Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart - Hannah Arendt - E-Book

Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart E-Book

Hannah Arendt

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Beschreibung

Die Essays in diesem Band sind aus Vorträgen entstanden, die Dr. Hannah Arendt in den Jahren 1953 bis 1956 an deutschen und amerikanischen Universitäten gehalten hat. Der Titel versucht, die leitende Absicht der diesen Essays gemeinsamen kritischen Überlegungen anzudeuten. Diese befassen sich sachlich mit den in den Essaytiteln angezeigten Begriffen; die Kritik erfolgt durch eine Rückführung dieser Begriffe auf die politischen, geschichtlich gegebenen Erfahrungen, aus denen sie entstanden sind, und durch eine Konfrontation mit den modernen Erfahrungen, denen sie adäquat zu sein vorgeben.

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Originalausgabe

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

 

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht. 

 

 

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Anlässlich der Studienausgabe von Hannah Arendts Schriften

Zu diesem Band

I.

II.

Vorbemerkung

Tradition und die Neuzeit

I

II

III

IV

Natur und Geschichte

I

II

III

Geschichte und Politik in der Neuzeit

I

II

III

IV

Was ist Autorität?

I

II

III

IV

V

Hannah Arendt und das Anthropozän – Nachwort

Siglenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Anlässlich der Studienausgabe von Hannah Arendts Schriften

Was Hannah Arendt dazu bewegte, der politischen Wirklichkeit so genau ins Gesicht zu sehen, waren die Kraft der Vernunft und die Verachtung der Illusion. Anderen schlüssig und verständlich zu machen, was sie sah, war ein großer geistiger Triumph – für sie persönlich, aber auch für die Tradition des offenen politischen Diskurses.

Judith Shklar (1975)

Die Studienausgabe in Einzelbänden von Hannah Arendts Schriften möchte dazu einladen, eine der bedeutenden Denkerinnen des 20. Jahrhunderts kennenzulernen oder erneut zu lesen. Ausgewiesene Experten untersuchen in ihren exklusiv für die Edition verfassten Nachworten die jeweiligen Werke. Die Autoren werden darin je eigene Schwerpunkte setzen, die Interessierten Hannah Arendts Gedankenwelt erschließen helfen, während sich die Spezialisten mit markanten Positionen auseinandersetzen können. Bewusst wurde darauf verzichtet, eine wie auch immer geartete Einheitlichkeit vorzugeben. Die Offenheit und die Vielfalt von Arendts Überlegungen werden sich folglich in den verschiedenen Positionen der Beiträger spiegeln, die innerhalb der Studienausgabe zu Wort kommen.

Die Ausgabe kann und will keine Konkurrenz zur kritischen, im Göttinger Wallstein Verlag erscheinenden Edition von Arendts Schriften sein. Die in Arendts Münchner Stammverlag Piper vorgelegten Bände bieten Texte, die auf der jeweils letzten, von ihr selbst noch überprüften Fassung beruhen. Druckfehler und andere offensichtliche Versehen sind korrigiert, die Zitate wurden überprüft, die bibliografischen Angaben und Register durchgesehen. Für all das trägt der Herausgeber die Verantwortung. Ziel war es, zitierfähige Ausgaben zu schaffen, die sowohl eine breite Leserschaft ansprechen als auch für Wissenschaftler eine verlässliche Textgrundlage bieten.

Die erste Lieferung der Edition wird jene Werke umfassen, die Arendts Ruf in Deutschland zu ihren Lebzeiten begründeten. In chronologischer Reihenfolge sind dies folgende Schriften: Die 1929 veröffentlichte Dissertation Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, die erstmals 1955 vorgelegte Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus und der zwei Jahre später veröffentlichte Band Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart. Vier Essays. Ebenso enthalten sind die 1959 publizierte Biografie Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik und die im Jahr darauf erschienene Monografie Vita activa oder Vom tätigen Leben. Es folgen die Reportage Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen von 1964 und schließlich die ein Jahr später zugänglich gemachte Abhandlung Über die Revolution. Damit liegen im Piper Verlag erstmals die Augustin-Studie und die in dieser Form und unter dem Titel nie wieder aufgelegte, dem engen Freund Walter Benjamin gewidmete Aufsatzsammlung Fragwürdige Traditionsbestände vor.

Zu einem späteren Zeitpunkt werden unter anderem die zu Lebzeiten in deutscher Sprache veröffentlichten Zeitungsartikel, Aufsätze und Essays Arendts in chronologischer Reihenfolge neu herausgegeben werden. Das unvollendete Nachlass-Werk Life of the Mind, in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Vom Leben des Geistes erstmals 1979 in zwei Bänden erschienen, wird die Ausgabe ergänzen, sobald eine verlässliche Textgrundlage verfügbar ist.

 

Hannah Arendts Werke sprechen für sich und die beigefügten Nachworte benötigen keinerlei Rechtfertigungen. Bleibt also der aufrichtige Dank an die Kolleginnen und Kollegen, die sich der Aufgabe unterzogen haben, mit ihren Beiträgen die Schriften Hannah Arendts für hoffentlich viele Leserinnen und Leser zu öffnen. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vom Piper Verlag gilt der Dank für die Zusammenarbeit und die Courage, das Werk Hannah Arendts in der vorliegenden Form der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

 

Berlin, im September 2021

 

Thomas Meyer

Zu diesem Band

Die hier erstmals seit 1957 wieder unter dem Titel Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart veröffentlichte Sammlung von vier Essays Hannah Arendts ist bis zum heutigen Tag kaum bekannt. Wie die Philosophin Eva von Redecker in ihrem »Nachwort« zur Neuauflage zeigen kann, bildet der Band einen wesentlichen Zwischenstand in Arendts Denken ab.

Ein paar Hinweise des Herausgebers der Studienausgabe seien daher der Edition vorangestellt.

I.

1955 ist die von Hannah Arendt selbst übertragene, umgearbeitete, wesentlich erweiterte und ergänzte Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft bei der in Frankfurt beheimateten »Europäischen Verlagsanstalt« (EVA) erschienen, die vier Jahre zuvor unter dem Titel The Origins of Totalitarianism in New York und zeitgleich sowie seiten- und inhaltsidentisch als The Burden of Our Time in London publiziert worden war.

Arendt fand die Verkaufszahlen der deutschen Ausgabe »zufriedenstellend« und die Besprechungen hätten sie »zum Teil richtig gefreut«, wie sie die EVA am 4. Juli 1956 wissen ließ.[1] Das Verhältnis zum Verlag war zu dieser Zeit noch gut, weitere Vorhaben wurden daher ins Auge gefasst.

Am 17. Februar 1957 schrieb Arendt an die EVA unter anderem folgende Zeilen, die die Idee und die Zusammenstellung des vorliegenden Bandes genau umreißen:

Ich spiele immer noch mit dem Gedanken der Geschichtsbroschüre, bin mir aber noch nicht im klaren. Ich muss erst die Vita activa fertig haben und sehen, ob ich nicht doch einen Teil der Erörterungen über den Geschichtsbegriff dafür brauche. Dann könnte man es nicht machen. Hinzu kommt eine andere Erwägung: ich habe eine Reihe von grösseren Essays aus den letzten Jahren – über Tradition, über Autorität, über Religion und Politik – vielleicht entschliesse ich mich doch zu einem Essayband. Was halten Sie davon?

 

Danach ging alles sehr schnell. Der Verlag kündigte acht Wochen Produktionszeit an, sobald das Manuskript vorliege. Arendt wiederum hatte ihre Freundin Charlotte Beradt (1907 – 1986)[2] als Übersetzerin vorgeschlagen. 3000 Exemplare sollten für die erste Auflage gedruckt werden, der vollständige Titel Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart wurde von Arendt vorgegeben und schließlich zusammen mit der vom Verlag vorgeschlagenen näheren Kennzeichnung Vier Essays übernommen. Am 2. August 1957 teilte Arendt mit, dass das Manuskript fertig sei, es mit »ca. 150 Schreibmaschinenseiten« etwas länger als geplant ausgefallen sei und es sich jetzt, nach den Überarbeitungen des deutschen Textes, »auch mehr als ein Buch« lese.

Was enthält der Band? Nach einer exklusiv für das »Buch« geschriebenen »Vorbemerkung« folgt »Tradition und Neuzeit«, ein ursprünglich 1954 in der linken Partisan Review auf Englisch publizierter Text.[3] Der zweite Essay »Natur und Geschichte« erschien parallel in der Deutschen Universitätszeitung, allerdings in einer teilweise abweichenden Version, während der dritte Text »Geschichte und Politik in der Neuzeit« auf einem auf Englisch abgefassten Vortrag beruhte. Der vierte Essay »Was ist Autorität?« basierte auf einem mehrfach gehaltenen Vortrag, der erstmals 1956 in der Zeitschrift Der Monat erschienen war und wie seine Vorgänger für den Wiederabdruck überarbeitet wurde.

Wie ging es weiter? Den Korrekturdurchgang wolle der Verlag übernehmen, ließ man Arendt am 10. September wissen, die Überprüfung der zahlreichen griechischen und lateinischen Begriffe und Zitate werde ein Altphilologe übernehmen. Gut einen Monat später, am 14. Oktober, bestätigte der Verlag den Eingang von Arendts eigenen Korrekturen und die Versendung des Umbruchs, dessen letzter Teil neun Tage später von der EVA verschickt wurde. Am 11. November sandte Arendt ihre Änderungen am Umbruch und zu den umfänglichen Angaben auf dem Buchumschlag zurück, klagte zusätzlich die fehlende Widmung (»Dem Andenken Walter Benjamins«) und die bisher unterlassene Nennung der Übersetzerin Charlotte Beradt ein.

Alles schien rasch zu einem guten Ende zu kommen. Doch offensichtlich gab es Probleme bei den hausinternen Abläufen. Von Arendts Änderungswünschen konnte schließlich nur noch ein Teil eingearbeitet werden, darunter die Widmung und der Hinweis auf Beradt, wie ein Brief des Verlages vom 22. November darlegte. Fünf der angemahnten und nicht mehr berichtigten Fehler wurden auf einem dem Buch beigefügten kleinen Blatt, der »Druckfehlerberichtigung«, aufgeführt. Kurz nach der Mitteilung an Arendt wurde das Buch ausgeliefert.

Die von Arendt aufgeführten Korrekturbitten wurden für diese Ausgabe erstmals sämtlich eingearbeitet, ebenso wurden die von ihr gewünschten Formulierungsänderungen vollständig berücksichtigt. In ihrem Nachlass haben sich die Durchschläge der entsprechenden Briefe erhalten.

Auf dem Umschlag der Erstausgabe fanden die Leserinnen und Leser zwei bemerkenswerte Texte, die Arendt genau gegengelesen hatte und die von ihr autorisiert waren. Zum einen eine deutende Inhaltsangabe des Buches und zum anderen einen in dieser Ausführlichkeit weder zuvor noch danach veröffentlichten Werdegang. Wegen dieser Besonderheiten werden die beiden Texte hier ebenfalls erstmals unverändert abgedruckt:

 

Die in diesem Band enthaltenen vier Arbeiten:

Tradition und Neuzeit

Natur und Geschichte

Geschichte und Politik

Was ist Autorität?

sind aus Vorträgen entstanden, die Dr. Hannah Arendt in den Jahren 1953 bis 1956 an deutschen und amerikanischen Universitäten gehalten hat. Der dem Buch gegebene Titel versucht, die leitende Absicht der diesen Essays gemeinsamen kritischen Überlegungen anzudeuten. Diese Überlegungen befassen sich sachlich mit den in den Essay-Titeln angezeigten Begriffen; die Kritik erfolgt durch eine Rückführung dieser Begriffe auf die politischen, geschichtlich gegebenen Erfahrungen, aus denen sie entstanden sind, und durch eine Konfrontierung mit den modernen Erfahrungen, denen sie adäquat zu sein vorgeben.

Hannah Arendt ist der Meinung, »daß die Rückführung aller menschlichen Tätigkeiten auf das Arbeiten und die Reduzierung aller politischen Verhältnisse auf das Herrschaftsverhältnis nicht nur historisch nicht zu rechtfertigen sind, sondern in verhängnisvoller Weise den Raum des Öffentlichen und die Möglichkeiten des Menschen als eines für Politik begabten Wesens verkrüppelt und pervertiert«.

Wie schon in »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« versteht es die Verfasserin, ihre Auffassungen mit einer gründlichen wissenschaftlichen und theoretischen Fundierung und einer Knappheit und Klarheit der Sprache vorzutragen, die schlechthin unübertrefflich ist. Auch von diesem Buch gilt, was Karl Jaspers in seinem Vorwort zu »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« sagte: es ist »Geschichtsschreibung großen Stils«.

Über die Verfasserin:

Dr. Hannah Arendt, geboren 1906 in Hannover, erzogen in Königsberg, hörte Philosophie im Hauptfach, Theologie und Griechisch im Nebenfach, in Marburg bei Heidegger und Bultmann, in Heidelberg bei Jaspers und in Freiburg bei Husserl. Sie promovierte 1928 in Heidelberg im Hauptfach bei Jaspers, in Griechisch bei Regenbogen und in Theologie bei Dibelius. Ihr erstes Buch, »Der Liebesbegriff bei Augustin«, erschien 1929 im Verlag Springer in Berlin. Von 1930 an arbeitete sie mit einem Stipendium der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft an einer Biographie der Rahel Varnhagen, die nicht erscheinen konnte, da Dr. Hannah Arendt 1933 nach einer Verhaftung durch die Gestapo Deutschland verlassen mußte. Von 1933 bis 1940 lebte sie in Paris, wo sie neben ihrer Tätigkeit als Leiterin der Jugendalijah europäische Geschichte studierte. 1941 ging sie von Südfrankreich aus in die USA und wurde regelmäßige Mitarbeiterin von »Partisan Review«, »Commentary«, »Reviews of Politics«, »Kenyon Review«. Von 1946 – 1948 betreute sie als »Chief-Editor« des Schocken-Verlages die große Kafka-Ausgabe. 1946 veröffentlichte Lambert Schneider in Heidelberg einen Essayband aus ihrer Feder.[4] 1951 erschien ihr großes Werk »The Origins of Totalitarianism« in Amerika. Im Jahre 1952 erhielt sie eine »Guggenheim-Fellowship« für ihre Arbeiten auf dem Gebiet der politischen Theorie und Wissenschaft. Einige Ergebnisse trug sie im Herbst 1953 und im Frühling 1954 in Vortragsreihen an den Universitäten in Princeton (»Christian Gauss Seminars«) und Notre Dame vor. Im Jahre 1955 las sie an der Universität von Californien in Berkeley und im Frühling 1956 hielt sie die Walgreen Lectures an der Chicago Universität. Mai 1954 erhielt sie einen Preis der »American Academy for Arts and Letters« für ihre literarischen Leistungen. 1955 erschien die umgearbeitete und erweiterte deutsche Fassung ihres Hauptwerkes unter dem Titel »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« in unserem Verlag.[5]

II.

An der zeitgenössischen Rezeption des Bandes kann das spätere Desinteresse an den Fragwürdigen Traditionsbeständen im politischen Denken der Gegenwart nicht gelegen haben. In Arendts Nachlass finden sich 16 teilweise ausführliche Besprechungen, auch von nicht deutschsprachigen Zeitschriften und Zeitungen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie den Band als inhaltliche und methodische Weiterführung des vor allem im Totalitarismus-Buch Gesagten begreifen. Arendts Zeitgenossen waren hellsichtig.

Arendt selbst war mit der EVA unzufrieden, man trennte sich. Als dann 1961 der schnell berühmt gewordene Band Between Past and Future. Six Exercises in Political Thought erschien, der sieben Jahre später um zwei weitere Texte ergänzt publiziert wurde, waren zwar englische, umgearbeitete Versionen der in den Fragwürdigen Traditionsbeständen im politischen Denken der Gegenwart abgedruckten Essays aufgenommen worden, doch Charakter und Intention der Sammlung waren ganz andere.[6] Das fing schon mit der Widmung an, die nunmehr Arendts Ehemann Heinrich Blücher und der seit 25 Jahren andauernden Verbindung galt, und setzte sich mit der Kennzeichnung der Texte als »Exercises in Political Thought« sowie deren Zusammenstellung schon rein äußerlich fort. Die Rezeption stürzte sich auf Between Past and Future[7] und rasch wurde der Titel zu einem der Arendt-Schlagworte, mit denen sie und ihr Werk in der Öffentlichkeit verbunden wurden.

Der vorgelegte Band mit dem »Nachwort« von Eva von Redecker bietet die Möglichkeit, die Fragwürdigen Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart erstmals oder neu kennenzulernen.

 

Berlin, im September 2021

 

Thomas Meyer

Dem Andenken Walter Benjamins

Vorbemerkung

Die nachfolgenden Essays sind aus Vorträgen entstanden, die ich in den Jahren 1953 bis 1956 in Amerika und Deutschland gehalten habe. Es handelt sich um Gelegenheitsarbeiten, die allerdings nachträglich erweitert und ergänzt worden sind. Bei der Überarbeitung für den Druck konnten einige Überschneidungen nicht vermieden werden, ohne den jeweiligen Zusammenhang empfindlich zu stören; auch einige polemische Äußerungen, die vielleicht eher der Vortrags- als der Essayform angemessen sind, habe ich stehen lassen. Der Titel versucht die leitende Absicht dieser im wesentlichen kritischen Überlegungen anzudeuten, deren innerer Zusammenhang dem Leser kaum entgehen wird. Die Kritik gilt einmal dem Arbeitsbegriff der modernen klassischen Nationalökonomie, den Marx übernahm und theoretisch fundierte, wobei er erst das Arbeiten im Sinne eines herstellenden Produzierens verstand, um dann dies Herstellen und die es leitende Zweck-Mittel-Kategorie auf das politische Handeln zu übertragen. Die Kritik gilt andererseits dem Herrschaftsbegriff der klassischen politischen Theorie, den die Staatswissenschaften auch heute noch für den zentralen Begriff der Politik halten. Ich bin der Meinung, daß die Rückführung aller menschlichen Tätigkeiten auf das Arbeiten oder Herstellen und die Reduzierung aller politischen Verhältnisse auf das Herrschaftsverhältnis nicht nur historisch nicht zu rechtfertigen sind, sondern in verhängnisvoller Weise den Raum des Öffentlichen und die Möglichkeiten des Menschen als eines für Politik begabten Wesens verkrüppelt und pervertiert haben. In der Form von Essays ist eine solche Kritik natürlich nicht zu leisten, schon weil sie im bloß Kritischen stecken bleibt. Aber gerade für das Vorläufige solcher Versuche scheint die Essayform wiederum besonders geeignet.

Die Vorträge sind mit Ausnahme des letzten über Autorität ursprünglich auf englisch gehalten und niedergeschrieben, dann auch in verschiedenen amerikanischen Zeitschriften publiziert worden. Ohne die hilfreiche Freundschaft von Charlotte Beradt, die die Übersetzung ins Deutsche übernahm, wäre diese Publikation nicht möglich gewesen. Teile der Arbeit über Autorität erschienen im »Monat«, Februar 1956, und der Essay »Natur und Geschichte« ist in der Deutschen Universitätszeitung im April und Mai dieses Jahres erschienen.

 

Hannah Arendt

 

Palenville, Juli 1957

Tradition und die Neuzeit

I

Die abendländische Tradition politischen Denkens hat einen klar datierbaren Anfang, sie beginnt mit den Lehren Platos und Aristoteles’. Ich glaube, sie hat in den Theorien von Karl Marx ein ebenso definitives Ende gefunden. Den Anfang setzte Plato im »Staat«, genauer im Höhlengleichnis, das, weil es weder von Philosophie noch von Politik an sich handelt, sondern von der Beziehung zwischen ihnen, den eigentlichen Kern von Platos politischer Philosophie darstellt. Das Politische gilt hier ganz allgemein als der Bereich nur menschlicher Angelegenheiten – τὰ τῶν ἀνϑρώπων πράγματα, wie Plato zu sagen liebte –, aller Dinge, die zum Zusammenleben der Menschen in einer gemeinsamen Welt gehören; und was ihn kennzeichnet, sind Dunkelheit, Verwirrung, Täuschung, so daß der nach wahrem Sein strebende Mensch, der Philosoph, sich von ihm abwenden und dieser Höhle entsteigen muß, um den klaren Himmel zu entdecken, der sich über der Höhle wölbt und an dem die ewigen Ideen erscheinen. Am Ende dieser Tradition steht Marx’ Behauptung, daß Philosophie und die Wahrheit der Philosophen nicht außerhalb der »Höhle« menschlicher Angelegenheiten, sondern in ihrem Bereich und in der allen Menschen gemeinsamen Welt beschlossen liegt. Philosophie kann wirklich, nämlich »verwirklicht« nur im Zusammenleben der Menschen werden, das er Gesellschaft nannte, und seine Hoffnung für diese kommende Verwirklichung der Philosophie setzte er auf den »vergesellschafteten Menschen«.

Jede echte politische Philosophie ist dadurch ausgezeichnet, daß sie Stellung und Haltung des Philosophen zur Politik nicht nur mitbeinhaltet, sondern ihnen entspringt. Die abendländische Tradition politischen Denkens hat damit angefangen, daß der Philosoph sich erst einmal um der Philosophie willen von dem Politischen abwandte, um dann zu ihm zurückzukehren und dem Bereich der menschlichen Angelegenheiten Maßstäbe aufzuerlegen, deren Ursprung und Erfahrungsgrundlage außerhalb des Politischen lagen in einem Bereich, der ausdrücklich als der den menschlichen Angelegenheiten fremdeste und unbekannteste definiert ist. Das Ende dieser Tradition politischer Philosophie konnte kaum anders kommen als dadurch, daß ein Philosoph der Philosophie den Rücken kehrte, um sie in der Politik zu »verwirklichen«. Das ist der Sinn des in sich selbst natürlich philosophischen Entschlusses von Marx, der Philosophie abzuschwören, um die »Welt zu verändern« und mit ihr die philosophierende Vernunft, »das Bewußtsein« der Menschen.

Anfang und Ende der Tradition haben eines gemeinsam: die elementaren Probleme des Politischen treten in ihrer unmittelbaren und einfachen Dringlichkeit niemals so klar zutage, als wenn sie zum ersten Male formuliert und wieder, wenn diese Formulierungen schließlich in aller Radikalität in Frage gestellt werden. Der Anfang gleicht vielleicht wirklich, wie Jakob Burckhardt meinte, einem »Grundakkord«, der in endlosen Modulationen und Variationen durch die ganze Geschichte des Denkens der westlichen Welt nachklingt. Nur am Anfang und nur am Ende ertönt er rein und unmoduliert; und so berührt noch heute der Grundakkord uns nirgends mächtiger und tiefer, als wenn Plato seinen ersten harmonisierenden Klang in die Welt sendet, während er vielleicht nirgends mißtönender und verletzender wirkt als bei Marx, wo er sich vergeblich in einer Welt durchzusetzen sucht, deren Stimme und Melodie mit ihm nicht mehr in Einklang zu bringen sind. Es ist, wie Plato einmal beiläufig in seinem letzten Werk sagte: »Denn der Anfang ist auch ein Gott, und er rettet alle Dinge, solange er unter den Menschen weilt.« (ἀρχὴ γὰρ καὶ ϑεὸς ἐν ἀνϑρώποις ἱδρυμένη σῴζει πάντα.[8]) Solange der Anfang in unserer Tradition lebendig blieb, konnte er das Erscheinende retten – σώζειν τὰ φαινόμενα – und das Gedachte harmonisieren. Der gleiche Anfang brachte an seinem Ende nur Zerstörung in das Denken, wobei wir noch nicht einmal an die traurige Nachernte, an die Verwirrung und Hilflosigkeit zu denken brauchen, die kam, als der Faden der Tradition gerissen war, und in der wir uns heute befinden.

In den Marxschen Theorien, die nicht so sehr Hegel auf die Füße als die traditionelle Hierarchie von Denken und Handeln, Kontemplation und Arbeit, Philosophie und Politik auf den Kopf gestellt haben, beweist der von Plato und Aristoteles gesetzte Anfang seine außerordentliche, bis in unsere Zeit reichende Lebenskraft dadurch, daß er Marx in offenkundige Widersprüche verwickelt, und dies vor allem in dem Teil seiner Lehren, den man gemeinhin als utopisch bezeichnet. Hierher gehören vor allem die Voraussagen über die künftige klassenlose Gesellschaft, die, obzwar sie sich nur verstreut in Marx’ Werk finden und in ihm keinen großen Raum einnehmen, doch für die Entwicklung seiner Theorien eine führende Rolle spielen. Ihnen zufolge wird unter den Bedingungen der Vergesellschaftung – einer »gesellschaftlichen Menschheit« und eines »vergesellschafteten Menschen«[9] – der »Staat absterben« und die Arbeitsproduktivität sich so steigern, daß die Arbeit sich sozusagen selbst abschafft, wobei jedem Mitglied der Gesellschaft Muße in nahezu unbegrenztem Maß garantiert wird. »Die Arbeit ist frei in allen zivilisierten Ländern; es handelt sich nicht darum, die Arbeit zu befreien, sondern sie aufzuheben.« Natürlich enthalten diese Voraussagen Marx’ Ideal von der besten Gesellschaftsform, und als solche sind sie keineswegs utopisch, ohne Ort in Raum und Zeit, vielmehr reproduzieren sie die politischen und sozialen Bedingungen des athenischen Stadt-Staates zur Zeit des Perikles, also jenes politischen Körpers, der Plato und Aristoteles das negative Modell ihrer Erfahrungen abgab und dadurch zum Fundament wurde, auf dem unsere Tradition politischer Philosophie ruht. Die athenische Polis regierte sich selbst, ohne eine Scheidung zwischen Herrschern und Beherrschten zu kennen; sie war demzufolge für Marx kein Staat, da für ihn der Staat selbstverständlich ein Instrument der Herrschaft, wenn nicht der Gewaltherrschaft, war. (Hierin, wie in so vielem anderen, folgte Marx nur der Tradition, welche die Staatsformen als Herrschaftsformen aufzählt – Einzelherrschaft oder Monarchie, Herrschaft der Wenigen oder Oligarchie, Herrschaft der Masse oder Demokratie, wobei allerdings vor Hobbes die Gewaltherrschaft oder Tyrannis stets aus den legitimen Staatsformen ausgeschlossen war.) Die Muße oder Freiheit von Arbeit, die Marx für die Zukunft forderte oder voraussagte, besaß in diesem Athen jeder Bürger. (Arbeit disqualifizierte natürlich nicht nur in Athen und nicht nur in der Antike für den Besitz voller Bürgerrechte; bis zur Neuzeit konnte niemand, der durch Arbeit seinen Lebensunterhalt erwarb, politisch tätig sein, und bis tief ins neunzehnte Jahrhundert hatte niemand politische Rechte, der nicht mehr besaß als seine Arbeitskraft.) Was das »Absterben des Staates«, das heißt die Abschaffung des Unterschiedes von Herrschern und Beherrschten, anlangte, und die Freiheit von Arbeit, die Muße, durch die der freie Bürger sich von der Klasse der Sklaven und Metöken unterschied, wollte also Marx nur für alle, was Athen der freien Oberschicht zugestanden hatte.

Viel erstaunlicher jedoch als diese allgemeine Gebundenheit an das Ideal der athenischen Polis ist die offenbare Abhängigkeit Marx’ von denjenigen Lehren Platos und Aristoteles’, die in offenem Widerspruch zu den Idealen der Polis stehen. Sie zeigt sich vor allem in dem tatsächlichen Inhalt des Marxschen Gesellschaftsideals. Für ihn kann es zur Freiheit der Muße nur kommen, wenn der Staat bereits abgestorben ist, da ja der Staat das Herrschaftsinstrument darstellt, durch das eine Klasse die andere ausbeutet und zur Arbeit zwingt. Nach Absterben der letzten Staats- oder Herrschaftsform bleibt aber für Marx eine einheitlich politische Sphäre überhaupt nicht mehr übrig; das Ziel ist vielmehr, das Regieren – die »Verwaltung von Sachen« (Engels) – so einfach zu gestalten, daß nach dem berühmten Wort von Lenin, das Marx’ Gedanken sehr präzis wiedergibt, dies Geschäft jede Köchin besorgen kann. Offensichtlich kann unter solchen Umständen das Geschäft der Politik auch nur noch für Köchinnen von Interesse sein, nicht einmal mehr für jene »mäßigen Intellekte«, denen Nietzsche in einem wohl geordneten Staatswesen das Geschäft des Regierens überlassen wissen wollte.[10] Nun steht dieses Ideal zwar in einem diametralen Gegensatz zu den tatsächlichen Bedingungen der Antike, wo politische Pflichten so schwierig und zeitraubend waren, daß denjenigen, die mit ihnen befaßt waren, die Ausübung einer anstrengenden Tätigkeit weder zugemutet noch gestattet werden konnte. (Die antike und vor allem die griechische Verachtung der Arbeit hatte wichtigere und gewichtigere Gründe als diese, auf die wir hier nicht eingehen. Wie hoch aber doch für Disqualifizierung zur Bürgerschaft das einfache Kriterion von Anstrengung und Ermüdung eingeschätzt wurde, zeigt sich deutlich, wenn zum Beispiel der Schäfer, aber nicht der Bauer zur Bürgerschaft zugelassen werden sollte oder wenn der Maler, aber nicht der Bildhauer als etwas Besseres als ein βάναυσος anerkannt wurde.) An diesem zeitraubenden politischen Leben des durchschnittlichen vollberechtigten Bürgers einer Polis hatten sich aber die Philosophen orientiert, um ihm ihr Ideal von Freiheit und Muße, von σχολή, entgegenzustellen; denn unter dieser Muße darf man vor allem bei Aristoteles niemals Freiheit von Arbeit verstehen, die sich in der Polis von selbst verstand, sondern Freiheit, Freizeit von politischer Tätigkeit und den Staatsgeschäften.

In Marx’ Vorstellung von einer Idealgesellschaft sind diese beiden ganz verschiedenen Begriffe von Freiheit und Freizeit unentwirrbar miteinander verknüpft: die klassen- und staatslose Gesellschaft verwirklicht sowohl die Hauptforderung der gesamten Antike, nicht arbeiten zu müssen, wie die Hauptforderung der Philosophen, sich nicht um Politik zu kümmern brauchen. Marx also forderte nicht nur für alle Menschen, was die Antike nur der freien Oberschicht zugestanden hatte, sondern darüber hinaus dasjenige, was die Philosophen nur für sich, für »die Wenigen« im Gegensatz zu den Vielen, verlangt hatten, die Freiheit von aller Tätigkeit als Voraussetzung für den βίος ϑεωρητικός, für ein der Philosophie und dem Erkennen im weitesten Sinne gewidmetes Leben. Lenins Köchin, mit anderen Worten, soll in einer Gesellschaft leben, die ihr ebensoviel Freizeit von Arbeit läßt, wie der antike Bürger brauchte, um sich dem πολιτεύεσϑαι zu widmen, und dazu ebensoviel Freizeit von Politik, wie der griechische Philosoph brauchte, um sich ganz dem Philosophieren zu widmen. Für Marx wurde das Ideal einer klassenlosen Gesellschaft darum zum Inbegriff einer idealen Menschlichkeit, weil diese Gesellschaft sowohl unpolitisch (staats-los) wie nahezu arbeits-los ist und weil in der hier waltenden Muße, die von dem otium und der σχολή der Tradition entscheidend bestimmt ist, sich ihm eine menschliche Lebensart vorzeichnete, die höheren Zielen als denen der Arbeit oder der Politik nachstreben kann.

Marx selbst betrachtete seine »Utopie« als eine einfache Voraussage, und in der Tat hat er in diesem Teil seiner Lehren eine große Anzahl von Entwicklungen vorausgesagt, die erst in unserer Zeit sich deutlich abzuzeichnen beginnen. Regierung im alten Sinn hat in vieler Hinsicht bloßer Verwaltung Platz gemacht, und der ständige Zuwachs an Freizeit für die Massen gerade der arbeitenden Bevölkerung ist in allen modernen, industrialisierten Ländern eine Tatsache allererster Ordnung. Es ist immer noch erstaunlich zu sehen, wie klar Marx gewisse Folgen der industriellen Revolution erkannt hat, obwohl seine Annahme, daß diese Folgen nur unter der Bedingung der Sozialisierung der Produktionsmittel Wirklichkeit werden könnten, sich als falsch erwiesen hat.[11] Aber daß er diese Entwicklung in einem so verfälschend-idealisierenden Lichte sah, lag an der Macht, die Tradition über ihn hatte, lag daran, daß er sie in Begriffen und Alternativen verstand, die ihren Ursprung in einer ganz anderen geschichtlichen Epoche und in ganz anderen ursprünglichen Erfahrungen hatten. Dies machte ihn blind für die der modernen Welt innewohnenden echten und sehr komplizierten Probleme und gibt seinen richtigen Einsichten ihren utopischen Charakter. Das hindert nicht, daß sein Ideal einer klassen-, staats- und arbeits-losen Gesellschaft der Verbindung zweier ganz verschiedener und ganz und gar nicht utopischer Elemente entsprossen ist: der Beobachtung und Registrierung gewisser Tendenzen der Neuzeit, die im Rahmen der Tradition nicht mehr verstanden werden können, und den traditionellen Begriffen und Idealen, durch die Marx selbst diese Tendenzen verstanden und systematisiert hat.

 

Marx selbst war sich nicht des Fortwirkens der Tradition in ihm, nur der bewußten Rebellion gegen die Überlieferung, und zwar gerade die des philosophischen Denkens bewußt. Die Grundsätze, die den Inhalt seiner eigenen politischen Philosophie bilden und dem wissenschaftlich-ökonomischen Werk zugrunde liegen, sind alle in einem herausfordernden und absichtlich paradox klingenden Ton formuliert. Wie wichtig sie für sein Denken waren, geht schon daraus hervor, daß man auf sie in merkwürdig sich gleichbleibenden Formulierungen von den Jugendschriften bis zu den letzten Kapiteln des dritten Bandes des Kapitals stößt.