FLEXEN - Mirjam Aggeler - E-Book

FLEXEN E-Book

Mirjam Aggeler

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Beschreibung

Flex|en, das, – kein Pl.: 1. trennschleifen 2. biegen 3. Sex haben 4. das Variieren der Geschwindigkeit beim Rap 5. die Muskeln anspannen 6. seine Muskeln zur Schau stellen 7. Flâneuserie In 30 verschiedenen Texten mit 30 verschiedenen Perspektiven auf Städte, alle geschrieben und erlebt von Frauen*, PoC oder queeren Menschen. Texte, die beweisen, dass das Flexen, die Flâneuserie endlich ernst genommen werden muss. Die Figuren in der Anthologie streifen durch Berlin, Paris, Jakarta, Istanbul und Mumbai. Sie erzählen uns u.a. davon, wie eine Frau mit Kinderwagen die Großstadt erlebt, eine Frau eine Großdemonstration in Dresden miterlebt, wie Flanieren in Indien schon Aktivismus bedeutet, wie sich die Geschichte in den Ort einschreibt und manchmal wird die Stadt sogar selbst zur Figur.

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Inhaltsverzeichnis
Cover
Titelseite
Vorwort
O, jetzt geht’s vorwärts!
Gerhild Steinbuch
Friendly Fire
Katia Sophia Ditzler
Jakarta
Nadire Y. Biskin
Borderline
Mirjam Aggeler
Wenn du lächeln würdest
Deniz Ohde
Dresden – Chemnitz (drei Männer)
Anke Stelling
Brausen Schrägstrich Abspülen
An vielen Fassaden siehst du nur noch den Schimmel, diese Stadt wurde seit Jahrhunderten nicht mehr gelüftet
Karin Peschka
Favoritenstraße
Luna Ali
Auf halber Strecke
Katharina Sucker
Auf die andere Seite
Erstmal Mund auf und raus und danach heimlich schämen
Svenja Gräfen
Schritte machen
Julia Lauter
Wie man eine Stadt erobert
Bettina Wilpert
Der Himmel ist überall
Anna Hetzer
Gedichte
flaneuses
plac zbawiciela
an der stralauer brücke
die frauen von uamdo
Leona Stahlmann
Schaumnest
Ronya Othmann
Gedichte
Gehe fluchtartig geradeaus und versuche, meine Gesichtsmuskeln zu entspannen
Cornelia Manikowsky
Abend im Sommer
Mia Göhring
Flirren
Leyla Bektaş
Güerita
Halina Mirja Jordan
Always Hungry
Judith Coffey
Am Bayerischen Platz
Sandra Burkhardt
Das Exterieur
die zu uns sprechen mit einem messer als zunge
Andra Schwarz
Gedichte
Überall zuhause sein allein
Dinçer Güçyeter
Byzanz will es ohne Kondom
Lea Sauer
Eine Überlebende, Eine Zeugin, Ein Bericht
Svenja Reiner
Otis
Simoné Goldschmidt-Lechner
sur d’autres heures
Sibylla Vričić Hausmann
Feste Dinge
Interview mit Lauren Elkin
Über die Autor*innen
Impressum und Copyright
FLEXEN
Flâneusen* schreiben Städte
Herausgegeben von Özlem Özgül Dündar, Mia Göhring, Ronya Othmann und Lea Sauer

VORWORT

Die Flâneuse* zusammen mit den Herausgeberinnen
Flex | en, das, – kein Pl.: 1.trennschleifen 2.biegen 3.Sex haben 4.das Variieren der Geschwindigkeit beim Rap 5.die Muskeln anspannen 6.seine Muskeln zur Schau stellen 7.Flâneuserie
Ich flexe. Ich flexe mich in die Stadt, durch die Stadt. Ich flexe mir die Stadt zurecht. Flexen – das Wort mache ich. Ich gehe durch die Stadt, flaniere und flexe. Alles, was ich in den Texten dieses Buches mache, findet sich in diesem Wort wieder. Ein Wort mit vielen Bedeutungsebenen. Ich schneide mit ihm eine Kerbe in das ursprüngliche Verständnis vom Umherwandeln in Städten. Ich dehne den Begriff des Flanierens aus, so weit wie er auch faktisch ist. Mein Blick ist manchmal ins Detail verliebt, manchmal bohrend, stechend,manchmal lässig, verträumt oder sexy, manchmal schnell und hastig, langsam und besonnen. Manchmal knallhart.
Braucht man dafür ein neues Wort? Muss es wirklich das Flexen sein? Ja, muss es. Denn das, was ich mache, ist nicht einfach nur ein nettes Herumspazieren, ein Lustwandeln, eine Selbstverständlichkeit. Ich bin noch kein Teil einer Tradition, es gibt von mir noch kein Bild mit Spazierstock und Zylinder auf den großen Boulevards, keine Literaturgeschichte. Wenn ich mich in Städten bewege, heißt das: Aufpassen. Oder es heißt: Gesehen werden. Oder: Vollkommen unsichtbar sein. In jedem Fall wurde meine Stimme bis heute zu selten angehört und hat zu selten die Seiten von Büchern gefüllt. Flexen heißt, mich dort zu bewegen, wo ich nicht vorgesehen bin und etwas tun zu wollen, was für mich erst einmal als etwas Ungewöhnliches gilt. Deswegen flexe ich.
Meine Präsenz ist nicht ungefährlich und einfach für mich, fraglos akzeptiert wie sie es für die traditionellen Flaneure ist. Auch darum stelle ich hier meine Kraft zur Schau, die ich brauche, um mich im öffentlichen Raum zu bewegen. Flexen, es bedeutet all das. Das Wort Flâneuseurie gibt es nicht, in keinem Wörterbuch. Mich aber gibt es. Ich bin hier. Die begriffliche Annäherung von Flexen und Flâneuserie, die ich euch auftische, ist nicht zufällig. Sie zeigt die Anstrengung und die Vielschichtigkeit, die sich hinter meinem Gehen im urbanen Raum verbirgt.
Wie werde ich gesehen, wenn ich die Wohnung verlasse, wenn ich im Supermarkt bin, in der Straßenbahn? Ich bin weder besonders auffällig, noch unauffällig. Im Vorbeigehen falle ich schnell unter den Radar der anderen Blicke. Manchmal bleiben Blicke an mir haften wie gebannt, zu oft. Ich haste nicht. Ich habe kein Ziel. Ich stolpere durch Straßen, breit und gigantisch, schmal und schattig. Mich treibt die Neugier, die Lust am Wandeln, das Alleinsein mit der Stadt. Es ist mein Raum. Er gehört mir wie er jeder Person gehört, die sich in ihm bewegt. Das passt nicht allen. Ich gerate ins Blickfeld. Ich störe. Ich habe Lust am Stören, und das kann ich schon durch meine reine Anwesenheit. Es war nicht vorgesehen, dass ich hier bin und dort. Wo ich es sein kann, wurde es von mir erkämpft. Ohne Anstrengung ging es nie. Mir wurde gesagt, es sei zu gefährlich, bleib zu Hause. Bleib drinnen, da wo es sicher ist. Nur bedeutet drinnen sein nicht gleich Sicherheit und draußen sein nicht zwangsläufig Freiheit. Aber es kann Freiheit werden, wenn ich präsent sein kann, wo ich präsent sein will, auch dort, wo niemand außer mir das möchte. Wenn ich laut sein kann oder unbemerkt gehe, auf den Asphalt spucke und alles überall, zu jeder Zeit und ohne Einschränkung tun kann. Mir ist bewusst: Das ist auch ein Privileg, das ich mir erkämpfen kann. Es gibt Dinge, die es unmöglich machen, Flâneuse* zu sein. Zum Beispiel nur in bestimmter Kleidung und in Begleitung rausgehen zu dürfen oder wenn es sich generell nicht gehört, sich Zeit dafür zu nehmen, umher zu gehen und die Umgebung anzuschauen. Das passiert hier und anderswo. Manchmal durch gesetzliche Verbote, manchmal einfach durch gesellschaftliche Konventionen. Es kann ein abfälliger Kommentar sein, wenn ich meinen liebsten Minirock trage, Beleidigungen, wenn meine Hautfarbe für einige nicht ins Stadtbild passt, ich zu männlich oder weiblich aussehe. Es können aber auch Polizeikontrollen und Strafen sein. Berührungen, ungewollte Küsse, Verfolgungen, unangenehme Blicke, die totale Ignoranz. All das hat nur eine Botschaft: So in der Stadt unterwegs zu sein – das solltest du nicht.
Mir fallen nur wenige Autor*innen ein, die über mich geschrieben haben – Virginia Woolf, Jean Rhys, George Sand, Frederika Amalia Finkelstein, Teju Cole, um nur einige Beispiele zu nennen. Ich bin sicher, dass es mehr gab, aber ihre Stimmen wurden und werden von der Stimme des traditionellen Flaneurs, weiß, heterosexuell und männlich, überdeckt. Hier erhebe ich nun meine eigene Stimme und mache sie lesbar. Ich spreche nicht mit gespaltener Zunge. Meine Zunge ist von Grund auf vielstimmig.
Ich lebe in Städten. Sie sind mein Zuhause. Der urbane Raum ist mein Alltag. Ich bewege mich durch ihn wie durch mein Wohnzimmer. Ich kenne seine Ecken und Kanten, seine Kuschelorte. Ich kenne die Straßen, viel befahren, viel begangen, auch von mir. Er ist Teil meines Denkens, meiner Welt. Aber wo sind meine Perspektiven in der Literatur? Wo sind die Blicke der Frauen*, der People of Colour, der Queeren? Mir fehlt das auf Papier geschriebene Wort. Mir fehlt meine Stadterfahrung in den geschriebenen Geschichten, in den geschriebenen Figuren. Im geschriebenen Wort von Frauen*, People of Colour und queeren Menschen. Um dieses Wort auf Papier zu bringen, nachlesbar zu machen, gibt es dieses Buch mit mir und über mich. Flâneusen* schreiben Städte. Ich schreibe meinen Blick auf die Stadt und schreibe damit die Stadt neu, definiere sie neu im Geschriebenen, mache mein Erleben sichtbar. Die verschiedenen Erlebnisse, Blicke und Momente wachsen zu einem Chor an Stimmen; jede ist einzigartig und alle schreiben zusammen die Stadt.
In jedem der Texte, die in diesem Buch versammelt sind, findet sich eine neue Facette von mir. Ich bin die Mutti, die den Kinderwagen schiebt, Beobachterin der Straße. Ich bin der Mann, der seinen Vater verloren hat. Ich bin die Frau, die auf der Straße trödelt aus Protest. Ich bin die Frau, die protestieren geht, deren Füße im Alltag Mahnmale berühren, die anhält und darüber schreibt. Ich bin die­jenige, die geschunden wurde und nachts durch die Straßen geht, um sich wieder sicher zu fühlen. Ich laufe durch Gebiete, in denen Krieg herrscht. Ich bin diejenige, die den Krieg in ihren Erinnerungen mit sich trägt. Ich höre genau hin. Ich beobachte unsere Räume in Zeitlupe von der Shoppingmall bis zu deinem Hinterhof. Ich verschlinge jeden einzelnen Pflasterstein. Durch mich läuft der Rhythmus der Stadt. Ich bin die Bouncerin im Club deiner Wahl. Ich wandle zwischen den Geschlechtern und ihren Vorstellungen, auf der Suche nach Sex, auf der Suche nach nichts Bestimmten, ich bin überall auf der Welt und laufe und laufe und laufe. Und ich schreibe darüber. In Romanen, in Gedichten, in Reportagen, in Essays. Ich bin da. War ich schon immer. Ich existiere. Und ich möchte gesehen werden. Meine Anwesenheit soll dokumentiert sein. Ich möchte euch einladen, mich auf meinen Streifzügen zu begleiten, die Städte mit meinen Augen zu sehen, selbst auf die Straße zu gehen und darüber zu schreiben, was ihr denkt und fühlt, was ihr seht und hört.

O, jetzt geht’s vorwärts!

Gerhild Steinbuch

Friendly Fire

Ist es das jetzt, das sogenannte Draußen? Oder sind wir jetzt so weit drin im Ich, dass alles was da sonst noch sein kann, ohnehin egal ist? Egal. Jetzt geht’s vorwärts. Jetzt fangen wir an, jetzt brechen wir auf, jetzt legen wir los, jetzt jagen wir los, jetzt greifen wir an, jetzt greifen wir zu, jetzt drücken wir zu, jetzt treten wir zu, jetzt treten wir vor, jetzt treten wir auf. Das war einfach! Jetzt stehen wir im Licht, und das Licht ist ziemlich schön und ziemlich gleißend, ja schon schön, wenn man eine Geschichte hat, die so groß ist, dass alles, was man selbst nicht ist, darunter verschwindet. Wir erzählen uns so lange in eine Geschichte hinein, bis die sogenannte Wirklichkeit dahinter nicht mehr auffällt, bis sie nicht mehr ins Gewicht fällt, wir erzählen uns so lange in eine Geschichte hinein, bis alles, was da einmal fremd war, unter uns verschütt gegangen ist. Gibt es das noch, das sogenannte Draußen? Egal. Jetzt legen wir los, jetzt fegen wir los, jetzt fangen wir an, jetzt packen wir an, jetzt packen wir zu, jetzt kommen wir an. Nein, das war gelogen. Denn ankommen, tja, das ist etwas, das wir ohnehin nicht können. Im Leben? Nein, dort auch nicht. Und in der Liebe? Nein, dort auch nicht. Und im Körper? Nein, dort auch nicht. Und in der sogenannten Wirklichkeit? Nein, dort ganz bestimmt nicht. Wir wandern immer weiter, wir machen immer weiter, wir ziehen immer weiter, wir gehen immer weiter, wie die Geschichte weitergeht, das Leben das Reden das Vorwärts, wir fangen an, wir fangen immer von vorne an.
Und das ist die Geschichte: Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus, um aber doch immer leider nur zu mir zurückzukommen, na, besonders viel ist das ja nicht. Fremd zieh ich also wieder einmal aus, und nochmal und nochmal, um in der Fremde auf was anderes als mich zu treffen. Auf das Fremde vielleicht? Nein, vielleicht eher nicht, denn die Angst ist ein treuer Geselle, wie das Glück einer ist, die schieben sich vor das, was stattfinden könnte, nein, was nur stattfinden kann, wenn ich endlich nicht mehr da bin. Ja, ich müsste selbst den Weg mir weisen, in dieser Dunkelheit, nein, in diese Dunkel­heit hinein, bis dorthin wos dann nicht mehr weitergeht, wo es mit mir dann nicht mehr weitergeht, aber Konsequenz das ist noch nie etwas gewesen, das mich, das uns ausmacht. Immer noch rechtzeitig in alle Richtungen abgebogen in Höchstgeschwindigkeit, Grenzen überwunden, Grenzen niedertrampelt, Grenzen gezogen, Grenzen wieder ausgelöscht, Leben als Geschichte geschrieben und mich in die Geschichte geschrieben, Namen gegeben und genommen, Wörter übergeworfen, mir übergezogen, das Ebenbild betrachtet, dem gleichmäßigen Atemgeräusch gelauscht, meine Stimme sagt nichts. Tja, würde sagen, das ist dann ja wohl eher dumm gelaufen, wenn diese Stimme alles ist, was mir geblieben ist. Nein, wenn Worte alles sind, das mir geblieben ist. Oder Wörter?
Egal.
Und das ist die Geschichte: Der Mensch stapft durch die trübe Weltlandschaft und passt auf, dass er aus dem Tritt kommt, nein, dass er nicht aus dem Tritt kommt. Egal! Wir wandern immer weiter. Na, der ist aber ziemlich undurchsichtig, dieser Weg, der ist aber ziemlich unübersichtlich, weil der Weltwind dauernd drüber wegfegt. Egal, wir wandern immer weiter! Der ist aber ziemlich dunkel dieser Weg, dass ich die Augen kneifen muss, nein, fest verschließen, damit das innere Licht die Dunkelheit erhellt und mir in seiner hellsten Helligkeit den Weg leuchtet. Egal, wir wandern immer weiter! Na, würde sagen, das ist aber ziemlich duster, dieses innere Licht. Egal. Ob du wirklich richtig stehst, siehst du, wenn das Licht angeht. Na, würde sagen, da kann ja nicht mehr so viel schiefgehn, denn wenn wir etwas können, ist es, uns ins rechte Licht zu rücken. Fangen an, wandern los, brechen ein, brechen auf, treten auf, und das Licht ist immer das rechte Licht, das ist ziemlich schön und ziemlich hell und ziemlich gleißend. Na, würde sagen, da kann ja nicht mehr so viel schiefgehn, denn wenn wir etwas können, ist es, so in andre Standplätze einzubrechen, dass sie postwendend wie unsre Standplätze aussehen. Oder in andre Körper?
Und das hier stimmt. Herausbrennen müsste man uns, so lange, bis wir endlich nicht mehr da sind. Aber das ist nicht die Geschichte, tut mir leid, tut mir wirklich leid. Konsequenz, das ist noch nie etwas gewesen, das uns auszeichnet.
Jetzt geht’s vorwärts!
Der Mensch strebt vorwärts mit einer Riesengeschwindigkeit, denn je höher die Geschwindigkeit desto mehr Tage desto mehr Ordnung. Je höher die Ordnung desto mehr Vorwärts desto weniger Abbruch. Das war einfach. Ja, aber die lassen sich leider nicht ganz vermeiden, diese Abbrüche, wenn sie einmal ankommen, nein, wenn wir einmal ankommen, wenn wir an die andren rankommen. Fremd aus- und eingezogen, das Fremde angezogen, vorher die schöne Oberfläche betrachtet und dann reingeschlagen mit den Fingernägeln und ordentlich zugepackt. Das war einfach. Ja, das lässt sich leider nicht vermeiden, wenn wir rankommen, dass wir die rannehmen, dass wir sie auch einnehmen, nein, dass wir sie in Kauf nehmen: die Sprachabbrüche und die Beziehungsabbrüche und die Knochenabbrüche. Egal. Wir steigen drüber weg, wir gleiten drüber weg, wir gehen zur Tagesordnung über, gehen die Tagesordnung auf und ab, wir promenieren, auf ab auf ab auf, bis wir die Lust daran verliern. Das war einfach. Ja, so ein Leben, so ein fremdes Leben, das ist schon was Schönes. So ein schönes fremdes Leben leben, das sich noch aus der Geschichte streichen lässt. Wir bitten den Fremden herein, nein, wir bitten uns als die Fremden herein, und dann ziehen wir uns das über, wir werfen uns über, wir stürzen uns drauf und wir fallen drauf rein, wir fallen da ein und hernach wird dann sogleich fremd auch wieder ausgezogen, und noch mal und noch mal: Grenzen überwunden, Grenzen niedergetrampelt, Grenzen gezogen, Grenzen wieder ausgelöscht, so, und jetzt gehts vorwärts! Nein, jetzt geht’s von vorne los: Leben als Geschichte geschrieben, uns in die Geschichte geschrieben, Namen gegeben und genommen, Leben gegeben – nein, das war gelogen – und Leben genommen – ja das natürlich schon.
Immerhin. Aber ist das jetzt ein neuer Anfang? Nein, natürlich nicht. Aber eine Schwelle ist das immerhin. Ja, aber pass auf, dass du dir an den Weltkanten nicht die Finger blutig schnitzt. So und da jetzt auf die Schwelle eins zwei drei Tropfen drauf als Menschlichkeitsbeweis, dass die Fremden draußen bleiben, die sich ständig hereinbitten lassen wollen. Na, da können die aber lange warten. Ich habe Zeit, denn manchmal, wenn die Zeit vorbeirast, schlage ich ja wie gesagt dann meine Nägelchen so schnell ein, dass sie mir nicht widerstehen kann, dass sie sich nicht widersetzen kann und mich ein hübsches Stückchen mitschleift. Verweile, Wanderer! Äh, ja, tut mir leid, keine Zeit. Jetzt bist du zwanzig, jetzt bist du achtundzwanzig, jetzt bist du zweiunddreißig, jetzt bist du neununddreißig, jetzt lernst du Eloquenz, jetzt lernst du Rhetorik, jetzt wirst du geliebt, macht ein ziemlich gutes Gefühl, machst ein ziemlich gutes Gefühl, engagierst dich, engagierst dich für was andres, engagierst dich für dich. Wenn man eine Geschichte hat, das ist schon was Schönes.
Und das ist die Geschichte: Der Mensch läuft durch die Landschaft, um sich so mit ihr zu verwachsen, dass ihm die Echtwelt nichts mehr anhaben kann. Und die unvorhergesehenen Momente? Die auch nicht. Und die ungeplanten Aufeinandertreffen? Die auch nicht. Und die Zeit? Die bestimmt nicht. Trotzdem: Unter meinen Händen zerfällt sie, meine, nein, unsere Geschichte wiederholt sich, wir stehen in den Trümmern, na, die sehen aber ziemlich gut aus, na, aber selbst wenn die ziemlich gut aussehn, müssen die jetzt leider trotzdem draußen bleiben, denn da klebt die Welt dran, pfui. Ach, wenn alles so leicht fernzuhalten wäre wie die Konsequenzen dieser Ohnmacht, die die Körper so flauschig warm ummantelt, dass sie uns gar nicht mehr auffällt. Dass uns dazu nichts mehr einfällt. Ja, dazu fällt mir jetzt auch nichts mehr ein. Na, würde sagen, dann verlass ich mich auf mein Gefühl Glaube Liebe Hoffnung als die schönen scharfen unsichtbaren Stützen, von Schützen bewacht, die ihr Ziel nie verfehlen, ja, zuerst haben wir die Stützen eingegraben und so einen Zaun in die Landschaft wachsen lassen, der das Außen vom Innen trennt. Und daran hochgezogen: weite weiße Fläche. Und darauf dann: Landschaft, die erst ihresgleichen suchen muss. Und darauf dann: trümmerlose Welt, dass die echte auseinanderfällt. Jetzt bist du müde, langweilst dich, wo ist der sogenannte Feind, der die Geschichte vorwärts treibt? Nichts von Fremden annehmen, nichts vom Fremden annehmen, – oder das Fremde annehmen als das, was fremd ist, um es hernach hereinzubitten und vertraut zu werden? Nein, natürlich nicht. Lieber das Fremde ansprechen als das, was es ja eben ist, nein, was es sein sollte und es hernach als neu geschaffene Bedrohung einfalln lassen. Ach, wenn alles nur so einfach wäre wie anstelle anderer zu sprechen, die wir ohnehin nicht hören können, nein, nicht hören wolln, weil wir mit ihrem Standplatz, der ohnehin schon immer unsrer war, so schön platzsparend verschmolzen sind. Eins zwei drei Tropfen auf die Schwelle, dass die Toten draußen bleiben, die sich ständig hereinbitten lassen wollen. Na, da können die aber lange warten. Ja, und das werden sie auch. Macht nichts. Wir haben Zeit.
Lasst uns enger aneinanderrücken, Freunde, draußen tobt die Welt! Aber ist sie das jetzt, die Schwelle in den endlich neuen Anfang? Nein, natürlich nicht. Auf der sogenannten Schwelle staut sich Mensch. Egal. Die Toten werden hier jedenfalls ganz bestimmt nicht eingelassen, die werden nicht hereingebeten, die Namenlosen, und die andren Namenlosen auch nicht, tut uns leid, die Namen des erlauchten Kreises hier, die sind ja leider alle schon vergeben und, das Recht zu sprechen, ausgebucht für dieses Jahr, aber Sie können sich gerne in diese Liste hier eintragen, ja, das können Sie machen, auch wenn das nichts bringt. Wir parken auf der Schwelle, die keinem außer uns das Leben sein soll, auch wenn unser Leben längst ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trippelt, dort drüben, wohin es geflüchtet ist, vor uns. Egal. Aufgehoben in der massigen Mitte. Oder inmitten der Masse? Wenn man eine Geschichte hat, nein, wenn man einen Körper hat, das ist schon was Schönes.
Ich komme an, aber schon im Ankommen der erste misslungene Versuch, denn was uns trennt, die Welt und mich, ist etwas, das ich ohnehin nicht überwinden kann, schon gar nicht durch die Kraft der Worte, die ja niemals meine waren, die immer schon unsre waren. Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus, um aber doch ja immer leider nur zu mir zurückzukommen, na, besonders viel ist das ja nicht. Aber es ist von Frauen auch ohnehin nichts Großes zu erwarten, vom Geburtsrecht einmal abgesehn. Nein, nicht das der grundsätzlichen Menschenwürde, nein auch kein familiäres Privileg oder schon, aber nur als sicherer Hafen, aus dem die Schiffe auslaufen, bis er sich nicht mehr selbst in Stand halten kann. Aber gestanden wird ohnehin nicht, bloß gelegen. Der steht schließlich immer schon in Frage, dieser Körper, der steht so in Frage, dass er den andren braucht, um daran festzuwerden, nicht wahr? Ja, wenn dieser Körper hier sich einmal so in Frage stellen könnte, dass dann endlich was andres kommt. Aber der stellt keine Fragen – auch weil ich mir schon die Frage stelle – egal, – nein, weil ich mir ja schon die Frage stelle –, egal, ja egal, – aber manchmal da frag ich mich, nein, ja, aber manchmal da frag ich, nein aber nein nein nein nein, dieser Körper, der stellt keine Fragen, weil er sie nicht zu stellen hat, weil er sich zu stellen hat, als Auslaufmodell Zielscheibe Zeitvertreib schöne Aussicht, der wird höchstens manchmal angesprochen, hallo, du etwas aussichtsloses Werkzeug!, ach, oder er wird einfach anspruchslos gleich mitgenommen, ohne zu fragen, sicher ist sicher. Es ist ein ständiges Zurückgerissenwerden in diesen Körper, der nicht in die Geschichte passt. Nur als Unterwerfung. Was nicht passt, wird passend gemacht. Und diese Geschichte einer Unterwerfung ist eine schöne Geschichte.
Wenn ich diesen Körper endlich nur als Frage stellen könnte, ohne Kontext, ja, wenn ich diesen Körper so als Frage stellen könnte, dass ihm die Erinnerung endlich nichts mehr ausmacht. Den Körper so in Frage stellen, dass er die Verwechslung erlaubt – Und was ist das für ein Anfang?
Egal.
Du läufst durch die Stadt, die Stadt ist eine von vielen, du schließt kurze Bekanntschaften, du schließt lange Bekanntschaften, du fickst, du redest, du unterhältst, du machst ein ziemlich gutes Gefühl, du dankst und dir wird gedankt, du bist richtig jämmerlich, egal, du machst immer weiter, du lächelst, du läufst durch den Tag, du arbeitest, du entspannst, du bist ziemlich entspannend, du schläfst, du heulst, du kommst nirgendwohin, jetzt bist du müde, egal, jetzt bist du müde, du stehst morgens auf, du schläfst oder auch nicht, liebst oder auch nicht, du benutzt deinen Kopf oder auch nicht, du benutzt ihn, um dich zu verstellen, und jetzt geht’s vorwärts: mehr Tempo mehr Tag mehr Ordnung, du kontrollierst, du redest, du hast nichts zu sagen, du weinst ein bisschen, weil dir sonst nichts einfällt, du redest, du machst immer weiter, draußen die Welt, die nicht einbricht, die nie in dich einbricht, du bleibst intakt, du redest, das ist nicht meine Stimme. Egal. Wir stehen im Licht, Grenzen gezogen, andre Grenzen ausgelöscht, in diverse Leben eingebrannt, Namen gegeben und genommen, Wörter übergeworfen: Jetzt geht’s vorwärts!, und meine Stimme, nein, jetzt geht’s vorwärts!, meine Stimme, nein, jetzt geht’s vorwärts, wir / stehen im Licht, und das Licht ist ziemlich hell und ziemlich gleißend und der Körper, jetzt ja jetzt!, läufst die Straße runter, von einer in die andre, von einer Geschichte in die andre, wir / stehen im Licht, und das Licht ist ziemlich hell und ziemlich, ja, und der Körper, aber wenn ich, nein, wenn ich –, und du bist müde, egal, bist immer müde, egal egal, und das ist die Geschichte: Alles geht immer weiter, aber das ist nicht meine, nein, aber, und das ist die Geschichte: Wir finden statt und dann finden wir statt, nein, aber, und das ist die Geschichte: Das ist nicht besonders viel, egal, jetzt geht’s vorwärts!, das ist nicht meine, nein, aber nein, jetzt geht’s, ja! Und das ist die Geschichte: Du bist immer müde, nein und das ist die Geschichte: Alles geht immer weiter, nein das ist nicht meine, nein das ist nicht meine nein das ist nicht meine nein nein nein nein nein
Einmal aufhörn, ja, das wäre schön.

Katia Sophia Ditzler

Jakarta

Jakarta I
Das Bildungsministerium hatte zu viele Steuereinnahmen und investierte sie in Ausländer/innen, die für ein Jahr ihre Probleme zu Hause gegen indonesische Probleme eintauschen wollten. Die Mitstipendiat/innen aus Schwellen- und Entwicklungsländern studierten die indonesische Sprache, die aus dem Westen studierten irgendeine Kunst, denn was ist schon ein Jahr deines Lebens, wenn dein Leben gesichert ist? Wir würden Musik, Schattenpuppentheater und Tanz studieren. Als wir ankamen, war der Himmel grau und dramatisch, die Flughafenlichter waren Diamanten. Es dämmerte.
Während einer der viel zu langen Willkommensveranstaltungen sollten wir aufstehen und die indonesische Nationalhymne singen. Der Text wurde auf eine Leinwand projiziert. Ich blieb sitzen und sang die sowjetische Hymne, aus Spaß. Die Litauerin und die Ukrainerin neben mir waren nicht begeistert. Du und ich flohen in unser Zimmer, verschliefen den Rest des Orientierungsseminars, schauten im Fernsehen japanische Pathologiekrimis und hatten Sex. Die Kamera zoomte immer rein und raus, auf die geschockten Gesichter der Gerichtsmedizinerinnen. Wir schlichen uns raus und gingen spazieren. Es gab in der Umgebung nichts, ein paar Essensstände, Motorräder, die viel zu nah vorbeirasten. Die Leute schrien uns Wörter wie bule oder londo hinterher, die man zur grenzbeleidigenden Bezeichnung europäisch aussehender Menschen verwendet. Man musste ehrlich mit sich selbst sein: Man konnte niemals mit Leuten, von denen man sich zu sehr unterschied, sei es charakterlich, sei es finanziell, auf einer Stufe sein. In solchen Konstellationen gibt es aufgrund des Gefälles niemals echte Freundschaften. Wir würden in zwei verschiedenen, nah beieinander liegenden Städten in Zentraljava wohnen. Alles war voller Verheißung.
Im Westen Jakartas gibt es ein Diorama, in dem mit Kunstharz­figuren dargestellt wird, weshalb man 1965 unbedingt echte und angebliche Kommunist/innen sowie ethnische Chines/innen umbringen musste. Es ist dort gelegen, wo am 30.09.1965 die sieben Generäle umgebracht worden sind, was dann Suharto als Vorwand benutzte, um Sukarno loszuwerden, sich an die Macht zu putschen und Säuberungsaktionen durchzuführen. Ich versuchte, dich zu überreden, dorthin zu fahren, aber dafür war keine Zeit. Man brachte uns zum Flughafen. Ein Mann stand auf einer Friedhofsmauer, starrte auf die Straße wie ein König, obwohl sein Blick durch die Äste eines Baums behindert wurde. In den Flughäfen hingen Farbtafeln zur Urinselbstdiagnose. Ich diagnostizierte mich nicht. Wir flogen in verschiedenen Flugzeugen in unsere verschiedenen Städte. Es war September.
Jakarta II
Ich war zutraulich. Deshalb verlangte der Motorradtaxist einen anderen Preis, drei Mal so hoch wie abgemacht, vier Mal so hoch wie angebracht. Ich protestierte, er schrie, bezog die Passanten mit ein, beschimpfte mich. Ich lenkte ein.
Mein Hostel war in der Altstadt. Ich freundete mich mit einem Jungen aus meinem Zimmer an. Er war gerade aus Dublin angekommen und hieß Ryan/Eoin/Aidan mit Vornamen und Murphy/O’Sullivan/Kelly mit Nachnamen. Mein Ethnographinnenherz war glücklich. Er hatte einen Literaturpreis gewonnen, wollte Gedichte über Orang-Utans und die Zerstörung des Regenwalds schreiben. Alle heulten über Palmöl, ich sagte, dass es vielleicht keine Alternative zu Palmöl gäbe, weil Kokosöl aus Kokospalmen gewonnen wird und Kokospalmen sogar noch mehr Platz, gerodeten Regenwald und traurige Orang-Utans brauchen als Ölpalmen. Am liebsten hätte ich eine Fernsehsendung, in der ich Umweltaktivismusmythen auf süffisant-arrogante Weise aufklären würde. »Hey Miss…ter Miss…ter«, nervten die Leute am Straßenrand, als könnten sie sich nicht für ein Geschlecht entscheiden. Wir stolperten. Die Bürgersteige ergaben keine gerade Summe. Meistens gab es überhaupt keine Bürgersteige, wenn doch, dematerialisierten sie sich an den ungünstigsten Stellen oder waren ein schwarzes Loch, ein Portal zu den unendlichen Weiten der überforderten Kanalisation. Ein junger Amerikaner, Kai, war schon monatelang in diesem Hostel. Hatte eine Easy Listening-Band gegründet mit positiven, motivierenden, lebensbejahenden Texten. Er bat uns um Stichwörter, mit denen er dann positive, motivierende, lebensbejahende Liedtexte über die immer gleichen vier Akkorde improvisierte. Ich ließ ihn positive, motivierende, lebensbejahende Liedtexte über Kätzchen mit Syphilis und Hundewelpen mit Gonorrhö improvisieren, was ihm gelang. Am Tag darauf gingen wir nach Chinatown. Ich kaufte einige kleine Wachteln aus einem überfüllten Käfig frei, für je 2000 Rupiah. Der Verkäufer gab sie mir in einer braunen Papiertüte, sie sahen aus wie sich windende Karamellbonbons. Ich ließ sie im chinesischen Tempel frei. Sie waren zu benebelt von der Freiheit, die streunenden Katzen fingen die verwirrten Tiere sofort, brachen ihnen das Genick, zerkauten sie. Sie wussten, was sie taten, und sie waren zu räudig und hautkrank, als dass ich irgendetwas mit ihnen zu tun haben wollte. Die Familie Kais stammte aus der gleichen Stadt wie Mao Zedong. Weil es chinesisches Neujahr war, stellte er ein paar Räucherstäbchen auf. Ich wollte ins Propagandadiorama fahren, vergaß das aber. Auf der Straße malte einer Porträts von Osama bin Laden. Wir skypten, während ich unterwegs war, ich zeigte dir die Stadt.
Der Süden von Jakarta war nachts verwunschen, voller maligner Pflanzen und gebogener Straßen. Ich ging zu einem Poetry Slam. Eine Bekannte trat auf, sie war halb Sizilianerin, halb Britin aus London. Vor einigen Jahren war sie nach Südafrika gezogen, wo sie der malaiischen Minderheit »deren Kultur« beibrachte.
Deshalb lernte sie indonesische Tänze. Zehn Jahre zuvor war sie aus ihrer Gewaltehe geflohen, zum Islam konvertiert, lebte seitdem zölibatär. Sie sang ein Lied darüber, dass Allah ihr ein Schlaflied singen und sie fliegen lehren solle. Ich lernte eine berühmte Oberklassendichterin kennen. Die Dichterin war sehr hübsch, ihre Tochter auch, ihr Mann bösartig. Später sollte er ein Übersetzungsstipendium gewinnen und zufälligerweise den Gedichtband seiner Frau auswählen. Ein paar Monate später outete sie sich als bipolar, woraufhin sie Aktivistin für die Aufklärung über psychische Krankheiten wurde. Fernsehteams kamen zu ihr nach Hause, baten sie, beim Geschirrspülen möglichst verrückt auszusehen. Sie protestierte öffentlich.
Die Exfreundin meines Vaters löschte mich auf Facebook. Ihre Familie wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben, ich chattete oft mit ihr. Wenn ich nicht schnell genug antwortete oder erklärte, dass es Nacht war in Indonesien, löschte sie mich. Kurze Zeit später schickte sie mir wieder eine Freundschaftsanfrage.
Ich traf mich mit Umer, einem Mitstipendiaten, der eine Firma gestartet hatte. Er importierte Skalpelle aus Pakistan nach Indonesien. Erzählte mir, dass er insgeheim Israel gut fand – aber wir stritten uns darüber, ob Armenien oder Aserbaidschan im Unrecht war. Verkrochen uns hinter Marmorsäulen in einer architektonisch lächerlichen Mall und tranken Kaffee. Auf einmal sprang jemand von hinten auf mich: Anzhelika – was ein Zeichen Gottes sein musste, da wir uns von diversen Anarchistencamps in Europa kannten. Ich dachte, sie sei in Sri Lanka, sie wusste nicht, dass ich in Indonesien war, und auf einmal waren wir zur gleichen Zeit in der gleichen Mall in Jakarta. Dann verließ ich Jakarta. Es war Januar, es wurde Februar.
Jakarta III
Jakarta ist Jayakarta, Stadt des Sieges. Ich dachte immer, ich würde jemanden treffen, der jung war, solange ich ebenfalls jung war. Wir würden langsam älter werden, und wenn ich in der Zukunft das alte Gesicht sehen würde, dann würde das junge noch zu erkennen sein.
Du hattest versucht, meinen Namen zu beschmutzen, Soldaten mit Halbwahrheiten rekrutiert, sie gegen mich in Stellung gebracht. Ich verkroch mich im klimatisierten Hostel, aß eine Mahlzeit am Tag. Ich fastete. So wollte ich meine Erinnerungen verhungern lassen. Ich wusch mich nicht, denn wenn man trauert, soll man verwildern. Du wolltest, dass ich mein Haar abschneide. Ich habe mein Haar nicht abgeschnitten. Ich ließ mich auf Motorradtaxen umherfahren und weinte ästhetisch, ging zu Kurzfilmabenden. Ich spürte, dass du in der Stadt warst.
Ich konnte mich nicht verteidigen. Ich ging in Wahnsinn. Du zwangst mich zu Gesprächen, ich fand immer mehr heraus. Ich provozierte dich, lachte über dich. In mir baute ich den Widerstand auf. Meine Sehnen waren durchlöchert wie die Bürgersteige dieser Stadt, und in unvorhersehbaren Abständen gab es tiefe Löcher, in die ich fallen konnte. Ich wusste nicht, ob du strategisch vorgingst wie ein Feldherr, oder ob du einfach nur den Horror der bevorstehenden Vernichtung spürtest, das Enttarntwerden, deine Auflösung in Dampf und Asche, wenn jemand dich durchschaute. Ich sah dich, ich erkannte dich, ich sprach das Zauberwort. Du wurdest zu Nichts, du gingst in die Leere. Ich durchschaute deine Gewalt, die Mechanismen und Taktiken deiner Kontrolle. Du warst ein schlechter Gefängniswärter. Du warst zu sehr überzeugt, alles im Griff zu haben, so dass du die Löcher in deinem Netz nicht gestopft hattest. Ich hatte die Löcher entdeckt, angefangen, die Maschen zu dehnen. Bis sie groß genug waren.
Ich hielt mein Telefon fest in der Hand und las Artikel über Cluster B-Persönlichkeitsstörungen. Nahm mir fest vor, ins Diorama zu fahren. War zu müde, obwohl ich nichts tat. Manchmal arbeitete ich ­diszipliniert und besessen an Projekten. Lud Tinder herunter. Am gleichen Tag ein erstes Date, in der Nähe der Jalan Thamrin. Der Typ hatte Psychopathenaugen. Er ging bald, ich trank weiter mit westlichen Expats. Einer war ein Exdiplomat aus Kanada.
Der Exdiplomat sang Sowjetlieder mit einem Vibrato. Ich kannte die Lieder entweder nicht oder sein Akzent war zu krass, aber ich war sehr angetan. Ich ging nach Hause, bevor ich zu betrunken oder die Situation zu sexuell werden konnte. Tanzte mit der jungen indonesischen Frau eines alten Amerikaners. Er sagte mir »Gut, dass du sie eingeladen hast, sie wird sonst immer sehr eifersüchtig, wenn ich mit jungen Mädchen rede«. Der Psychopath hatte seine ziemlich hohe Rechnung nicht bezahlt, wollte, dass ich sie bezahlte, versprach, mir das Geld zurückzugeben. Ich sagte Nein, löschte seine Nummer und seine Nachrichten, blockierte ihn. War stolz auf mich. Meine Wut hattest du mir gestohlen. Jetzt kam sie wieder – sie war mächtig. Du hattest mich zuerodiert, aber es war genug von mir übrig, um mich wieder aufzubauen.
In meiner Stadt brach der Vulkan aus. Instagram und Facebook waren voller Videos der Rauchsäule, die das, was auf der Erde passierte, an den Himmel verrieten. Ich fuhr zum Flughafen und klaute aus Versehen die Codekarte des Hostels. Es war Mai.
Jakarta IV
Das erste Mal war ich in Liebe gekommen, das zweite in Sehnsucht, das dritte in Trauer. Jetzt kam ich in Heilung. Ich war im gleichen Hostel, gab ihnen die Codekarte zurück. Jeden Morgen sah ich in meinen Mails nach, ob das Visum für Australien schon angekommen war. Die Flüge nach Melbourne wurden jeden Tag teurer. Eine Bekannte, die mal mit ihrer Schwester und ihrem besten Freund (der der Scheinehemann einer meiner besten Freundinnen war) bei mir in Deutschland gewohnt hatte, würde mich aufnehmen.
Adam saß da, aus Melbourne. Seine Arme und Beine waren zerkratzt nach einer viertägigen Wanderung in Sumatra. Er sagte, sein Sohn habe viel über Politik auf Reddit gelernt. Und von Jordan Peterson. Ich sagte ihm, dass dessen Verdienst nur sei, junge Männer von aufgeräumten Zimmern zu überzeugen und Hummersymbolik zu verderben. Er fand das alles sehr positiv, denn Hummer seien unterschätzt.
Er verhörte alle Gäste, entlockte ihnen ihre geheimsten Geheimnisse. Dann erzählte er mir ihre Geheimnisse weiter. Vielleicht sollte ich einen Youtubekanal aufmachen, auf dem ich dann kontroverse politische Thesen verbreiten würde. Leute würden angepisst sein. Ich würde viel Erfolg haben.
Eine Freundin aus meiner Schule, Hannah, war auch in Indonesien für ein Praktikum und gerade in Jakarta, für ein Visum. Wir gingen zu dem Poetry Slam, bei dem die goldene Jugend Südjakartas schlechte Gedichte las und mit zittrigen Stimmen sang. Sie sprachen leidenschaftlich darüber, dass sie gerade eine einmonatige Challenge machten: keine Plastikstrohhalme mehr zu benutzen.
Am Morgen fuhren wir zum Hafen, der nach Katzenfutter roch. Die Ratten waren schamlos. Die Menschen im Hafen lebten in Ställen vor den neuen Hochhäusern, die eigentlich niemals hätten gebaut werden dürfen, aber die Regeln pflegten sich zu ändern. Korruption macht die Welt flexibel. Sie sahen aus wie normale postsowjetische Hochhäuser in der kasachischen Steppe, in der es erst unendlich leer war und dann unerwartet eine Stadt auftauchte.
Auf einem der Boote stand in Himmelblau Revolution. Kinder winkten. Die Boote waren Brücken über den Kanal, Motorräder benutzten sie. Man setzte uns im Kampung-Aquarium aus – der Slum hieß so, weil Fische seit den 1970ern von der Inselgruppe vor der Küste hergebracht wurden.
Der Fährmann war ein lächelnder Hüter der Unterwelt, reichte den Leuten beim Aussteigen die Hand. Am Eingang der Unterwelt ein Stand mit Schokoladenbananen, pisang coklat, oder in der renitenten Liebe zu Abkürzungen piscok. Wo die Fische gesalzen wurden, lebten die fettesten Katzen von Jakarta.
Wir gelangten zum Fluss, in den die Scheiße der umgebenden Hochhäuser geleitet wurde. Die Scheiße formte Muster, ich machte ein Foto, das aussah wie ein Luftbild einer majestätischen Wüste. Zwei Monate später wurde für die Asian Games das Abwasser in eine Kammer unter den Fluss geleitet, der eigentliche Fluss nahm die Farbe eines Smaragds an. Eine Blondierte trug ein blaues Kolonialzeitkleid aus synthetischem Samt, drehte ihren Papierschirm in den Händen. Sie war dazu da, mit ihr Fotos zu machen, hatte viele Kunden.
»Hit me in the face I need to feel alive«, stand auf dem T-Shirt eines Mannes.
In der Ausstellung der Kunstuni Jakartas bestand ein Exponat aus Zitaten auf Papier: »Go as a river, true love heals, drink your tea, I am here for you.«
Am Taman Ismail saßen Chuck, Nesha und ich bei den Wahrsagern, ließen unsere Beine von Moskitos zerbeißen. Die Masseure griffen ihren Kunden erotisch ins Körperfett, sehr intim und sehr öffentlich. Der Alte neben mir heulte wie ein Wolf, obwohl Vollmond vorbei war. Wir aßen gebratenes Tempeh. Am Tag danach fuhr ich mit Nesha ins Diorama. Sie war eine der vielen Affären von Chuck, die alle voneinander nichts wussten.
Sie studierte, arbeitete in Teilzeit als Hijabmodel und Modedesignerin. Beim Diorama stand ein Schild:
»Links zur blutverschmierten Kleidung der Helden, rechts zum Brunnen des Todes«. Blut war rotgeschrieben, der Rest schwarz. In den sechs Schaufenstern, die die Entführung der sechs Generäle zeigten, hatten die Privatbibliotheken der Generäle immer kultivierte Bücher stehen. Die beiden größten Schaufenster waren für den besten Propagandacoup reserviert: Sie zeigten beide die versehentliche Erschießung der fünfjährigen Tochter des Generals Nasution aus verschiedenen Perspektiven unter Verwendung viel Acrylfarbenbluts, das aber schon lange nicht erneuert worden war und abblätterte. Denn wie kann man Besucher am besten von der absoluten Bösartigkeit des Kommunismus überzeugen, wenn nicht durch überlebensgroße Kinderleichen aus Kunstharz? Ich zeigte fassungslos rhetorische Propagandastrategien auf, kommentierte Falschinformationen. Nesha nickte. Sie sagte, sie seien hier mit ihrer Grundschulklasse gewesen.
»Was denkst du darüber?«, fragte ich sie.
»Ach, ich finde es schlimm, was die Kommunisten gemacht haben.« Sie lachte diplomatisch. Ich schwieg.
Ich erinnerte mich an das, was Edward gesagt hatte, als er ein Diorama an der amerikanisch-mexikanischen Grenze besucht hatte, das die Arbeit der Grenzschützer glorifizierte: Man stellt Dioramen immer dann auf, wenn reale Artefakte oder Fotos kein gutes Licht auf einen selbst werfen würden. Mit Dioramen schafft man ein Narrativ, und Geschichten sind immer gut, denn Geschichten mag man, selbst wenn sie unwahr sind.
Am folgenden Tag fuhren Juan und ich zum Taman Mini Indonesia, dort lungerten wir mit der Diaspora von Aceh herum. Juan lernte bei ihnen Bodypercussion. Er schlug auf seine Knie ein und seine Schultern. Ich fragte mich, ob ich mit ihm schlafen sollte. Dann dachte ich mir, dass er mich eigentlich nicht interessierte.
Es waren nur Männer da.
»Willst du mal heiraten?«, fragten sie mich.
»Ich will fünf Männer«, sagte ich, »habe genug Liebe für alle.«
»Sowas gibt es bei uns nicht. Nur vier Frauen pro Mann.«
»Würdest du vier Frauen wollen?«, fragte ich den Hübschesten.
»Nein, ich möchte nur eine. Meine Seelenverwandte«, sagte er, der Riaji hieß. Ich wollte Seilbahn fahren, er wollte mitkommen. Ich kaufte uns Tickets.
»Gehst du deine Familie oft besuchen?«, fragte ich Riaji.
»Meine Familie ist beim Tsunami 2004 umgekommen.«
Wir schwiegen. Dann fuhren Juan und ich wieder in die Stadt zurück.