden
2. Elie Wiesel leitete die Wende ein
3. Holocaust-Museen in den USA
IV. Der Katechismus der Deutschen in der Kritik (Glaubenssatz 1)
1. Die deutsche Politik hält trotz massiver Einwände an der Singularitätsthese fest
2. Dirk Moses’ Angriff auf die deutsche Israel-Ideologie
3. War der Genozid an den Hereros und Nama der Vorbote des Holocaust?
4. Warum die These von der Einzigartigkeit so verbissen verteidigt wird
5. Der Fall Mbembe als Beispiel für das Tabu des vergleichenden Denkens über den Holocaust
V. Die Erinnerung an den Holocaust als Fundament der deutschen Nation (Glaubenssatz 2)
VI. Die Loyalität zu Israel oder: dessen Sicherheit als »deutsche Staatsräson« (Glaubenssatz 3)
VII. Ist der Antisemitismus ein spezifisch deutsches Problem und keine Form des Rassismus? (Glaubenssatz 4)
VIII. Ist Antizionismus gleich Antisemitismus? (Glaubenssatz 5)
IX. Warum die deutsche Erinnerungspolitik gescheitert ist
1. Partikulare Holocaust-Erinnerung kontra universalistisches Gedenken
2. Ein neuer McCarthyismus und die Gefährdung der Demokratie
3. BDS: Wenn Palästinenser für Menschenrechte und Selbstbestimmung eintreten, ist das »antisemitisch«
4. Ein neuer Antisemitismus-Begriff nutzt Israels Interessen
Schluss
Anhang
»Die Deutschen verharren immer noch in Erinnerungsverweigerung und Schuldabwehr«. Anmerkungen zu Samuel Salzborns Buch Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoa im deutschen Erinnern
Literatur

Über den Autor

Arn Strohmeyer, geboren 1942 in Berlin, hat Philosophie, Soziologie und Slawistik studiert. Neben seiner journalistischen Tätigkeit beschäftigt er sich seit Jahren mit der kritischen Aufarbeitung der NS-Zeit, dem Nahen Osten sowie Griechenland (speziell Kreta). Strohmeyer lebt und arbeitet als Schriftsteller in Bremen (arnstrohmeyer.de).

Vorwort

Es ist zu wünschen, dass Auschwitz für immer ein schwarzes Loch für den menschlichen Verstand bleibt und zwar nicht, weil es außerhalb der Geschichte stünde, sondern weil wir ethisch darauf beharren, seine Möglichkeit nicht annehmen zu wollen.

Jean-Michel Chaumont (belgischer Historiker und Soziologe)

Die edelste Geste gegenüber jenen, die [im Holocaust] umgekommen sind, besteht darin, ihr Andenken zu bewahren, aus ihren Leiden zu lernen und sie endlich in Frieden ruhen zu lassen.

Norman G. Finkelstein (amerikanischer Politologe)

Das deutsche Erinnern an den Holocaust ist in die Kritik geraten – und das ausgerechnet und vornehmlich von Juden. So spricht etwa der jüdische Publizist Max Czollek verächtlich von »Gedächtnistheater«.1 Eine solche Entwicklung des Diskurses ist eigentlich ein Paradox, der Grund für dieses erstaunliche Phänomen ist aber, dass die deutsche politische Elite das Holocaust-Erinnern in eine Sackgasse manövriert hat, aus der es ganz offensichtlich keinen Ausweg gibt. Das Dilemma lässt sich auch nicht auf die Weise lösen, indem man den Kritikern einfach Antisemitismus vorwirft, weil es sich bei sehr vielen Opponenten um Juden handelt. Die Situation ist also ziemlich verfahren. Man kann auch sagen: Die deutsche Erinnerungspolitik, so wie sie sich heute darstellt – ist gescheitert. Man will und kann es nur nicht zugeben.

Um das deutsche Holocaust-Erinnern ist ein neuer Historiker-Streit entbrannt, dessen Protagonist ein Australier deutscher Herkunft ist: A. Dirk Moses. Er spricht von einem Katechismus, den die deutsche Politik und ihr Erinnern in Bezug auf das Mega-Verbrechen der Nazis entwickelt haben, wobei dieses Gedenken nur im Zusammenhang mit dem sehr engen, ja fast symbiotischen Verhältnis Deutschlands zu Israel zu sehen sei. Dieser Katechismus habe sich durch die politischen Veränderungen der letzten Jahre überholt, sei nicht mehr nützlich, weil er voller Widersprüche wäre und obendrein die demokratischen Freiheiten gefährde. Er solle deshalb abgeschafft werden.

Worin besteht dieser deutsche Katechismus, den Moses in den Diskurs einbringt? Eigentlich gibt es zwei deutsche Katechismen den Holocaust betreffend. Das erste Dogma, das in der Adenauer-Zeit formuliert wurde, besagte: Der Massenmord an den europäischen Juden war das Werk einer kleinen Clique um Adolf Hitler. Er war ein »historisches Unglück«, ein »Ausrutscher« in der ansonsten makellosen deutschen Geschichte. Auf diese Weise wollte man sich selbst, die Masse des Volkes und natürlich auch die Täter, von denen sehr viele im jungen westdeutschen Staat wieder in Amt und Würden waren, entschulden. Außerdem verfolgte man so die Absicht, auch die nationalen Werte wie Ehre und Tradition wiederherzustellen.

Ralph Giordano hat diesen Vorgang mit Recht als die »zweite Schuld« bezeichnet. Dass die Aussagen dieses ersten deutschen Katechismus bewusste Fehlinformationen, ja glatte Lügen waren, haben Historiker sehr bald belegen können: Der Holocaust wurde nicht von wenigen Eingeweihten begangen, sondern es waren Hunderttausende, wenn nicht Millionen Deutsche (Zivilisten wie Angehörige der verschiedenen Militär- und Polizeieinheiten) nötig, um die Infrastruktur und die Durchführung der Vernichtung aufzubauen und zu vollziehen. Es versteht sich von selbst, dass die Verteidiger dieses Katechismus einen »Schlussstrich« unter die NS-Zeit ziehen und sein furchtbares Erbe zu den Akten legen wollten. Aufklärung war also oft gar nicht gewollt und gefragt. Soldaten, die am Vernichtungskrieg in der Sowjetunion und am Holocaust teilgenommen hatten, waren traumatisiert und schwiegen über das Erlebte. In der Bevölkerung kursierte der Mythos, dass die Deutschen eigentlich die Opfer seien – durch die Irreführung der NS-Propaganda, die Bombenangriffe der Alliierten und die Vertreibungen. Zudem wehrte man sich gegen eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auch aus dem Grund, weil man sie als von den Siegern aufgezwungen ansah. Man nannte das »Umerziehung«.

Eine Aufarbeitung der NS-Zeit und besonders des Holocaust begann in Deutschland im Grunde erst mit dem Eichmann-Prozess in Jerusalem und den Auschwitz-Prozessen in den 1960er Jahren in Frankfurt. Auch die Studenten der 68er-Rebellion hatten ihren Anteil an diesem Vorgang. Ihr Protest richtete sich gegen die Vätergeneration, die die Verbrechen begangen hatte. Der zweite Katechismus, der von der politischen Elite ab dem Ende der 1960er Jahre entwickelt wurde und der in seinen Grundzügen bis heute gültig ist, stellt die »Wiedergutmachung« und damit das enge Verhältnis zum 1948 entstandenen Staat Israel in den Mittelpunkt seiner politischen Aussagen. Sie lauten kurzgefasst folgendermaßen: Die drückende Schuld, die die NS-Vergangenheit mit ihren Verbrechen verursacht hat, suchte nach seelischer Entlastung. Man meinte diese erreichen zu können, indem die politische Elite sich nach 1945 umgehend zum Philosemitismus bekannte. Die Sühne für den Holocaust glaubte sie zudem dadurch leisten zu können, indem sie sich vorbehaltlos hinter Israel stellte, den zionistischen Siedlerstaat bedingungslos unterstützte und zu den Verbrechen dieses Unternehmens schwieg. Was bedeutete, dass man ständig die »gemeinsamen Werte« betonte, auf denen das gegenseitige Verhältnis beruhen sollte.

Problematisch an diesem Verhalten war und ist auch, dass die deutsche Politik und der Großteil der deutschen Bevölkerung die zionistische Version der Geschichte Palästinas als historische Wahrheit weitgehend übernommen hat, ohne zu sehen, dass es sich dabei um Mythen handelt, die die Ansprüche und Rechte der Palästinenser abwerten und delegitimieren. Diese Identifizierung mit der israelischen Sicht der Geschichte verhindert, dass Deutschland sich in sinnvoller, das heißt realistischer Weise in den Konflikt einbringen kann.

Die Widersprüche im deutsch-israelischen Verhältnis lagen also von Anfang an offen zu Tage und zwangen zu einer großen gegenseitigen Unaufrichtigkeit, denn mit ihrer bedingungslosen Unterstützung dieses Staates machte sich die deutsche Politik zum Verbündeten, ja zum Komplizen der brutalen und völkerrechtswidrigen Unterdrückung des palästinensischen Volkes, die kolonialistischen Charakter hat. Was auch in diametralem Gegensatz zu der eigentlich aus dem Holocaust folgenden Verpflichtung steht: der Durchsetzung und dem Einhalten der Menschenrechte und des Völkerrechts absoluten Vorrang einzuräumen. Das Dilemma, in das der deutsche Katechismus geführt hat, ist also ganz offensichtlich. Um aber jede Kritik daran abzuwehren, wird die schärfste Waffe eingesetzt, die zur Verfügung steht: der Antisemitismus-Vorwurf.

Dieser Katechismus wird aber zunehmend in Frage gestellt. Der Australier A. Dirk Moses, der den Begriff des Katechismus geprägt hat und damit die deutsche Israel-Ideologie von einer fast religiösen Aura bestimmt sieht, hat die Aussagen des deutschen Holocaust-Dogmas so formuliert:

»Der Holocaust ist einzigartig, da er die uneingeschränkte Vernichtung von Juden um deren Vernichtung willen im Unterschied zu den pragmatischen und begrenzten Zielen, um derentwillen andere Genozide unternommen wurden, [vorsah], hier versuchte ein Staat zum ersten Mal in der Geschichte ein Volk ausschließlich aus ideologischen Gründen auszulöschen.Da er die zwischenmenschliche Solidarität beispiellos zerstörte, bildet die Erinnerung an den Holocaust als Zivilisationsbruch das moralische Fundament der deutschen Nation, oft gar der europäischen Zivilisation.Deutschland trägt für die Juden in Deutschland eine besondere Verantwortung und ist Israel zu besonderer Loyalität verpflichtet: ›Die Sicherheit Israels ist Teil der Staatsräson unseres Landes.‹Der Antisemitismus ist ein Vorurteil und Ideologem sui generis und er war ein spezifisch deutsches Phänomen. Er sollte nicht mit Rassismus verwechselt werden.Antizionismus ist Antisemitismus.«2

Diese fünf Punkte sind einerseits in die Kritik geraten und werden international intensiv diskutiert, auf der anderen Seite werden sie von den Gralshütern der Israel-Ideologie mit Vehemenz und auch sehr unfairen Mitteln verteidigt. Ich schließe mich der Kritik von Dirk Moses an und hinterfrage in dem vorliegenden Text den zweifelhaften Katechismus und kann dabei im Besonderen an jüdische Autoren anknüpfen, die in der Vergangenheit diese Problematik immer wieder angesprochen haben. Ihre Ausführungen belegen, dass die offizielle deutsche Position keinesfalls ohne Alternative und nicht jeder Widerspruch gleich antisemitisch ist.

So hat der deutsch-jüdische Tübinger Philosoph Ernst Tugendhat schon 1991 ein überzeugendes und immer noch gültiges psychologisches Erklärungsmodell für das deutsch-israelische Verhältnis angeboten. Er geht davon aus, dass die Schuldgefühle der Deutschen noch sehr groß und noch keineswegs rational aufgearbeitet sind. Das verschaffe der israelischen Regierung aber die Möglichkeit, »auf diesem irrationalen Schuldgefühl der Deutschen virtuos wie auf einem Klavier zu spielen«. Erst wenn die Schuld rational aufgearbeitet sei, bestehe keine Notwendigkeit mehr, sich den auch irrationalen Wünschen der anderen zu unterwerfen. Der Handelnde behalte dann sein autonomes Handlungsvermögen. Die Frage laute dann: Wie kann ich dem anderen helfen? Wo liegen seine Interessen? Diesen Zustand haben die deutsch-israelischen Beziehungen noch nicht erreicht.3

Die aus dem Schuldbewusstsein herrührenden Abwehrmechanismen sind bei den deutschen Israel-Freunden und -verteidigern aber offensichtlich noch so stark und übermächtig, dass ein Umdenken fast unmöglich erscheint. Dazu kommt, dass die Mainstream-Medien – öffentlich-rechtliche wie auch private – alles tun, die Aussagen des Katechismus am Leben zu erhalten. Dennoch muss an den Toren dieser ideologischen Festung gründlich gerüttelt werden. Dass dieses Bollwerk eines Tages fallen wird, ergibt sich aus seinen Widersprüchen und seiner zweifelhaften Moral. In diesem Sinne aufklärend zu wirken, ist die Absicht dieses Buches.

Ein Hinweis ist noch wichtig, um Missverständnisse zu vermeiden. Es besteht kein Zweifel daran, dass in Deutschland Vorbildliches bei der Aufarbeitung der NS-Zeit und ihrer Verbrechen geleistet worden ist – von Wissenschaftlern der verschiedensten Fachrichtungen, besonders natürlich von Historikern, von Publizisten und privaten Initiativen. In diesem Zusammenhang hat Susan Neiman Recht, wenn sie ihr Buch zu diesem Thema Von den Deutschen lernen betitelt hat. Eine ganz andere Sache ist das offizielle deutsche Erinnern der politischen Elite und der Mainstream-Medien. Um ihr Versagen geht es in diesem Text.

Erwähnt sei noch, dass ich im Text durchgehend das Wort Holocaust verwende, einfach weil es sich in Deutschland eingebürgert hat. Israelische und jüdische Autoren in der Diaspora benutzen zumeist den Begriff Shoa, in Zitaten von ihnen habe ich diesen Begriff natürlich beibehalten.

Bremen, im Juni 2022 Arn Strohmeyer

1 Lernen aus der Geschichte, 1. 12. 2019.

2 Moses: Katechismus der Deutschen, 2021.

3 Tugendhat: Der Golfkrieg, Deutschland und Israel, Die Zeit 22. 02. 1991.

I. Die kritische Sicht auf den Holocaust in Israel und im Judentum

In der deutschen Debatte über den Holocaust herrscht oft der Eindruck vor, dass im Judentum bzw. in Israel in der Beurteilung dieses Verbrechens ein großer Konsens besteht. Das ist aber überhaupt nicht der Fall. In der jüdischen Sicht auf den Holocaust gibt es große – um nicht zu sagen – extreme Differenzen. Ohne die Kenntnis dieser Differenzen ist der in Deutschland gegenwärtig stattfindende Diskurs über den Holocaust im Zusammenhang mit Israel, Apartheid, Kolonialismus und Antisemitismus gar nicht zu verstehen. Deshalb sollen in den ersten beiden Kapiteln die wichtigsten kritischen Sichtweisen auf das Mega-Verbrechen Holocaust aufgezeigt werden. Würden sie in Deutschland geäußert, würde sofort der Antisemitismus-Vorwurf erhoben. Was zeigt, wie paradox bzw. absurd die ganze Debatte teilweise ist.

1. Die Juden in Mandatspalästina zeigten wenig Interesse am Holocaust

Es muss den unbefangenen Betrachter der Geschichte des Zionismus erstaunen, dass die Juden in Palästina (im vorstaatlichen Jischuw) dem Morden in den Vernichtungslagern der Nazis wenig Aufmerksamkeit schenkten, ja kaum Interesse an dem Genozid zeigten. Auch die politische Elite – besonders der Zionistenführer Ben Gurion – nahm so gut wie keinen Anteil an dem Mordgeschehen in Europa. Für Ben Gurion war der Holocaust in erster Linie nicht eine Katastrophe für die von ihm betroffenen Menschen, sondern für den Zionismus. Denn die Zionisten hatten gehofft, dass Millionen Juden aus Europa nach Palästina kommen würden, um den Aufbau des zu schaffenden Staates Israel zu unterstützen. Diese Menschen fielen nun aus und Ben Gurion stellte die Frage: Woher die Menschen für Erez Israel nehmen? Israel löste das Problem, indem es Hunderttausende von orientalischen Juden aus den arabischen Ländern ins Land holte. Die Gründung des Staates Israel hatte für die Zionisten absoluten Vorrang vor allen anderen Überlegungen.4

So unternahmen die Zionisten in Palästina auch wenig oder nichts zur Rettung der Juden vor der Mordmaschinerie der Nazis. Ob sie viele Möglichkeiten dazu hatten, ist eine andere Frage. Tatsache ist aber, dass sie in dieser Beziehung weitgehend untätig blieben. Die Realität des Holocaust wurde den Menschen des Jischuw erst bewusst, als sie sich persönlich bedroht fühlten: Als Rommels Armee in Nordafrika nach Ägypten vorrückte und die Gefahr bestand, dass sie auch Palästina einnehmen könnte. Der Sieg der Briten bei El Alamein verhinderte Rommels Marsch über den Suezkanal.

Der israelische Historiker Tom Segev hat das Desinteresse der Juden des Jischuw am Holocaust eindrucksvoll beschrieben. 1941/1942 erreichten die ersten Nachrichten von der Massenvernichtung der Juden in Europa den Jischuw in Palästina. Die Berichte alarmierten und schockierten aber keineswegs alle Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft. Ein Artikel über den Mord an einer Million Juden war in der Gewerkschaftszeitung Davar am 30. Januar 1942 nicht einmal der Aufmacher auf der ersten Seite. Es gab Zweifel an der Seriosität solcher Berichte, auch Augenzeugen glaubte man oft nicht. Als die Ermordung von Juden in mobilen Gaskammern in Polen bekannt wurde, war das derselben Zeitung nur einen Artikel auf der zweiten Seite wert. Der Aufmacher hatte den U-Boot-Krieg zum Thema, der Leitartikel beschäftige sich mit dem Gesundheitswesen in Palästina. Ein Artikel über Gräueltaten an Juden in Charkow (Ukraine) erschien in der Tageszeitung Haaretz auch nur auf der Seite zwei und mit einer einspaltigen Überschrift. Direkt darüber stand ein Bericht über den Sieg einer jüdischen Fußballmannschaft in Damaskus.5

An der Seriosität der Quellen kann das Desinteresse aber nicht gelegen haben: »Das, was einem Tageszeitungsredakteur in Tel Aviv an Daten zugänglich war, reichte aus, um der Leserschaft zu berichten, dass die Deutschen systematisch Juden umbrachten und dazu unter anderem Gaskammern verwendeten. Solche ›jüdischen Nachrichten‹ veröffentlichen die Zeitungen in Palästina im allgemeinen an weniger herausragender Stelle als die Berichte vom Kriegsgeschehen, als ob erstere nur einen lokalen Gesichtspunkt des eigentlichen Dramas darstellten.«6 Beliebt war in den Zeitungen auch die Methode, Holocaust-Artikel mit schwülstigen Bibel-Zitaten oder poetischen Bildern zu überschreiben wie: »Weine, Jerusalem, um die in der Diaspora Gefallenen; rufe Zion: Rettet Eure Söhne und Töchter, seid meinen Kindern und Kindlein Zuflucht.« Oder es war vom »Tal der Tränen« oder vom »Tal der Leiden« die Rede. Das alles waren Versuche, den Holocaust aus der Wirklichkeit in eine andere irreale Stufe zu heben.7

Ein solcher journalistischer Umgang mit dem schrecklichen Geschehen in Europa ist aus heutiger Sicht unverständlich, zumal die Nachrichtenlage völlig eindeutig war. Auch die Führer der Jewish Agency wussten offenbar über die »Endlösung« Bescheid, der Bevollmächtigte des Jüdischen Weltkongresses in der Schweiz, Gerhart Riegner, hatte sie darüber unterrichtet. Die Jewish Agency gab auch eine Erklärung zur Situation heraus, die Demonstrationen mit schwarzen Fahnen zur Folge hatte. Nun berichteten die Zeitungen auch mit größeren Schlagzeilen über den Holocaust. Aber das Interesse erlahmte bald wieder und das Thema geriet erneut wieder auf die Innenseiten. Ab Mitte 1943 war der Holocaust wieder eine weniger wichtige Nachricht. Der Herausgeber der Davar, Berl Katznelson, bekannte: »Ich weiß nicht, ob die Leute von diesen Dingen hören wollen.«8

Bücher und Broschüren über den Holocaust ließen sich kaum verkaufen und wurden Ladenhüter. Segev notiert: »Es scheint so, als habe kein großer Bedarf für Nachrichten über den Holocaust bestanden.«9 Als sich eine Gruppe mit dem Namen Al Domi (»Schweige nicht!«) bildete und die Jischuw-Führung aufforderte, etwas zur Rettung der Juden in Europa zu tun, hatte das keinen großen Widerhall: »Für die führenden Kreise war Al Domis Radikalismus ein Ärgernis. Der größte Teil des Jischuw schenkte dem Ganzen keine Aufmerksamkeit.«10

Die Haltung des Jischuw zum Holocaust war ambivalent, zwiespältig und moralisch äußerst bedenklich. Sie lässt sich wohl nur durch die Verachtung der Diaspora einerseits und den absoluten Vorrang erklären, den die führenden Politiker der Regierungspartei MAPAI und der Jewish Agency dem Aufbau des Staates beimaßen. Wiederholte Äußerungen Ben Gurions belegen das. Er versicherte, als der Holocaust seinen Höhepunkt erreichte, immer wieder, dass es nicht die Aufgabe der Jewish Agency sei, Europas Juden zu retten, sondern das Land Israel aufzubauen. Er wolle nicht darüber befinden, was wichtiger sei, das Land aufzubauen oder zum Beispiel ein einziges jüdisches Kind aus Zagreb zu retten. Manchmal könne es auch wichtig sein, dieses Kind zu retten. Die Aufgabe der Jewish Agency sei es aber, Juden durch die Übersiedlung nach Palästina zu retten. Juden an ihrem Heimat- oder Aufenthaltsort zu retten, sei Aufgabe der philanthropischen jüdischen Institutionen wie Jüdischer Weltkongress, American Jewish Congress, Joint Distribution Committee und andere. Dies sei nicht Sache der Zionisten.11

Berühmt wurde Ben Gurions Äußerung über die Rettung von Kindern. Er erklärte: »Wenn ich wüsste, dass es durch Transporte nach England möglich wäre, alle [jüdischen] Kinder aus Deutschland zu retten, durch Transporte nach Palästina aber nur die Hälfte von ihnen gerettet werden könnte, würde ich mich für letzteres entscheiden – denn wir werden nicht nur von diesen Kindern zur Rechenschaft gezogen, sondern müssen dem jüdischen Volk historische Rechenschaft ablegen.«12 Im Zusammenhang mit dem »Kristallnacht«-Pogrom meinte Ben Gurion, dass das »menschliche Gewissen« verschiedene Länder dazu bringen könnte, ihre Grenzen für jüdische Flüchtlinge aus Deutschland zu öffnen. Er sah darin eine Bedrohung und warnte: »Der Zionismus ist in Gefahr.«13 Hierhin passt auch der Ausspruch Ben Gurions, den er vor dem Machtantritt Hitlers machte, dessen radikaler Antisemitismus dem Zionistenführer natürlich bekannt war: »Es liegt in unserem Interesse, Hitler (…) für die Errichtung unseres Landes auszunutzen. (…) Je härter das Leid, desto größer die Stärke des Zionismus.«14 Es ging eben immer nur um den Vorrang des zionistischen Projekts.

Die Marschroute der zionistischen Politik angesichts des Holocaust war klar und eindeutig. Die Ereignisse in Europa wurden als zweitrangig eingeschätzt; wichtig war, den Aufbau des Staates zu fördern. Deshalb sollten auch nur diejenigen Juden gerettet werden, die dem Land Israel und dem Judentum von Nutzen sein konnten – vor allem Jugendliche und Kinder. Man ging davon aus, dass die eigenen Möglichkeiten zur Rettung der europäischen Juden sehr gering seien – »ihr Schicksal war besiegelt, es gab keine Chance, viele zu retten.«15 Diese Gefühle der Ohnmacht drückten sich auch in der Sprache aus. Vom Holocaust wurde im Jischuw oft nur in der Vergangenheitsform gesprochen. Segev merkt dazu an: »Statt im Holocaust etwas zu sehen, das wirksames sofortiges Handeln erfordert hätte, verbannte man ihn von der Jetzt-Zeit in die Geschichte.«16 Als »makaber« und »grotesk« bezeichnet es Segev in diesem Zusammenhang, dass man im Jischuw darüber diskutierte, wie man der Holocaust-Opfer am besten gedenken könne, während die meisten von ihnen noch am Leben waren.17

2. Die Zionisten unternahmen kaum etwas zur Rettung der bedrohten Juden

Unter den Führern des Jischuw wurden aber auch Versagensvorwürfe und Schuldzuweisungen laut, dass man zu wenig oder gar nichts zur Rettung der bedrohten Juden in Europa tue. Auf der anderen Seite wurden aber auch schon Überlegungen angestellt, wie man Nutzen aus der Tragödie in Europa ziehen könne. Ab 1940 machten sich führende zionistische Funktionäre schon Gedanken über Reparationsforderungen an Deutschland, an denen sich auch Ben Gurion beteiligte.18 Was angesichts der eigenen Untätigkeit und der Verachtung der »degenerierten« und »feigen« Diaspora, der man vorwarf, sie hätte sich ohne Gegenwehr von den Nazis ermorden lassen, erstaunen muss. Man gab den Holocaust-Opfern auch selbst die Schuld an ihrem Schicksal, weil sie sich nicht früher dazu entschieden hätten, sich dem Zionismus anzuschließen und nach Palästina zu kommen.

Weil das zionistische Projekt ganz im Vordergrund des Interesses stand und alles andere zweitrangig war, ist die bittere Wahrheit: »Den Bemühungen der zionistischen Bewegung verdanken nur wenige Überlebende ihr Leben.«19 In einer Rede, die Ben Gurion im Dezember 1938 gehalten hat (also Jahre vor dem Holocaust), war all dies – sozusagen als Programm – schon angedeutet. Er sagte damals: »Wenn die Juden vor der Wahl zwischen der Rettung von Juden aus Konzentrationslagern und der Unterstützung der nationalen Heimstätte in Palästina stehen, dann wird das Mitleid die Oberhand behalten, und die ganze Energie der Leute wird in die Rettung von Juden aus verschiedenen Ländern kanalisiert werden. Der Zionismus wird nicht nur in der öffentlichen Meinung in der Welt und in Großbritannien von der Tagesordnung gestrichen werden, sondern auch von der jüdischen öffentlichen Meinung anderswo. Wenn wir eine Trennung des Flüchtlings- vom Palästina-Problem zulassen, riskieren wir die Existenz des Zionismus.«20

Es versteht sich von selbst, dass die zionistische Politik gegenüber den bedrohten Juden nach dem Krieg massiv in die Kritik geriet – auch und gerade von Juden. Der Holocaust-Forscher Saul Friedländer, selbst ein Überlebender des Massenmords, sagte deshalb verbittert und anklagend in einem Interview: »Sie [die Zionisten in Palästina] haben versagt. Ich behaupte nicht, dass sie im konkret militärischen Sinne mehr für uns hätten tun können. Ich behaupte aber, dass die Jischuw-Führung und die Öffentlichkeit insgesamt nicht genug darüber nachgedacht haben. Die Rettung der europäischen Juden hatte keinen Vorrang vor anderen Aktivitäten. Ihnen war die Staatsgründung das wichtigste Anliegen.« Friedländer machte deutlich, dass er den Zionistenführer David Ben Gurion persönlich meinte. »Ich glaube, dass Ben Gurion das Wesen des Holocaust nie verstanden hat. Sicher besuchte er nach dem Krieg die Flüchtlingslager in Europa, aber er hat sich nicht gründlich mit der Angelegenheit beschäftigt. Er betrachtete sie in erster Linie als potentielle Hilfe für die Staatsgründung. (…) Ich glaube, dass Ben Gurion und viele andere sich des historischen Erbes der Diaspora-Juden schämen.«21 Es gibt einen berühmt gewordenen Ausspruch Ben Gurions, der Friedländers Aussage belegt. Er nannte das Schicksal der Juden in Europa eine »nützliche Katastrophe«: »Es liegt in unserem Interesse, Hitler für die Errichtung unseres Landes auszunutzen.«22

Als Ben Gurion später auf Friedländers Behauptung angesprochen wurde, er habe die Bedeutung des Holocaust nicht wirklich verstanden, sagte er nur: »Was gibt es da zu verstehen? Sie sind gestorben, und das war’s.«23