Figaros Eingebung - Dorothy L. Sayers - E-Book

Figaros Eingebung E-Book

Dorothy L. Sayers

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

«Ein Mord, den man als solchen erkennt, ist schon nicht mehr perfekt.» (Lord Peter Wimsey) Alle Verdächtigen haben ein hieb- und stichfestes Alibi? Alle Türen und Fenster sind von innen verschlossen? Keine Tatwaffe zu finden, keine Finger- oder Fußabdrücke, die Leiche ist nicht mehr identifizierbar? Der Ermittler aus Leidenschaft Lord Peter Wimsey sowie der Kenner und Händler feiner Weine und Spirituosen, Montague Egg, lassen sich nicht so leicht hinters Licht führen. Auch in diesen Kriminal-Kurzgeschichten sind sie Verbrechern und Mördern auf der Spur, die meinen, ihnen käme niemand auf die Schliche …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 526

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dorothy L. Sayers

Figaros Eingebung

Erzählungen

Aus dem Englischen von Otto Bayer

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Ein Mord, den man als solchen erkennt, ist schon nicht mehr perfekt.» (Lord Peter Wimsey)

 

Alle Verdächtigen haben ein hieb- und stichfestes Alibi? Alle Türen und Fenster sind von innen verschlossen? Keine Tatwaffe zu finden, keine Finger- oder Fußabdrücke, die Leiche ist nicht mehr identifizierbar?

Über Dorothy L. Sayers

Dorothy L. Sayers, Jahrgang 1893, legte als eine der ersten Frauen an der Universität ihres Geburtsortes Oxford ihr Examen ab. Mit ihren mehr als zwanzig Detektivromanen schrieb sie Literaturgeschichte, sie gehört neben Agatha Christie und P.D. James zur Trias der großen englischen «Ladies of Crime». Schon in ihrem 1923 erschienenen Erstling «Ein Toter zu wenig» führte sie die Figur des eleganten, finanziell unabhängigen Lord Peter Wimsey ein, der aus moralischen Motiven Verbrechen aufklärt. Dieser äußerst scharfsinnige Amateurdetektiv avancierte zu einem der populärsten Krimihelden des zwanzigsten Jahrhunderts.

Bevor sie die Übersetzung von Dantes «Göttlicher Komödie» vollenden konnte, starb die Autorin 1957 in Witham/Essex.

 

Inhaltsübersicht

Im Zahn ist WahrheitAbsolut anderswoEigentorSpottbilligBittermandelFalsches GewichtProfessor Pindars ManuskriptDie MilchflaschenDilemmaDie Zeit wird kommenHelenaNebukadnezarFigaros EingebungBlutopferDer VerdachtDie LeopardenfeeDie TigerkatzeDer NarrenturmDas Spukhaus im Merriman’s EndDer Pfirsichdieb

Im Zahn ist Wahrheit

Eine Lord Peter Wimsey-Geschichte

«So, mein Lieber», sagte Mr. Lamplough, «und womit können wir heute dienen?»

«Wahrscheinlich mit dem Abbauhammer», sagte Lord Peter, indem er sich mißmutig auf dem grünsamtenen Folterstuhl niederließ und dem Bohrer eine Grimasse schnitt. «Dieser komische Backenzahn links oben ist mir auseinandergefallen. Dabei habe ich nur ein Omelett gegessen. Es ist mir unbegreiflich, warum das immer in so einem Moment passiert. Wenn ich Nüsse geknackt oder Pfefferminzbonbons gekaut hätte, könnte ich’s ja noch verstehen.»

«So?» machte Mr. Lamplough tröstend und zog wie von Magierhand eine elektrische Lampe mit angebautem Spiegel aus einer Art Zauberkasten; es folgte ein langes biegsames Kabel, das aus den Tiefen der Erde zu kommen schien. «Schmerzen?»

«Keine Schmerzen», sagte Wimsey unwirsch, «wenn man die scharfe Kante nicht mitzählt, die mir fast die Zunge absägt. Ich möchte nur wissen, wieso das Ding so plötzlich in die Brüche geht. Ich hab ihm doch gar nichts getan.»

«Ach nein?» versetzte Mr. Lamplough, halb Arzt, halb Freund, denn er war ein ehemaliger Winchester-Schüler und Mitglied in einem von Wimseys Clubs, und in ihren Jugendtagen waren sie sich oft auf dem Cricketplatz begegnet. «Und wenn du jetzt eine Sekunde den Mund hieltest, könnte ich ihn mir mal ansehen. Ah!»

«Sag nicht ‹Ah!› in so einem Ton, als ob du Eiterfluß und Knochenfraß entdeckt hättest und dich auch noch darüber freutest, du alter Leichenfledderer. Fräs das Ding aus, mach eine Füllung rein und sei zufrieden. Was hast du übrigens ausgefressen? Oder wie kommt es sonst, daß ich auf deiner Schwelle einem Polizeiinspektor begegne? Erzähl mir jetzt nicht, er sei hiergewesen, um sich seine Brücke reparieren zu lassen, denn ich hab auch seinen Sergeanten draußen im Wagen auf ihn warten sehen.»

«Na ja, das ist schon ziemlich merkwürdig», antwortete Mr. Lamplough, indem er seinen Freund mit der einen Hand geschickt knebelte und mit der andern Watte in das ärgerliche Zahnloch stopfte. «Wahrscheinlich dürfte ich dir das gar nicht erzählen, aber wenn nicht, holst du’s ja doch aus deinen Freunden bei Scotland Yard heraus. Die wollten die Bücher meines Vorgängers sehen. Du hast doch sicher in der Zeitung die Meldung von dem Zahnarzt gelesen, den sie tot in einer brennenden Garage am Wimbledon Common gefunden haben?»

«Örrrg-ah?» fragte Lord Peter.

«Gestern abend», sagte Mr. Lamplough. «Ging gegen neun Uhr plötzlich in Flammen auf, und die haben drei Stunden zum Löschen gebraucht. Eine von diesen Holzgaragen – und die meiste Arbeit hatten sie, das Feuer vom Haus wegzuhalten. Zum Glück lag’s am Ende der Häuserreihe, und es war niemand zu Hause. Wie es aussieht, war dieser Prendergast ganz allein da – wollte wohl in Ferien fahren oder so was – und hat es dann gestern abend irgendwie geschafft, sich selbst und das Auto nebst Garage in Brand zu setzen. Er ist verbrannt. War so verkohlt, als sie ihn fanden, daß sie nicht einmal sicher sein konnten, ob er’s wirklich war. Und weil sie’s gern genau nehmen, haben sie sich seine Zähne angesehen.»

«So?» meinte Wimsey, während er Mr. Lamplough beim Einsetzen eines neuen Bohrers zusah. «Hat denn niemand versucht, das Feuer zu löschen?»

«Das schon – aber es war nun mal so ein Holzschuppen, voller Benzin auch noch. Das Ganze ist hochgegangen wie ein Sonnwendfeuer. Bitte den Kopf ein wenig drehen – ausgezeichnet.» Grrrrrr, sissss, grrrrr. «Die scheinen überhaupt zu denken, daß es möglicherweise Selbstmord war. Der Mann war verheiratet, hatte drei Kinder, fühlte sich eingesperrt und so weiter.» Sisssss, grrrrrr, surrrrr, grrrrrr, sisssss. «Seine Familie ist zur Zeit unten in Worthing, bei seiner Schwiegermutter oder so. Sag mir Bescheid, wenn’s weh tut.» Grrrrrr. «Und ich glaube nicht, daß es ihm besonders gut ging. Aber es kann natürlich ohne weiteres sein, daß er nur den Tank füllen wollte und ihm dabei ein Unglück passiert ist. Soweit ich verstanden habe, wollte er gestern abend der Familie nachreisen.»

«U – a – a – u – a – i – u – u?» wollte Wimsey verständlicherweise wissen.

«Was ich damit zu tun habe?» fragte Mr. Lamplough, der es in langer Berufserfahrung zum Experten für Erstickungslaute gebracht hatte. «Nichts weiter, als daß der Kollege, von dem ich die Praxis hier übernommen habe, diesem Prendergast die Zähne repariert hat.» Sisssss. «Er ist tot, aber mir hat er für den Fall, daß einer seiner Patienten sich mir anvertrauen sollte, seine Bücher hinterlassen.» Grrrrrr, sisssss. «Entschuldige. Hast du das gefühlt? Naja, und ein paar kommen wirklich. Das muß dieser Instinkt sein, der einen immer wieder an den vertrauten Ort führt, wenn’s weh tut – wie ein sterbender Elefant. Bitte ausspülen.»

«Aha», sagte Wimsey, nachdem er die Späne seiner Körperteile ausgespült und den verstümmelten Backenzahn mit der Zunge untersucht hatte. «Komisch, daß diese Löcher einem immer so groß vorkommen. Ich habe das Gefühl, ich könnte da meinen ganzen Kopf hineinstecken. Aber du wirst wohl wissen, was du tust. Und war mit den Zähnen dieses Prendergast alles in Ordnung?»

«Ich hatte noch keine Zeit, sämtliche Ordner durchzusehen, aber ich habe versprochen, hinzufahren und mir die Zähne anzuschauen, sobald ich hier mit dir fertig bin. Dann habe ich sowieso Mittagspause, und meine für zwei Uhr bestellte Patientin kommt Gott sei Dank nicht. Sie bringt meist fünf verzogene Kinder mit, die alle drumherum sitzen und zusehen wollen und mit den Instrumenten spielen. Letztesmal hat sich eins von ihnen selbständig gemacht und versucht, den Röntgenapparat nebenan als elektrischen Stuhl zu benutzen. Und dann meint sie, ich müßte Kinder für den halben Preis behandeln. Ein bißchen weiter auf, wenn’s geht.» Grrrrrrr. «Ja, so ist es sehr schön. Jetzt können wir da eine vorläufige Füllung hineinmachen. Bitte spülen.»

«Ja», sagte Wimsey, «und mach’s um Himmels willen schön dicht und tu nicht soviel von diesem Nelkenöl hinein. Ich möchte nicht, daß es mir beim Essen herausläuft. Du kannst dir nicht vorstellen, wie widerlich Kaviar mit Nelkenöl schmeckt.»

«Nein?» meinte Mr. Lamplough. «So, das fühlt sich jetzt vielleicht ein bißchen kalt an.» Sssssst, pschsch. «Bitte ausspülen. Vielleicht spürst du jetzt was, wenn ich die Füllung hineintue. Du hast es gespürt? Gut! Ein Beweis, daß der Nerv noch gesund ist. Jetzt sind wir gleich soweit! So! Ja, du darfst jetzt aufstehen. Noch mal spülen? Aber sicher. Und wann möchtest du wiederkommen?»

«Stell nicht so dumme Fragen, Mann», sagte Wimsey. «Natürlich fahre ich jetzt sofort mit dir nach Wimbledon. Wenn ich dich hinfahre, bist du doppelt so schnell da. Ich hatte noch nie eine verkohlte Garagenleiche, und ich lerne doch so gern dazu.»

 

An verkohlten Garagenleichen ist wirklich nichts Schönes. Selbst Wimseys Kriegserfahrungen konnten ihn mit dem Anblick nicht versöhnen, der sich ihm bei der Polizei auf dem steinernen Obduktionstisch bot. Die jenseits aller Menschenähnlichkeit verkohlte Leiche ließ sogar den Polizeiarzt erblassen, und Mr. Lamplough setzte der Anblick so zu, daß er die mitgebrachten Bücher hinlegen und ins Freie gehen mußte, um sich wieder zu fangen. In der Zwischenzeit stocherte Wimsey, nachdem er sich mit den Polizeibeamten bekannt gemacht und eine Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens und Respekts geschaffen hatte, in dem verkohlten Häuflein herum, das Mr. Prendergasts Tascheninhalt darstellte. Es war nichts von besonderem Interesse darunter. Die lederne Brieftasche enthielt noch die Überreste eines ziemlich dicken Packens Geldscheine – zweifellos das nötige Bargeld für einen Urlaub in Worthing. Die hübsche goldene Taschenuhr (wohl ein Geschenk) war um sieben nach neun stehengeblieben. Wimsey machte eine Bemerkung über ihren erstaunlich guten Erhaltungszustand. Zwischen linkem Arm und Oberkörper eingeklemmt – das mußte die Erklärung sein.

«Sieht aus, als ob die erste Stichflamme ihn völlig überrascht hätte», meinte der Polizeiinspektor. «Er hat offenbar keinen Versuch gemacht, da herauszukommen. Ist einfach nach vorn übers Lenkrad gekippt und mit dem Kopf aufs Armaturenbrett geschlagen. Darum ist auch sein Gesicht so entstellt. Ich werde Ihnen die Überreste des Wagens gleich zeigen, Mylord, falls Sie sich dafür interessieren. Wenn der andere Herr sich wieder besser fühlt, können wir uns aber zuerst die Leiche vornehmen.»

Die Untersuchung der Leiche war eine langwierige und unerfreuliche Arbeit. Mr. Lamplough gab sich einen Ruck, dann nahm er eine Pinzette und eine Sonde zur Hand und untersuchte behutsam die von der Gluthitze des Feuers fast bis auf die Knochen abgebrannten Kiefer, während der Polizeiarzt die entsprechenden Eintragungen im Behandlungsbuch prüfte. Mr. Prendergasts Zahnbehandlungsgeschichte ging in dem Buch über zehn Jahre zurück, und die eine oder andere Plombe war auch schon vor dieser Zeit eingesetzt worden. Dies hatte Mr. Lamploughs Vorgänger gewissenhaft im Buch vermerkt.

Am Ende der langen Untersuchung blickte der Polizeiarzt von seinen Notizen auf.

«Also», sagte er, «vergleichen wir noch einmal. Wenn wir die Erneuerung alter Arbeiten mit in Betracht ziehen, haben wir, glaube ich, ein recht genaues Bild vom gegenwärtigen Zustand seines Gebisses. Alles in allem müßten es neun Plomben sein. Kleine Amalgamfüllung im Weisheitszahn links unten; große Amalgamfüllung im hinteren Backenzahn rechts unten; Amalgamfüllung im ersten und zweiten Bikuspidat rechts oben an der Berührungsstelle; Krone auf Schneidezahn rechts oben – soweit noch richtig?»

«Ich denke schon», sagte Mr. Lamplough, «nur daß mir dieser obere Schneidezahn ganz zu fehlen scheint, aber vielleicht hat sich die Krone gelockert und ist herausgefallen.» Er sondierte behutsam. «Der Kiefer ist sehr brüchig – kann das Wurzelbett nirgends finden – aber das spricht nicht dagegen.»

«Vielleicht finden wir die Krone in der Garage», meinte der Inspektor.

«Füllung aus gebranntem Porzellan im Eckzahn links oben», fuhr der Arzt fort. «Amalgamfüllungen im ersten Bikuspidat oben links, im zweiten Bikuspidat unten links sowie im ersten Molar unten links. Das scheint alles zu sein. Keine Lücken, kein Zahnersatz. Wie alt war der Mann, Inspektor?»

«Etwa fünfundvierzig, Doktor.»

«In meinem Alter. Ich wollte, ich hätte noch so gute Zähne», meinte der Polizeiarzt, und Mr. Lamplough stimmte ihm zu.

«Dann darf ich also annehmen, daß es sich wirklich um Mr. Prendergast handelt?» wollte der Inspektor wissen.

«Meines Erachtens besteht kein Zweifel», sagte Mr. Lamplough, «obschon ich gern noch die fehlende Krone finden würde.»

«Dann begeben wir uns jetzt am besten mal zum Haus», meinte der Inspektor. «O ja, vielen Dank, Mylord, das Angebot nehme ich gern an. Was für ein Wagen! Also, die Frage ist jetzt, ob es ein Unglücksfall oder Selbstmord war. Da vorne rechts, Mylord, und dann die zweite links – ich erkläre Ihnen dann weiter den Weg.»

«Ein bißchen abgelegen für einen Zahnarzt», fand Mr. Lamplough, als sie schließlich bei ein paar verstreuten Häusern am Common ankamen.

Der Inspektor verzog das Gesicht.

«Das habe ich mir auch gedacht, Sir, aber anscheinend hat seine Frau ihn überredet, hier herauszuziehen. So schön für die Kinder. Aber weniger gut für die Praxis. Wenn Sie mich fragen, würde ich sagen, Mrs. Prendergast ist das beste Argument, das wir für einen Selbstmord haben. So, da sind wir.»

Der letzte Satz war überflüssig. Vor dem Gartentor zu einem kleinen, alleinstehenden Einfamilienhaus am Ende einer Reihe ähnlicher Häuser hatte sich ein kleiner Menschenauflauf gebildet. Von einem erbärmlichen Trümmerhäuflein im Garten stieg noch ekliger Brandgeruch empor. Der Inspektor drängte sich mit seinen Begleitern durch die Menge, verfolgt von den Kommentaren der Umstehenden.

«Das ist der Inspektor … das ist Dr. Maggs … der da mit der kleinen Tasche, das wird auch noch ein Arzt sein … wer ist nur der Kerl mit dem Monokel? … Sieht aus wie ein richtiger Adliger, was, Florrie? … Na ja, das wird der Mann von der Versicherung sein … Puh! Guck dir mal diesen protzigen Wagen an … da geht das Geld hin … Das ist ein Rolls, jawohl … ach was, Dummchen, ein Daimler … Ja, ja, heutzutage ist das alles Reklame.»

Den ganzen Gartenweg hinauf kicherte Wimsey ungehörig vor sich hin. Doch der Anblick der Autoleiche inmitten der durchnäßten, brandgeschwärzten Überreste der Garage ernüchterte ihn. Zwei Polizeikonstabler, die mit einem Sieb über die Asche gebeugt standen, richteten sich auf und salutierten.

«Na, wie kommen Sie voran, Jenkins?»

«Viel haben wir noch nicht gefunden, Sir, außer einer Zigarettenspitze. Dieser Herr –» erwies auf einen untersetzten, kahlköpfigen Mann mit Brille zwischen den Wagentrümmern – «ist Mr. Tolley von der Autofabrik. Er kam mit einem Schreiben vom Polizeidirektor, Sir.»

«Ach so. Können Sie wohl schon ein Urteil abgeben, Mr. Tolley? Dr. Maggs kennen Sie ja schon. Mr. Lamplough, Lord Peter Wimsey. Übrigens, Jenkins, Mr. Lamplough hat sich die Zähne des Toten angesehen und sucht noch nach einem verlorenen Zahn. Sehen Sie mal zu, ob Sie den finden können. Also, Mr. Tolley?»

«Wie das passiert ist, steht ziemlich außer Frage», sagte Mr. Tolley, wobei er nachdenklich in seinen Zähnen stocherte. «Diese kleinen Limousinen sind die reinsten Todesfallen, wenn da mal unerwartet was schiefgeht. Sehen Sie, der Tank liegt hier vorn, und wie es aussieht, könnte da hinter dem Armaturenbrett irgendwo ein kleines Leck gewesen sein. Vielleicht eine überbeanspruchte Schweißnaht am Tank, oder die Verbindung hat sich gelockert. Jetzt ist sie tatsächlich locker, aber das ist nach einem Brand nichts Ungewöhnliches, ob Brandstiftung oder nicht. Aus einem lecken Tank oder Leitungsrohr kann mit der Zeit eine ganze Menge heraustropfen, und anscheinend lag um die Fußhebel herum eine Kokosmatte, so daß man es nicht gleich sah. Natürlich hätte man es riechen können, aber diese kleinen Garagen riechen oft nach Benzin, und er hatte mehrere Kanister von dem Zeug hier herumstehen. Mehr als erlaubt – aber auch das ist nicht ungewöhnlich. Mir scheint, er hat seinen Tank nachgefüllt – da stehen zwei leere Kanister neben der Motorhaube, mit abgeschraubten Deckeln –, dann ist er eingestiegen, hat die Tür zugeklappt, vielleicht den Motor angelassen und sich dann eine Zigarette angezündet. Wenn sich dadurch die Benzindämpfe aus dem Leck entzündet haben, ist ihm das Ganze mitten ins Gesicht explodiert – puff!»

«War die Zündung eingeschaltet?»

«Nein, aus. Vielleicht war sie überhaupt nie eingeschaltet, aber ebensogut könnte er sie wieder ausgeschaltet haben, als die Flammen hochschossen. Richtig wäre natürlich, den Benzinhahn zu schließen und den Motor laufen zu lassen, um den Vergaser zu leeren, aber man denkt eben nicht immer ganz klar, wenn man bei lebendigem Leibe verbrennt. Oder vielleicht wollte er den Benzinhahn zudrehen, aber bevor er’s schaffte, war er schon hinüber. Der Tank ist hier links, wie Sie sehen.»

«Andererseits», sagte Wimsey, «könnte er auch Selbstmord begangen und den Unfall vorgetäuscht haben.»

«Eine häßliche Art, Selbstmord zu begehen.»

«Er könnte vorher Gift genommen haben.»

«Immerhin hätte er dann noch lange genug am Leben bleiben müssen, um den Wagen in Brand zu stecken.»

«Stimmt. Aber wenn er sich erschossen hätte – könnte das Mündungsfeuer nicht – ach was, das ist dumm – dann hätten Sie ja die Waffe gefunden. Oder eine Spritze? Derselbe Einwand. Mit Blausäure wäre es gegangen – ich meine, er hätte gerade noch Zeit gehabt, eine Tablette zu schlucken und dann den Wagen anzuzünden. Blausäure wirkt sehr schnell, aber nicht schlagartig.»

«Ich werde auf jeden Fall danach suchen», sagte Dr. Maggs.

Sie wurden von dem Konstabler unterbrochen.

«Entschuldigung, Sir, aber ich glaube, wir haben den Zahn gefunden. Mr. Lamplough sagt, er ist es.»

Er hielt zwischen seinem plumpen Daumen und Zeigefinger einen knochigen Gegenstand hoch, aus dem noch ein kleines Metallstückchen ragte.

«Das sieht jedenfalls aus wie die Krone für einen Schneidezahn links oben», sagte Mr. Lamplough. «Ich nehme an, der Zement hat der Hitze nicht standgehalten. Verschiedene Arten Zahnzement sind empfindlich gegen Hitze, andere wiederum gegen Feuchtigkeit. Also, damit wäre die Sache klar, oder?»

«Ja – hm, wir werden es der Witwe noch beibringen müssen. Aber meiner Ansicht nach dürfte sie auch so keine großen Zweifel mehr haben.»

Mrs. Prendergast, eine aufgetakelte Dame, deren ständige Zänkischkeit sich in ihren Gesichtszügen verewigt hatte, empfing die Nachricht mit einem Ausbruch vernehmlicher Schluchzer. Nachdem sie sich wieder etwas gefaßt hatte, erklärte sie, Arthur sei immer leichtsinnig mit Benzin umgegangen, habe zuviel geraucht, sie habe ihn schon immer vor der Gefährlichkeit kleiner Limousinen gewarnt und ihm gesagt, er solle ein größeres Auto anschaffen, dieses Auto sei für sie und die Familie wirklich zu klein gewesen, immer sei er bei Nacht gefahren, obwohl sie davor gewarnt habe, und wenn er auf sie gehört hätte, wäre das nie passiert.

«Der arme Arthur war kein guter Autofahrer. Erst vorige Woche, als er uns nach Worthing gefahren hat, ist er bei dem Versuch, einen Lastwagen zu überholen, geradewegs eine Böschung hinaufgefahren und hat uns allen einen fürchterlichen Schrecken eingejagt.»

«Aha!» sagte der Inspektor. «Und dabei ist zweifellos der Tank kaputtgegangen.» Dann erkundigte er sich ganz vorsichtig, ob Mr. Prendergast irgendeinen Grund gehabt haben könnte, sich selbst das Leben zu nehmen. Die Witwe war empört. Es sei zwar richtig, daß die Praxis in letzter Zeit nicht mehr so recht floriert habe, aber so ein schlechter Mensch sei Arthur nie gewesen, daß er so etwas getan hätte. Immerhin habe er erst vor drei Monaten eine Lebensversicherung über fünfhundert Pfund abgeschlossen, und die hätte er sicher nicht durch einen Selbstmord innerhalb der in der Police genannten Frist ungültig gemacht. Wenn Arthur auch nie viel Rücksicht auf sie genommen und ihr als Frau so manche Kränkung zugefügt habe, er hätte doch nie seine unschuldigen Kinder beraubt.

Bei dem Wort «Kränkung» spitzte der Inspektor die Ohren. Was für Kränkungen?

Nun ja, sie habe natürlich die ganze Zeit gewußt, daß Arthur etwas mit dieser Mrs. Fielding gehabt habe. Mit diesem Unsinn, daß ihre Zähne ständig nachgesehen werden müßten, habe man sie nicht täuschen können. Und er habe ja gut reden gehabt, daß Mrs. Fielding ihren Haushalt besser in Schuß habe als sie den ihren. Das sei ja wohl kein Wunder – eine reiche Witwe ohne Kinder und ohne Verpflichtungen, die könne es sich natürlich leisten, alles immer schön zu haben. Von einer vielbeschäftigten Frau wie ihr könne man hingegen nicht erwarten, daß sie von dem bißchen Haushaltsgeld Wunder wirke. Wenn Arthur es anders hätte haben wollen, hätte er eben großzügiger sein müssen, und für eine Mrs. Fielding müsse es ja wohl auch ein leichtes sein, Männer zu betören, wenn sie sich anziehe wie eine Modepuppe und auch sonst nicht viel besser sei. Sie habe zu Arthur gesagt, wenn das nicht aufhöre, werde sie sich scheiden lassen. Und seitdem habe er seine Abende immer in London zugebracht, und was er dort getrieben habe –

Der Inspektor stoppte den Redefluß, indem er nach Mrs. Fieldings Adresse fragte.

«Die weiß ich nun wirklich nicht», sagte Mrs. Prendergast. «Sie hat in Nummer 57 gewohnt, ist dann aber ins Ausland gegangen, nachdem ich klargestellt hatte, daß ich mir das nicht länger ansehen würde. Ich möchte ja auch mal so leben können wie manche andere, die viel Geld zum Ausgeben haben. Ich war seit unsern Flitterwochen nicht mehr im Ausland, und da waren wir auch nur in Boulogne.»

Nach diesem Gespräch nahm der Inspektor Dr. Maggs beiseite und bat ihn, bei seiner Suche nach Blausäure sehr gründlich zu sein.

Es blieb noch die Aussage von Gladys, dem Mädchen für alles. Sie hatte Mr. Prendergasts Haus am Tag zuvor um sechs Uhr verlassen. Sie hatte eine Woche Urlaub nehmen sollen, solange die Prendergasts in Worthing waren. Mr. Prendergast sei ihr in den letzten Tagen etwas bedrückt und nervös vorgekommen, aber das habe sie nicht weiter gewundert, denn sie habe gewußt, daß er nicht gern mit der Familie seiner Frau zusammen war. Sie (Gladys) habe ihre Arbeit fertig gemacht und ihm ein kaltes Abendessen bereitgestellt, und dann sei sie mit Erlaubnis ihres Arbeitgebers nach Hause gegangen. Er habe einen Patienten dagehabt – einen Herrn aus Australien oder irgendwo da unten, der habe noch schnell seine Zähne in Ordnung bringen lassen wollen, bevor er sich wieder auf seine Reisen begab. Mr. Prendergast habe ihr erklärt, daß er noch lange arbeiten und das Haus dann selbst abschließen werde, sie brauche also nicht zu warten. Weitere Erkundigungen ergaben, daß Mr. Prendergast «sein Abendessen kaum angerührt» habe, wahrscheinlich weil er es eilig gehabt habe, fortzukommen. Offenbar war demnach dieser Patient der letzte gewesen, der Mr. Prendergast lebend gesehen hatte.

Als nächstes wurde das Terminbuch des Zahnarztes unter die Lupe genommen. Der Patient stand dort als «Mr. Williams, 17.30 Uhr», und das Adreßbüchlein brachte Mr. Williams in einem kleinen Hotel in Bloomsbury unter. Der Geschäftsführer dieses Hotels sagte, Mr. Williams habe eine Woche dort gewohnt. Er habe als Adresse nur «Adelaide» angegeben und erwähnt, er besuche zum erstenmal seit 20 Jahren wieder die «alte Heimat» und habe keine Freunde in London. Dummerweise konnte er nicht vernommen werden. Gestern abend gegen halb elf sei ein Bote gekommen, habe Mr. Williams’ Karte präsentiert, seine Rechnung bezahlt und sein Gepäck abgeholt. Eine Nachsendeadresse für eventuelle Post sei nicht angegeben worden. Es sei kein offizieller Bote aus diesem Viertel gewesen, sondern ein Mann mit Schlapphut und schwerem dunklem Mantel. Der Nachtportier habe sein Gesicht nicht sehr genau sehen können, da in der Halle nur eine Lampe gebrannt habe. Der Bote habe zur Eile getrieben, da Mr. Williams den nächtlichen Schiffszug ab Waterloo habe nehmen wollen. Ein Besuch im Buchungsbüro des Bahnhofs ergab, daß ein Mr. Williams tatsächlich mit diesem Zug gefahren war und eine Karte bis Paris gebucht hatte. Die Karte war am selben Abend eingelöst worden. Mr. Williams war also über alle Berge, und selbst wenn sie ihn hätten aufspüren können, wäre es fraglich gewesen, ob er viel über Mr. Prendergasts Geisteszustand unmittelbar vor der Katastrophe hätte aussagen können. Es mutete zunächst ein wenig seltsam an, daß Mr. Williams aus Adelaide, abgestiegen in Bloomsbury, den weiten Weg nach Wimbledon gemacht haben sollte, um seine Zähne behandeln zu lassen, aber die einfachste Erklärung war hier wohl die wahrscheinlichste: Der freundlose Mr. Williams hatte in irgendeinem Café oder dergleichen Mr. Prendergasts Bekanntschaft gemacht, und als er dabei zufällig erwähnte, daß er zum Zahnarzt müsse, war dies in eine Verabredung zum beiderseitigen Nutz und Frommen eingemündet.

Blieb also nur noch, daß der Untersuchungsrichter auf Unfalltod erkannte und die Witwe bei der Versicherung ihre Ansprüche geltend machte, doch da brachte Dr. Maggs den ganzen Lauf der Dinge mit der Meldung durcheinander, daß er in der Leiche Spuren einer starken Scopolamininjektion gefunden habe, und was nun, bitte? Als der Inspektor davon hörte, meinte er zynisch, das wundere ihn gar nicht. Wenn je ein Mann guten Grund zum Selbstmord gehabt habe, dann Mrs. Prendergasts Ehegatte. Er hielt es für angezeigt, in den versengten Lorbeerhecken um Mr. Prendergasts ehemalige Garage herum noch einmal sorgfältig zu suchen. Lord Peter Wimsey stimmte dem zu, wagte aber die Prophezeiung, daß man die Spritze nicht finden werde.

Da hatte Lord Peter Wimsey sich allerdings gründlich geirrt. Die Spritze wurde am nächsten Tag an einer Stelle gefunden, aus der man schließen konnte, daß sie nach Gebrauch aus dem Garagenfenster geworfen worden war. Reste des Gifts waren auch noch darin. «Das ist ein langsam wirkendes Gift», bemerkte Dr. Maggs dazu. «Zweifellos hat er sich das gespritzt, die Spritze in der Hoffnung weggeworfen, daß man nicht danach suchen werde, und ist dann, bevor er das Bewußtsein verlor, in den Wagen gestiegen und hat ihn angezündet. Ein sehr ungeschicktes Vorgehen.»

«Ein verflixt raffiniertes Vorgehen», widersprach Wimsey. «An diese Spritze glaube ich sowieso nicht.» Er rief den Zahnarzt an. «Lamplough, alter Schwede», sagte er, «du könntest mir einen Gefallen tun. Du könntest dir noch mal die Zähne ansehen. Nein – nicht meine Zähne! Prendergasts.»

«Ach, gib’s doch auf!» antwortete Mr. Lamplough wenig begeistert.

«Nein, ich möchte es wirklich», sagte Seine Lordschaft.

Die Leiche war noch nicht bestattet. Mr. Lamplough fuhr unter lautem Murren mit Wimsey nach Wimbledon und unterzog sich noch einmal der unangenehmen Aufgabe. Diesmal begann er auf der linken Seite.

«Vorderer Backenzahn unten und zweiter Bikuspidat mit Amalgam gefüllt. Das Feuer hat da einiges angerichtet, aber sie sind soweit in Ordnung. Erster Bikuspidat oben – Bikuspidate sind dumme Zähne – immer als erste hinüber. Diese Füllung scheint ziemlich oberflächlich gemacht zu sein – gute Arbeit würde ich das nicht nennen; sie scheint sich über den nächsten Zahn zu erstrecken – möglicherweise aber auch das Werk des Feuers. Eckzahn links oben, Füllung aus gegossenem Porzellan an der Vorderseite –»

«Moment», sagte Wimsey. «Hier in Maggs’ Notizen steht ‹gebranntes Porzellan.› Ist das ein und dasselbe?»

«Nein. Ein anderes Verfahren. Na ja, es wird dann wohl gebranntes Porzellan sein – das ist schwer zu unterscheiden. Ich für meinen Teil hätte gesagt, es ist gegossenes Porzellan, aber das mag sein, wie es will.»

«Prüfen wir es doch mal in den Büchern nach. Ich wollte, Maggs hätte die Daten eingetragen – weiß der Himmel, wie weit ich jetzt zurückblättern muß, und die Schrift von diesem Kerl kann ich auch nicht entziffern, geschweige seine Abkürzungen.»

«Wenn es gegossenes Porzellan ist, brauchst du nicht sehr weit zurückzublättern. Das Zeug ist erst um 1928 herum aus Amerika herübergekommen. Damals war es der neueste Schrei, aber aus irgendwelchen Gründen hat es sich hier dann doch nicht richtig durchgesetzt. Manche benutzen es allerdings.»

«Also, dann ist es nicht gegossen», sagte Wimsey. «Hier ist bis 1928 zurück nichts über Eckzähne zu finden. Überzeugen wir uns. 27, 26, 25, 24, 23. Da haben wir’s. Eckzahn und noch was.»

«Das ist er», sagte Lamplough, der gekommen war, um ihm über die Schulter zu sehen. «Gebranntes Porzellan. Da muß ich mich also geirrt haben. Wenn man’s rausnähme, könnte man es leicht feststellen. Die Körnung ist anders, auch die Art und Weise, wie es eingebracht wird.»

«Inwiefern anders?»

«Nun ja», sagte Mr. Lamplough, «das eine ist eben gegossen.»

«Und das andere gebrannt. Soviel habe ich verstanden. Also, dann mach mal zu und hol’s raus.»

«Geht nicht. Nicht hier.»

«Dann nimm’s mit nach Hause und mach es da. Verstehst du nicht, wie wichtig das ist, Lamplough? Wenn das gegossenes Porzellan ist, oder wie du’s immer nennst, kann es nicht 1923 gemacht worden sein. Und wenn es später herausgeholt worden wäre, müßte ein anderer Zahnarzt das getan haben. Der könnte dann auch noch einiges andere gemacht haben – und wenn, dann müßte das da sein, ist aber nicht da. Verstehst du nicht?»

«Ich merke nur, daß du dich ziemlich erregst», sagte Mr. Lamplough. «Und ich kann nur sagen, daß ich mich weigere, dieses Ding mit in meine Praxis zu nehmen. Leichen erfreuen sich in der Harley Street keiner großen Beliebtheit.»

Schließlich wurde der Leichnam – mit Genehmigung – in die Zahnklinik des örtlichen Krankenhauses gebracht. Hier holte Mr. Lamplough, assistiert vom Zahnexperten der Klinik, Dr. Maggs und der Polizei, behutsam die Füllung aus dem Eckzahn.

«Also», rief er triumphierend, «wenn das kein gegossenes Porzellan ist, ziehe ich mir ohne Betäubung sämtliche Zähne und verschlucke sie. Was meinen Sie, Benton?»

Der Krankenhauszahnarzt gab ihm recht. Mr. Lamplough, der plötzlich ein brennendes Interesse an dem Problem entwickelte, nickte und schob vorsichtig eine Sonde zwischen die beiden Bikuspidate oben rechts mit ihren ineinandergehenden Füllungen.

«Nun sehen Sie sich das mal an, Benton. Wenn man Feuer und alles mit berücksichtigt, würden Sie nicht sagen, daß diese Füllung ganz neu ist? Da, an der Berührungsstelle. Könnte gestern gemacht worden sein. Und hier – Moment mal. Wo hat denn der Unterkiefer aufgesetzt? Drücken Sie mal die Kiefer zusammen. Und geben Sie mir ein Stückchen Kohlepapier. Sehen Sie sich mal den riesigen Biß an, der hier sein müßte, wo der große Backenzahn runterkommt. Diese Füllung ist ja drei Meter zu hoch. Wimsey – wann wurde dieser Backenzahn rechts unten plombiert?»

«Vor zwei Jahren.»

«Unmöglich», sagten die beiden Zahnärzte wie aus einem Munde, und Mr. Benton fügte hinzu:

«Wenn man den Dreck wegkratzt, sieht man, daß es eine ganz neue Füllung ist. Damit ist noch nie gebissen worden, würde ich sagen. Sehen Sie mal, Mr. Lamplough, da ist noch so etwas Komisches.»

«Komisch? Das meine ich allerdings auch. Als ich das gestern untersuchte, wäre ich gar nicht auf den Gedanken gekommen, aber sehen Sie sich mal dieses alte Loch hier an der Seite an. Warum hat er das nicht auch gleich machen lassen, als die andern Sachen gemacht wurden? Jetzt, nachdem es sauber ist, sieht man es deutlich. Haben Sie mal eine lange Sonde? Das ist ziemlich tief und muß ihn ganz schön geplagt haben. Sagen Sie, Inspektor, ich würde mal gern ein paar von diesen Plomben rausholen. Haben Sie etwas dagegen?»

«Nur zu», sagte der Inspektor, «wir haben ja genug Zeugen hier.»

Während Mr. Benton den grausigen Patienten hielt, bohrte Mr. Lamplough rasch eine der Backenzahnplomben heraus und sagte: «Ach du meine Güte!» – was, so Lord Peter, erklärte, was ein Zahnarzt im allgemeinen meinte, wenn er «Ah!» sagte.

«Und jetzt mal die Bikuspidate», schlug Mr. Benton vor.

«Oder diesen vorderen Molar», stimmte sein Kollege ein.

«Langsam, meine Herren», begehrte der Inspektor auf. «Nehmen Sie mir das Beweisstück nicht ganz auseinander.»

Mr. Lamplough bohrte, ohne ihn zu beachten. Die nächste Plombe kam heraus, und Mr. Lamplough sagte wieder: «Ach du meine Güte!»

«Es reicht schon», meinte Wimsey grinsend, «Sie können sich Ihren Haftbefehl besorgen, Inspektor.»

«Was soll das heißen, Mylord?»

«Mord», sagte Wimsey.

«Wieso?» meinte der Inspektor. «Wollen diese Herren etwa sagen, daß Mr. Prendergast sich einen neuen Zahnarzt zugelegt und der ihm die Zähne vergiftet hat?»

«Das nicht», sagte Mr. Lamplough, «zumindest nicht was Sie unter Vergiften verstehen. Aber ich habe mein Lebtag noch nicht solche Arbeit gesehen. Menschenskind, an zwei Stellen hat der Kerl sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Karies auszuräumen. Er hat nur das Loch vergrößert und dann irgendwie zugestopft. Daß dieser Mann nicht einen Abszeß nach dem andern bekommen hat, ist mir ein Rätsel.»

«Vielleicht», sagte Wimsey, «sind die Plomben erst vor zu kurzer Zeit eingesetzt worden. Hoppla! Was gibt’s denn jetzt?»

«Der ist in Ordnung. Keine Karies. Sieht aus, als ob dort auch nie welche gewesen wäre. Aber das kann man nicht genau sagen.»

«Ich wette, da war nie welche. Besorgen Sie sich einen Haftbefehl, Inspektor.»

«Für den Mord an Mr. Prendergast? Und auf wen soll er lauten?»

«Er soll auf Mr. Prendergast lauten, wegen Mordes an einem gewissen Mr. Williams, und bei der Gelegenheit auch gleich wegen Brandstiftung und versuchten Betrugs. Und meinetwegen auch einen auf Mrs. Fielding wegen Mitwisserschaft. Das dürfte allerdings nicht so leicht zu beweisen sein.»

 

Wie sich herausstellte, als sie Mr. Prendergast in Rouen stellten, hatte er sich den Plan lange vorher ausgedacht. Er hatte nur noch auf einen Patienten warten müssen, der ungefähr seine Statur, ein gutes Gebiß und wenig familiäre Bindungen hatte. Als der unglückliche Mr. Williams ihm in die Klauen fiel, brauchte er nur noch wenige Vorbereitungen zu treffen. Mrs. Prendergast mußte nach Worthing abgeschoben werden – diese Reise machte sie ja zu jeder Zeit gern –, und das Mädchen mußte Urlaub bekommen. Dann mußten die nötigen zahnärztlichen Utensilien bereitgelegt und das Opfer zum Tee nach Wimbledon eingeladen werden. Dann der Mord – ein betäubender Schlag von hinten, gefolgt von einer Spritze. Anschließend die langsame, grausige Arbeit an dem Toten, bis seine Zähne für Mr. Prendergasts Zähne gelten konnten. Dann mußte er mit ihm die Kleider tauschen, die Leiche hinunterschleppen und in den Wagen setzen. Die Spritze mußte so weggeworfen werden, daß sie bei einer oberflächlichen Suche nicht gefunden würde, andererseits aber an einer plausiblen Stelle gefunden werden konnte, falls man das Gift in der Leiche entdeckte. Im ersteren Falle wäre auf Unfall erkannt worden, im letzteren auf Selbstmord. Dann noch das Auto mit Benzin übergießen, die Tankverbindung lösen, die leeren Kanister offen herumstehen und Garagentür und -fenster offen lassen, um die Geschichte etwas farbiger zu machen und eine ausreichende Sauerstoffzufuhr zu gewährleisten, und schließlich brauchte man das Ganze nur noch über eine Benzinspur von der Garagentür her anzuzünden. Dann Flucht durch die winterliche Dunkelheit zum nächsten U-Bahnhof und Fahrt mit der U-Bahn nach London hinein. Die Gefahr, auf dem Weg nach London erkannt zu werden, war gering, solange er Williams’ Hut und Kleidung trug und sich einen Schal um die untere Gesichtshälfte geschlungen hatte. Als nächstes mußte er Williams’ Gepäck abholen und sich in den Schiffszug setzen, um der wohlhabenden und verliebten Mrs. Fielding nach Frankreich nachzureisen. Danach hätten Mr. und Mrs. Williams jederzeit wieder nach England kommen können oder auch nicht, ganz wie es ihnen beliebte.

«Der Mann hat sich durchaus mit der Kriminologie befaßt», sagte Wimsey, nachdem dieses kleine Abenteuer vorüber war. «Er hat den Fall Rouse und Furnace genau studiert und aus ihren Fehlern gelernt. Pech, daß er die Kleinigkeit mit dem gegossenen Porzellan übersehen hat. Damit läßt sich schneller arbeiten, nicht wahr, Lamplough? Aber eile mit Weile, wie es so schön heißt. Nun würde mich nur noch interessieren, in welcher Phase der Prozedur der arme Williams wirklich gestorben ist.»

«Sei still», sagte Mr. Lamplough, «und im übrigen muß ich dir noch deine Plombe fertig machen.»

Absolut anderswo

Eine Lord Peter Wimsey-Geschichte

Lord Peter Wimsey saß mit Chefinspektor Parker von Scotland Yard und Polizeiinspektor Henley aus Baldock in der Bibliothek der «Villa Flieder».

«Du siehst», sagte Parker, «daß alle Hauptverdächtigen um die Tatzeit ganz woanders waren.»

«Was heißt hier ‹ganz woanders›?» fragte Wimsey zänkisch. Parker hatte ihn ohne Frühstück auf der Großen Autostraße nach Wapley geschleppt, und das war seiner Laune nicht bekommen. «Willst du sagen, daß sie den Ort des Verbrechens nicht erreichen konnten, ohne mehr als 300000 Kilometer pro Sekunde zurückzulegen? Andernfalls waren sie nämlich nicht absolut anderswo. Dann waren sie nur relativ und augenscheinlich anderswo.»

«Um Gottes willen, laß Eddington aus dem Spiel. Nach menschlichen Maßstäben waren sie anderswo, und wenn wir einem von ihnen etwas nachweisen wollen, müssen wir das ohne Maxwellsche Theorie und sphärische Krümmungskoeffizienten machen. Ich glaube, Inspektor, wir rufen sie jetzt alle nacheinander herein, damit ich ihre Aussagen noch einmal hören kann. Sie können dabei nachprüfen, ob einer jetzt von seiner ursprünglichen Aussage abweicht. Nehmen wir zuerst den Butler.»

Der Inspektor steckte den Kopf zur Tür hinaus und sagte: «Hamworthy.»

Der Butler war ein Mann von mittleren Jahren, dessen sphärische Krümmung sich sehen lassen konnte. Sein breites Gesicht war blaß und aufgedunsen, und er sah unwohl aus. Doch er begann ohne zu zögern mit seiner Erzählung.

«Ich stehe seit zwanzig Jahren im Dienst des verstorbenen Mr. Grimbold, meine Herren, und ich habe ihn immer als einen guten Herrn empfunden. Er war streng, aber sehr gerecht. Ich weiß, daß er in geschäftlichen Dingen als hart galt, aber das mußte er wohl sein. Er war Junggeselle, hat aber seine beiden Neffen, Mr. Harcourt und Mr. Neville, aufgezogen und war sehr gut zu ihnen. Im Privatleben möchte ich ihn als einen freundlichen und rücksichtsvollen Menschen bezeichnen. Sein Beruf? Nun, Sie würden ihn wahrscheinlich einen Geldverleiher nennen.

Zu den Ereignissen von gestern abend, jawohl, Sir. Ich habe um halb acht das Haus zugeschlossen wie gewöhnlich. Es ging immer alles genau nach der Uhr, Sir – Mr. Grimbold war sehr regelmäßig in seinen Gepflogenheiten. Ich habe alle Fenster im Erdgeschoß geschlossen, wie es in den Wintermonaten üblich war, und bin ganz sicher, daß ich keines vergessen habe. Alle Fenster haben einbruchsichere Verriegelungen, und es wäre mir aufgefallen, wenn eine davon nicht in Ordnung gewesen wäre. Ich habe auch die Haustür abgeschlossen und verriegelt und die Kette vorgelegt.»

«Und die Tür zum Wintergarten?»

«Die hat ein Yaleschloß, Sir. Ich habe die Tür probiert und mich vergewissert, daß sie zugeschlossen war. Nein, die Sperre habe ich nicht eingeklinkt. Das Schloß blieb immer so, Sir, damit Mr. Grimbold, wenn er noch spät in der Stadt zu tun hatte, ins Haus konnte, ohne den Haushalt aufzuwecken.»

«Aber gestern abend hatte er nichts in der Stadt zu tun?»

«Nein, Sir, aber die Tür blieb immer so. Ohne Schlüssel konnte ja sowieso niemand herein, und den hatte Mr. Grimbold an seinem Schlüsselbund.»

«Gibt es nicht noch einen Schlüssel?»

«Ich glaube –» der Butler hüstelte – «ich glaube, Sir, weiß es aber nicht genau, daß es noch einen gibt, Sir – er befindet sich in den Händen – einer Dame, Sir, die sich derzeit in Paris aufhält.»

«Aha. Mr. Grimbold war, soviel ich weiß, um die sechzig. Na ja. Wie heißt diese Dame?»

«Mrs. Winter, Sir. Sie wohnt in Wapley, aber seit dem Tod ihres Mannes vor einem Monat hält sie sich, soviel ich weiß, Sir, im Ausland auf.»

«Verstehe. Notieren Sie sich das lieber mal, Inspektor. So, und nun zu den oberen Räumen und der Hintertür.»

«Die oberen Fenster waren alle genauso gesichert, Sir, bis auf die in Mr. Grimbolds, meinem und der Köchin Schlafzimmern. Aber sie sind nur über eine Leiter zu erreichen, und die Leiter liegt im verschlossenen Geräteschuppen.»

«Das stimmt», warf Inspektor Henley ein. «Darum haben wir uns gestern abend schon gekümmert. Der Schuppen war abgeschlossen, und obendrein waren noch intakte Spinnweben zwischen der Leiter und der Wand.»

«Ich bin um halb acht durch alle Räume gegangen, Sir, und da war alles in bester Ordnung.»

«Sie dürfen es mir abnehmen», mischte der Inspektor sich wieder ein, «daß an keinem der Schlösser manipuliert worden ist. Fahren Sie fort, Hamworthy.»

«Ja, Sir. Während ich noch das Haus versorgte, kam Mr. Grimbold in die Bibliothek, um sein Gläschen Sherry zu trinken. Um Viertel vor acht wurde die Suppe serviert, und ich rief Mr. Grimbold zum Essen. Er setzte sich wie üblich ans Ende des Tisches, mit dem Gesicht zur Durchreiche.»

«Also mit dem Rücken zur Bibliothekstür», sagte Parker und machte ein Kreuzchen auf die vor ihm liegende grobe Lageskizze des Raumes. «War diese Tür zu?»

«O ja, Sir. Alle Türen und Fenster waren zu.»

«Mir kommt dieses Zimmer verflixt zugig vor», meinte Wimsey. «Zwei Türen, eine Durchreiche und zwei Fenstertüren.»

«Ja, Mylord; aber sie schließen alle sehr dicht, und die Vorhänge waren zugezogen.»

Seine Lordschaft ging zu der Verbindungstür und öffnete sie.

«Stimmt», sagte er. «Solide und schwer, und bewegt sich beängstigend leise. Diese dicken Teppiche gefallen mir, nur die Muster finde ich etwas schreiend.» Er machte die Tür geräuschlos wieder zu und kehrte auf seinen Platz zurück.

«Mr. Grimbold hat für die Suppe etwa fünf Minuten gebraucht, Sir. Als er damit fertig war, habe ich sie abgetragen und den Fisch gebracht. Ich brauchte dazu das Zimmer nicht zu verlassen; alles kommt durch die Durchreiche. Der Wein – das heißt, der Chablis – stand schon auf dem Tisch. Dieser Gang bestand nur aus einer kleinen Portion Steinbutt, und Mr. Grimbold brauchte auch dafür nur etwa fünf Minuten. Ich habe ihn abgetragen und dann den gebratenen Fasan serviert. Gerade wollte ich Mr. Grimbold das Gemüse vorlegen, als das Telefon läutete. Mr. Grimbold sagte: ‹Gehen Sie mal nachsehen, wer das ist. Ich kann mich schon selbst bedienen.› Die Köchin hat selbstverständlich nicht ans Telefon zu gehen.»

«Gibt’s hier kein weiteres Personal?»

«Nur noch die Frau, die tagsüber saubermachen kommt, Sir. Ich ging also zum Telefon und schloß die Tür hinter mir.»

«War es dieses Telefon hier, oder das in der Diele?»

«Das in der Diele, Sir. Ich habe immer diesen Apparat benutzt, wenn ich nicht zufällig gerade in der Bibliothek war. Der Anruf kam von Mr. Neville Grimbold in London, Sir. Er und Mr. Harcourt haben dort eine Wohnung in der Jermyn Street. Mr. Neville war am Apparat, und ich erkannte seine Stimme. Er sagte: ‹Sind Sie das, Hamworthy? Einen Moment, Mr. Harcourt möchte Sie sprechen.› Er legte den Hörer hin, und dann meldete sich Mr. Harcourt. Er sagte: ‹Hamworthy, ich möchte heute abend noch herauskommen und meinen Onkel sprechen, wenn er zu Hause ist.› Ich sagte: ‹Ja, Sir, ich werde es ihm ausrichten.› Die jungen Herren kamen oft für eine oder zwei Nächte hierher, Sir. Wir haben ihre Zimmer immer für sie bereit. Mr. Harcourt sagte, er wolle sofort aufbrechen und rechne damit, etwa um halb zehn hier zu sein. Während er sprach, hörte ich die große Standuhr in ihrer Wohnung zuerst viermal für die volle Stunde und dann achtmal schlagen; unmittelbar darauf schlug auch unsere Uhr in der Diele, und dann hörte ich die Vermittlung sagen: ‹Drei Minuten.› Der Anruf muß demnach um drei Minuten vor acht gekommen sein, Sir.»

«Dann steht die Zeit also fest, das ist ein Trost. Was dann, Hamworthy?»

«Mr. Harcourt bat um weitere drei Minuten und sagte: ‹Mr. Neville möchte Ihnen noch etwas sagen›, und dann meldete sich wieder Mr. Neville. Er sagte, er wolle demnächst nach Schottland fahren, und ich möchte ihm doch einen Sportanzug und einige Socken und Hemden schicken, die er hiergelassen habe. Den Anzug solle ich aber zuerst in die Reinigung geben, und dann hatte er noch einige andere Anweisungen, so daß er noch einmal um weitere drei Minuten bat. Das wäre dann also um drei Minuten nach acht gewesen, jawohl, Sir. Und etwa eine Minute später, während er noch sprach, läutete es an der Haustür. Ich konnte nun nicht gut vom Telefon fort, also mußte der Besucher warten, und um fünf nach acht klingelte es noch einmal. Ich wollte gerade Mr. Neville bitten, mich einen Augenblick zu entschuldigen, da sah ich die Köchin aus der Küche kommen und durch die Diele zur Haustür gehen. Mr. Neville bat mich, seine Anweisungen zu wiederholen, aber da unterbrach die Vermittlung uns wieder, und er beendete das Gespräch, und als ich mich umdrehte, sah ich die Köchin gerade noch die Tür zur Bibliothek schließen. Ich ging ihr entgegen, und sie sagte: ‹Das ist wieder dieser Mr. Payne, der möchte Mr. Grimbold sprechen. Ich habe ihn in die Bibliothek geführt, aber sein Gesicht gefällt mir gar nicht.› Darauf sagte ich: ‹Schon gut, ich kümmere mich darum›, und die Köchin ging wieder in die Küche.»

«Augenblick», sagte Parker. «Wer ist Mr. Payne?»

«Einer von Mr. Grimbolds Kunden, Sir. Er wohnt fünf Minuten von hier, über die Felder, und er war schon öfter hier und hat Krach gemacht. Ich glaube, er schuldet Mr. Grimbold Geld, Sir, und wollte mehr Zeit für die Rückzahlung haben.»

«Er wartet draußen in der Diele», ergänzte Henley.

«Oh», machte Wimsey. «Ist das vielleicht der unrasierte Herr mit dem finsteren Gesicht, Eschenstock und blutbeschmiertem Mantel?»

«Das ist er, Mylord», sagte der Butler. «Also, Sir», wandte er sich wieder an Parker, «ich wollte gerade in die Bibliothek gehen, als mir siedendheiß einfiel, daß ich den Rotwein noch nicht gebracht hatte – Mr. Grimbold würde darüber sehr ärgerlich sein. Ich ging also in meine Anrichte – Sie sehen hier, wo sie liegt, Sir – und holte den Rotwein, den ich zum Temperieren vors Feuer gestellt hatte. Dann mußte ich noch ein Weilchen nach dem Tablett suchen, bis ich es unter meiner Abendzeitung fand, die ich daraufgelegt hatte, aber länger als eine Minute hat es nicht gedauert, Sir, bis ich wieder ins Eßzimmer kam. Und dann, Sir –» dem Butler versagte fast die Stimme – «sah ich Mr. Grimbold vornüber auf dem Tisch liegen, gewissermaßen auf seinem eigenen Teller. Ich dachte, ihm müsse schlecht geworden sein, und eilte zu ihm – und dann sah ich, daß er tot war, Sir, mit einer furchtbaren Wunde im Rücken.»

«Nirgendwo eine Waffe?»

«Soweit ich sehen konnte, nein, Sir. Aber sehr viel Blut. Mir wurden richtig die Knie weich, Sir, und im ersten Augenblick wußte ich gar nicht, was ich machen sollte. Sobald ich wieder halbwegs denken konnte, bin ich zur Durchreiche gestürzt und habe die Köchin gerufen. Sie kam sofort gelaufen und hat fürchterlich geschrien, als sie unsern Herrn sah. Dann fiel mir Mr. Payne ein, und ich riß die Bibliothekstür auf. Er stand noch da, und sofort fing er an zu fragen, wie lange er noch warten müsse. Ich sagte: ‹Hier ist etwas Schreckliches passiert. Mr. Grimbold ist ermordet worden!› Da stieß er mich beiseite und ging ins Eßzimmer, und das erste, was er sagte, war: ‹Was ist mit den Fenstern?› Er ging zu dem Fenster neben der Bibliothek und riß den Vorhang beiseite, und da stand das Fenster offen. ‹Da ist er raus›, sagte er und wollte gleich hinterher, aber ich habe gesagt: ‹Nein – Sie bleiben hier –.› Ich dachte, er wollte weglaufen, und habe mich an ihn gehängt. Er hat mich alles mögliche geheißen und schließlich gesagt: ‹Hören Sie, Mann, nehmen Sie Vernunft an. Der Kerl bekommt einen immer größeren Vorsprung. Wir müssen ihm nach.› Ich sagte: ‹Aber dann gehe ich mit.› Er war einverstanden. Ich habe dann noch der Köchin gesagt, sie soll nichts anrühren und die Polizei anrufen, und dann sind Mr. Payne und ich hinausgegangen, nachdem ich noch meine Taschenlampe aus der Anrichte geholt hatte.»

«Ist Payne da mitgegangen?»

«Ja, Sir. Also, dann sind er und ich hinausgegangen und haben im Garten gesucht, aber wir konnten nirgends irgendwelche Fußspuren oder sonst etwas finden, denn der Weg ums ganze Haus herum bis zum Tor ist asphaltiert. Und eine Waffe fanden wir auch nirgends. Daraufhin sagte er: ‹Wir holen am besten den Wagen und suchen die Straßen ab›, aber ich sagte: ‹Nein, inzwischen ist er längst weg.› Es sind nämlich nur vier- bis fünfhundert Meter von unserem Gartentor bis zur Großen Autostraße, und wir hätten fünf bis zehn Minuten gebraucht, bis wir hätten losfahren können. Mr. Payne sagte also: ‹Da haben Sie vielleicht recht›, und kam wieder mit mir ins Haus zurück. Nun, Sir, und dann kam der Konstabler aus Wapley, nach einer Weile auch der Inspektor hier und Dr. Crofts aus Baldock, und die haben dann alles durchsucht und mir viele Fragen gestellt, die ich nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet habe. Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen, Sir.»

«Ist Ihnen aufgefallen», fragte Parker, «ob Mr. Payne Blutflecken an sich hatte?»

«Nein, Sir – nicht daß ich wüßte. Als ich ihn zuerst sah, stand er direkt unter der Lampe, und ich meine, wenn da etwas an ihm gewesen wäre, hätte ich es sehen müssen, Sir.»

«Sie haben natürlich diesen Raum schon nach Blut oder einer Waffe durchsucht, Inspektor, oder nach Handschuhen oder einem Tuch – irgend etwas, womit der Mörder sich vor Blut geschützt haben könnte?»

«Ja, Mr. Parker. Wir haben sehr genau gesucht.»

«Könnte irgend jemand die Treppe heruntergekommen sein, während Sie bei Mr. Grimbold im Eßzimmer waren?»

«Nun, Sir, das wäre wohl möglich gewesen, aber dazu müßte der Betreffende vor halb acht ins Haus gekommen sein und sich irgendwo versteckt gehalten haben, Sir. Möglich wäre das aber zweifellos gewesen. Über die Hintertreppe hätte natürlich niemand herunterkommen können, denn dann hätte er an der Küche vorbeigehen müssen, und das hätte die Köchin gehört, weil dort Steinboden ist, Sir, aber die Vordertreppe – hm, ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll.»

«So ist der Mann ins Haus gekommen, verlassen Sie sich darauf», sagte Parker. «Nun machen Sie nicht so ein verzweifeltes Gesicht, Hamworthy. Sie können ja nicht jeden Abend sämtliche Schränke im Haus nach versteckten Verbrechern absuchen. Jetzt sollte ich wohl am besten die beiden Neffen hören. Ich darf annehmen, daß sie ein gutes Verhältnis zu ihrem Onkel hatten?»

«O ja, Sir. Da hat es nie ein böses Wort gegeben. Es war ein schwerer Schlag für sie, Sir. Es hat sie furchtbar mitgenommen, als Mr. Grimbold letzten Sommer krank war –»

«So, da war er also krank?»

«Ja, Sir, vorigen Juli – mit dem Herzen. Es ging ihm sehr schlecht, Sir, und wir mußten nach Mr. Neville schicken. Aber er hat sich wieder wunderbar erholt, Sir – nur daß er hinterher nie mehr derselbe fröhliche Herr war wie davor. Ich glaube, er hat daran gemerkt, daß er nicht jünger wurde, Sir. Aber auf den Gedanken, daß er einmal auf diese Weise umkommen könnte, ist bestimmt niemand gekommen.»

«Wie ist über sein Geld verfügt?» fragte Parker.

«Also, Sir, das weiß ich nicht. Ich glaube, es soll unter die beiden jungen Herren aufgeteilt werden – die haben aber beide selbst ihr gutes Auskommen! Doch darüber kann Ihnen sicher Mr. Harcourt etwas sagen, Sir. Er ist der Testamentsvollstrecker.»

«Schön, wir werden ihn fragen. Kommen die beiden Brüder gut miteinander aus?»

«O ja, sehr gut, Sir. Ein Herz und eine Seele. Mr. Neville würde für Mr. Harcourt alles tun – und Mr. Harcourt für ihn, davon bin ich überzeugt. Zwei sehr angenehme junge Herren, Sir. Besser könnte man es sich nicht wünschen.»

«Danke, Hamworthy. Das wär’s im Augenblick, falls nicht noch jemand anders eine Frage hat.»

«Wieviel war von dem Fasan gegessen, Hamworthy?»

«Nun, Mylord, nicht allzuviel – ich meine, nicht annähernd soviel, wie ich Mr. Grimbold auf den Teller getan hatte. Aber etwas hatte er schon gegessen. Gemessen an dem, was ich ihm vorgelegt hatte, könnte er dafür etwa drei bis vier Minuten gebraucht haben, Mylord.»

«Und es deutete nichts darauf hin, daß er gestört worden war, etwa dadurch, daß jemand an die Fenstertür gekommen war, oder daß er aufgestanden war, um den Betreffenden hereinzulassen?»

«Nein, Mylord, wenigstens habe ich nichts dergleichen gesehen.»

«Der Stuhl war dicht an den Tisch gerückt, als ich ihn sah», warf der Inspektor ein, «und die Serviette lag auf seinem Schoß und Messer und Gabel unter seinen Händen, als ob er sie fallen gelassen hätte, als der Schlag ihn traf. Soviel ich weiß, wurde die Leiche nicht bewegt.»

«Nein, Sir, ich habe sie nicht bewegt – nur um mich zu überzeugen, daß er tot war, natürlich. Aber daran hatte ich von vornherein keinen Zweifel, Sir, nachdem ich die schreckliche Wunde in seinem Rücken gesehen hatte. Ich habe nur kurz seinen Kopf gehoben und ihn gleich wieder so hingelegt, wie er vorher gelegen hatte.»

«Schön, Hamworthy. Dann bitten Sie jetzt Mr. Harcourt herein.»

Mr. Harcourt Grimbold war ein lebhaft aussehender Mann von etwa fünfunddreißig Jahren. Er erklärte, er sei Börsenmakler und sein Bruder Neville Beamter im Gesundheitsministerium, und sie seien mit zehn beziehungsweise elf Jahren zu ihrem Onkel gekommen und von ihm großgezogen worden. Er sei sich darüber im klaren, daß sein Onkel geschäftlich viele Feinde gehabt habe, aber er für seinen Teil habe von ihm nichts als Güte empfangen.

«Ich fürchte, ich kann Ihnen zu dieser furchtbaren Geschichte nicht viel sagen, denn ich bin erst gestern abend um Viertel vor zehn hier angekommen, und da war natürlich schon alles vorbei.»

«Dann waren Sie also etwas später hier, als Sie gehofft hatten?»

«Ein wenig. Mein Rücklicht war zwischen Welwyn Garden City und Welwyn kaputtgegangen, und ich wurde von einem Polizisten angehalten. Ich habe eine Werkstatt in Welwyn aufgesucht, und dort wurde festgestellt, daß sich das Kabel gelockert hatte. Sie haben es gleich in Ordnung gebracht, und das hat mich noch ein paar Minuten länger aufgehalten.»

«Von hier bis London sind es gut sechzig Kilometer, ja?»

«Etwas darüber. Normalerweise rechne ich um diese Abendzeit mit etwa eineinviertel Stunden von Haus zu Haus. Ich bin kein Raser.»

«Sind Sie selbst gefahren?»

«Ja. Ich habe zwar einen Chauffeur, aber den bringe ich nicht immer mit hierher.»

«Wann sind Sie in London abgefahren?»

«Gegen zwanzig nach acht, glaube ich. Neville ist zur Garage gegangen und hat den Wagen geholt, sowie er mit dem Telefonieren fertig war, und ich habe inzwischen meine Zahnbürste und so weiter eingepackt.»

«Haben Sie vom Tod Ihres Onkels erfahren, bevor Sie wegfuhren?»

«Nein. Anscheinend hat niemand daran gedacht, mich anzurufen, bevor ich weg war. Die Polizei hat später noch versucht, Neville zu erreichen, aber da war er in den Club gegangen oder so etwas. Ich habe ihn selbst angerufen, nachdem ich hier war, und er ist dann heute früh hierhergekommen.»

«Nun gut, Mr. Grimbold. Können Sie uns jetzt etwas über die Geldangelegenheiten Ihres verstorbenen Onkels erzählen?»

«Meinen Sie das Testament? Wer von seinem Tod profitiert und so weiter? Also, zum einen ich, zum andern Neville. Und Mrs. – Haben Sie schon von Mrs. Winter gehört?»

«Ein wenig, ja.»

«Also, sie ist die dritte. Und dann bekommt natürlich der gute Hamworthy einen hübschen kleinen Notgroschen, und die Köchin bekommt auch etwas, und schließlich gehen noch 500 Pfund an den Bürovorsteher im Londoner Büro meines Onkels. Aber der Löwenanteil geht an uns beide und Mrs. Winter. Ich weiß, was Sie jetzt fragen wollen – wieviel es ist. Da habe ich nicht die allermindeste Ahnung, aber ich weiß, daß es eine beträchtliche Summe sein muß. Der alte Herr hat ja nie einer Menschenseele gesagt, wieviel er eigentlich besaß, und wir haben uns nie darum gekümmert. Ich selbst verdiene nicht schlecht, und Nevilles Gehalt lastet den leidgeprüften Steuerzahlern schwer auf der Tasche, darum interessierte uns die Frage wenig, eigentlich nur aus Neugier.»

«Glauben Sie, Hamworthy wußte, daß ihn ein Legat erwartete?»

«O ja, das war kein Geheimnis. Er sollte hundert Pfund und eine Leibrente von zweihundert Pfund im Jahr bekommen, vorausgesetzt natürlich, daß er noch im Dienst meines Onkels stand, wenn er – mein Onkel, meine ich – starb.»

«Und er war nicht gekündigt oder so etwas?»

«N-nein. Nein. Nicht mehr als üblich. Mein Onkel kündigte jedem etwa einmal im Monat, um die Leute auf Trab zu halten. Aber er machte nie ernst. Er hielt es wie die Herzkönigin in Alice im Wunderland – es wurde nie jemand wirklich geköpft.»

«Aha. Aber danach fragen wir am besten noch Hamworthy selbst. Nun zu dieser Mrs. Winter. Wissen Sie etwas über sie?»

«O ja. Eine nette Frau. Gewiß, sie war seit Urzeiten die Geliebte meines Onkels, aber schließlich hatte sich ihr Mann so ziemlich um den Verstand getrunken, man konnte es ihr also nicht verdenken. Ich habe ihr heute früh ein Telegramm geschickt, und hier ist ihre Antwort, eben eingetroffen.»

Er reichte Parker ein Telegramm, das in Paris aufgegeben worden war und lautete: «Schwer betroffen und voll Trauer. Komme sofort. In Liebe und Mitgefühl. Lucy.»

«Sie stehen also mit ihr auf gutem Fuß?»

«Großer Gott, ja! Warum denn nicht? Sie hat uns immer furchtbar leid getan. Onkel William wäre ja mit ihr woandershin gezogen, aber sie wollte diesen Winter nicht verlassen. Ich glaube überhaupt, daß sie jetzt heiraten wollten, nachdem der alte Winter endlich die Güte hatte, abzutreten. Sie ist jetzt achtunddreißig, und es wird Zeit, daß sie endlich mal was vom Leben geboten kriegt, das arme Ding.»

«Dann hatte sie also, trotz des Geldes, durch den Tod Ihres Onkels eigentlich nicht viel zu gewinnen?»

«Gar nichts. Es sei denn, sie wollte lieber jemand Jüngeren heiraten, hatte aber Angst, um das Geld zu kommen. Aber ich glaube, sie hatte den alten Knaben wirklich gern. Und den Mord könnte sie sowieso nicht begangen haben, denn sie ist noch in Paris.»

«Hm!» machte Parker. «Das ist anzunehmen. Aber wir sollten uns doch vergewissern. Ich rufe mal eben beim Yard an und lasse in den Häfen nach ihr Ausschau halten. Geht dieses Telefon durch zur Vermittlung?»

«Ja», sagte der Inspektor. «Es geht nicht über das Telefon in der Diele. Die beiden Apparate sind parallel geschaltet.»

«Gut. Nun, Mr. Grimbold, ich glaube, dann brauchen wir Sie im Moment nicht länger zu belästigen. Ich rufe jetzt rasch an, und dann lassen wir den nächsten Zeugen kommen … Geben Sie mir bitte Whitehall 1212 … Ich nehme an, die Zeit von Mr. Harcourts Anruf aus London wurde überprüft, Inspektor?»

«Ja, Mr. Parker. Das Gespräch wurde um 19.57 Uhr angemeldet und jeweils um 20.00 Uhr und 20.03 Uhr verlängert. Eine recht kostspielige Angelegenheit. Wir haben auch den Konstabler ausfindig gemacht, der gestern abend wegen seines Rücklichts mit ihm gesprochen hat, und die Werkstatt, die es ihm repariert hat. Er war um 21.05 Uhr in Welwyn und ist gegen 21.15 Uhr wieder abgefahren. Die Autonummer stimmt auch.»

«Nun, dann ist er jedenfalls aus dem Schneider. Aber wir sollten trotzdem alles nachprüfen, was wir nachprüfen können … Hallo, ist dort Scotland Yard? Verbinden Sie mich mit Chefinspektor Hardy. Hier Chefinspektor Parker.»

Nachdem Parker sein Telefongespräch beendet hatte, ließ er Neville Grimbold rufen. Er war seinem Bruder sehr ähnlich, nur ein wenig schlanker und etwas verbindlicher in seiner Redeweise, wie es einem Beamten geziemte. Er hatte nichts hinzuzufügen und konnte nur die Aussage seines Bruders bestätigen und erklären, daß er von acht bis zehn Uhr im Kino gewesen und von dort in seinen Club gegangen sei, so daß er von der Tragödie erst spät am Abend erfahren habe.

Die nächste Zeugin war die Köchin. Sie hatte sehr viel zu reden, aber nichts sehr Überzeugendes zu sagen. Sie hatte Hamworthy nicht zufällig in die Anrichte gehen sehen, um den Rotwein zu holen, ansonsten aber bestätigte sie seine Aussage. Sie wies den Gedanken, jemand könne sich in einem der oberen Zimmer versteckt gehalten haben, verächtlich zurück, denn Mrs. Crabbe, die Putzfrau, sei fast bis zum Abendessen im Haus gewesen und habe Kampferbeutel in alle Schränke gehängt; und überhaupt stehe für sie fest, daß «dieser Payne» Mr. Grimbold erstochen habe – «so ein mordlüsternes, gemeines Tier». Danach blieb nur noch die Vernehmung des mordlüsternen Mr. Payne.

Mr. Payne war von geradezu aggressiver Offenheit. Er sei von Mr. Grimbold sehr schlecht behandelt worden. Mitsamt den Wucherzinsen, die jeweils dem Kapital zugeschlagen würden, habe er schon das Fünffache der ursprünglichen Kreditsumme zurückgezahlt, und nun habe Mr. Grimbold sich geweigert, ihm für die Rückzahlung Aufschub zu geben, und angekündigt, er werde nunmehr auf die Sicherheiten zurückgreifen, nämlich Mr. Paynes Haus und Grundbesitz. Das Ganze sei um so brutaler, als Mr. Payne alle Aussichten habe, die gesamte Schuld binnen eines halben Jahres zurückzuzahlen, denn er habe in irgend etwas investiert, das nach vertraulichen Informationen jetzt Gewinne abwerfen werde. In seinen Augen habe Mr. Grimbold ihm aus Bosheit den Zahlungsaufschub verweigert, nur damit er seine Schulden nicht bezahlen könne – er sei nur auf seinen Haus- und Grundbesitz ausgewesen. Durch Grimbolds Tod sei die Situation vorerst gerettet, denn dadurch würde die Pfändung so lange hinausgezögert, bis die vertraulich erwarteten Gewinne sich eingestellt hätten. Mr. Payne würde Mr. Grimbold mit Vergnügen umgebracht haben, aber er habe es nicht getan, und er sei überhaupt nicht der Mann, der jemanden von hinten erstechen würde, aber wenn der Geldverleiher jünger gewesen wäre, hätte er, Payne, ihm mit dem größten Vergnügen sämtliche Knochen gebrochen. So sei es, und das könnten sie nun glauben oder nicht. Wenn dieser dämliche Hamworthy ihm nicht dazwischengekommen wäre, hätte er den Mörder gleich erwischt – allerdings sei er nicht ganz sicher, ob Hamworthy wirklich so dämlich sei. Blut? Sicher, ja, er habe Blut am Mantel. Das sei bei dem Kampf mit Hamworthy am Fenster passiert. Hamworthys Hände seien ganz voll Blut gewesen, als er in die Bibliothek gekommen sei. Zweifellos stamme es von der Leiche. Er, Payne, habe bewußt seine Kleider nicht gewechselt, sonst würde ihm am Ende noch jemand zu unterstellen versuchen, er wolle etwas verbergen. In Wirklichkeit sei er seit dem Mord noch gar nicht zu Hause gewesen und habe auch nicht gebeten, nach Hause gehen zu dürfen. Mr. Payne fügte hinzu, daß er energisch gegen die Art und Weise protestiere, wie ihn die örtliche Polizei hier mit unverhohlener Feindseligkeit behandle. Worauf Inspektor Henley erwiderte, da sei Mr. Payne sehr im Irrtum.

«Mr. Payne», sagte Lord Peter, «würden Sie mir eines sagen? Als Sie den Aufruhr im Eßzimmer hörten und die Köchin schrie und so weiter, warum sind Sie da nicht sofort hingegangen, um nachzusehen, was da los war?»

«Warum?» versetzte Mr. Payne. «Weil ich so was nicht gehört habe, darum. Ich habe erst etwas davon erfahren, als dieser Butler plötzlich in der Tür stand und mit seinen blutigen Händen fuchtelte und herumlamentierte.»

«Aha!» sagte Wimsey. «Ich hatte gleich das Gefühl, daß dies eine gute, solide Tür ist. Sollen wir die Dame bitten, hineinzugehen und noch einmal für uns zu schreien, bei offenem Eßzimmerfenster?»

Der Inspektor ging, diesen Auftrag auszuführen, und die andern warteten begierig darauf, die Schreie zu zählen, doch nichts passierte, bis Henley den Kopf zur Tür hereinsteckte und fragte! «Na, was ist?»

«Nichts», sagte Parker.

«Ein sehr gut gebautes Haus», sagte Wimsey. «Ich nehme an, alle Geräusche, die durchs Fenster nach draußen dringen, werden durch den Wintergarten gedämpft. Nun, Mr. Payne, wenn Sie die Schreie nicht gehört haben, ist es kein Wunder, daß Sie auch den Mörder nicht gehört haben. Sind das alle deine Zeugen, Charles? Ich muß nämlich nach London zurück und jemanden wegen eines Hundes aufsuchen. Aber ich lasse dir zwei gute Ratschläge nebst meinem Segen hier. Der eine lautet, daß du dich mal nach einem Auto umhören solltest, das gestern abend zwischen halb acht und Viertel nach acht hier im Umkreis von etwa fünfhundert Metern geparkt hat; der zweite lautet, daß ihr alle heute abend hierherkommen und euch bei geschlossenen Türen und Fenstern ins Eßzimmer setzen und die Fenstertür beobachten sollt. Ich werde Mr. Parker gegen acht Uhr anrufen. Ach ja, und ihr könntet mir mal den Schlüssel zur Wintergartentür leihen. Ich habe da nämlich eine Theorie.»

Chefinspektor Parker überreichte den Schlüssel, und Seine Lordschaft verabschiedete sich.