Frank Thelen – Die Autobiografie - Frank Thelen - E-Book

Frank Thelen – Die Autobiografie E-Book

Frank Thelen

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Beschreibung

Die außergewöhnliche Autobiografie des Mannes, der als Investor aus der "Höhle der Löwen" bekannt wurde: Mit 25 steht Frank Thelen vor dem Ruin – aber was für die meisten das Ende bedeuten würde, ist für ihn der Startschuss für eine beispiellose Karriere. Mit unbändiger Willenskraft, erstaunlichem Wagemut und viel Herzblut wird er zu einem der erfolgreichsten Startup- Unternehmer und Investoren Europas. Eine packende Lebensgeschichte und ein spannender Blick hinter die Kulissen von Wirtschaft, Politik und TV. Der Ausnahme-Unternehmer erzählt zum ersten Mal die Story seines Lebens. Nah. Persönlich. Schonungslos ehrlich.

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Inhalt

Hallo, ich bin Frank

Kindheit und Jugend

Meine ersten Schritte als Unternehmer

Die Katastrophe

IP.Labs

E42

Nathalie

Wunderlist

doo und Scanbot

Die Höhle der Löwen

Food Family

Freigeist Capital

Lilium Aviation

Disruption – Was ist das?

Der Werkzeugkasten der Zukunft

Künstliche Intelligenz

Blockchain, Bitcoin & Co.

Neufund

Skateboarding als Philosophie

Deutschland 4.0

Finde deine #StartupDNA

Anhang

Danksagungen und Hinweise

Glossar

Chancen zu sehen und den Mut zu haben, sie konsequent zu nutzen, unterscheidet den Macher vom Verwalter

Frank Thelen

Hallo, ich bin Frank…

…und gerade sind acht Kameras auf mich gerichtet, damit auch wirklich jeder Gesichtsausdruck aus jeder Perspektive eingefangen wird – und ja, ich bin ein wenig nervös. Ich sitze in den berühmten MMC-Studios in Köln. Eine Hairstylistin fixiert meine Haare mit Haarspray. Eine Make-Up-Artistin pudert mir den Glanz aus dem Gesicht. Ein Kostümbildner zupft an meinem Hemd herum – nichts wird dem Zufall überlassen. Eine faszinierende, aber auch sehr fremde Welt für jemanden wie mich, der jeden Morgen ein schwarzes Polo-Shirt anzieht, nie Anzug trägt und maximal fünf Minuten im Bad braucht.

Im Studio und davor rennen alle möglichen Leute herum: Kameramänner, Producer, Lichtdesigner, Kabelträger, Security, Fahrer, Produktionsassistenten, Redakteure, Programm-Manager, Tontechniker und andere, von denen ich keine Ahnung habe, was ihr Job ist. Eben habe ich einen jungen Kollegen gefragt, was er macht.

»Ich bin Feuerwehrmann und zünde vor jedem Auftritt das Kaminfeuer an.« »Du bist nur für das Feuer zuständig?«, frage ich nach. »Ja«, antwortet er, »ich bin der Feuerbeauftragte«.

Mir fehlen die Worte – unfassbar! Ich kannte bisher nur Startups, schlank organisiert, wo jeder alles macht und vieles auch manchmal etwas chaotisch ist. Hier laufen viel mehr Leute durcheinander – aber das vermeintliche Chaos ist gar keines: Es ist eine gut geölte Maschinerie von Fernsehprofis. Ich bin aber kein Fernsehprofi. Um ehrlich zu sein, sitze ich zum ersten Mal überhaupt in einem Fernsehstudio. Damit ist für mich aber auch endgültig klar: Ich muss im falschen Film sein. Wobei mir eine Eigenheit der Fernsehwelt sehr entgegenkommt: Es duzen sich alle. Aber für die anderen Aspekte dieses aufgeregten Ameisenhaufens galt in diesem Moment: Da gehöre ich nicht zu – diese Fernsehwelt hier ist aufregend und toll, aber sie ist eine andere Welt, nicht meine. Ich habe Fluchtgedanken und bin mir nicht sicher, ob ich hier rein passe.

Dabei hatte ich das Glück, in meinem Leben schon sehr viele verschiedene Welten erlebt zu haben: Ich habe mehr als einmal die Schule geschwänzt und stattdessen hinterm Bahnhof abgehangen. Ich bin tief in die Skateboard-Szene eingetaucht und habe mir dort oft die Lippe blutig geschlagen. Ich bin vom Gymnasium geflogen. Ich habe eine Firma gegründet, sie fast bis an die Börse gebracht und sie dann doch an die Wand gefahren. Ich bin von der Presse bejubelt und von Kunden beschimpft worden. Ich hatte mit Mitte 20 Millionen Schulden und stand kurz vor der Privatinsolvenz. Ich habe eine neue Firma gegründet, sie für viel Geld nach Japan verkauft und sollte dort mit Wal-Sperma auf den Erfolg anstoßen. Immer wieder habe ich gegründet, hatte Erfolg, bin wieder böse hingefallen und erneut aufgestanden. Unsere Kanzlerin hat mir einen Innovationspreis überreicht, und ich durfte als Mitglied der Bundesversammlung den Bundespräsidenten wählen. Was ich gesehen habe, reicht für mindestens drei Leben. Und jetzt sitze ich hier und soll ein »Löwe« werden, in einer von Sony Pictures produzierten Prime-Time-Fernsehsendung.

Das alles geht mir durch den Kopf, während der Regisseur laut über die Beschallung runterzählt: »Bitte Ruhe, wir legen los in drei, zwei, eins…« Und in diesem Moment der Ruhe wird mir klar, warum ich hier doch richtig bin. All die Leute um mich herum sind vergessen. Denn in wenigen Sekunden wird durch den goldenen Käfig vor mir ein junger Unternehmer hereinkommen. Er wird sein Produkt, sein Startup und seine Pläne pitchen.. Und er wird alles geben, um meine Kollegen und mich von seinem Startup zu begeistern. Vielleicht werden alle sagen, »das gibt es schon« oder »die Idee ist zu verrückt«, aber weder das eine noch das andere sind Gründe zum Aufgeben. Wenn jemand ein herausragender Kopf ist, eine gute Idee und einen überzeugenden Plan zur Umsetzung hat, dann ist keine Idee »zu groß« oder »zu klein«. Vielleicht lässt sich dieser Gründer nicht abschrecken von bürokratischem Irrsinn, von resignativer Verzweiflung, von überregulierten Vorschriften. Weil er mehr vom Leben will als seine Zeit absitzen, bis er um 16:30 Uhr Feierabend machen kann. Er will etwas bewegen in der Welt, einen kleinen oder sogar großen Fußabdruck hinterlassen. Ich weiß, was in seinem Kopf vorgeht.

Überzeugt er mich, investiere ich mein Kapital, meine Zeit und Passion in ihn und seine Vision. So wie vorher in viele andere Gründer. Ich arbeite täglich mit ihnen zusammen und helfe ihnen, die Herausforderungen eines Startups zu meistern. Ich kenne die Träume, die Verzweiflung, die Umwege und Irrwege. Fast alle Fehler habe ich selbst gemacht und weiß heute, wie man sie vermeiden kann. All die dunklen Jahre, die tiefen Täler, durch die ich hindurch musste – sie waren nicht umsonst. Denn heute kann ich diese Erfahrung weitergeben. Mein ganzes Leben baue ich Startups auf – ob als Gründer oder Investor. Das ist meine DNA. Acht Kameras? Maske, Haar, Kostüm? Egal: Ich bin hier richtig. Goldrichtig sogar.

Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen?

Wie bin ich hier gelandet?

Kindheit und Jugend

Eine Kindheit in der Bundeshauptstadt

Bonn, ab 1975

Ich bin in Bad Godesberg groß geworden, einem Stadtbezirk von Bonn. Bonn in den 1980er Jahren war natürlich im Hauptberuf Bundeshauptstadt: Da war Helmut Kohl als Bundeskanzler. Da waren ein paar Demonstrationen gegen den NATO-Doppelbeschluss auf der Hofgartenwiese an der Uni. Graue Beamte, Journalisten und natürlich Abgeordnete, unter denen ab 1983 die Grünen für Farbe im Bundestag sorgten. Grüne, die auf einmal im Parlament saßen und über die sich viele aufregten, weil sie Turnschuhe trugen oder während der Sitzungen strickten. Aber davon bekam ich als Kind nicht viel mit.

Bonn war tatsächlich nie so aufregend. B.O.N.N.: »Bundeshauptstadt Ohne Nennenswertes Nachtleben«, so wurde gespottet. Punk war hier nie zu Hause, der wohnte damals schon in Berlin. Der britische MI6-Agent und spätere Bestsellerautor John Le Carré schrieb in seinem Roman Eine kleine Stadt in Deutschland über Bonn: »Entweder es regnet oder die Bahnschranken sind runter.« Tatsächlich passierte meist beides gleichzeitig. Auch der Spruch »Bonn ist halb so groß wie der Zentralfriedhof von Chicago, aber doppelt so tot« ist von LeCarré, und auch da war leider was dran. Bad Godesberg wiederum ist die noch gediegenere Version von Bonn – Verruchtheit und revolutionärer Aufruhr waren dort erst recht nicht zu finden. In Bad Godesberg wohnten Politiker und Beamte: Abgeordnete, Staatssekretäre, Ministerialdirigenten und viele mehr, deren Funktion ich nie verstehen werde. Und das Einzige, was mir zeigte, dass Bonn Bundeshauptstadt war, waren die Autos der Diplomaten mit den merkwürdigen Kennzeichen. Sie durften überall in der Stadt parken wie Kraut und Rüben, da sie durch ihren diplomatischen Status sogar immun gegen Parktickets waren. Und dann war da natürlich überall Polizei, was ich später als Skater ziemlich lästig fand.

Unsere Wohnung hatte ein Fenster mit direktem Blick auf die Rigal’sche Wiese, ein großes grünes Stück Rasen, auf dem mindestens einmal in der Woche ein Hubschrauber mit einem wichtigen Minister oder Diplomaten landete. Die Vibrationen konnte ich noch in meinem Kinderzimmer spüren. Damals faszinierte mich das überhaupt nicht, es war Alltag, laut und eher nervig. Aber wenn ich heute daran denke, wie mich der Gedanke beschäftigt, praktisch und unkompliziert von A nach B zu kommen – wer weiß, vielleicht hat das Echo der Hubschrauberrotoren meiner Kindheit auch eine kleine Rolle bei unserem Lilium-Investment gespielt. Doch dazu später mehr.

1980, mit fünf Jahren

Mein Vater war noch auf einem Bauernhof in Muffendorf aufgewachsen. Das war ganz bei uns in der Nähe – und als Kinder spielten wir dort viel. Mein Opa Wilhelm besaß Hühner, und im Stall nach Eiern zu suchen war eines der großen Abenteuer meiner Kindheit. Mein Großvater hatte auch unzählige Kirschbäume. Zur Erntezeit sind wir immer in die Bäume geklettert, haben körbeweise Kirschen gepflückt und uns regelmäßig so überfressen – anders kann man es wirklich nicht nennen –, dass ich bis heute keine Kirschen mehr sehen kann. Ich bin in einfachen Verhältnissen aufgewachsen: Wir lebten in einer kleinen Etagenwohnung, mein Vater hat im Vertrieb für professionelle Funkgeräte gearbeitet, später im Mobilfunkbereich, und in den Jahren vor seiner Rente hat er schließlich unabhängige Kfz-Werkstätten mit Zubehörteilen beliefert. Meine Mutter ist gelernte Kosmetikerin, hat sich später aber um Kinder und Haushalt gekümmert. Meine Eltern sind das Paradebeispiel für die deutsche Mittelschicht: hart arbeitend, ehrlich und zuverlässig. Rheinländer wie aus dem Bilderbuch.

Ich habe eine ältere Schwester, die einen sehr geradlinigen Lebenslauf mit Einser-Abi und Festanstellung in einem Großkonzern hat. Aber schon in unserer Jugend wurde klar: Wir beide leben auf verschiedenen Planeten. Ihr Lebensentwurf steht meinem diametral gegenüber und manchmal frage ich mich, wie es möglich ist, dass man die gleichen Eltern hat, gemeinsam aufgewachsen ist – und sich doch so verschieden entwickeln kann. Das ist gar nicht schlimm: Als Kinder haben wir uns natürlich ständig gekabbelt, so wie Geschwister das eben tun, aber heute haben wir ein entspanntes Verhältnis.

Mein Vater war immer für mich da, hat mir Frühstück gemacht, mich zum Fußball gefahren, wurde sogar Trainer meiner Fußballmannschaft. Einmal in der Woche spielte er selbst noch mit seinen Kumpels Fußball. Manchmal schaute ich dabei zu. Und obwohl ich eigentlich noch viel zu klein war, hat er mich gegen den Protest seiner Freunde mitspielen lassen. Er hat mich auch, trotz unschöner Blicke seiner Kollegen, zur Computermesse Cebit mitgenommen. Natürlich ist so ein kleiner Junge ein Klotz am Bein, wenn man möglichst viele Geschäftstermine schaffen will. Aber ich hoffe, dass mein Vater heute sieht: Der Stress war nicht umsonst. Dafür an dieser Stelle: Danke!

Urlaub mit meinen Eltern

Meine Mutter wurde sehr früh mit meiner Schwester schwanger. Das war ihr Weg in die Selbstständigkeit und weg von zu Hause, da mein Opa offenbar ein schwieriger Vater war. Ihre Karriere als Kosmetikerin musste sie leider für uns aufgeben und war dann plötzlich an zwei Kinder und einen Haushalt gebunden. Sie hat immer versucht, meine Schwester und mich ideal zu versorgen und meinen Vater zu unterstützen. Wenn ich Probleme in der Schule hatte, konnte ich mich blind auf ihre Hilfe verlassen. Da sie selber sehr streng erzogen worden war, ließ sie mir im Gegenzug fast alle Freiheiten. Ich habe dadurch viel gelernt und bin früh selbstständig geworden. Einzige Ausnahme: Aufräumen. Denn meine Mutter hat, warum auch immer, jeden Tag mein Zimmer und meine Wäsche wie in einem Fünfsternehotel versorgt. Hierdurch habe ich bis heute die leichte Tendenz, Chaos zu hinterlassen. Aber ich arbeite daran.

Schule und ich – eine schwierige Kombination

Bonn, ab Mitte der 1980er Jahre

Bis zu meinem 14. Lebensjahr hat mich die Schule herzlich wenig interessiert – ich habe außerhalb der Schule auch nur ein einziges Buch gelesen: Hörbe mit dem großen Hut, Otfried Preußlers Geschichte über ein Hutzelmännchen. Aber weil meine Schwester so gut in der Schule war, durfte auch ich aufs Gymnasium, und zwar auf das private »Pädagogium Godesberg Otto-Kühne-Schule« im Godesberger Villenviertel. Bonner kennen es kurz als »Päda«. Das Schulgebäude ist ein beeindruckender Backsteinbau aus der Zeit um 1900, nah am Rhein gelegen, der mich damals sehr beeindruckt hat. Das Päda ist eine der wenigen Privatschulen in Deutschland, die nicht in der Trägerschaft von Kirchen oder Orden sind, und hat eine Reihe prominenter ehemaliger Schüler aufzuweisen, wie den Rennfahrer Wolfgang Graf Berghe von Trips, die Schauspielerinnen Jennifer Nitsch, Sophie von Kessel, Silke Bodenbender, die Schriftstellerin Juli Zeh oder den ehemaligen Politiker Christopher Lauer – aber auch manche mit schlimmem Ruhm, wie den Nazi-Minister und Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß. Machen wir’s kurz: Ich wurde am Päda nicht glücklich. Man quälte mich mit Frontalunterricht und trockenem Lehrstoff. Das mag für andere Schüler lehrreich und produktiv sein – für mich war es das nicht. Mit Grauen denke ich noch heute an das rote Lateinbuch, mit dessen Hilfe ich Substantive deklinieren und Verben konjugieren lernen sollte: Sum, es, est, sumus, estis, sunt… zwecklos.

Bis heute sehe ich nicht ein, was an einem stumpfen Lernen ohne Verstehen, am reinen Pauken ohne die Frage nach dem »Wozu« produktiv sein soll. Meine damaligen Lehrer handelten sicher ehrenwert und in bester Absicht, sie hatten selber so gelernt. Aber sie waren nicht in der Lage, mir einen Funken Inspiration zu geben. Wenn ich heute spüre, wie viel Energie es mir gibt, Neues zu lernen, weil ich weiß, was ich damit erschaffen kann, macht es mich traurig zu sehen, dass wir unser Schulsystem nicht ändern. Statt begeistert zu sein, was es alles zu entdecken gab, war ich nach kürzester Zeit desillusioniert, verzweifelt und traurig. In meinem Inneren spürte ich, dass der Weltgeist einen anderen Lebenslauf für mich vorgesehen hatte. Ich verlor alle Energie, verkümmerte zusehends, wurde zum Außenseiter und Verlierer. Ich erinnere mich noch gut an eine Klassenfahrt nach Spiekeroog. In so einer Klasse ist ja recht schnell klar, wer der Checker ist und wer nicht. In der Jugendherberge auf der Insel Spiekeroog gab es für die Jungs drei Zimmer – und ich landete im letzten, zusammen mit den anderen Losern: mit Manuel, der seine Brille immer mit Tesafilm am Bügel geflickt hatte, und dem dicken Olli. Das war eine schmerzhafte Niederlage, mit der ich einige Zeit schwer zu kämpfen hatte.

Irgendwann folgten die Fünfen. Ich war Schlusslicht der Klasse, und in der Siebten hatte meine Mutter ein Einsehen. Sie begriff, dass ihr Sohn unglücklich war, und nahm mich von der Schule. Ich musste, sollte, konnte, durfte das Gymnasium verlassen. Nun besuchte ich die Realschule in einem der wenigen sozialen Brennpunkte Bonns. Die war etwas näher am echten Leben dran, in den Pausen durfte ich Skateboard fahren, ich fühlte mich wohler und nicht mehr abgeschlagen. Glücklicherweise konnte ich mich schnell mit der »East Mehlem Posse« anfreunden. Es war aber gleichzeitig auch eine harte Schule, im wahrsten Sinne des Wortes: Hier durften nur Sportlehrer die Aufsicht übernehmen, da es in den Pausen regelmäßig zu Prügeleien kam. Es wurde zuweilen mit Drogen und sogar Waffen gedealt, ein Teil der Schüler sprach kein Deutsch. Aber was richtig gut war: Das rote Lateinbuch war für mich Geschichte. Mit den Drogen, Waffen und Prügeleien hatte ich zum Glück sehr wenig zu tun. Ich kam menschlich gut klar, aber um ehrlich zu sein: Ich habe auch hier nicht besonders viel gelernt. Mein Englisch musste ich mir Jahre später the hard way selber aneignen: Ich stellte meinen Computer auf Englisch ein, sah nur noch englische Filme, hörte englische Hörbücher und zwang mich dazu, meine persönlichen Notizen und Texte in englischer Sprache zu schreiben. Es war hart, ich wollte oft aufgeben, aber ich habe es durchgezogen. Bis heute habe ich leider wenig Allgemeinbildung, mir fehlen oftmals mathematische Grundlagen, und auch in der Physik musste ich mir das Nötigste selber aneignen. Darauf bin ich nicht stolz, im Gegenteil. Ich glaube sogar, dass ich mich durch meine Jugend auch in der Zukunft immer ein bisschen als Verlierer oder Underdog fühlen werde. Und daher stammt meine Motivation, immer etwas härter zu arbeiten als andere. Ich habe immer noch das Gefühl, einen Rückstand aufholen zu müssen.

Mein erstes Erfolgserlebnis wurde aus einem riesigen Schock heraus geboren. Mein Opa hatte unserer Familie einen Computer geschenkt. PCs gab es damals bei Vobis oder Escom, und sie kosteten zwischen 4.000 und 5.000 DM, eine richtige Menge Geld. Mein Opa hatte ein Modell mit einem Intel-386SX-Prozessor, vier Megabyte (MB) RAM und einer 52 MB Festplatte für uns gekauft. In seinem schicken Audi brachte er den riesigen Tower und den unfassbar schweren Röhrenmonitor zu uns. Mein Vater und ich trugen beides in unsere Wohnung. Mein Vater wollte die High-End-Maschine installieren, bekam es aber nicht hin, denn das war damals noch eine hohe Wissenschaft. Er rief einen Kollegen an, der uns den Rechner für kleines Geld in Gang brachte. Nun erschien nach dem minutenlangen Start (kennst du noch das Geräusch der Festplatten-Zugriffe?) ein Menü, mit dem wir über die Funktionstasten F1 bis F12 verschiedene Anwendungen starten konnten. Irgendwie fand ich diesen Computer cool. Im Lieferumfang war ein dickes Handbuch über MS-DOS 5.0. Ich startete auf Seite 1 und las tatsächlich das gesamte Buch durch. Ich glaube, das war nach Hörbe mit dem großen Hut das zweite Buch, das ich freiwillig gelesen habe. Nach der Lektüre wollte ich aber auch endlich loslegen und tippte die Befehle in die Kommandozeile ein. Wie gesagt, damals gab es noch kein buntes Windows mit Mausbedienung. Ich weiß noch genau, der erste Befehl war: dir. Das steht für »Directory« und zeigt einem den Inhalt der Festplatte an. Dann erstellte ich mit md Verzeichnisse und wechselte mit cd hin und her. Wow, ich hatte das wirklich unter Kontrolle.

Es war drei Uhr nachts geworden, meine Eltern schliefen längst. Noch ein Kapitel: Formatierung Ihrer Festplatte. Ich war so im Rausch und auch sicher übermüdet, dass ich einfach format c: eingab, weil ich sehen wollte, wie so eine formatierte Festplatte wohl aussehen würde. Der Vorgang dauerte 15 Minuten, dann erschien die Meldung: Bitte Betriebssystem installieren. Jetzt war es vier Uhr morgens, ich fühlte den Adrenalinstoß, startete den PC neu, aber es blieb dabei: Bitte Betriebssystem installieren. O NEIN, hatte ich gerade dieses unfassbar teure Gerät zerstört, das Geschenk meines Opas an unsere Familie? Um fünf Uhr ging ich ohne Erfolg frustriert ins Bett, mein Kopf schmerzte zu stark.

Mein Vater hatte mir ja zuvor erlaubt, mich an den Computer zu setzen, insofern gab es auch kein langes Drumherumreden, wer für den Schaden verantwortlich war. Ich. Und so gestand ich ihm am Morgen meine Tat sofort – und da ich ihn nicht noch mehr enttäuschen wollte, bat ich ihn: »Gib mir zwei Wochen, ich bringe das wieder in Ordnung!« Also las ich das 420 Seiten umfassende Buch zu MS-DOS noch mal durch, traf mich mit einem Bekannten, der einen PC hatte, und lernte tatsächlich, wie dieses Betriebssystem funktioniert. Und ich hielt mein Versprechen – nach zwei Wochen lief der Familien-PC wieder, sogar besser als vorher. Damals konnte man zwar noch nicht ins Internet, und alles hat sehr lange gedauert. Aber das Gerät machte, was ich ihm sagte. Dieser Erfolg war ein durchschlagender Impuls für mein Leben: Ich hatte richtig Bockmist gebaut, war verzweifelt, hatte Angst, aber nach einiger Zeit hatte ich – wie versprochen – das Problem gelöst. Jetzt gab es sogar Achtung von meiner Familie, und ich konnte anderen bei ihren Problemen helfen. Ich war kein Loser mehr, sondern galt plötzlich als »der PC-Experte«. Und endlich hatte ich mal etwas Cooleres als meine »Freunde«, der dicke Olli und Manuel mit der geflickten Brille.

Nachdem ich MS-DOS verstanden hatte, kaufte ich mir Bücher über Assembler und C. Ich lernte programmieren. Meine erste selbst gestellte Herausforderung: Ich wollte Computerspiele mit Kopierschutz cracken, um sie kostenfrei zu spielen. Das fand ich so spannend und interessant, dass ich dann keines der Spiele überhaupt jemals wirklich ernsthaft gespielt habe. Hatte ich eines gecrackt, nahm ich mir das nächste mit einem komplizierteren Schutz vor. Der Weg war das Ziel.

Ich begann, meine Dienstleistungsspezialität »PC-Installation« an Freunde und Verwandte zu verkaufen. Von dem ersten verdienten Geld kaufte ich mir ein 14,4-K-Modem, das mich mit Mailboxen verband, von denen ich Software herunterladen konnte. Später folgte ein 36,6-Zyxel-Modem – 36 kbit, das empfindet man heute als »offline«, also »kein Netz«! – und der Zugang über AOL ins World Wide Web. Erinnerst du dich noch an die AOL-CDs? Eine Zeit lang trugen rund 50 Prozent aller weltweit hergestellten CDs das AOL-Logo, und jeder kannte natürlich den legendären Boris-Becker-Spot »Bin ich da schon drin, oder was?!?«.

Im letzten Jahr der Realschule gab es dann sogar Informatikunterricht mit allerdings schon für damalige Verhältnisse uralten Computern, die noch 5,25-Zoll-Diskettenlaufwerke hatten. Das fand ich immerhin spannender als den Frontalunterricht in Deutsch oder Geschichte. Es war neu, hatte auch einen praktischen Wert für mich, man konnte etwas anfassen und an der Hardware herumbasteln.

Eben weil ich das so interessant fand, hat mich eine Aussage meines Informatiklehrers damals besonders getroffen: Er nahm meinen Vater bei meiner Abschlussfeier zur Seite und sagte: »Herr Thelen, was auch immer Ihr Sohn in seinem Leben macht: Er sollte der Informatik fernbleiben!« Das hört sich rückblickend witzig an, aber es hat mich damals tief verletzt. Und wenn das seine verdammte Meinung war, hätte er es bitte schön mir sagen sollen und nicht meinen Eltern. Glücklicherweise haben meine Eltern nichts auf solche Aussagen gegeben und immer an ihren Sohn geglaubt, auch wenn Zweifel an mir manchmal durchaus berechtigt waren.

Skateboarding: Ausbildung fürs Leben

Bonn, ab 1988 bis heute

Vor dem Computer war mein größtes, eigentlich sogar mein einziges Hobby das Skateboard. Nicht nur, dass es mich von Schlägereien und den Drogen abhielt. Nein, es war meine erste große Leidenschaft. Wie war ich zum Skater geworden? Schon auf dem Gymnasium waren die coolen Checker-Jungs die mit den Skateboards. Zu denen hätte ich gerne gehört, aber das war aussichtslos. Ein Board immerhin hatte ich mir allerdings gewünscht – und geschenkt bekommen. Also hing ich im Bad Godesberger Kurpark ab und skatete dort mit meinen Kumpels. Skateboarding wurde der zentrale Inhalt meines Lebens.

Mit meinem H-Street-Pulli in der Schule

In Godesberg war das damals nicht so einfach: überall Polizei, Bundesgrenzschutz, private Sicherheitsdienste für die ganze Politik. Aber im Kurpark gab es einen großen Marmorbrunnen mit Heilwasser. Ursprünglich errichtet für die Flaneure aus dem letzten Jahrhundert, heute nur noch für die Touristen. Diesem Heilwasser verdankt Godesberg seinen Namenszusatz »Bad«. Der Brunnen hatte Stufen, auf denen man hervorragend fahren konnte. Das Problem war: Der Architekt des Brunnens hatte damals nicht bedenken können, dass über 100 Jahre später ein paar Jungs mit Boards und Metallachsen über die Stufen grinden würden. Marmor ist sehr weich, deshalb werden ja auch Skulpturen aus Marmor gehauen. Unsere Skateboards haben dem altehrwürdigen Brunnen schwer zugesetzt: Er wurde zerkratzt, zerschrammt und zum Teil sogar zerstört. Sehr schnell wurde – heute für mich nachvollziehbar – das Skateboarding im Park verboten. Wir sahen das damals natürlich nicht ein. Die Polizei hat uns gejagt, meistens konnten wir uns aber mit unseren Boards schnell genug aus dem Staub machen. Eines Tages hatte ich die Nase voll von der Illegalität und dem Ärger mit der Polizei. Ich bin zum damaligen Bezirksbürgermeister Norbert Hauser gegangen und habe ihm erklärt, dass wir eine Skateboard-Rampe brauchten, wenn der alte Brunnen verschont bleiben sollte. Und tatsächlich: Nachdem ich hinreichend genervt hatte und man merkte, dass ich so schnell nicht aufgeben würde, finanzierte uns die Stadt einen kleinen Skatepark mit drei Rampen. Ich werde das Gefühl an dem Tag nie vergessen, als die Bauarbeiter anrückten, um unseren Skatepark zu bauen – nur 100 Meter von unserer Wohnung entfernt!

Diese Rampen gibt es heute noch. Und jedes Mal, wenn ich an ihnen vorbeigehe, denke ich mir: Man kann die Welt verändern, jeder von uns. Ich war damals ein normaler Jugendlicher aus einer durchschnittlichen Familie mit schlechten Schulnoten. Aber ich hatte eine Idee, an die ich geglaubt habe, den Willen, diese umzusetzen, und die Energie, durchzuhalten, bis mein Ziel erreicht war. Das hat mich geprägt und ist mir bis heute geblieben. Wenn mich etwas packt, gebe ich alles. So einfach ist das »geheime« Rezept zum Erfolg. Unser neuer kleiner Skatepark mit einer Mini-Ramp, Quarter-Pipe, Jump-Ramp und einem Rail war ein großer Erfolg. Der neue Spot wurde so schnell beliebt, dass selbst die großen und coolen Jungs aus Bonn nach Godesberg kamen. Jetzt hingen wir gemeinsam dort ab oder besuchten im Gegenzug die Bonner im sogenannten »Bonner Loch«. Das war immer eine kleine Reise, also schwänzten wir die Schule, damit es sich auch lohnte.

Wenn man früher am Bonner Hauptbahnhof ausstieg und die Ampel überquerte, stieß man sofort auf eine der übelsten Bausünden der Stadt. In den 1970er Jahren wurde hier eine Art Einkaufszentrum als Überbauung der U-Bahn gebaut, das sich binnen weniger Jahre zu einem unbeliebten Schandfleck entwickelte. Leerstand, Pizza-Palast, dann wieder Leerstand, Döner-King, Leerstand, Kiosk, Pizzastand prägten das Bild. Direkt benachbart gab es einen tiefer gelegenen, offenen Bereich, der wohl ursprünglich mal als begrünter Treffpunkt im öffentlichen Raum gedacht war. Hier hätte man wie auf mehreren Terrassen sitzen können, wenn das Konzept je angenommen worden wäre. Stattdessen pinkelten Obdachlose in die Rabatten, schliefen in ihren Schlafsäcken auf den Stufen, und Dealer versteckten ihren Stoff in den Ritzen des Pflasters. Überall lagen Spritzen und angekokelte Löffel herum. Im »Bonner Loch« trafen sich die Junkies, die Penner – aber auch die Skater, denn die Betonierung eignete sich hervorragend zum Skaten, die Treppen für den einen oder anderen Stunt. Dies war ein anderes Gesicht von Bonn als die Villenviertel und Regierungsgebäude. Schlägereien und Verbrechen waren leider an der Tagesordnung, sodass die Stadt 1992 eine kombinierte Dienststelle von Polizei und Ordnungsamt errichtete, die »GABI« – »Gemeinsame Anlaufstelle Bonn-Innenstadt«. Inzwischen ist das »Bonner Loch« übrigens Geschichte und weicht gerade einem Neubau.

Glücklicherweise interessierte mich aber immer nur der Sport. Ich habe weder gekifft noch geschnupft, geschweige denn irgendwas gespritzt. Das war nicht unbedingt selbstverständlich – viele aus der Szene sind auf üblen Sachen hängengeblieben. Andere wiederum – die Guten – haben das Aufstehen nach dem Hinfallen, das Weitermachen des Skatens in ihr Leben übernommen. Meine Kumpels Ingo und Peer zum Beispiel führen sehr erfolgreich den Titus Bonn Shop in der Innenstadt. Christian Kühlem wurde ein Freund über unseren Sport hinaus und später sogar mein Trauzeuge. Aber ja, es gibt auch viele, die aus unserem Hobby die negativen Dinge mitgenommen haben: die Drogen und das Abhängen.

Zu den Guten gehört besonders Titus Dittmann. Er war schon damals der Star der deutschen Skateboard-Szene und ist es heute noch. Er wohnt in Münster, und dort fand einmal im Jahr das größte Skateboard-Event statt, das »Münster Monster Mastership«, das später sogar zur offiziellen Weltmeisterschaft ernannt wurde. Da mussten wir hin. Wir schliefen auf dem Zeltplatz und veranstalteten mit Hunderten anderen Skateboardern einen Skatetrain durch die Münsteraner Innenstadt. Das war für die kleine Stadt damals ein Skandal. Münster ist ja ein bisschen wie Bonn, da geht es gediegen ab. Und wenn da auf einmal Hunderte von Jugendlichen auf Rollbrettern über die Fußgängerzone herfielen, war das für die Bürger natürlich ein Schock. Es gab regelrechte Proteste gegen uns, und das nicht ganz zu Unrecht. Denn einmal lief dieser Zug durch die Stadt ziemlich aus dem Ruder – einige verwüsteten und plünderten sogar einen ganzen Burgerladen. Das war nicht cool.

Mit Titus beim Deutschen Gründerpreis

Doch Titus Dittmann war ein Hero – und ich der kleine Junge auf dem Zeltplatz. Heute bin ich stolz, dass ich Titus Dittmann bei seinem Projekt »Skate-Aid« unterstützen kann. Er baut Skateparks in Kriegsgebieten. Denn das Skaten bringt dir bei, dass jeder hinfällt, aber nur derjenige, der wieder aufsteht, den Trick irgendwann lernt. Es bringt dir bei, dass du Schmerz aushalten kannst. Und dass du nach hundert vergeblichen Versuchen Erfolg haben wirst. Du springst über die Rampe, landest auf deinem Board und fährst weiter. Du stehst deinen ersten Kickflip. Das ist wirklich eine Droge, pures Adrenalin. Und es bringt dir auch Demut und Bescheidenheit bei: Egal, was du auf dem Board kannst – es gibt immer einen, der es noch besser kann. Und der hat für seine Skills noch mehr geblutet als du, denn beim Skaten bekommt keiner etwas geschenkt.

Unsere kleine Rampe in Godesberg war für mich ein Riesenerfolg. Aber sie war winzig – und je besser ich wurde, desto weniger genügte sie meinen Ansprüchen. In Deutschland gab es damals so gut wie keine Möglichkeit, legal und organisiert Skateboard zu fahren. Keine Skaterhalle, keine ordentlichen Rampen, keine Halfpipes. Holland war da schon viel weiter. Und da wir damals weder Führerschein noch Geld hatten, wären die coolen Skateboard-Hallen in Holland ein kühner Traum geblieben – wenn nicht mein Vater viele Wochenenden geopfert hätte, um mich und meine Kumpels dort hinzufahren. Und während wir in der Halle an unseren nächsten Tricks arbeiteten, ging er an irgendeinem See spazieren, um sich die Zeit zu vertreiben. Glücklicherweise kämpften neben mir auch andere für Skateboarding in Bonn. Der Verein »Subculture« hatte jahrelang um eine Baugenehmigung für eine Halfpipe in der Rheinaue gekämpft und im Jahr 1991 endlich die Genehmigung und die Finanzierung durch die »Stiftung Jugendhilfe der Sparkasse Bonn« erhalten. Das Besondere des Projektes: Die Skateboarder sollten ihre Rampe selber bauen. Eine gute Idee – auf dem Papier. Denn keiner von uns hatte Bauerfahrung. Hier zeigte sich aber, was ein Team leisten kann, wenn wirklich alle das Ziel erreichen wollen. Ich glaube, wir bauten drei Monate an dem Projekt. Ein Skater wurde zum Bagger-Experten, ein anderer arbeitete sich in Betonfundamente ein, ein dritter koordinierte die Dienstpläne und so weiter. So bauten wir Skater tatsächlich die größte Halfpipe Europas in der Bonner Rheinaue – und Bonn wurde endlich eine amtliche Skater-Stadt! Die von uns gebaute Anlage gibt es noch heute, musste vor einigen Jahren aber grundlegend saniert werden.

Auf dem Höhepunkt meiner Skateboard-Laufbahn bin ich sechs Stufen runtergesprungen, während sich das Brett unter meinen Füßen einmal um die Längs- und einmal um die Querachse gedreht hat: ein 360 varial Kickflip. Diesen Trick »zu stehen«, wie man beim Skateboarding sagt, macht Mut. Am Anfang lachten mich die großen und coolen Skater aus. Aber nach zehn Jahren war ich oben angekommen. Das löste zwar dummerweise nicht meine Schulprobleme – aber immerhin hatte ich etwas gelernt: dass Können was mit harter Arbeit zu tun hat. Und dass das auch richtig Spaß machen kann.

Der entscheidende Impuls meines Vaters

Bonn, 1991

Mein Vater sah zu dieser Zeit allerdings keine gute Zukunft für seinen Sohn, und aus heutiger Sicht kann ich das durchaus verstehen. Er liest – übrigens bis heute – jeden Tag den Bonner General-Anzeiger, und eines Tages entdeckte er dort einen Artikel über eine neue Schule, die eine Kombination aus Fachabitur und Ausbildung zum Informatiker anbot – seiner Meinung nach die ideale Ergänzung zu meinem Realschulabschluss.

Mit meinem Vater in Bonn

Die Deutsche Telekom hat ihren Sitz in Bonn – und für meinen Vater war damals die Telekom der Inbegriff eines soliden Unternehmens. Wer dort landete, hatte es in den Augen meines Vaters geschafft. Er muss sich gedacht haben: Der liebe Gott hat diese Schule für meinen Sohn gemacht, denn wenn er dort angenommen wird, kann er es doch noch zum Telekom-Abteilungsleiter bringen. Aber der Ansturm auf diese neue Schule war groß. Sehr groß. Es gab 150 Bewerber für 30 Plätze, also gab es einen Aufnahmetest, der sich gewaschen hatte. Mein Vater hat mit mir eines Samstags noch morgens gefrühstückt und mich dann mit seinem in die Jahre gekommenen Audi 100 zur Prüfung gefahren. Während ich in dem kargen Klinkergebäude Blut und Wasser schwitzte, saß er draußen im Auto, wartete und war wahrscheinlich sogar noch aufgeregter als ich.

Heute kann ich es zugeben: Ich habe geschummelt. Neben mir saß ein Junge, der sich (anders als ich) monatelang auf die Multiple-Choice-Fragen vorbereitet hatte. Weiß der Teufel, woher er wusste, welcher Art dieser Test sein würde. Aber er hatte es drauf. Ich habe ganz simpel von ihm abgeschrieben – unter uns Informatikern heißt das »copy & paste«. Das merkte er und fand es gar nicht lustig. Aber ich habe einfach weitergemacht. Anschließend gab es noch zwei Bewerbungsrunden, in denen man sich in Einzelgesprächen beweisen musste, eine davon auf Englisch. Bis heute erinnere ich mich an die Frage: »What is ‘to recycle’?« Ich glaube, das habe ich ganz okay gemeistert, aber ich bin Realist: Unter normalen Umständen wäre ich nicht durchgekommen. Doch »wie durch ein Wunder« erreichte ich die erforderliche Punktzahl und wurde aufgenommen. Der Junge, von dem ich damals abgeschrieben hatte, hat die Schule übrigens nicht beendet. Ich hoffe für ihn, dass er woanders glücklich geworden ist, und möchte mich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich dafür bei ihm bedanken, dass er mich nicht verpfiffen hat. Manchmal gibt es im Leben diese Gelegenheiten, die man einfach beim Schopf packen muss. Das soll keine Entschuldigung sein, aber vielleicht hast du auch schon mal abgeschrieben. Ich habe dadurch eine riesige Chance bekommen und nach drei Jahren als Klassenbester die Schule verlassen. Ich war gar nicht dumm oder unfähig – es war die Form des Unterrichts, die mich am Gymnasium verzweifeln ließ. Und jetzt hatte ich begriffen, dass man coole Sachen lernen und dabei auch noch Spaß haben kann. Ich durfte Platinen löten und programmieren und hatte auf einmal richtig Bock. Der wahre Moment der Erkenntnis kam allerdings auch hier wieder außerhalb der Schule: Während der Zeit dort musste man ein Betriebspraktikum machen. Meine Freundin Conny erzählte mir: »Ein Freund von mir hat eine kleine Softwarefirma, den solltest du mal anrufen.« Ich rief ihn an, und er wollte mich auch direkt treffen, wahrscheinlich wegen Conny. Er lud mich am Rosenmontag ein. Wer je im Rheinland Karneval gefeiert hat, weiß, was das bedeutet. Aber so im Nachhinein passt das durchaus, denn dieser im Rheinland heilige Tag wurde letztendlich auch für mich zum Glücks- und Feiertag: Der Freund von Conny hieß Martin Hubert und die Firma Chips at Work. Martin öffnete mir persönlich die Tür – alle anderen waren Karneval feiern. Für einen Chef war Martin sehr jung, gerade mal zehn Jahre älter als ich mit meinen 17 Jahren. Er duzte mich und kam irgendwie richtig cool rüber. Chips at Work bestand aus einem Büro mit fünf Räumen und sah nach Entwicklungslabor aus: Überall standen offene Computer rum, aus denen Drähte und alles mögliche Zeugs raushing, Festplatten lagen in der Ecke. Martin kam direkt zum Punkt: »Conny sagt, du willst ein Praktikum bei uns machen. Bist du bereit, auch länger zu arbeiten und dich selbstständig in Themen einzuarbeiten?« »Ja«, murmelte ich verhalten, »absolut. Ich liebe Computer und will unbedingt lernen.« »Okay.« Martin hob die Abdeckung eines Computers hoch. »Dann erklär mir doch mal den Aufbau dieses Computers!«

YES! Ich hatte unzählige PCs für Verwandte und Freunde gebaut und jede Ausgabe der damals schon angesagten Geek-Zeitschrift C’t gelesen. Hier war ich zu Hause, das war mein Gebiet. Ich erklärte Martin alles im Detail. Bisher hatte ich mein Wissen im Kinderzimmer erworben, dort war es geblieben. Bisher hielt ich es für wertlos, für eine private Spinnerei, mit der nur ich etwas anfangen konnte und sonst keiner. Und jetzt traf ich auf Menschen, mit denen ich dieses Wissen teilen konnte – und die bereit waren, ihr Wissen mit mir zu teilen. »Das hier ist die CPU, das sind die RAM-Module, das ist die Netzwerkkarte am ISA Bus, die Grafikkarte am EISA Bus« und so weiter. Und zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich einen Satz, der sich gleichzeitig anerkennend und ermutigend anhörte, der mir eine Perspektive eröffnete und mir zeigte, dass ich nicht ganz alleine war auf der Welt mit meinem Computerzeug. Okay, es ging nur um einen Praktikumsplatz, aber der Satz hieß: »Du hast den Job!«

Mein erster echter Chef war ein weiterer entscheidender Glücksgriff in meinem Leben: Seine Firma entwickelte das erste Bildschirmtelefon der Welt. Das funktionierte nicht über das Internet, sondern noch via ISDN, über eine damals moderne Telefonleitung. Heute ist ein Videochat nichts Besonderes mehr – Skype, FaceTime, WhatsApp – aber damals, Anfang der 90er Jahre, war es ein Traum wie heute die Reise zum Mars. Erst im Jahr 2010 trat Steve Jobs auf eine Bühne und stellte FaceTime als einen wahr gewordenen Menschheitstraum vor. Ich hatte das Glück, bereits 15 Jahre zuvor dieses Produkt mitentwickeln zu dürfen. Natürlich mit geringerer Auflösung, für klobige PCs, aber es funktionierte.

Den Begriff »Startup« gab es damals noch nicht, aber Chips at Work war das perfekte Startup: Zehn bis zwölf intelligente Ingenieure arbeiteten sieben Tage die Woche und lebten für das Produkt, jeder konnte und durfte Sachen machen und ausprobieren, es gab keine Politik, keine Hierarchien und keine Stechuhr. Das Bildschirmtelefon mit dem Namen Two-at-One-Desk wurde damals für die Telekom entwickelt – und eines Tages hatten sich deren Projektleiter angekündigt, um sich das Wunderwerk anzuschauen. Bei diesen Meetings war ich nicht dabei, ich war ja nur der Junior Software Developer, aber ich erinnere mich, dass wir am Tag der Präsentation noch morgens um sechs Uhr an den letzten Funktionen gearbeitet haben. Und weil es nur so halb funktionierte, haben wir dann anstelle des echten Produkts ein vorher aufgezeichnetes Video abgespielt. Das war ein wilder Stunt und selbst für Gründer im dunkelgrauen Bereich, aber wir wussten ja, dass unser Gerät prinzipiell funktionierte. Manchmal muss man sich auch in den Graubereich wagen – wie Guy Kawasaki, der unter anderem 1984 für die Vermarktung des ersten Apple Macintosh verantwortlich war, sagt: »Eat like a bird, poop like an elephant.« Und es hat funktioniert, der Projektleiter von der Telekom war überzeugt. Anschließend haben wir dann die Funktionen sauber programmiert – und es lief.

Nach der Schulzeit habe ich dann für Chips at Work ganz viel programmiert: Multimedia-CD-ROMs, Computer-Telefonie-Integration und andere wirklich moderne und herausfordernde Technologien. Und alles hat damit angefangen, dass Martin an mich geglaubt hat, mir an meinem ersten Tag ein dickes Buch über Visual Basic 3.0 Pro und zwölf Disketten in die Hand gedrückt und mir wirklich böse Fehler verziehen hat. Er hat die Begeisterung gespürt, das war ihm wichtiger als ein eindrucksvoller Lebenslauf. Zu ihm habe ich heute noch Kontakt.

Danke, Martin!

Mein erstes »Unternehmen«

Bonn, 1996

Zu 80 Prozent bist du deines Glückes Schmied, das meiste ist erlernbar. Du kannst auch mit einer schwierigen Jugend viel erreichen. Aber manches wird eben auch vererbt – die Macht der Gene. Und wer – anders als ich – in der Schule aufgepasst hat, der weiß, dass vererbte Eigenschaften auch gerne mal eine Generation überspringen. Ich bilde mir ein, dass mein Großvater, den ich leider nie kennengelernt habe, mir seine Unternehmergene mitgegeben hat. Er war eigentlich Landwirt, hat aber schon früh geschickt Grundstücke gekauft, die später zu Bauland wurden. Die Landwirtschaft schlief ein, das Immobiliengeschäft florierte. Mein Unternehmerherz bedauert, dass weder mein Vater noch mein Onkel das Geschäft fortgeführt haben. Sie sind ihren eigenen Berufen nachgegangen, das Immobiliengeschäft wurde aufgegeben.

Bei mir sind die Unternehmergene aber wieder aktiv geworden, und ich habe schon in meiner frühen Jugend angefangen, Geschäfte zu machen. Nachdem der Computer und ich Freunde geworden waren, kam ich schnell auf die Idee, mein neues Wissen zu monetarisieren. Als die ersten CD-Brenner auf den Markt kamen, konnte man plötzlich selber CDs produzieren. Ein CD-Brenner war so groß wie vier Schuhkartons, sehr schwer, extrem empfindlich und vor allem sagenhaft teuer. Ich schlich wöchentlich mit leuchtenden Augen im Elektronikmarkt um ihn herum. Aber ich musste viele Monate programmieren, um mir das Investment leisten zu können.

Irgendwann hatte ich das Geld dann zusammen – und kaufte mir einen eigenen CD-Brenner. Ein Rohling hat damals 30 DM gekostet, und jeder einzelne Brennvorgang war ein Abenteuer. Der PC musste perfekt auf den Brenner abgestimmt sein, jeder kleinste Stoß gegen den Schreibtisch war tödlich, und natürlich hat es ewig gedauert. Aber CDs waren eine Revolution! Während Disketten maximal 1,44 MB speicherten und es Stunden dauerte, über ein Modem den Inhalt von zwei bis drei Disketten zu übertragen, fassten CDs 650 MB, also über das 400-fache! Sicher, nicht alle Software, die ich auf diese CDs brannte, war legal. Aber wie gesagt: Ich hatte Spaß daran, den Kopierschutz der Großen zu knacken. Ich entwickelte sogar ein eigenes Mini-Programm für meine CDs, das einen interaktiven Katalog des Inhalts anzeigte und den Nutzer bei der Installation unterstützte. Das hat mich begeistert, 400-fache Speicherkapazität, der kleine Frank besiegt die Großen, indem er den Kopierschutz knackt, und er bietet auch noch einen zusätzlichen Wow-Effekt bei der Bedienung, wenn man die CD einlegt. Lizenzen, Rechte und Vertrieb interessierten mich als kleinen »Outlaw« nicht. Die Dinger habe ich dann für 100 DM das Stück an Freunde verkauft.

Einen anderen »Coup« landete ich während meiner Ausbildung. Dort lernten wir C++, eine Programmiersprache. Ich sah im Bonner Kaufhof 30 Bücher über C++, die um 80 Prozent reduziert waren. Ich kaufte alle. Anschließend überzeugte ich den Lehrer, dass die Klasse mit exakt diesem Lehrbuch lernen solle. Also sollte sich die ganze Klasse dieses Buch anschaffen, vorzugsweise aus meinem Bestand. Ich gewährte einen kleinen Rabatt auf den empfohlenen Verkaufspreis, sodass jeder das Gefühl hatte, ein Geschäft gemacht zu haben. Eine Win-win-Situation für alle. Zu meiner Entschuldigung muss ich sagen, dass es wirklich ein sehr, sehr gutes Buch über C++ war. Insofern hatten alle etwas davon, sogar der Lehrer. Ich glaube, hier zeigte sich mein Macher- und Unternehmergen: Ich habe keinen großen Plan gehabt, sondern einfach aus einem inneren Impuls heraus gehandelt: an das Buch geglaubt, 300 DM riskiert, alle Beteiligten überzeugt, Gewinn gemacht und in das nächste Gadget investiert.

Studium – nur eine Zwischenstation für mich

Bonn und Sankt Augustin, Mitte der 1990er

Nach dem sehr erfolgreichen Abschluss meines Fachabiturs – wer hätte das je gedacht? – begann ich – zur großen Freude meiner Eltern – ein Studium der »Angewandten Informatik« an der Hochschule Bonn-Rhein Sieg. Durch meine Tätigkeit bei Chips at Work konnte ich recht gut programmieren und wusste, wie Betriebssysteme und Netzwerke funktionieren. Bei Windows und Linux machte mir so schnell keiner was vor. Jetzt sollte ich also studieren und Diplom-Informatiker mit goldener Zukunft werden. Das Problem: Die Professoren hatten wirklich wenig Ahnung von Programmierung, Betriebssystemen und Netzwerken. Auf dem Gymnasium hätte ich noch gesagt, dass es an mir lag, dass ich einfach nicht gemacht sei für das Schulsystem, das rote Lateinbuch und den Frontalunterricht. An der FH aber war ich bereits kompetent genug, um beurteilen zu können, dass der neue Studiengang »Angewandte Informatik« zwar ganz gut aufgebaut war, dass es den Lehrkräften aber ganz einfach an Wissen und Erfahrung mangelte. Gezaubert wurde außerhalb der Uni, bei Chips at Work. Hier konnten und wussten fast alle mehr als ich. Jeder wollte den anderen immer zeigen, dass er die nächste große Idee hatte. Jeder wollte einen Schritt voraus sein, die neue Technologie vor den anderen beherrschen. Diese Dynamik konnten die FH und vor allem deren Professoren nicht bieten.

Diese Gefahr besteht übrigens auch heute, und zwar mehr denn je: Wissen wird privatisiert. Wer sich heute auskennt mit künstlicher Intelligenz, Blockchain und Big Data, der geht nicht mehr an eine Uni. Warum den Umweg über Seminare, Promotion und Lehraufträge machen, wenn man für ein Vielfaches des Geldes, ohne akademische Ochsentour und Politik, bei den Großen anfangen kann? In Amerika sind das Facebook, Microsoft, Amazon, Google oder Apple – in China Tencent, Alibaba oder Baidu. Die Geschwindigkeit der Wissenszunahme ist so groß geworden, dass der Antrag für einen Sonderforschungsbereich (»SFB«) an der Uni schon in dem Moment veraltet ist, in dem er eingereicht wird. Und dann dauert es noch ein Jahr, bis er, wenn überhaupt, genehmigt wird – und ein weiteres, bis der SFB seine Arbeit aufnimmt. Was heute ein riesiges Problem ist, das fühlte ich im kleinen Rahmen schon damals: Ich brach mein Studium ab und gründete meine erste offizielle Firma.

Ich war erwachsen.

Meine ersten Schritte als Unternehmer

Büro zu Hause

Bonn, ab 1993

Mit verschultem Lernen war ich fertig, ein für alle Mal. Das Gymnasium hatte mich unglücklich gemacht, die Realschule unzufrieden, die Fachhochschule ungeduldig. Ich wollte endlich raus und mein eigenes Ding machen. Mit Hilfe meiner Programmierkenntnisse, der PC-Installationen und meinen eigenen CDs hatte ich gemerkt: Da geht was – und ich hatte auch schon eine Idee, was das sein könnte.

Ich war 18 Jahre alt, volljährig und voller Motivation, hatte aber kaum einen Pfennig in der Tasche. Meine Eltern hatten mir mittlerweile eine kleine Zweizimmerwohnung zur Verfügung gestellt – und mit 4.000 DM Unterstützung von meinem Opa kaufte ich einen modernen PC und eine Delphi-Lizenz, mit der man programmieren konnte. Und weil dann noch ein wenig Geld übrig war, gönnte ich mir bei IKEA einen Schreibtischstuhl auf Rollen – like a boss!

Meinen Schreibtisch stellte ich in die Mitte der Wohnung und fühlte mich wie Bill Gates und Steve Jobs zusammen. Meine Firma hatte sogar einen eigenen Namen, sie hieß Softer Solutions. Ich fand das damals mit meinen mangelhaften Englischkenntnissen einfach cool. Heutzutage frage ich mich, was dieser Name eigentlich bedeuten sollte.

Aber glücklicherweise war die Geschäftsidee besser als der Firmenname: Damals klebte gefühlt auf jeder Zeitschrift eine Multimedia-CD: auf der TV Movie, auf der Computerbild, auf dem Focus, überall. Der De-facto-Standard für die Produktion dieser Multimedia-Inhalte war der Macromedia Director. Er wurde in allen Agenturen eingesetzt, die Software hatte viele Funktionen, und es gab viel Literatur darüber. Die mit Macromedia Director produzierten CDs hatten aber sehr lange Ladezeiten. Vielleicht erinnern sich einige noch: Wenn man so eine CD ins Laufwerk legte, sirrte und surrte es erst einmal ewig, bevor man überhaupt etwas auf dem Bildschirm sah, wenn sich der Computer nicht irgendwann vorher komplett aufhängte. Das war für den Käufer der Zeitschrift oft unbefriedigend und frustrierend. Heute wäre so etwas undenkbar – aber damals nahm man das offensichtlich in Kauf, man kannte es ja auch nicht anders.

Dabei lag – zumindest für mich – die Lösung für dieses Problem auf der Hand: Diese CDs bestanden unter anderem aus Hunderten kleiner Bilddateien, die der Macromedia Director einzeln von der CD lud. Daher das Sirren und Surren. Der Rechner fuhr für jede Datei einzeln an die Stelle der CD, wo sie gespeichert war, lud sie, fuhr dann an die nächste Stelle, um die nächste Datei zu laden, und so weiter. Es funktionierte wirklich noch wie ein Schallplatten-Arm, nur in kleiner und schneller. Meine Idee war einfach, die 100 Bilder in einer einzigen Datei zu speichern. Der Rechner lädt nur diese eine Datei von der CD, und erst in seinem Speicher wird die eine Datei dann in die 100 einzelnen Bilddateien zerschnitten. Klingt jetzt nicht besonders revolutionär – aber oft sind die einfachsten Ideen ja die besten: Meine CDs luden zehnmal, ach was, fünfzigmal schneller. Zusätzlich entwickelte ich Buttons, die optisch pulsierten, schnelle Foto-Animationen, einen besonders hochwertigen Video-Player und viele weitere Funktionen, die der Wettbewerb nicht beherrschte.

Das blieb nicht unbemerkt, und mehrere Agenturen beauftragten mich, für ihre großen Kunden Multimedia-CDs umzusetzen. Meine Technologie erlaubte ihnen, gegen andere Agenturen im Pitch um die großen Budgets zu gewinnen. Meine CDs begeisterten mit schnelleren Ladezeiten, schöneren Animationen und neuen Funktionen, die andere nicht anbieten konnten. So durfte ich recht schnell für Auftraggeber wie Agfa, 1&1, den Deutschen Bundestag und sogar für den Anbieter einer Potenz-Spritze arbeiten – ja, ja, lacht jetzt ruhig, aber ich war jung und brauchte das Geld. Der kritische Punkt war immer die Lieferung des »Gold Masters«, den ich von meiner kleinen Wohnung in Bonn in die große weite Welt liefern musste.

Das Brennen von CDs war in der Zwischenzeit recht einfach und stabil geworden. Aber der Gold Master wurde millionenfach auf CDs gepresst. Jetzt lag die Herausforderung in der fehlerfreien Software. Wenn die Software auf dem von mir gelieferten Master einen kritischen Fehler gehabt hätte, wäre ein katastrophaler finanzieller Schaden entstanden. Du kannst dir vorstellen, wie ich in meinem Zimmerchen saß, mit spitzen Fingern den Gold Master aus dem Brenner nahm und ihn sorgfältig in ein Jewel Case packte, während ich zum Software-Gott betete, dass beim Kunden alles einwandfrei funktionieren würde. Heute kann man alles online updaten, die Entwicklungswerkzeuge warnen den Programmierer vor möglichen Problemen, und es muss nicht alles in vier Megabyte RAM passen. Aber damals war es rückblickend wirklich verrückt: Ein kritisches Problem – und Millionen von CDs, die ja auf den Zeitschriften klebten, wären unbrauchbar gewesen. Es hätte keine Chance gegeben, dies nachträglich zu beheben. Ich habe damals unfassbar viel falsch gemacht, aber auch verdammt viel richtig und vor allem viel gelernt. Die neuen Möglichkeiten waren faszinierend, und ich hatte jeden Tag neue Ideen. Der Arbeitstag begann um elf Uhr morgens und endete zwischen ein Uhr und drei Uhr nachts. Vor einer Deadline wurde es auch oftmals sechs Uhr. Dann holte ich ab und zu frische Brötchen und frühstückte mit meinem Vater, der immer sehr früh ins Büro fuhr.

Multimedia-CDs waren ein großer Hit, und das Geschäft lief. Es gab bloß ein Problem: Ich war ein sehr schlechter Verkäufer meiner eigenen Leistung. Oft bot ich mein Produkt weit unter Wert an – ich war so euphorisch, wenn ein Kunde Interesse zeigte, dass ich den Auftrag keinesfalls am Preis scheitern lassen wollte. Oder ich unterschätzte den Arbeitsaufwand durch meine Euphorie so sehr, dass ich auf einen lächerlichen Stundenlohn kam. Als Putzkraft in einem der zahlreichen Bonner Ministerien hätte ich deutlich mehr verdient. Oft reichte es gerade so fürs Essen, den MSN-Zugang und die Telefonrechnung. Wenn es mal richtig gut lief, blieb Geld für Software-Updates, Hardware-Updates oder neue Software-Bücher übrig. Zum Glück zahlten meine Eltern die Miete für meine Wohnung, und meine Mutter fühlte sich noch für meine Wäsche verantwortlich. Und wenn ich abends quasi meine Mittagspause bei ihr machte, hatte sie immer etwas Leckeres zu essen für mich. Aber das sollte ja auch nicht ewig so weitergehen.

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Bonn, späte 1990er Jahre