Förderung von Lernprozessen - Katja Mackowiak - E-Book

Förderung von Lernprozessen E-Book

Katja Mackowiak

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  • Herausgeber: Kohlhammer
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2008
Beschreibung

Seit den Ergebnissen von Pisa und anderen Studien sind Begriffe wie selbstgesteuertes und lebenslanges Lernen, Bildung und Lernförderung wieder stark in die öffentliche Diskussion gerückt. Das vorliegende Buch vertieft diese Diskussion. Es beschäftigt sich mit der gezielten Förderung von Lernprozessen in Familie, Kindergarten, Schule und Hochschule. Fördermaßnahmen werden detailliert dargestellt und wirksame Lernprinzipien erörtert. Es wird genau beschrieben, wie Lernstörungen vermieden oder aufgehoben werden können.

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Seitenzahl: 353

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Seit den Ergebnissen von Pisa und anderen Studien sind Begriffe wie selbstgesteuertes und lebenslanges Lernen, Bildung und Lernförderung wieder stark in die öffentliche Diskussion gerückt. Das vorliegende Buch vertieft diese Diskussion. Es beschäftigt sich mit der gezielten Förderung von Lernprozessen in Familie, Kindergarten, Schule und Hochschule. Fördermaßnahmen werden detailliert dargestellt und wirksame Lernprinzipien erörtert. Es wird genau beschrieben, wie Lernstörungen vermieden oder aufgehoben werden können.

Prof. Dr. Katja Mackowiak lehrt Pädagogische Psychologie an der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Prof. Dr. Gerhard W. Lauth lehrt Psychologie in der Heilpädagogik an der Universität zu Köln. Dr. Ralf Spieß ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Psychologie in der Heilpädagogik an der Universität zu Köln.

Module angewandter Psychologie

Herausgegeben von

Johanna Hartung Klaus Fröhlich-Gildhoff

Katja Mackowiak

Gerhard W. Lauth

Ralf Spieß

Förderung von Lernprozessen

Mit einem Gastbeitrag von Anne Huber

Verlag W. Kohlhammer

Es konnten nicht sämtliche Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen oder sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige gesetzlich geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Text nicht explizit zwischen weiblichen und männlichen Wortformen unterschieden. Es sind jedoch immer beide Geschlechter miteinbezogen.

1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © 2008 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany

Print: 978-3-17-019402-1

E-Book-Formate

pdf:

epub:

978-3-17-028064-9

mobi:

978-3-17-028065-6

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

1 Grundlagen

1.1 Einführung

1.1.1 Absichtsvolles und unbeabsichtigtes (implizites) Lernen

1.1.2 Neugier als Motor für Lernen

1.1.3 Lernen und Bildung/Sozialisation

1.1.4 Fazit

1.2 Biologische Voraussetzungen beim Lernen

1.2.1 Verknüpfung von Nervenzellen

1.2.2 Das Gedächtnis

1.2.3 Intelligenz

2 Lernarten

2.1 Habituation (Gewöhnung)

2.2 Lernen von Signalen: Klassisches Konditionieren

2.3 Lernen anhand von Konsequenzen: Operantes Konditionieren

2.3.1 Verschiedene Formen von Konsequenzen: Verstärkung, Bestrafung, Löschung

2.3.2 Verschiedene Verstärkerarten und das Premack-Prinzip

2.3.3 Verstärkungspläne

2.3.4 Wirksamkeit von Bestrafung

2.4 Modelllernen

2.5 Diskriminationslernen

2.6 Begriffslernen

2.7 Regellernen

2.8 Problemlösen

2.8.1 Problemlösen durch Einsicht: Der Beitrag der Gestaltpsychologie

2.8.2 Die Problemraumtheorie von Newell und Simon

3 Förderung von Lernprozessen in verschiedenen Lebensphasen und Kontexten

3.1 Einleitung

3.2 Frühe Kindheit: Lernen in der Familie

3.2.1 Die Rolle der Eltern beim Spracherwerb

3.2.2 Die Rolle der Väter im kindlichen Lern- und Entwicklungsprozess

3.2.3 Anregung von Entwicklungs- und Lernprozessen

3.2.4 Was tun, wenn Kinder zu wenig Anregung erhalten?

3.2.5 Elterntrainings zur Verbesserung kindlicher Lern- und Entwicklungsbedingungen

3.3 Vorschulalter: Lernen in Kindertageseinrichtungen

3.3.1 Neugierverhalten und Lernen

3.3.2 Spielen und Lernen

3.3.3 Die Rolle der Erzieherinnen in Kindertageseinrichtungen: Förderung von Bildungsprozessen

3.3.4 Fördermaßnahmen in Kindertageseinrichtungen

3.3.5 Vorschulische Förderung – was bringt sie?

3.4 Schulalter: Lernen in Schule und Freizeit

3.4.1 Selbstreguliertes Lernen

3.4.2 Lernstrategien

3.4.3 Indirekte Förderung von Lernstrategien: Kooperatives Lernen durch wechselseitiges Lehren und Lernen (WELL)

3.4.4 Soziales Lernen: Erwerb sozialer Kompetenzen

3.4.5 Funktionen der Gleichaltrigengruppe beim Erwerb sozialer Kompetenzen

3.4.6 Entwicklung/Entstehung sozial kompetenten Verhaltens

3.4.7 Förderung sozialer Kompetenzen

3.4.8 Lernen in der Freizeit

3.5 Erwachsenenalter und höheres Lebensalter: Lebenslanges Lernen

3.5.1 Ansätze zur Erklärung von Altersveränderungen

3.5.2 Das Konzept der (Lebens-)Weisheit

3.5.3 Selbstgesteuerte Lern- und Entwicklungsprozesse im Alter: Das Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation (SOK)

3.5.4 Förderung von Lernprozessen im höheren Lebensalter

4 Wirksame Lernprinzipien

4.1 Positives Verhalten ausbilden

4.2 Verteilt lernen

4.3 Das Lernen lehren: Metakognitives Lernen

4.4 Aufgaben, die zur momentanen Lernfähigkeit passen

4.5 Rückmeldungen geben

4.6 Kontextualisiertes Lernen

4.7 Nachdrücklich lernen: Wirkliche Lernergebnisse erreichen

4.8 Das Prinzip des „Scaffolding“

5 Was ist mit ...?

5.1 Ganzheitlichkeit

5.2 Lernen mit allen Sinnen

5.3 Typengerechtes Lernen

5.4 Anregung von rechtsseitigem Lernen

5.5 Humanes Lernen

6 Lernstörungen vermeiden oder bewältigen

6.1 Lernstörungen

6.2 Prävention: Lernstörungen vermeiden

6.2.1 Die Lernvoraussetzungen entwickeln

6.2.2 Lernschwierigkeiten früh erkennen

6.3 Intervention: Lernstörungen bewältigen

6.3.1 Direkte Instruktion

6.3.2 Strategietraining

6.3.3 Selbstinstruktionstraining

6.3.4 Tutorielles Lernen

6.3.5 Computergestützte Förderung

Literatur

Stichwortverzeichnis

Vorwort

Lernen ist ein Begriff, der sich heute großer Popularität erfreut. Wir sprechen von lebenslangem Lernen, betonen den Wert des Wissens für das Wohlergehen der Gesellschaft („Zukunft wird aus Ideen gemacht“) und fördern Lern- und Bildungsprozesse in vielen Institutionen unserer Gesellschaft. Lernen ist eine individuelle und gesellschaftliche Ressource, wie die vielfältigen Untersuchungen in Schulen, Kindergärten und teilweise bereits in Familien zeigen. Mit einem Wort: Lernen hat eine enorme bildungspolitische und sozialisationstheoretische Bedeutung. Gerade in der heutigen Zeit, die rasche Veränderungen mit sich bringt, wird die Bedeutung neu erkannt und hervorgehoben.

Das vorliegende Buch behandelt Lernen als universelles Prinzip. Es wird anschaulich dargestellt, was Lernen bedeutet, wie es stattfindet und welche Prinzipien beim Lernen wirksam sind; aber auch wie Lernstörungen entstehen und was man dagegen tun kann. Insofern stehen zunächst die allgemeinen Grundlagen des Lernens im Blickpunkt. Zentraler Schwerpunkt sind aber die Darstellung von Lernprozessen sowie die Bereitstellung von Erklärungsmustern für Lernstörungen und Lernbeeinträchtigungen. Daraus werden theoretisch fundierte und alltagsrelevante Interventionen zur Förderung von Lernprozessen entwickelt. Wir haben die Hoffnung, dass die zusammenfassende Darstellung der allgemeinpsychologischen, sozialisationstheoretischen und klinischen Grundlagen des Lernens den Leser dazu befähigen, Lernprozesse in verschiedenen Umgebungen besser zu initiieren und zu begleiten.

Adressaten des Buches sind Praktiker aus den Bereichen Klinik, Schule, Kindergarten, Familienbildung und Rehabilitation sowie Studierende der Humanwissenschaften.

Wir danken Frau Prof. Dr. Johanna Hartung für ihre vielfältigen und konstruktiven Anregungen und Ermutigungen, Herrn Prof. Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff für seine optimierenden Hinweise sowie Frau Eberhardt und Frau Bantel für Literaturarbeiten, Korrekturen und die Erstellung des Stichwortregisters.

Weingarten und Köln im Frühjahr 2008

Einleitung

Lernen wird unter Anwendungsgesichtspunkten behandelt. Nach dem Motto aber, dass es nichts Praktischeres gibt als eine gute Theorie, gehen der Anwendung Informationen über die Grundlagen und Gesetzmäßigkeiten des Lernens voraus. Anschließend geht es dann um die Anwendung dieser Erkenntnisse. Was tragen sie zur Erklärung von Lernstörungen bei? Was folgt daraus für die Entwicklung von Prävention und was für Interventionen bei Lernstörungen?

Kapitel 1 behandelt den Stellenwert des Lernens sowohl für den Einzelnen als auch die Gesellschaft. Hier wird auch erörtert, wie das Lernen organisiert ist, was es mit Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe zu tun hat. Ganz wesentlich geht es aber dann um die biologischen Grundlagen des Lernens. Was spielt sich beim Lernen im Gehirn ab? Wie hängt Lernen mit Gedächtnisprozessen zusammen? Wie ist das Gedächtnis aufgebaut? Und wie kann man sich seine Funktionsweise vorstellen?

Kapitel 2 führt in die psychologischen Grundlagen des Lernens ein. Hier werden verschiedene Arten des Lernens von einfachen Gewöhnungsprozessen bis hin zum Lösen von Problemen beschrieben.

Lernen findet in jeder Lebensphase immer in einem Kontext statt. In Kapitel 3 werden die Lernumwelten beschrieben, die in jeder Lebensphase wesentlich sind. Die Familie als erster wichtiger Lernkontext, Kindertageseinrichtungen (allen voran der Kindergarten), Bildungseinrichtungen (Schulen, Hochschulen, Volkshochschulen), die sich dem Lernen explizit verschrieben haben, und außerschulische Kontexte (z. B. Kinder- und Jugendgruppen). Darüber hinaus werden wichtige Lernprozesse im Erwachsenen- und höheren Lebensalter geschildert. Herausgestellt wird jeweils, wie sich Lernen in diesen Kontexten typischerweise vollzieht und wie Lernprozesse implizit oder explizit gefördert werden können.

Kapitel 4 behandelt, welche Lernprinzipien wirksam sind. Ihr allgemeiner Hintergrund ist nachdrückliches, eindrucksvolles Lernen. Lernen, das auch wirklich Spuren hinterlässt. Dafür eignen sich mehrere Verfahrensweisen: Klare Zielsetzungen und eindeutige Aufbereitung des Stoffes, häufige und genaue Rückmeldungen, verteiltes Lernen, Anregungen von selbstgesteuertem Lernen.

In Kapitel 5 werden Grundsätze diskutiert, die man oft vorfindet und die sich immer wieder sehr gut anhören, beispielsweise ganzheitliches Lernen, typengerechtes Lernen, humanes Lernen. Diese Grundsätze sind oft daraus entstanden, dass man das schulische Lernen als einseitig ansieht. Der Hintergrund dieser Grundsätze wird diskutiert und es wird dargestellt, was davon zu halten ist.

In Kapitel 6 schließlich werden die bisherigen Erkenntnisse herangezogen, um Lernstörungen zu erklären. Woran liegt es, wenn jemand unzureichend lernt? Hier wird zunächst geklärt, welche verschiedenen Arten von Lernstörungen es gibt. Sodann wird anhand eines Lernkomponentenmodells dargestellt, dass Lernstörungen im Wesentlichen auf unzureichende Strategien (Lernplanung), mangelnde Metakognition, unzureichendes Vorwissen und ungenügende Motivation sowie selbstverständlich auf deren soziale Hintergründe in Familie, Lerngruppe oder Schule zurückzuführen sind. Daraus werden Maßnahmen abgeleitet, wie Lernstörungen vermieden oder – wenn sie schon vorhanden sind – eingegrenzt und vermindert werden können. Insbesondere kommen dabei zielorientierte Verfahren wie die direkte Unterweisung oder das „Lernen lehren“ zur Anwendung.

1 Grundlagen

1.1 Einführung

Lernen ist ein Sachverhalt, der sowohl für den Einzelnen als auch die Gesellschaft enorm wichtig ist. Deshalb wird Lernen von verschiedenen wissenschaftlichen Fächern behandelt und von unterschiedlichen Standpunkten aus betrachtet: unter dem Gesichtspunkt der Sozialisation, der Bildung, der Beteiligung des einzelnen am kulturellen Geschehen (Enkulturation) und von den biologischen Voraussetzungen her. Die Psychologie analysiert das Lernen als Geschehensablauf und fragt hauptsächlich danach, wie das Lernen vonstatten geht, welche Voraussetzungen dafür notwendig sind und wie man es fördern kann. Lernen wird in der Psychologie als überdauernde Verhaltensänderung definiert, also als ein Ergebnis, das man sehen, erfragen oder beobachten kann. Es gibt unterschiedlich voraussetzungsvolle Lernarten: Solche, bei denen einfache Verhaltensweisen erlernt, und solche, bei denen abstrakte Erkenntnisse erworben werden. Dies schlägt sich auch in den Begriffsbestimmungen nieder.

Lernen ist ein Konstrukt, ein Sachverhalt also, der nicht direkt beobachtbar ist, sondern sich nur aus Ergebnissen (etwa der Leistung in einer schriftlichen Prüfung, Abrufen von Wissen, Umsetzen von Belehrungen, angemessenem Verhalten in der Gruppe) erschließen lässt. Gelernt werden ganz unterschiedliche Inhalte wie Wissen und Können (z. B. Rechnen, Lesen), Emotionen (z. B. Ängste), Einstellungen (z. B. Vorurteile), Begriffe (z. B. ethische Kompetenzen), Verhalten (z. B. Gruppenverhalten, Selbststeuerung), Wertmaßstäbe und Problemlösungsstrategien.

Im engeren Sinne einer wissenschaftlichen Definition bezeichnet der Begriff Lernen eine überdauernde Änderung des Verhaltens oder der Verhaltensmöglichkeiten, was durch wiederholte Erfahrungen des Subjekts in dieser Situation hervorgerufen wird und nicht durch angeborene Reaktionstendenzen bloße Reifung oder momentane Zustände (z. B. Müdigkeit, Trunkenheit) erklärt werden kann (Bower & Hilgard, 1981, S. 11). Es gibt darüber hinaus weitere Definitionen, die eigene Akzente setzen.

Lernen als Begriff: Definitionen

Lernen ist eine überdauernde Verbaltensänderung, die aufgrund von Übung und gewöhnlich ohne Zwang bzw. Intoxikation zustande kommt.

(Definition der behavioralen Lerntheorie; Bower & Hilgard, 1981, S. 11)

Konsequenz für den Alltag: Man kann nur an den Verhaltensergebnissen (z. B. einem Aufsatz, der Übersetzung eines Textes ins Englische, dem Vorführen der erworbenen Geschicklichkeit) sehen, ob und gegebenenfalls was jemand gelernt hat.

Lernen ist eine aktive Form der Informationsverarbeitung, die auf bestehende Enkodierungen zurückgreift und mit vorbandenen Enkodierungen arbeitet.

(Definition der kognitiven Lerntheorie; Lass, Luer & Ulrich, 1987, S. 311)

Der Begriff Enkodierung bezeichnet Abspeicherungen, beispielsweise vorhandenes Wissen oder Ausgangsfertigkeiten.

Konsequenz für den Alltag: Es gibt eine Lernbasis (Vorerfahrungen, Vorwissen), von der das weitere Lernen ausgeht. Beispielsweise muss man beim Nachhilfeunterricht in Mathematik wissen, was der Schüler noch beherrscht und was er eben nicht mehr verstanden hat.

Lernen ist eine Form der Selbstoptimierung.

(Definition im Sinne von Denk- und metakognitiven Theorien; Baumert & Köller, 1996; Guldimann, 1996; Hasselhorn, 1998)

Konsequenz für den Alltag: Der Lernende kann sich innerhalb bestimmter Grenzen „selbst lehren“. Dafür müssen aber mehrere Voraussetzungen erfüllt sein: eine hinreichende Motivation bzw. Interesse am Lerngegenstand, die Verfügbarkeit von Lernstrategien, die Fähigkeit das eigene Lernen durch begleitendes und vorausgehendes Nachdenken zu steuern (Metakognition). Modernere Bildungstheorien folgern daraus, dass das eigentliche Ziel von Bildung das „Lernen zu lernen“ sei.

Lernen ist ein aktiver Akt der Umweltanpassung.

(Definition im Sinne ökologischer Theorien; Bronfenbrenner, 1979)

Konsequenz für den Alltag: Chinesische Kinder lernen chinesisch und schweizerische Kinder schwyzerdütsch, weil es ihnen von ihrer Umwelt vorgemacht wird. Ein Schüler passt sich der Gleichaltrigengruppe an (und macht manchen Unsinn mit), weil dies der umgebenden Norm entspricht. Die Lernumwelt gibt also die Inhalte lange Zeit vor; erst wenn ein Mensch seine Umwelt hinterfragt und sich emanzipatorisch dar über erhebt, verliert die Umwelt ihren prägenden Charakter.

1.1.1 Absichtsvolles und unbeabsichtigtes (implizites) Lernen

Eine zweite Unterscheidung bezieht sich auf die Absichtlichkeit des Lernvorgangs. Nicht alles, was Menschen lernen, lernen sie gezielt und absichtlich. Vielmehr geschieht Lernen zu großen Teilen implizit, nebenbei, ohne dass der Lernende eine erklärte Absicht zum Lernen hat und ohne dass ihm ein gezieltes Lernangebot gemacht wird. Infolgedessen unterscheidet man zwischen implizitem (unbeabsichtigtem) und intentionalem (gezieltem) Lernen. Ein Großteil des Lernens geschieht implizit, ohne dass es dafür einen Lehrplan oder ein gezieltes Lernangebot gäbe (z. B. soziale Einstellungen, Vorurteile). Andere Dinge (Fremdsprachen, Schuhe schnüren, Walzer tanzen etc.) werden hingegen absichtsvoll gelernt. Es gibt also

ein Ziel und Qualitätsniveau, das erreicht werden soll,

eine Art Lehrplan, der von dem vorhandenen Qualitätsniveau ausgehend zum Ziel hinführen soll, und

einen Vermittler (Eltern, Trainer, Tutor, Lehrer, Meister etc.), der erfahrener und in der Sache kompetenter ist als der Lernende. Seine Hauptaufgabe besteht darin, den Lernenden anzuleiten und schrittweise zu dem gewünschten Kompetenzniveau (Lernniveau) zu führen. Dieser Vermittler ist aber ist nicht immer körperlich anwesend, sondern oft nur noch in der abstrakten Form eines Lernprogramms (z. B. interaktiver Sprachkurs, Fernstudienlehrgang, computergestütztes Lernen) wirksam.

Beim formalisierteren Lernen in Gruppen, beispielsweise in der Vorschule, der Schule, in Sprachschulen oder beim Sporttraining, werden zumeist Lehrpläne formuliert, die festlegen, in welchen Schritten und wie gelernt werden soll. Sie legen die Lernschritte und oft auch die Lernformen (z. B. Gruppenlernen, Selbsterarbeitung) fest und werden als Didaktik formuliert. Dies ist sicherlich notwendig, um das Lernen von vielen Personen gestalten und anleiten zu können. Für die meisten Menschen sind diese Lernplanungen sinnvoll. Einzelne kommen damit aber weniger gut zu Rande, weil sie anders lernen oder andere Lernbedürfnisse haben. Modernere Erkenntnisse betonen deshalb, dass jeder Lernende seinen eigenen Weg geht, und plädieren folglich für eine Mischung von allgemeinen Vorgaben und individualisierter Anleitung.

Lernen in der Psycbologie

Seit den Anfängen der Psychologie stand das Lernen im Blickpunkt. Ebbinghaus (1885) untersuchte, wie viele sinnlose Wörter jemand Mal für Mal dazulernt: zuerst recht viel und dann weniger – eine asymptotische Kurve. Natürlich wollte Ebbinghaus auch wissen, wie rasch sie wieder vergessen werden: Zuerst rasch, dann langsamer. Auch das wurde in einer Kurve – eben der Vergessenskurve – dargestellt.

Später wurde das Lernen mittels spezieller Versuchsanordnungen analysiert. Pawlow erforschte um 1900 das Klassische Konditionieren. Lassen sich natürliche Reflexe (Speichelfluss) durch willkürliche Signale (den Klingelton vor der Fütterung) auslösen? Ja, wenn man etwa 0,5–2 Sekunden vor der Fütterung eines Hundes einen Klingelton ertönen lässt, löst nach einigen Durchgängen bereits der Klingelton alleine Speichelfluss aus: Der Hund hat gelernt, dass es bald Futter gibt. So trivial es klingt, es ist der Beweis, dass sich die natürlichen Reflexe von vorausgehenden Reizen auslösen lassen – wenn Lernen stattgefunden hat. Die asthmatische Atemnot kann dann auch durch ein täuschend echtes Plastikveilchen, das Erröten durch eine vorausgehende Peinlichkeit, die Angst vor einem offenen Platz durch einen Schwindelanfall auf einem ganz anderen Platz in einer ganz anderen Stadt ausgelöst werden. Pawlow hat für seine Forschungen über die Physiologie der Verdauung 1904 den Nobelpreis für Medizin erhalten, weil er damit das Wissen über wesentliche Aspekte dieses Bereichs verbesserte und erweiterte.

Thorndike (1913) arbeitete mit Katzen, die er in einen Lattenkäfig (Puzzlebox) setzte. Um zu entkommen, mussten sie einen Mechanismus bedienen, der ein Gewicht entfernte und ihnen dadurch die Tür öffnete. Zunächst versuchten die Katzen recht unkoordiniert zu entkommen (Versuch und Irrtum). Allmählich aber fanden sie heraus, wie sie es anstellen mussten. Sie griffen immer rascher auf die Reaktionen zurück, die sie ins Freie führte. Die erfolgreichen Reaktionen wurden ausgewählt, entscheidend waren also die Verhaltenskonsequenzen. Diese Erkenntnisse beschrieb Thorndike 1913 als das „Gesetz des Effektes“. Es besagt, dass die Verknüpfung einer Situation mit einer Reaktion, gestärkt wird, wenn sie von einem befriedigenden Gesamtzustand („satisfying state of affairs“) begleitet wird. Ist die Folge allerdings ein unangenehmer Zustand, nimmt die Stärke der Verbindung ab. Wenn Thorndike von einem „befriedigenden Gesamtzustand“ spricht, meint er Belohnung; ein „unangenehmer Gesamtzustand“ steht für Bestrafung.

Skinner (1938) erweiterte die Erkenntnisse von Thorndike. Er untersuchte Verstärkerpläne, in denen es für eine bestimmte Reaktion nicht mehr jedes Mal eine Futterpille gab, sondern unregelmäßig und nach einem ausgeklügelten Schema. Wenn Tauben regelmäßig mit einer Futterpille belohnt wurden, erlernten sie dieses Verhalten rasch. Dagegen wurde das gleiche Verhalten bei unregelmäßiger Verstärkung langsamer gelernt, dafür aber auch weniger schnell wieder verlernt. Er entdeckte zudem, dass die Tiere auch in der Lage waren, Hinweisreize zu beachten. Beispielsweise lernten sie, dass es beim Aufleuchten einer Lampe kein Futter gibt. Der Erfolg entscheidet über die Auswahl der Reaktion: belohntes Verhalten wird häufiger, bestraftes seltener gezeigt.

Es folgten weitere Forscher wie Guthrie, Hull, Watson, Lewin (zusammenfassend Foppa, 1965). Sie alle haben das Lernen unter strengen experimentellen Bedingungen untersucht und Gesetzmäßigkeiten festgestellt. Lernen ist ein gut beschreibbarer Vorgang und ein gut erforschter Bereich (s. Kapitel 2).

Moderne Forscher (Helmke, 1992; Köller, 1998; Schwenk & Schneider, 2003) untersuchen nun ungleich komplexeres Lernen, beispielsweise den Erwerb von technischem Verständnis, den Spracherwerb, das Erlernen von Fremdsprachen, das Diagnostizieren in der Medizin. Nicht, dass die Vorgänger damit ins Unrecht gesetzt würden. Ihre Erkenntnisse gelten nach wie vor, aber wir können uns heute dem natürlicheren Lernen zuwenden, weil zuvor das Lernen unter künstlichen und eingeschränkten Bedingungen untersucht worden ist.

1.1.2 Neugier als Motor für Lernen

Lernen setzt Energie und Tatkraft voraus. Schon deshalb weil Lernen anstrengend und mühsam sein kann. Offensichtlich hat die Natur den Menschen mit einer wichtigen Triebfeder dafür ausgestattet, der Neugier. Sie entspricht einem natürliches Bedürfnis und dient dazu, Neues zu erforschen (explorieren) und sich auf Dauer nicht mit dem schon Bekannten zufrieden zu geben. Also ist Lernen oft ein durchaus selbst initiiertes Geschehen und muss nicht in jedem Fall von außen angestoßen werden. Forschungsergebnisse belegen, dass für den Erwerb von Kenntnissen, von geistigen Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht nur die intellektuelle Ausstattung des Kindes sowie das Lernangebot der Umwelt, Schulangebote oder spezifische Förderprogramme verantwortlich sind. Auf Seiten des Kindes muss zusätzlich eine Bereitschaft bestehen, sich mit diesen Angeboten auseinanderzusetzen, Erfahrungen zu sammeln, sich Neues vertraut zu machen. Diese Bereitschaft ist angeboren, wie Evolutionsforscher belegen. Sie bezeichnen es als Verhaltenssystem, welches Menschen und Tiere motiviert, sich neuen, unbekannten und unvertrauten Reizen und Sachverhalten zuzuwenden, die Aufmerksamkeit auf sie zu richten, sie durch Inspektion (mit den Augen) und Manipulation (mit den Händen) zu erkunden. Es gilt als grundlegend für die Anpassung von Organismen an neue Umweltbedingungen und als Basis für vielfältige Lernvorgänge (vgl. Lorenz, 1943).

Motivationspsychologen sprechen hier vom Neugiermotiv, welches bereits bei Säuglingen nachweisbar ist. Schon wenige Stunden nach der Geburt betasten sie in systematischer Weise ihren Körper, vor allem das Gesicht und die Mundregion. Die Berührungen des Mundes sind zielgerichtet und organisiert und werden von Reaktionen begleitet, die Ausdruck einer gerichteten Aufmerksamkeit sind. Neugeborene verfolgen auch Gegenstände, wenn diese langsam vor ihren Augen bewegt werden, etwas später drehen sie dabei zusätzlich ihren Kopf in die entsprechende Richtung (Korner & Beason, 1972; Kravitz, Goldberg & Neyhus, 1978; Aslin, 1985; Butterworth & Hopkins, 1988).

Reifung, Lernen, Sozialisation, Enkulturation

Lernen ist als dauerhafte Verhaltensänderung definiert. Solche Verhaltensänderungen können aber auch durch Reifung und Entwicklung zustande kommen. Ferner findet Lernen auch im Rahmen von gesellschaftlichen und kulturellen Gestaltungen als Sozialisation und Enkulturation statt. Die wichtigsten Begriffe werden hierzu erläutert:

Reifung

Das biologische Wachstum verbessert die Verhaltensmöglichkeiten beispielsweise durch bessere Nervenleitfähigkeit, Anstieg der Gedächtnisleistung, verbesserte feinmotorische Fertigkeiten etc.

Entwicklung

Moderne Entwicklungstheorien konzipieren Entwicklung als lebenslangen Prozess, der Veränderung im Verhalten und Erleben mit sich bringt und der sich multidimensional (in verschiedenen Entwicklungsbereichen), multidirektional (mit verschiedenen Verläufen) sowie in einen sozialen Kontext eingebettet vollzieht. Dem Individuum wird dabei eine aktive und selbstgestaltende Funktion zugeschrieben.

Lernen

Ganz allgemein ist Lernen als überdauernde Verhaltensänderung definiert, die durch Übung zustande kommt. Komplexere Lernprozesse werden dagegen verstanden als eine konstruktive Verarbeitung von Informationen und Erfahrungen zu Kenntnissen, Einsichten und Kompetenzen (Bund-Länder-Kommission, 2004). Auch hier wird also der Mensch als aktiver Informationsverarbeiter gesehen.

Sozialisation

Bezeichnet die Leistung von sozialen Einrichtungen (Familien, Sportverein etc.), ihre Mitglieder für das bestehende soziale Umfeld tüchtig zu machen. Dazu gehört, dass erfahrene Personen Verantwortung übernehmen, Lernmöglichkeiten bieten und als Vorbilder wirken.

Enkulturation

Bezeichnet das Einleben in eine Kultur und die Verinnerlichung ihrer Regeln. Dies wird erleichtert, wenn Heranwachsende in eine anspruchsvolle Umgebungskultur eingebunden sind und Zug um Zug mit ihr vertraut gemacht werden.

Es wird klar: Nicht alle Verhaltensänderungen werden durch absichtliches Lehren herbeigeführt. Vielmehr vollziehen sich viele wichtige Lernprozesse nebenbei.

1.1.3 Lernen und Bildung/Sozialisation

Die Bedeutung des Lernens wird vor allem in bildungs-theoretischen und anthropologischen Konzepten hervorgehoben. Aus einer anthropologischen Sicht wird betont, dass der Mensch aufgrund seiner mangelnden Instinktausstattung zum Lernen gezwungen ist. Am deutlichsten wurde das von Gehlen (1990) formuliert, der den Menschen als „Mängelwesen“ bezeichnet. Gerade dieser evolutionsbiologische Nachteil, eben unvollkommen und lebensuntüchtig auf die Welt gekommen zu sein, macht es notwendig, zu lernen. Babys, Kleinkinder, Schulkinder aber auch Jugendliche und auch noch Erwachsene sind auf Anleitungen durch erfahrene Gruppenmitglieder und „lehrreiche“ Umwelten angewiesen. Die enge Bindung von Babys zu den Müttern ist eine evolutionsbiologische Voraussetzung, damit eine „nahe Anleitung“ erfolgen und wirksames Lernen stattfinden kann. Der Zusammenschluss von Menschen in Gruppen (Familien, Gleichaltrigengruppe, Sportgruppe) ermöglicht wechselseitiges Lernen am Modell. Das Lernen am Erfolg (vgl. Kapitel 2.4) – eines der wichtigsten Lernprinzipien – besteht eben auch darin, dass der Lernende andere beobachtet und aus ihren Erfolgen bzw. Misserfolgen Schlüsse für sein eigenes Verhalten zieht. Lernen hat eine Nähe zur Bildung, weil sie auf der Lernfähigkeit des Menschen aufbaut. Man greift dabei auf eine anthropologische Grundannahme zurück: Grundlage und Ausgangspunkt des Lernens ist die Tatsache, dass Menschen „bildbar“ sind. Verhalten ist nicht a priori determiniert, sondern enthält vielfältige Freiheitsgrade, die per Sozialisation und Lernangeboten geformt werden können.

Aus pädagogischer Perspektive bedeutet Lernfähigkeit immer auch Bildbarkeit; die Fähigkeit des Subjekts also, sich kulturell-normative Inhalte anzueignen, sofern ihm geeignete Angebote gemacht und angemessene Teilhabe ermöglicht wird. Lernen gehört damit zu den Grundbegriffen der Pädagogik. Selten aber wird von einem Lernen im „technischen Sinne“ (was der Lernende tut, was sich beim Lernen abspielt) gesprochen, sondern eher davon, was jemand lernen soll. Das Lernen wird in der Pädagogik deshalb sehr stark unter dem Aspekt des Lernzieles und der Lerninhalte gesehen. Soll die Schule Werte vermitteln? Soll Koranunterricht erteilt werden? Ist auf angemessenes Benehmen zu achten? Deshalb werden in den pädagogischen Bildungsdebatten zumeist die wünschenswerten (humanistischen, sozialpolitischen, anthropologischen) Ziele diskutiert.

Lernen ist aber auch ein Privileg, das sich die heutigen Menschen mühsam erarbeiten und in der Geschichte der Menschheit oft genug unter einem emanzipatorischen Anspruch erkämpfen mussten. Unter dem Stichwort „Bildung“ wird der befreiende Charakter von Lernen angesprochen. Man denke nur, wie sehr Menschen beispielsweise in unterentwickelten Ländern von einer Ausbildung oder einem Schulbesuch für sich selbst und ihre soziale Gruppe profitieren. Lernen im Sinne von Bildung bedeutet deshalb aber auch, dass ein Kind, ein Schüler, ein Auszubildender Ressourcen nutzen und Bildungsangebote in Anspruch nehmen kann, die zuvor gesellschaftlich erarbeitet wurden. Beispielsweise muss eine Schule gebaut, unterhalten und der Lehrer bezahlt werden. Ferner greift der Lernende auf zuvor gesammelte Erfahrungen zurück und ist darüber hinaus von der unmittelbaren Arbeit (beispielsweise Kinderarbeit) freigestellt – in der Hoffnung natürlich, dass das angesammelte Wissen und die erlernten Fähigkeiten sich später auszahlen. Insofern ist Lernen von der Gesellschaft her gesehen ein wenig wie sparen. Denn die praktische Verwertbarkeit liegt nicht gleich auf der Hand, ebenso wie ein Sparguthaben zunächst auch noch immateriell ist und erst später gegen konkrete Dinge oder Dienstleistungen eingetauscht wird.

In einer sozialisationstheoretischen Sichtweise (vgl. etwa Bronfenbrenner, 1981) betont man vor allem den Anregungsgehalt der Umwelt, das Modellverhalten der Bezugspersonen sowie die Struktur der sozioökonomischen Umwelt für die (kindliche) Entwicklung. Hier wird Lernen als ein Entwicklungsgeschehen interpretiert, in dem Heranwachsende Aspekte ihrer Umwelt als Tätigkeits- und Wahrnehmungsmuster verinnerlichen und gleichzeitig verändernd auf die Umwelt einwirken. Bronfenbrenner (1981), der wegweisende Vertreter dieser Entwicklungstheorie, definiert Entwicklung denn auch als „... Prozess, durch den die sich entwickelnde Person erweiterte, differenziertere und verlässliche Vorstellungen von ihrer Umwelt erwirbt. Dabei wird sie zu Aktivitäten und Tätigkeiten motiviert und befähigt, die es ihr ermöglichen, die Eigenschaften ihrer Umwelt zu erkennen und zu erhalten oder auf nach Form und Inhalt ähnlich komplexem oder komplexerem Niveau umzubilden“ (Bronfenbrenner, 1981, S. 44). Die Umwelt wirkt auf den Lernenden ein, der Lernende umgekehrt auf die Umwelt. Aus diesem Wechselspiel ergeben sich immer niveauvollere Aneignungen und Durchdringungen der Umwelt (z. B. Vorstellungen, Erkenntnisse, Tätigkeitsmuster, Fähigkeit zur Rollenübernahme etc.). Ein solches Lernen geschieht nahezu immer, wenn sich Menschen von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen. Allerdings sind einige Lernumwelten prägender, weil die Kontakte früher beginnen und länger fortbestehen, sie nachdrücklicher und intensiver sind, sie eine Basis schaffen und künftige Lernerfahrungen vorbereiten. Dies gilt besonders für Familien, aber auch für Kindergarten und Schule sowie teilweise für Nachbarschaftsgruppen oder Sportvereine.

1.1.4 Fazit

Ohne Lernen gibt es keine menschliche Entwicklung. Lernen ist deshalb als natürliche Gabe zu sehen, als eine biologische Notwendigkeit. Das Lernen erfolgt zum überwiegenden Teil eher nebenbei (implizit) und nur ein Teil des menschlichen Lernens ist so organisiert, dass es unter gezielter Anleitung erfolgt.

Zusammenfassung

Lernen ist ein umfassendes Thema, das von verschiedenen wissenschaftlichen Fachdisziplinen bearbeitet wird. Sie betrachten das Lernen teils auf der Geschehensebene, teils auf der Ebene der Ziele oder seiner gesellschaftlichen und sozialen Organisation. Vom Standpunkt der Psychologie aus gesehen, wird Lernen hauptsächlich als Geschehensablauf (Prozess) in den Blick genommen. Dabei wird Lernen als überdauernde Veränderung im Verhalten bzw. im Verhaltenspotential gesehen. Das vorherrschende Interesse ist nun, zu erklären, wie diese Verhaltensänderung zustande kommt. Rasch wird klar, dass es unterschiedliche und voneinander abgrenzbare Lernarten gibt. Dies schlägt sich auch in den Lerndefinitionen nieder. Die verhaltensorientierten (behavioristischen) Theorien betonen, dass es auf die Folgen des Verhaltens ankommt (Gesetz des Effekts, Verstärkerbedingungen), die kognitiven Lerntheorien heben hingegen die Informationsverarbeitung und die Denkakte hervor.

Lernen kann absichtlich oder implizit bzw. inzidentell erfolgen. Viele Lernakte erfolgen eher nebenbei, ohne eine zugrundeliegende Lernabsicht. Beim absichtsvollen Lernen gibt es in der Regel ein Ziel und ein Qualitätsniveau, das erreicht werden soll. Meistens existiert auch ein Lehrplan, der von dem vorhandenen Qualitätsniveau ausgehend zum Ziel hinführen soll, und einen Vermittler (Eltern, Trainer, Tutor, Lehrer, Meister etc.), der erfahrener und in der Sache kompetenter ist als der Lernende.

Fragen zur Selbstüberprüfung

Wie ist Lernen definiert?Welche wichtigen Positionen gibt es in der Lernforschung?Wodurch zeichnet sich absichtsvolles Lernen aus?Welche Aspekte des Lernens werden von der Bildungsforschung hervorgehoben?Welche Umgebungsbedingungen sind in der sozialisationstheoretischen Sichtweise besonders wichtig?

Weiterführende Literatur

Hoffmann, J. & Kintsch, W. (Hrsg.). (1999). Lernen. Enzyklopädie der Psychologie, Band 7. Göttingen: Hogrefe.

Rost, D. H. (Hrsg.). (1998). Handwörterbuch der Pädagogischen Psychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union.

Zimbardo, P.G. & Gerrig, R.J.(2004). Psychologie (16. Aufl.). Berlin: Springer.

1.2 Biologische Voraussetzungen beim Lernen

Lernen ist ein Vorgang. Komplexe Inhalte werden also nicht „auf einen Schlag“ gelernt, sondern schrittweise. Sie erfordern längere geistige Aktivitäten, beispielsweise das vertiefte Durcharbeiten einer Theorie, das genaue Nachvollziehen eines Laborexperiments, das Einprägen von Vokabeln und die Abstraktion des so Erfahrenen in Begriffen, Kategorien und Regeln.

Diese Aktivitäten vollziehen sich geistig und scheinbar ohne materielle Grundlage. In Wirklichkeit liegen ihnen aber fein abgestimmte Erregungsströme im Gehirn zugrunde, die eingehende Sinneserfahrungen vernetzen, Vorerfahrungen abrufen, Vergleichsprozesse anstellen und Hypothesen überprüfen. So gesehen ist Lernen ein komplexes Wechselspiel, bei dem neue Informationen auf der Grundlage schon vorhandener Gedächtnisinhalte verarbeitet werden. Daraus entstehen wiederum neue Strukturen, neue Erkenntnisse, neues Wissen, neue Erfahrungen. Im nachfolgenden werden die „Hauptakteure“ in diesem Geschehen und die wichtigsten Abläufe darin vorgestellt: Das Gedächtnis und seine Funktionsweise, die Verschaltung von Neuronen zu Zellverbänden, die Plastizität des Gehirns und die Rolle der Begabung (Intelligenz).

1.2.1 Verknüpfung von Nervenzellen

Grundlage aller Lernvorgänge sind biochemische Veränderungen in den Nervenzellen des Gehirns: Beim Lernen werden diese Nervenzellen aktiviert und einzelne Nervenzellen durch komplexe Synapsenverbindungen miteinander verknüpft. In aller Regel muss ein Lerninhalt (z. B. eine Vokabel, eine Rechenformel) mehrmals ein Erregungsmuster im Gehirn durchlaufen. Dadurch verschalten sich einzelne Nervenzellen zu Zellverbänden (cell assemblies), die den gelernten Sachverhalt speichern. Daraus entsteht eine Verhaltensbereitschaft, so dass diese Zellen bei einer erneuten Aktivierung rasch und stark reagieren (z. B. etwas wird als ähnlich erkannt, Erinnerungen werden aufgerufen, Vorerfahrungen erzeugt, die das künftige Verhalten beeinflussen). Diesen Vorgang hat Kandel (1977, 1980) bei der Meeresschnecke Aplysia untersucht, die nur über etwa 20 000 Neuronen verfügt, von denen viele mit dem bloßen Auge zu erkennen sind. Seine Forschungsergebnisse veranschaulichen den biologischen Vorgang und zeigen, wie Gedächtnis und Lernen zusammenwirken.

Kandel trainierte die Meeresschnecke. Er konnte zeigen, dass eine elektrische Reizung des Saugrohres (UCS) zu einem Abwehrreflex (UCR) führt, der darin besteht, dass sich das Saugrohr und die Kieme von Aplysia kontrahieren. Dieser Reflex ließ sich klassisch konditionieren (vgl. Kapitel 2.2). Hierbei wirkte eine leichte taktile Reizung des Schwanzes als konditionierter Stimulus (CS), der nach wiederholter Kopplung den Reflex auslösen konnte (vgl. Birbaumer & Schmidt, 2006).

Anders als die Lerntheoretiker zuvor, die schon zu ähnlichen Erkenntnissen gelangt waren, ging Kandel einen Schritt weiter und untersuchte die Veränderungen an den Neuronen. Was spielt sich beim Lernen physiologisch ab? Er entdeckte, dass die Verbindungen zwischen den Hirnzellen (Synapsen) stärker wurden, wenn elektrochemische Signale hindurchliefen. Sie „löteten“ die einzelnen Hirnzellen quasi zusammen. Und bei jedem Lernvorgang „brannten“ sich die Verbindungen stärker ein. Kandel schuf damit ein molekulares Modell des Gedächtnisses. In seinen weiteren Forschungen entdeckte er, dass die „Verlötung“ auf ein winziges Molekül (Cyclo-AMP-Rezeptorprotein) zurückzuführen ist. Es führt eine Proteinsynthese herbei und lässt die synaptischen Verbindungen (siehe unten) sprossen.

Für diese Forschung erhielt Kandel 2000 den Nobelpreis für Physiologie und Medizin (zusammen mit dem Schweden Arvid Carlsson und dem Amerikaner Paul Greengard). Seine Untersuchungen zeigen, dass das Lernen zu materiellen Veränderungen im Gehirn führt und das Lernen eine sichtbare biologische Grundlage hat. Zugleich verdeutlichen seine Untersuchungen die enge Verbindung von Gedächtnis und Lernen.

1.2.2 Das Gedächtnis

Lernen und Gedächtnis sind untrennbar miteinander verbunden. Ohne die Möglichkeit, Informationen aus der Umwelt aufzunehmen, abzuspeichern und bei Bedarf wieder abzurufen, sind Lernprozesse nicht vorstellbar.

Das Gedächtnis besteht aus abgrenzbaren Hirnarealen, die auf die Speicherung und die Wiedergabe ganz bestimmter Informationen spezialisiert sind. Um diese komplexe Aufgabe lösen zu können, gibt es verschiedene „Abteilungen“ (s. Abb. 2, Langzeitgedächtnis), die hauptsächlich

episodische Ereignisse (etwa autobiographische Erlebnisse; episodisches Gedächtnis),

sprachlich-begriffliche Inhalte, Wissen und Fakten (sprachlich kodierte Wissensbestände, semantisches Gedächtnis) und

motorische Fertigkeiten (prozedurales Gedächtnis)

aufnehmen und aufbewahren. Diese Inhalte werden in einem komplizierten Geschehen eingespeichert, das man aus verschiedenen Blickwinkeln beschreiben kann, welche in den folgenden Abschnitten dargestellt werden.

1.2.2.1 Zeitstruktur

Jeder Gedächtnisvorgang besteht aus drei Phasen (vgl. Abb. 1):

Enkodierung:

In der Enkodierungsphase werden Informationen aus der Umwelt ins Gedächtnis transferiert. Wenn sich ein neuer Lehrer zu Beginn des Schuljahres mit den Worten „Guten Tag, ich bin Herr Müller“ vorstellt, dann muss diese Information erst einmal in das Gedächtnis der Schüler gelangen. Das heißt, der physikalische Input (Schallwellen) muss in einen Code überführt werden, den das menschliche Gehirn verarbeiten kann.

Speicherung:

Im zweiten Schritt wird die so verarbeitete Information im Gedächtnis gespeichert. Nur so ist es möglich, dass ein Kind nach der Schule die Frage seiner Mutter „Wie heißt denn euer neuer Lehrer?“ beantworten kann.

Abruf:

Damit dies gelingt, muss das Kind zusätzlich in der Lage sein, die abgespeicherte Information aus dem Gedächtnis abzurufen (finden, erinnern, rekonstruieren).

In jeder Phase kann es zu einer Störung kommen, wobei ohne eine adäquate Enkodierung keine Speicherung und ohne diese kein Abruf möglich ist.

Abb. 1: Phasen innerhalb des Gedächtnisprozesses

Einspeicbern und Abrufen (Erinnern)

Am Geldautomaten wird die Geheimzahl gebraucht. „Oh Gott! 7693 oder doch 6493? Wie war das noch einmal, die 6 vorn? Nein, eher die 7! Nur jetzt keinen Fehler mehr machen, ein Versuch ist schon fehlgeschlagen. Und beim nächsten Fehler wird die Bankkarte eingezogen!“

Was im Langzeitgedächtnis gespeichert wurde, kann umso besser wieder abgerufen werden, je vernetzter und bedeutungsvoller es ist: Vernetztheit bedeutet, dass die Informationen in bereits bestehende Wissensbestände integriert worden sind. Bedeutung meint, dass die Informationen in einem Erfahrungs- oder Erlebniszusammenhang stehen oder aber mit starken Emotionen verbunden sind.

Woran kann es liegen, dass einem diese Nummer partout nicht einfallen will? Geheimzahlen sucht man sich meistens nicht selbst aus. Sie sind nur selten bedeutungsvoll und starke Emotionen lösen sie auch nicht gerade aus. Keine gute Voraussetzung für ein sicheres Wiedererinnern! Wahrscheinlich wurde die Geheimzahl aber auch einfach nicht gut genug gelernt, sondern nur wenige Minuten lang eingeprägt und seit mehreren Tagen nicht mehr gebraucht. Je besser es aber gelingt, die Geheimnummer mit bereits bestehenden Wissensbeständen zu verknüpfen, die als Abrufhilfen dienen können, desto besser wird die Erinnerungsleistung sein. So könnte die Geheimzahl 6493 beispielsweise mit „6.4.93“, dem Tag, als ich Julia traf (!), verbunden werden. Diese Abrufhilfe dürfte helfen!

Eine Interferenz trägt dazu bei, dass beim Erinnern eher Fehler auftreten. Darunter versteht man, dass sich zwei verschiedene Informationen überlagern oder „sich ins Gehege geraten“. Beispielsweise können Informationen, die in der Vergangenheit gelernt wurden, den Abruf neu gelernter Informationen beeinträchtigen (Proaktive Interferenz). Hatte ich vor meiner jetzigen Kreditkarte eine andere mit einer ähnlichen Geheimnummer, so können sich diese Informationen überlagern und den Abruf erschweren. Außerdem können neue Informationen thematisch ähnliche Informationsstände im Langzeitgedächtnis schwächen (Retroaktive Interferenz). In diesem Fall sind die neuen und die bereits gespeicherten Informationen inhaltlich so ähnlich, dass sie sich kaum voneinander unterscheiden lassen. Weil das so ist, soll man beispielsweise bei Prüfungsvorbereitungen an einem Tag nur solche Inhalte lernen, die sich inhaltlich wenig überschneiden.

1.2.2.2 Aufbau (Struktur)

Das Gedächtnis besteht aus verschiedenen Bereichen, die spezielle Aufgaben übernehmen. Als übergeordnete Einheiten werden häufig sensorisches Gedächtnis, Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis voneinander abgegrenzt. Sie arbeiten, wie eine gut geführte Firma, nicht nur eng zusammen, sondern haben auch ein gemeinsames Ziel, dass nämlich nur wirklich „bedeutende“ Dinge im Langzeitgedächtnis abgelegt werden. Abbildung 2 zeigt, wie das Gedächtnis arbeitet und welche Bereiche daran beteiligt sind.

Abb. 2: Aufbau des Gedächtnisses (nach Birbaumer & Schmidt, 2006, S. 602)

Sensorisches Gedächtnis

In einem ersten Schritt werden Informationen, die durch unsere Sinnesorgane aufgenommen werden, im sogenannten sensorischen Gedächtnis (sensorisches Register) gespeichert. Die Information wird hier sinnesspezifisch für ein sehr kurzes Zeitintervall zur Verfügung gestellt. So speichert das sogenannte ikonische Gedächtnis visuelle Informationen für ca. 0,5 Sekunden, das echoische Gedächtnis akustische Informationen für ca. 2 Sekunden. Diese Zeitspanne dient dazu, Muster zu erkennen und Abgleichsprozesse mit bestehenden Inhalten des Langzeitgedächtnisses vorzunehmen. Dieser Vorgang läuft unbewusst ab. Bleibt die Information aus dem sensorischen Gedächtnis unbeachtet, zerfällt sie. Anders ist es jedoch, wenn sie aus dem allgemeinen Geschehen herausgehoben wird, beispielsweise weil sie bedeutsam, wichtig, sinnvoll oder auch nur ungewöhnlich ist.

Die Aufmerksamkeitszuwendung kann hierbei sowohl kontrolliert (bewusst) als auch automatisiert (unbewusst) erfolgen. Wenn ich gerade ein spannendes Buch lese, lenke ich meine Aufmerksamkeit bewusst auf den Text. Ich transferiere Inhalte des sensorischen Gedächtnisses aktiv ins Kurzeitgedächtnis, wo sie mir zur Weiterverarbeitung zur Verfügung stehen. Habe ich darüber vergessen, die heiße Milch, die ich für meinen inzwischen kalt gewordenen Espresso zubereiten wollte, von der Herdplatte zu nehmen, dann signalisiert mir der unangenehme Geruch verbrannter Milch, dass hier etwas nicht stimmt. Die Aufmerksamkeit geht automatisch vom Buch weg auf den Herd. Ich springe auf und versuche, das Desaster in Grenzen zu halten.

Kurzzeitgedächtnis

Der oben beschriebene Abgleich zwischen den sensorischen Gedächtnissystemen und dem Langzeitgedächtnis ist eine Aufgabe des sogenannten Arbeitsgedächtnisses (vgl. Birbaumer & Schmidt, 2006, S. 502f.). Die Begriffe Arbeitsgedächtnis und Kurzzeitgedächtnis werden häufig synonym verwendet. Der Begriff des Kurzzeitgedächtnisses ist jedoch älter und betont besonders die zeitliche Verfügbarkeit der Information. Das Arbeitsgedächtnis ist ein Konzept, das stärker prozessorientiert ist.

Ein Kennzeichen des Kurzzeitgedächtnisses ist, dass hier Information bewusst zur Verfügung steht. Man könnte daher das Kurzzeitgedächtnis auch als „bewusstseinstragende Instanz“ bezeichnen. Dies können sowohl mit Aufmerksamkeit belegte Informationen aus den sensorischen Registern als auch Gedächtniselemente aus dem Langzeitgedächtnis sein. Bewusstsein wiederum bildet die Grundlage für aktive Lernprozesse.

Trotz dieser enormen Bedeutung ist die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses gering. Es kann nur zwischen 7±2 (also 5 bis 9) Informationen aufnehmen. Das Kurzzeitgedächtnis funktioniert hierbei wie ein Endlosband. Wenn neue Informationen dazukommen, fallen frühere „vom Band“, weil nur maximal 9 Informationseinheiten Platz darauf haben. Die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses ist somit unabhängig von Kultur und Bildung biologisch vorgegeben. Allerdings können Menschen diese biologisch vorgegebene Kapazitätsgrenze optimal ausnutzen, indem sie gehaltvolle Sinneinheiten bilden, die viel Information enthalten. Hierzu zählen beispielsweise das Bilden von Ketten, Kategorien (Äpfel und Birnen werden zu Obst zusammengefasst) oder umfassendere Muster („steigt kontinuierlich an“). Um das leisten zu können, muss man übergeordnete Strukturen erkennen und die Aufmerksamkeit auf die hierzu relevanten Aspekte richten (selektive Aufmerksamkeit). Außerdem können einige Menschen ihr Gedächtnis deshalb besser nutzen, weil ihre begrifflich-verbalen oder räumlichen „Übersetzungssysteme“ gut funktionieren (z. B. Begriffe, Vorerfahrungen zur Verfügung stehen).

Insbesondere die Forschungsarbeit von Alan Baddeley (Baddeley & Hitch, 1974; Baddeley, 1992) zeigt, dass es offensichtlich verschiedene Kurzzeitspeichersysteme (artikulorische Schleife und bildhaft-räumlicher Notizblock) gibt, die unterschiedliche Aufgaben haben (s. Abb. 3) und das jeweils andere System wenig belasten.

Die Enkodierung der Information für das Arbeitsgedächtnis erfolgt bei bildhaftem Material meist visuell und bei verbalem Material in der Regel phonologisch.

Wenn ich mir das Gesicht einer Person einprägen will, rufe ich ihr Bild auf und versuche, es vor dem inneren Auge sichtbar werden zu lassen (bildhaft-räumlicher Notizblock).

Wenn ich mir eine Telefonnummer merken möchte, bis ich das Telefon erreicht und gewählt habe, so geschieht dies in der Regel phonologisch. Ich sage die Telefonnummer mehrfach auf und versuche, sie durch ständiges Wiederholen im Arbeitsgedächtnis zu halten (artikulatorische Schleife).

Die Menschen unterscheiden sich nicht so sehr in der Kapazität ihres Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnisses, wohl aber darin, dass bei manchen die „Übersetzung“ ins Langzeitgedächtnis besser funktioniert; dass sie beispielsweise eher wissen, worauf es ankommt, sich nur auf das Wichtige konzentrieren und besser kodieren. Daraus ergeben sich Vorteile beim Lernen.

Abb. 3: Modell des Arbeitsgedächtnisses (nach Parkin, 1996, S. 131)

Langzeitgedächtnis

Das Langzeitgedächtnis speichert Informationen minuten- bis jahrzehntelang. Es hält Erfahrungen, Fertigkeiten, Wörter, Begriffe, Regeln aber auch Urteile und Emotionen fest. Es enthält:

Semantisches Wissen:

Hier geht es um Fakten und Ereignisse (z. B. grammatikalische Kenntnisse, Geschichtswissen, technische Kenntnisse). Die Wiedergabe dieser Inhalte geschieht bewusst und erfordert willentliche Anstrengung (Nachdenken, Suche).

Episodisches Wissen:

Erinnerungen an eigene Lebensereignisse, wie der erste Kuss, die Abschlussprüfung, die Hochzeit, die Geburt eines Kindes oder auch den Tod des Großvaters.

Prozedurales Wissen:

Damit ist gemeint, dass wir Wissen dar über haben, wie bestimmte perzeptuelle, kognitive und motorische Fertigkeiten (z. B. eine Schleife binden) ausgeführt werden. Die Wiedergabe dieser Inhalte braucht keine willentliche Anstrengung.

Abbildung 2 veranschaulicht, dass semantisches und episodisches Wissen zum deklarativen Wissen zusammengefasst werden, dessen Inhalte sich sprachlich wiedergeben lassen. Das prozedurale Wissen hingegen bezeichnet das Wissen dar über, wie wir etwas tun. Die Ausführung erfolgt automatisiert; eine sprachliche Beschreibung ist oft mühsam.

Aus Abbildung 3 geht hervor, dass diese „Abteilungen“ im Langzeitgedächtnis eng miteinander zusammenhängen. Das semantische Gedächtnis lässt sich gleichsam „zuliefern“: Alle Informationen im semantischen Gedächtnis sind zuerst einmal episodisch abgespeichert worden. Im Laufe der Zeit stoßen wir jedoch in den unterschiedlichsten Kontexten immer wieder auf gleiche Informationen, so dass diese abstrahiert und vereinfacht werden können, beispielsweise zu Begriffen, Kategorien, Mustern, Regeln. Für deren Verständnis ist dann kein spezieller episodischer Zusammenhang mehr notwendig. So wissen wir sofort, was mit dem Begriff „Milch“ gemeint ist, ohne dass wir uns die Episode, in der wir das letzte Mal Milch getrunken haben, ins (Arbeits-)Gedächtnis rufen müssen.

Das Langzeitgedächtnis speichert Informationen dauerhaft und hat eine nahezu unbeschränkte Aufnahmefähigkeit. Die Übertragung und Speicherung von Informationen in das Langzeitgedächtnis wird durch tiefes und reichhaltiges (elaboriertes) Verarbeiten erleichtert. Baddeley (1992) hat hierzu ein Modell vorgelegt, das sehr einflussreich geworden ist. Es beschreibt, wie die Informationen vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis gelangen. Nach seinen Forschungsergebnissen geschieht das nicht von alleine, sondern setzt eine aktive Übertragung voraus. Es ist wie bei einem Transport, der ja auch nicht alleine vonstatten geht. Die Übertragung besteht darin, dass die Inhalte, die sich noch im Arbeitsgedächtnis befinden, daraufhin bewertet werden, wie wichtig sie sind. Die wichtigen werden hervorgehoben und sprachlich (phonologisch; artikulatorische Schleife) oder bildlich (räumlich-visuell; bildhaft-räumlicher Notizblock) verarbeitet. Baddeley meint, dass es dazu spezielle Speicher gibt. Dabei werden einzelne Informationen hervorgehoben und in ihrer Bedeutung verstärkt. Andere Informationen werden hingegen abgeschwächt, weil sie als unwesentlicher betrachtet werden. Dieser Vorgang ist nur unter Rückgriff auf das schon vorhandene Wissen im Langzeitgedächtnis möglich.

Lernen und Gedächtnis

Das Gedächtnis ist eng mit dem Lernen verbunden. Beide sind gleichsam Geschwister. Die Verbindung zum Lernen wird besonders deutlich, wenn man sich die Funktionsweise des Langzeitgedächtnisses betrachtet. Denn die Inhalte gelangen nicht von alleine dorthin, sondern benötigen eine aktive, vertiefte und strukturierte Bearbeitung. Es geht darum,

welche Inhalte als würdig und wichtig genug befunden werden, dass man sie sich merkt,mit welchen Vorerfahrungen die neuen Inhalte verknüpft werden,wie vertieft und bedeutungsvoll das „Enkodieren“ erfolgt.

Das sind eigentlich Umschreibungen für ein aktives Lernverhalten. Lernen beschreibt also den Vorgang, mit dem die Inhalte ins deklarative Gedächtnis gelangen. Auf diese Weise werden synaptische Verschaltungen vorgenommen. Sie ergeben sich daraus, dass der Lernende kognitive Aktivitäten anstellt: Er memoriert beispielsweise, wiederholt, durchdenkt, bringt in Verbindung, vernetzt Informationen, bildet Kategorien (ähnliche Objekte werden zusammengefasst), Konzepte (Kategorien von Vorstellungen) und Prototypen (das beispielhafte Exemplar einer Kategorie, so ist z. B. ein Apfel ein typischer Vertreter der Kategorie Obst) und erkennt Regeln. Diese vertiefte Verarbeitung überführt die Lerninhalte ins Langzeitgedächtnis, weil synaptische Verschaltungen in den dafür zuständigen Hirnarealen stattfinden.

Um diese Übertragung ins Langzeitgedächtnis sowie das Wiedererinnern zu erklären, nimmt Baddeley (1992; Baddeley & Andrade, 2000) drei Komponenten an:

Einen phonologischen Speicher, der sprachbasierte Informationen speichert und verarbeitet. Beispielsweise wird man eine Telefonnummer mehrmals aufsagen und sie beim Wählen quasi hören.Einen visuell-räumlichen Notizblock, der für visuelle und räumliche Informationen zuständig ist und ähnlich wie der phonologische Speicher funktioniert. Wenn Sie beispielsweise das Wohnzimmer einer befreundeten Familie erinnern und es „vor dem inneren Auge sehen können“, ist der visuellräumliche Notizblock aktiv.Die zentrale Exekutive, die für die Kontrolle der Aufmerksamkeit sowie für die Koordination von Informationen aus der phonologischen Schleife und aus dem räumlich-visuellen Notizblock zuständig ist. Wenn eine Aufgabe ausgeführt wird, die die Kombination von visuell-räumlichen und verbalen Informationen erfordert, wird diese Einheit koordinierend aktiv.
Wiedererinnern