Fluchtgeschichten - Barbara Bräutigam - E-Book

Fluchtgeschichten E-Book

Barbara Bräutigam

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Beschreibung

Poetische Texte geben alternative Einblicke in Phänomene wie Migration, Flucht und Exil. Sie sind deshalb eine kraftvolle sowie unterstützende Methode für Fachkräfte, die mit geflüchteten Menschen arbeiten. Neben Unterhaltung bietet Literatur auch Erfahrungen, wie sich Alterität und Empathie entfalten. Kinder lernen in der Konfrontation mit literarischen Texten, ein Interesse für das Anderssein und das Fremde zu entwickeln und gleichzeitig wird ihr Einfühlungsvermögen für andere Lebewesen und -welten gestärkt. Wird ein kulturell und gesellschaftlich so bedeutsames Thema wie Flucht und Migration literarisch gespiegelt, bekommen es die Aufnehmenden und Sesshaften anders, als es Zahlen und Daten vermögen, nähergebracht, so Barbara Bräutigam. Die einzigartigen Möglichkeiten der Introspektion und des direkten Einblicks in die Innenwelten der Protagonisten machen Literatur zu einem reflexiven Medium par excellence: Erkenntnis ist garantiert. Barbara Bräutigam zeigt anhand von sieben ausgewählten Gegenwartsromanen der jüngeren Vergangenheit, welcher Gewinn in der Lektüre für die aufnehmende Gesellschaft steckt.

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Geflüchtete Menschen psychosozialunterstützen und begleiten

Herausgegeben von

Maximiliane BrandmaierBarbara BräutigamSilke Birgitta GahleitnerDorothea Zimmermann

Barbara Bräutigam

Fluchtgeschichten

Literarische Begegnungenmit Flucht und Migration

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.de abrufbar.

© 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällenbedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Nadine Scherer

Satz und Layout: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2625-6436ISBN 978-3-647-99892-3

Inhalt

Geleitwort der Reihenherausgeberinnen

Vorbemerkung

Nachdenken über die Rolle der Literatur im Kontext von Flucht und Vertreibung

Belletristik als Brückenmedium im psychosozialen Verstehen

Aus der Zeit gefallen – »Gehen, ging, gegangen« von Jenny Erpenbeck (2015)

Die Verwandlung – »Gott ist nicht schüchtern« von Olga Grjasnowa (2017)

So viel Wut – »Ohrfeige« von Abbas Khider (2016)

Die Qual der Ungewissheit – »Die Rückkehr: auf der Suche nach meinem verlorenen Vater« von Hisham Matar (2017)

Die Kraft der Sprache – »Sechzehn Wörter« von Nava Ebrahimi (2017)

Zwischen Lachen und Weinen – »Sami und der Wunsch nach Freiheit« von Rafik Schami (2017)

Ärger und gute Bildung – »33 Bogen und ein Teehaus« von Mehrnousch Zaeri-Esfahani (2016)

Schlussbemerkung

Literatur

Geleitwort der Reihenherausgeberinnen

»Im Fluchtgepäck die Sprache« lautet der Titel einer Anthologie von und über deutschsprachige(n) Schriftsteller/-innen im Exil, deren Lebenswege durch den Nationalsozialismus jäh unterbrochen wurden (Schoppmann, 1991). Mit Blick auf die aktuellen politischen Entwicklungen scheint das Bewusstsein über diese unsere eigene Geschichte erschreckend weit in die Ferne gerückt und die Bereitschaft zum Verständnis für Menschen, die aus anderen Gebieten fliehen oder migrieren, verstellt.

Durch die Auswahl und Präsentation von berührenden Fluchtgeschichten von ganz unterschiedlichen Menschen aus ganz unterschiedlichen Ländern gelingt Barbara Bräutigam mit diesem Band jedoch eine Dichte und Nähe, die unter die Haut geht und uns nicht nur auf der Sachebene, sondern umfassender erreicht. Behutsam gibt sie Einblick in ganz verschiedene Familiengeschichten und Entwicklungsverläufe unter besonderen, erschwerten Bedingungen. Aber die Schwere erfährt ein eindeutiges Gegengewicht: die Faszination an der Kraft der Bewältigungsleistung in Lebensverläufen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.

Es lohnt sich, diese Fiktionen, diese Wahrheiten zu lesen. Und am Ende ist man fast enttäuscht, wie schnell das Bändchen vorbei ist.

Silke Birgitta GahleitnerMaximiliane BrandmaierDorothea Zimmermann

Vorbemerkung

»›Ist ein Flüchtling jemand, der von zu Hause hat weggehen müssen?‹, fragte Anna. ›Jemand, der in einem anderen Land Zuflucht sucht‹, sagte Papa. ›Ich glaube, ich habe mich noch nicht ganz daran gewöhnt, dass ich ein Flüchtling bin‹, sagte Anna. ›Es ist ein seltsames Gefühl‹, sagte Papa. ›Man wohnt sein ganzes Leben lang in einem Land. Dann wird es plötzlich von Räubern übernommen, und man findet sich allein, an einem fremden Ort, mit nichts.‹«

(Kerr, 1973, S. 81 f.)

Das Zitat stammt aus dem bekannten und stark autobiografisch geprägten Roman »Als Hitler das rosa Kaninchen stahl« von Judith Kerr (1973). Als ich dieses Buch vor etwa zwei Jahren meinen Töchtern vorlas, stellten beide mit einem gewissen Erstaunen fest, dass vor nicht allzu langer Zeit die politische Lage in Deutschland eine wesentliche Fluchtursache darstellte und Deutschland mitnichten ein ersehntes Aufnahmeland war. Auf einen ähnlichen Effekt setzt der Film »Transit« von Christian Petzold (2018), der Anna Seghers gleichnamigen Roman aus den 1940er Jahren (1944/2018) in ein heutiges Setting einbettet, im aktuellen Hier und Jetzt spielen lässt und die Zuschauer*innen damit konfrontiert, dass der Flüchtlingsstatus nicht zwangsläufig an bestimmte Ethnien gekoppelt ist, sondern durchaus auch weiße Europäer betreffen kann.

Möglicherweise fällt dieser Band im doppelten Sinne ein wenig aus der »Fluchtaspekte«-Reihe, besteht deren Anspruch ja unter anderem darin, in kompakter und dichter Form theoretisch gesättigte und gleichzeitig praktikable Hinweise zu geben, die die psychosoziale Arbeit mit geflüchteten Menschen unterstützen können. Nach der Lektüre dieses Buchs wird man weder seinen »Handwerkskoffer« – wie es im psychosozialen Jargon so schön heißt – aufgefüllt noch wird man eine Menge mehr nützlicher Fakten im Kopf haben, die man vorher nicht hatte. Wozu sollten sich also Fachkräfte oder auch Ehrenamtliche, die sich tagtäglich viele reale und oftmals schreckliche Geschichten anhören, darüber hinaus in der Fiktion mit Leid, bzw. mit den literarisch verarbeiteten Erfahrungen von Flucht und Migration beschäftigen? Dieser Band versucht darauf eine Antwort zu geben, indem er durch die Vorstellung ausgewählter themenbezogener und aktueller Belletristik einen Einblick in die literarische Verarbeitung von Flucht und einem Leben im Exil gibt. Eventuell wird man nach dem Lesen um ein paar (Sprach-)Bilder und Narrative reicher sein. Im besten Falle treten sogar Verstörungen oder Irritationen auf, weil die hier erzählten literarischen Geschichten so gar nicht zu den Bildern passen wollen, die wir uns von Menschen mit Fluchthintergrund bislang gemacht haben.

Im Kern dieses Buchs beschreibe ich exemplarisch sieben ausgewählte und in den letzten vier Jahren erschienene Romane, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Themen und Erlebnissen beschäftigen, die einen Bezug zu Flucht und Migration haben. Dazu zählt die Schilderung individueller Fluchtursachen (»Gott ist nicht schüchtern«, 2017), das beschriebene Ohnmachtserleben im Aufnahmeland (»Ohrfeige«, 2016), die verzweifelte Suche nach dem Verbleib verlorener Liebster (»Die Rückkehr: auf der Suche nach meinem verlorenen Vater«, 2017), das Aufeinandertreffen zweier Welten (»Gehen, ging, gegangen«, 2015) sowie die Erzählung von nachhaltigen Fremdheitsgefühlen (»Sechzehn Wörter«, 2017). Zwei der Romane (»33 Bogen und ein Teehaus«, 2016; »Sami und der Wunsch nach Freiheit«, 2017) betrachten die Erlebnisse von Unterdrückung und Verfolgung im eigenen Land sowie das Fluchterleben und die Mühen der Integration explizit aus kindlicher bzw. jugendlicher Perspektive.

Gerahmt werden diese Romanbeschreibungen von einigen Überlegungen hinsichtlich der Rolle von Literatur im Kontext von Flucht und Vertreibung und ihrer Rolle als Brückenmedium im psychosozialen Verstehen sowie von einem abschließenden Plädoyer, Romane im umfassenden Sinne zu genießen, und sie nicht zur Pflichtlektüre zu erheben.

Insgesamt gehe ich von der Hypothese aus, dass die ausgewählte Belletristik sehr viel Potenzial und einen kaum ausgeschöpften Fundus an ästhetisch vermitteltem Wissen über Lebenswelten von geflüchteten Menschen enthält, der auch in der realen Begegnung und professionellen psychosozialen Arbeit bessere Zugänge und ein höheres Maß an Verständnis von bestimmten Dynamiken zu entwickeln hilft.

Nachdenken über die Rolle der Literatur im Kontext von Flucht und Vertreibung

In einem Interview zwischen der Moderatorin Maybrit Illner und dem über ein Jahr in der Türkei wegen angeblicher Terrorpropaganda inhaftierten deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel (2018) sagte dieser, dass die Erfahrung, dass ihn viele Menschen während seiner Zeit im Gefängnis nicht vergessen, sondern ihm ihre Solidarität bekundet hätten, zu den wichtigsten Faktoren zähle, die ihn die Haft hätten einigermaßen überstehen lassen (Yücel, 2018). Es war deutlich spürbar, dass diese Aussage keine PR-Floskel war, da der Journalist dabei im positiven Sinne schwer überwältigt um Fassung rang. Die Erfahrungen von Kenntnisnahme, Erinnerung und Anteilnahme sind offenbar anthropologische Grundkonstanten, die in einer Kultur dazu beitragen, Verbrechen, Repression und Gewalt gegen Menschen immerhin ansatzweise bewältigen zu können.

Belletristik, die sich durch eine gewisse Nachhaltigkeit auszeichnet oder sogar eventuell das Potenzial hat, Teil eines Kanons zu werden, thematisiert menschliche Grunderfahrungen bzw. anthropologische Konstanten wie z. B. Liebe, Schmerz oder auch die Bedeutung von Arbeit. In der Kinder- und Jugendliteratur stellen anspruchsvolle und komplex geschriebene Bücher für Kinder archetypische Situationen des Leids, der Freude, der Einsamkeit und des Glücks dar, und geben eventuell auch noch einen Ausblick auf noch nicht gemachte Lebenserfahrungen:

»Die literarische Gestaltung der Grundmotive trägt dazu bei, dass Texte zeitüberdauernd auch in veränderter gesellschaftlicher Wirklichkeit relevant bleiben. Unabhängig von der konkreten Bezeichnung wird die menschliche Grunderfahrung durch literarisch-ästhetische Gestaltung (als Denkbild, archetypische Situation, allgemeine Entwicklungsaufgabe oder Grundmotiv) zu einer ernst zu nehmenden Kategorie und damit zu einer anthropologischen Konstante« (Grimm, 2017, S. 35).

Laut dem Literaturkritiker Volker Weidemann (2017) entsteht gerade ein neuer literarischer Kanon, der sich mit Flucht, Wanderung, Heimatlosigkeit sowie Sehnsucht und Erinnerung an Heimat befasst. Dieser Kanon hat einen wesentlichen Anteil daran, ein kulturell und gesellschaftlich so großes und bedeutsames Thema wie Flucht und Migration im Kleinen und im Einzelfall verdichtet darzustellen und so den anderen – den Sesshaften und Aufnehmenden – nahezubringen, und zwar anders als es Zahlen und Daten vermögen. Literatur ist allgemein ein Medium, das individuelle Gefühls- und Gedankenwelten in Sprache übersetzt und Geschichten erzählt. Sie bietet eine einzigartige Möglichkeit der Introspektion und des direkten Einblicks in die Innenwelten der Protagonisten, was in der realen Welt mit realen Menschen – glücklicherweise – so nicht möglich ist. Zum Teil darf man ihr durchaus salutogenetische Wirkung unterstellen:

»An den ausgewählten Romanen wird aber das nicht intendierte heilsame Potential literarischer Texte deutlich, die sich mit unaufdringlichem und Distanz lassendem Einfühlungsvermögen für die Konflikte und Leiden ihrer Protagonistinnen und Protagonisten interessieren und damit auseinandersetzen. Es sind Bücher, die sehr heterogene Themen in den Vordergrund stellen und dabei die ganze Klaviatur aus Irritation und Unverständnis oder großer gefühlter Nähe und Empathie auslösen können« (Bräutigam, 2018, S. 229).

Insofern lässt sich die Rezeption von poetischen Texten als eine sehr kraftvolle und supportive Methode verstehen, um den mit geflüchteten Menschen arbeitenden Fachkräften einen alternativen Einblick in sehr heterogene Lebenswelten sowie ein Gefühl zu deren kulturellen Stimmen zu ermöglichen. Auch in Bezug auf Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungsleistungen leistet Belletristik einen wichtigen Beitrag:

»Gerade literarische Texte sind ein bevorzugtes Medium, um eine Pluralisierung von kollektiven Erinnerungen zu ermöglichen und verschiedene Versionen von Vergangenheit gegeneinanderzustellen […]. Auszugehen ist dabei von der Überlegung, dass sich literarische Texte auf eine konkret-historische Wirklichkeit beziehen können und die Möglichkeit haben, diese in Form von Fiktionen beobachtbar zu machen« (Gansel, 2010, S. 7).

Ein wichtiger Aspekt der sogenannten Vertreibungsliteratur des 21. Jahrhunderts ist auch die Frage nach den Langzeitwirkungen und der Dokumentation bzw. der Überlieferung von Erinnerungen von einer Generation an die nächste oder übernächste – ein Beispiel hierfür liefert in den Nachkriegsjahren das kollektive Schweigen in Deutschland. In diesem Zusammenhang bilden Flucht und Vertreibung wesentliche Ausgangspunkte für Probleme und Entwicklungen in den Folgegenerationen, so Karina Berger:

»Literatur stellt ein entscheidendes Medium für die Auseinandersetzung mit ›Flucht und Vertreibung‹ sowie für die fortdauernde Verhandlung zwischen privater und öffentlicher Erinnerung dar. Die Literatur ist als Medium besonders gut geeignet, um sich mit den Dilemmata und Komplexitäten, die der heutige nuancierte und weniger ideologisierte Erinnerungsdiskurs zwangsläufig aufwirft, auseinanderzusetzen. Im zeitgenössischen Vertreibungsroman ist es möglich, widersprüchliche Perspektiven gleichzeitig darzustellen, individuelle Motive und Handlungsweisen zu untersuchen sowie Empathie für die Handlungsfiguren aufzubringen« (Berger, 2015, S. 26).

Laut Berger (2015) ermöglicht Literatur dabei auch als Teil einer kollektiven Kultur einen Zugang zum Ungesagten, es sei ebenso interessant in ihr zu lesen, was nicht gesagt bzw. verschwiegen wird, und was ungesagt zwischen den Zeilen zu lesen ist: