Frauen leisten Widerstand: 1933–1945 - Gerda Szepansky - E-Book

Frauen leisten Widerstand: 1933–1945 E-Book

Gerda Szepansky

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Beschreibung

In spannenden Lebensgeschichten begegnen uns Frauen, die sich dem Naziterror nicht beugten. Mit großer Offenheit schildern sie, wie sie zum Widerstand kamen, welchen Grausamkeiten und Verfolgungen sie ausgeliefert waren, aber auch, wieviel Anteilnahme und Solidarität sie erlebten. Ihre Schicksale erschüttern und machen zugleich Mut. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 442

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Gerda Szepansky

Frauen leisten Widerstand: 1933–1945

Lebensgeschichten nach Interviews und Dokumenten

FISCHER Digital

Inhalt

Die Frau in der [...]VorwortGenossin – Frau – Mutter: Katharina JacobKonsequent gegen Hitler: Maria Agnes Gräfin zu DohnaFür die anderen da sein: Helene JacobsErinnerungen aus dem Gefängnis: KatjaMeine Mutter – Die Frau eines Widerstandskämpfers: Natalie Harder über Käthe HarderMut für zweiundsechzig und noch mehr: Maria Gräfin von MaltzanEin tapferer Entschluß: Wera FrickeDie Kameradschaft war für mich das Höchste: Erna LugebielMutter ist in Haft: Ingrid Rabe berichtetVersteckt und gerettet: Kläre BlochHandeln, ehe es zu spät ist: Ursel Habermann über ihre Mutter Johanna JakobAngst – Verfolgung – Illegalität: Rosel BiboIn der Emigration: Dinah NelkenFreiheit, wann wirst du auferstehen …: Maria GünzlAus christlicher Verantwortung: Inge KanitzKurzbiographien

Die Frau in der Gesellschaft

Herausgegeben von Ingeborg Mues

 

Alle Fotos und Reproduktionen von Gudrun Laufer,

ausgenommen »Katharina Jacob« (Foto: Michael Kottmeier)

und »Dinah Nelken« (Foto: Jürgen Henschel)

Vorwort

Das letzte Gedicht

Freiheit, wann wirst du auferstehn aus dem großen Leid der Zeit?

Wann werden die Verführten steigen aus dem Abgrund und sich neigen vor den Opfern dieser Zwischenwelt?

Maria Günzl

Geschrieben im Kreisgefängnis Leitmeritz 1944/45 nach Verkündung des Todesurteils.

Während der Zeit, in der ich dieses Buch schrieb, habe ich mehr als ein Dutzend Leben gelebt, habe die Träume von Angst und Verfolgung geträumt, den Schmerz um die Freundin, den Mann, das Kind, die Mutter gefühlt und den endlichen Triumph über die Peiniger mitgekostet.

In fremden Leben war ich zu Hause. Das begann, wenn ich, den kleinen Kassettenrecorder in der Tasche, die Schwelle der unbekannten Wohnung betrat, und endete nicht, wenn ich mit drei oder vier vollbesprochenen Kassetten heimkam. Dann folgte die lange Arbeit des Anhörens, Überdenkens, Ordnens, Herausarbeitens von Wichtigem, oft nur so nebenbei gesagt, des Aufschreibens und Nachfragens. Nach zwei-, drei-, viermaligem Besuch wurde mir meine Interviewpartnerin immer vertrauter, bekannt in ihren unverwechselbaren Eigenheiten.

Jede arbeitete tätig an ihrer Lebensgeschichte mit. Die Manuskripte gingen hin und her, wurden mit großer Ernsthaftigkeit auf die korrekte Wiedergabe des Erzählten überprüft. Mein Bemühen war, die Individualität weitgehend zu erhalten. Ich lese die Geschichte von Erna oder Maria, und plötzlich höre ich den Tonfall ihrer Stimme, die Art, wie sie spricht, wie sie ihre Worte wählt. Dann bin ich zufrieden, daß diese Geschichte, die unter großen Mühen und Aufwand an Zeit und Kraft gleichsam durch mich hindurchging, wieder zu der Person, der sie gehört, zurückgekehrt ist. Ich wäre glücklich, wenn sich den Lesern davon etwas mitteilte.

1945 war ich neunzehn Jahre alt, habe meine Jugend also im Dritten Reich erlebt. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, deren Grundeinstellung antinazistisch war. Ich hatte mit politisch Verfolgten zu tun. Auch der Mann, den ich 1947 geheiratet habe, mußte die besten Jahre seines Lebens in der Emigration, im Gefängnis und Konzentrationslager verbringen. Die totale Verdrängung der braunen Vergangenheit in den fünfziger und sechziger Jahren bedrückte mich sehr. Wie gering war der Informationsfluß, auch in der Familie, weil Großeltern und Eltern nicht mit ihren Kindern darüber sprachen. Als Mitte der siebziger Jahre das gesellschaftliche Interesse an diesem dunklen Kapitel deutscher Vergangenheit wach wurde, eine neue Generation plötzlich Fragen stellte, rückte das Thema Widerstandskampf in den Blickpunkt.

Ich meinte, daß zunächst von den Frauen, die wie an allen gesellschaftlichen Bewegungen auch an dieser ihren Anteil hatten, zu wenig die Rede war. Ich suchte und fand Frauen, die in den Jahren 1933–1945 in irgendeiner Form Widerstand gegen das nazistische Herrschaftssystem geleistet haben und deren weiteres Leben durch diese Haltung entscheidend geprägt wurde. Diese Frauen, heute meist siebzig oder achtzig Jahre alt, leben ihr nicht besonders kenntliches, alltägliches Leben im Haus nebenan. Noch sind sie unter uns. Ihre Lebens- und Kampferfahrungen abzufragen, fand ich wichtig. Sie dienen zum Verständnis der jüngsten Vergangenheit, machen sie durch Konkretheit, durch Anschaulichkeit der Details nachvollziehbar. Diese Frauen können Vorbilder bieten für die heutige Zeit, in der sich viele der allumfassenden Angepaßtheit entziehen wollen. Sie waren die Unangepaßten, denn sie handelten gegen das Rollenschema, das die nationalsozialistische Führung ihnen zuwies, nämlich Heimchen am Herd, fügsame Frau und duldende Mutter, emsige Rüstungsarbeiterin zu sein. Gegen die totale Entmündigung der Frau gingen sie in den Widerstand, setzten sie ihr Eintreten für gesellschaftliche Belange.

Die Frage taucht auf, wie ich denn die Frauen gefunden habe, mit ihnen bekannt geworden bin. Ja, wie? Ich sehe das Bild einer langen Kette mit aufgereihten Perlen vor mir. Als ich die erste in der Hand hielt, konnte ich nacheinander ohne Mühe die zweite, dritte, vierte und weitere erfassen. Wieviel diese Kette wohl noch enthält, nachdem ich aufgehört habe, sie durch meine Finger gleiten zu lassen, ich weiß es nicht. Jede einzelne der Interviewten kennt viele der ehemaligen Mitkämpferinnen, Mithandelnden, Mitleidenden, ist für immer mit ihnen verbunden, hinweg über alle Verschiedenheit des Charakters und der Weltanschauung.

Ich hoffe, daß das Buch einen Eindruck von der Breite des antifaschistischen Frauenwiderstands vermittelt. Breite meine ich in Hinsicht auf die unterschiedliche Herkunft der Frauen und ihre Motivation. Frauen, die in Arbeiterfamilien unter Not und Sorgen groß wurden oder auch im kleinen Angestelltenmilieu, die in wohlbeschützten bürgerlichen Verhältnissen aufwuchsen oder auf gräflichen Gütern eine unbeschwerte Jugend verlebten, sie alle haben Widerstand geleistet. In diesem Punkt trafen sie sich. Zwar ist er ein sehr wichtiger Teil, aber eben nur ein Teil ihres Lebens gewesen. Der Ausruf: »Aber das war doch nicht mein ganzes Leben!« veranlaßt mich, darauf hinzuweisen, daß die Lebensgeschichten eben unter dem Aspekt des Widerstands von 1933–1945 zu betrachten sind.

Lange hat mich die Frage der Motivation zum Widerstand beschäftigt. Sicher bestimmte die Herkunft bei den meisten die Bahn ihrer gesellschaftspolitischen Entwicklung und gab damit auch den Rahmen für ihre Widerstandshandlung ab. Die in den Arbeiterparteien organisierten Frauen erkannten aufgrund ihres politischen Wissens, daß der Faschismus Deutschland in den Krieg und in die Katastrophe führen wird. Das wollten sie verhindern. Daneben stand die solidarische Pflicht, den Genossen zu helfen, sich untereinander beizustehen. Die Partei ist ja nichts Abstraktes, das sind auch immer die anderen, die Gleichgesinnten, die Kampfgefährten, die man nicht im Stich lassen durfte. Ebenso handelten die Christinnen nach dem Gebot der Nächstenliebe, dem sie sich verpflichtet fühlten.

Ausschlaggebend waren die menschlichen Beziehungen. Der größte Teil der Frauen leistete einfach humanitären Widerstand, half den zumeist Leidenden und am stärksten Gefährdeten, den jüdischen Mitmenschen. Wer den jüdischen Freund, Mann, Geliebten versteckte, tat es aus scheinbar persönlichen Motiven. Aber auch dies konnte man nur, wenn man überhaupt gegen die Nazis war. Wie viele beugten sich dem herrschenden Rassenwahn und trennten sich von ihrem jüdischen Lebenspartner.

Die Entscheidung zum Widerstand setzte vor allem ein bestimmtes Maß an Charakterstärke und moralischem Anspruch voraus. »Wenn man erst einmal darüber nachgedacht hatte, konnte man nicht mehr zurück.« – »Ich sah das alles, und da konnte ich nicht mehr so tun, als wenn nichts ist, und in der bisherigen Weise weiterleben.« – »Man weiß, worum es geht, dann fühlt man sich eben verpflichtet zu handeln.« Es war die Entscheidung, Unrecht nicht länger zu dulden, Unrecht, das ihnen als ein persönliches entgegentrat, aber ein gesellschaftliches war.

Widerstand gegen den braunen Staatsterror zu leisten, erforderte unheimlich viel Mut, denke ich. Woher konnte man ihn nehmen? Sicher aus der Erkenntnis, das Richtige zu tun. Oder er erwuchs im Handeln, aus der Solidarität, der Kameradschaft, dem Gefühl, nicht allein zu sein, der Gewißheit, viele namenlose Mitkämpfer nicht nur im eigenen Land, sondern in ganz Europa zu haben. Ich sehe sie vor mir: die resolute Kläre, die temperamentvolle Erna, die besonnene Helene, die zurückhaltende Rosel und die anderen. Ihnen allen war eigen, sich nicht aufzugeben, auch nicht in der aussichtslosesten Minute, nicht unter den schwersten Bedingungen.

Manchmal schien es mir, als ob die Erinnerungen geradezu bereitlagen, abgefragt zu werden. Erstaunlich die Präzision der Aussagen, die Genauigkeit bestimmter Einzelheiten, die ich im Gespräch ins Gedächtnis zurückrufen konnte. Wieviel Zeit ist seitdem vergangen! Wären diese Ereignisse nicht so gravierend gewesen, die Erinnerungsspuren hätten sich längst verflüchtigt. Erna L. sagt: »Ich habe Einzelheiten vergessen, z.B. weiß ich nicht mehr, wie viele Betten auf meinem Block (KZ Ravensbrück) waren. Ich fand es auch damals nicht wichtig. Aber was die Frauen erleiden mußten und wie auf meinem Block gekämpft wurde, davon habe ich nichts vergessen.«

Eines möchte ich ganz deutlich machen: Dies ist kein Buch, in dem historische Fakten im Vordergrund stehen, sondern subjektiv erlebte Geschichte. Die Sicht auf die Ereignisse ist immer individuell gefärbt. Und doch ergibt sich ein aus vielen Facetten zusammengesetztes farbiges Bild des Kampfes gegen das Naziregime. Wenn auch immer ein Rest des Unsagbaren bleiben wird. »Kein Film, kein Buch, nichts kann bis ins letzte wiedergeben, wie es war.« Diesen Satz hörte ich mehrmals.

Vor mir steht die Frage: Wie haben die weitergelebt, die durch die Hölle gegangen sind? Sie können nicht unbeschadet davongekommen sein. Und ich meine nicht die vielfältigen körperlichen Beschädigungen, die sie erlitten haben, sondern jene, die sich immer noch in nächtlichen Träumen manifestieren. »Ich wünsche mir nur, daß in der Stunde meines Todes nicht diese schrecklichen Bilder vor mir stehen.«

Aber sie sind nicht Opfer gewesen und betrachten sich keinesfalls so. Sie fühlen sich als Siegerinnen. Daran ändert auch nichts, daß ihnen die gesellschaftliche Anerkennung versagt blieb, die die ausländischen Kampfgefährtinnen in ihren Ländern genießen, und daß die Zeit nach 1945 anders aussah, als sie es sich für eine antifaschistische, demokratische Entwicklung gewünscht und vorgestellt hatten. Es ist bezeichnend, daß bei einigen Frauen große Bedenken bestanden, Namen anderer zu nennen aus Besorgnis, diese oder ihre Familie könnten sich kompromittiert fühlen oder Ärger bekommen.

In dieses Buch sind ganz persönliche Dokumente aufgenommen. Beim Aufspüren der Vergangenheit stöberte ich in Alben mit vergilbten Fotografien, Mappen mit alten Briefen, Ordnern mit amtlichen Mitteilungen und Gerichtsbescheiden. Es gibt die Sorgsamen, die alles wohlgeordnet aufhoben, die Umhergetriebenen, die im bewegten Auf und Ab ihres Lebens alle Unterlagen verloren, die Leidenschaftlichen, die im Bestreben, die Vergangenheit zu verdrängen, verhaßte Schriftstücke vernichteten. Mit unbeschreiblichen Gefühlen hielt ich die Zeugnismappe eines mit zwölf Jahren im Gas ermordeten Jungen in der Hand; die sogenannte Todesurkunde der Alice Bloch aus Auschwitz; die unter Lebensgefahr angefertigte Zeichnung der französischen Ravensbrückerin; eine anonyme Denunziation an die Gestapo, die fünfzig Menschen ins Unglück stürzte.

Natürlich haben sie sich gequält, meine Interviewpartnerinnen, ihre schrecklichen Erinnerungen, denen sie wohl niemals ganz entrinnen können, auszusprechen. Mehr als einmal, wenn eine Frau mir weinend gegenübersaß und vor Erregung nicht weitererzählen konnte, war ich drauf und dran, das Interview abzubrechen, sie in Ruhe zu lassen. Dann sagte sie: »Nein, mach weiter, schreib das auf! Es soll den Heutigen nützen. So war nicht alles umsonst.«

Die heutige Frauenbewegung kann hier aus einem Kraftreservoir schöpfen und sich Mut holen für die Lösung ihrer Aufgaben. In diesem Sinne hoffe ich, ein nützliches Buch geschrieben zu haben.

Genossin – Frau – Mutter: Katharina Jacob

Katharina Jacob – zwei Frauen nannten mir diesen Namen. Erna Lugebiel schilderte mir die Begegnung (von 1944) im Gefängnis Kaiserdamm: »Ich sehe sie noch, eine kleine zarte Frau, an der Tür stehen, wie der Beamte ihr mitteilt, daß ihr Mann hingerichtet worden ist. Wir dachten alle, es wird sie umwerfen. Aber sie hat sich großartig gehalten, nicht mit der Wimper gezuckt. Nur ihr Gesicht wurde merkwürdig gelb …«

Peggy Parnass traf ich 1980 in Berlin auf einem Frauenfest, als sie mir von der Hamburger Initiative Frauen in die Bundeswehr – nein danke erzählte und dabei begeistert über Katharina Jacob sprach.

Ich fuhr nach Hamburg. Von Käthes Wohnung hat man einen zauberhaften Blick auf die Alster. Bücher, Telefonate, Korrespondenzen, Termine und intensive Beschäftigung mit Töchtern und Enkeln füllen ihren Tag bis zum Rand.

Doch sie nahm sich viel Zeit für mich und unser Gespräch, so daß ich ihre Lebensgeschichte nachzeichnen konnte.

Das Mädchen aus der Kasparstraße

Katharina, genannt Käthe, wird am 6. März 1907 in Köln am Rhein geboren. Das kleine Mädchen liebt besonders die Großmutter, bei der sie oft in der Probsteigasse zu Besuch ist. Fasziniert schaut sie zu, wie die einarmige Frau, die den rechten Arm durch Blutvergiftung verloren hat, mit der linken Hand Kartoffeln schält, Brot schneidet und schmiert, saubermacht und wäscht. Der Großvater ist Kutscher, verdient zu wenig, vier Töchter sind zu ernähren, also sucht Großmutter sich noch außer Haus Arbeit. Auf dem Markt hilft sie den Bauersleuten, Körbe und Kisten ein- und auszupacken. Die älteste Tochter (später Katharinas Mutter) muß zu Hause drei kleine Geschwister und den Haushalt versorgen. Sie versäumt die Schule deswegen, wird vom Lehrer wegen der nichtgemachten Schulaufgaben, wegen Zuspätkommens, wegen nicht sauberer Hefte mit dem Stock geschlagen. Obwohl sie keine Chance hat, ihre guten Anlagen zu entwickeln, schreibt sie fehlerlos und kennt viele Lieder und Gedichte. Ihre leichte, heitere Art steht im Gegensatz zu der streitbaren, kämpferischen Natur der Großmutter mit ihrem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, den Käthe geerbt hat.

Von Großmutters Fenster aus sieht die kleine Käthe auf einen großen Hof, auf dem ein geschäftiges Leben mit Fuhrwerken, Pferden und Kutschern herrscht. Wehe, wenn ein Kutscher sein Pferd schlecht behandelt! Großmutter schimpft laut aus dem Fenster, und wenn das nichts nützt, läuft sie hinaus auf den Fuhrhof, packt den groben Kerl am Hemd und schüttelt ihn. In ihrem Haus herrscht Fröhlichkeit, besonders wenn hin und wieder ein Fest gefeiert wird. Dann wird die Stube ausgeräumt. Das Bett muß als Sitzgelegenheit stehenbleiben. Die schmale Tür zur Küche wird ausgehängt, so daß sich in beiden Räumen die Gäste drängen. Bald übertönt der frohe Gesang der Feiernden das Grammophon mit dem großen Trichter. Witze machen die Runde. Aber niemand würde es bei Großmutter wagen, Anstößiges zum besten zu geben. Mehr beeindrucken Käthe die anschaulich vorgetragenen Balladen. Das sind Glanzpunkte in einem Leben voll schwerer Arbeit und Sorge ums tägliche Brot.

Käthe lebt mit Eltern und Geschwistern in einer Mietskaserne der Kasparstraße in einem Arbeiterviertel in Köln-Nord. Der Vater, Jakob Emmermann, Schlosser in den Kölner Eisenbahnwerkstätten, ist ein fleißiger, solider Arbeiter, der stets pünktlich seinen Lohn nach Haus bringt. Käthe sieht ihn abends abgearbeitet sein Essen einnehmen, zur Zeitung greifen und früh ins Bett gehen. Die Mutter Wilhelmine ist sechsunddreißig Jahre alt, als Käthe, das jüngste Kind von fünfen, geboren wird. Das Leben einer Arbeiterfrau ist nicht leicht. Um durch Nähen mitzuverdienen, schafft Mutter sich eine Nähmaschine auf Abzahlung an. Wie lange dauert es, bis sie ihr endlich gehört. Alle Neuanschaffungen werden auf diese Art getätigt. Schlimm ist es, wenn die Rate von einer oder zwei Mark die Woche nicht gezahlt werden kann. Den Gerichtsvollzieher kennt jeder in diesem Haus.

Katharina Jacob, 1981.

Wenn die anbezahlte Ware wieder aus der Wohnung geholt wird, stehen die Frauen weinend und schimpfend vor ihren Türen, leiden mit der betroffenen Familie.

Käthes Schwester lernt Verkäuferin, die beiden Brüder werden Schlosser wie der Vater. Nun muß Mutter drei Schlosseranzüge und die entsprechende schmutzige Leibwäsche waschen. Sie kocht sie in einem großen Waschtopf auf dem Küchenherd, spült sie in einer Zinkwanne und hängt sie auf ein Trockengestell vor dem Küchenfenster. Käthe scheint, dieser Waschtopf ist immer in Betrieb und die kleine dunkle Küche immer voller Wäschedunst.

Türen aufstoßen

Käthe möchte gerne Lehrerin werden. Sie ist eine gute Schülerin. Auf Vorschlag der Lehrerin könnte sie die Höhere Schule besuchen. Es scheitert an den finanziellen Verhältnissen. Der Pfarrer besorgt ihr, seiner Konfirmandin, eine Lehrstelle als Kontoristin bei der Kölner Frauen-Zeitung, einer kleinen Zeitung im Dienst der bürgerlichen Frauenbewegung. Ihre Ausbildung ist denkbar schlecht. Nach zwei Jahren hat sie kaum etwas gelernt, was ihr im kaufmännischen Beruf wirklich nützen kann. Das Gefühl, nicht dumm zu sein, aber nicht genügend Kenntnisse erworben zu haben, bedrückt sie. Sie hat keinen Mut, sich um eine andere Stelle zu bewerben, also bleibt sie.

Wohl fühlt sie sich in der GDA-Jugendgruppe des Gewerkschaftsbundes der Angestellten. Hier kommt sie mit Jugendlichen aus anderen Jugendverbänden wie SAJ, KJ, Bündischer Jugend und dem Wandervogel zusammen. Sie machen Fahrten, freuen sich an der Natur, diskutieren bis in die Nacht hinein. Es ist eine herrliche Zeit. Käthe verliebt sich in Walter Hochmuth, ebenfalls Mitglied der Gruppe, vor kurzem aus dem Vogtland nach Köln gekommen. Die beiden bleiben zusammen. Als die Jugendgruppe wegen »linker Tendenzen« vom Vorstand des GDA aufgelöst wird, gründen Käthe, Walter und andere Jugendliche die selbständige Jugendgruppe Florian Geyer. Der Name ist bewußte Aussage.

Darüber schreibt Käthe später: »Für mich ist die Florian-Geyer-Zeit nicht nur eine der schönsten meines Lebens, sondern auch eine ganz entscheidende. Christliche Jugend und GDA-Jugend waren schon etwas, aber im Florian Geyer wurden Türen aufgestoßen. Unsere Diskussionen an unseren Heimabenden in Köln-Sülz über ›Gott und die Welt‹, fortgesetzt von Haustür zu Haustür und wieder zurück und wieder hin und her – wir haben sie wohl alle nicht vergessen. Wir hatten unsere Probleme, auch manches Persönliches. Aber was ein junger Mensch braucht und sucht, das gab mir unsere Gemeinschaft: Kameradschaft, Kennenlernen von Schönem, Freude am Schönen, politische Diskussionen. Und nicht zuletzt persönliche Anerkennung. Sie hatte ich – wie wir wohl alle – besonders nötig. Minderwertigkeitskomplexe und Hemmungen hat mir die ›Kasperstraße‹ in reichem Maße mitgegeben. Die Florian-Geyer-Gruppe hat mir geholfen, in dieser Beziehung manches abzubauen, wenn auch längst nicht alles. Aber es geriet etwas in Bewegung, das später Früchte getragen hat. Nicht zuletzt trug dazu die Liebe eines und zu einem Walter Hochmuth bei … Es war zu einer späteren Zeit in Köln, als Helene Otto, eine kommunistische Lehrerin, in einem Vortrag sagte: ›Wir wollen nicht nur Wein trinken, wir wollen ihn auch aus schönen Gläsern trinken.‹ Sie hatte damit ein Wort ausgesprochen, das auf mich hätte zugeschnitten sein können. Die Erkenntnis, daß die Probleme des Kättchen us der Kasparstroß, die Probleme der meisten Arbeiterkinder, daß sie erklärbar und überwindbar sind – bestimmt zu einem großen Teil, ließ mich Kommunistin werden. Die Untermauerung durch die Theorie kam später.«

Käthe tritt 1926 in den Kommunistischen Jugendverband ein und geht mit Walter Hochmuth 1927 nach Hamburg. Im gleichen Jahre heiraten sie. Beide arbeiten in dem großen Tuchhaus Paul Peiniger als kaufmännische Angestellte. Auch im Beruf findet Käthe jetzt zu sich selbst. Sie merkt, daß sie hier ihre Fähigkeiten einsetzen kann.

»… uns geht die Sonne nicht unter!«

Das einschneidende Jahr 1933 findet Käthe als Hausfrau. Wegen der Geburt ihrer Tochter Ursel 1931 hat sie die Arbeit aufgegeben. Seit dem gleichen Jahr ist ihr Mann in der Hamburgischen Bürgerschaft Abgeordneter der KPD, mit 27 Jahren das jüngste Bürgerschaftsmitglied. Sie ahnen, was mit Hitlers Machtantritt auf sie zukommen wird, aber ihre Ahnungen werden von der Wirklichkeit aufs Furchtbarste übertroffen. Einen Tag nach der Reichstagswahl am 6. März, Käthes Geburtstag, steht ein Stapo-Mann mit zwei jungen Polizisten vor der Tür, um ihren Mann zu verhaften. Der aber lebt schon halb illegal, kommt nur noch ab und zu nach Hause, in ihre Wohnung Winterhude, Meerweinstraße. Bei der Haussuchung wird ihre große Bibliothek, Käthes ganzer Stolz, ausgeräubert. Politische Bücher, Werke sozialistischer und fortschrittlicher Schriftsteller, auch Dostojewski und Tolstoi kommen auf den Haufen beschlagnahmter Bücher. Käthe protestiert: »Das ist doch Weltliteratur!« Der Stapo-Mann winkt ab. »Schon diese Namen!« sagt er verächtlich.

Im Bücherschrank hat Käthe eine Zigarrenkiste mit Fotos, Gruppenbilder von Wanderungen. Als der Stapo-Mann die Kiste in die Hand nimmt, plagt sie das schlechte Gewissen, die Bilder hätte sie nicht aufheben dürfen. Sie weiß, die Nazis haben große Karteien angelegt mit Namen, deren sie nur habhaft werden können; das konnte für jeden einmal belastend werden. Nach Stunden gehen sie endlich. Als Käthe die wenigen Bücher, die noch auf dem Boden liegen, aufräumt, fallen ihr Fotos entgegen. Sie kann es sich nicht erklären, verbrennt sie aber sofort. Später erfährt sie von einem Freund: Die beiden Polizisten waren junge Sozialdemokraten, sie haben die Fotos bewußt wieder unter die Bücher geschoben. Käthe ist sehr froh darüber, auch weil ihr das Erlebnis zeigt, daß nicht alle plötzlich Nazis geworden sind.

In Hamburg gibt es nun außer dem Hamburger Tageblatt, der Zeitung der NSDAP, nur noch gleichgeschaltete bürgerliche Zeitungen wie Hamburger Anzeiger oder Hamburger Fremdenblatt. Die gesamte fortschrittliche Presse ist zerschlagen. Die Linken sind der Meinung, daß sie die Bevölkerung über das grausame Unrecht, die Verbrechen dieses Systems aufklären müssen. Käthe, seit 1928 Mitglied der KPD, übernimmt die Aufgabe, illegale Flugblätter zu verbreiten. Sie weiß, wird man dabei erwischt, muß man mindestens mit Gefängnis rechnen. Später in Kriegszeiten ist es Zuchthaus, KZ oder die Todesstrafe. So hoch schätzen die Nazis den Wert eines Flugblattes ein, die Verbreitung der Wahrheit. Nach der Haussuchung warnt Käthe ihren Mann, der noch bis 1934 in Hamburg an einer illegalen Zeitung mitarbeitet, dann mit dem Schiff nach Kopenhagen emigriert.

Käthe wird im Juli 1933 verhaftet und lernt dabei ihre spätere Freundin Charlotte Groß kennen. Die ersten ihrer Genossen sind schon zu Tode gefoltert, erschlagen, einige haben Selbstmord begangen, in der Furcht, Aussagen zu machen. Sie wird eingesperrt im Konzentrationslager Fuhlsbüttel und im Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis. Sie hat Einzelhaft. Aber auch sie erfährt, was die in einem großen Saal eingesperrten Frauen gegen die immer schlimmer werdende Haftverschärfung beschlossen haben. In ihre Zelle wird hineingerufen: »Ab morgen Hungerstreik!« Da hungert auch Käthe in ihrer Zelle. Jeden Tag geht die Zellentür auf, eine Schüssel mit Essen wird hingestellt. Aber Käthe rührt sie nicht an in der Gewißheit, daß die anderen Frauen ebenso handeln. Acht Tage lang geht das so. Die Gefängnisverwaltung droht mit Zwangsernährung. Als man ihr sagt, der Hungerstreik sei abgebrochen, ist Käthe mißtrauisch. Eine andere Gefangene wird geholt, die es ihr bestätigt. Geschwächt von Hunger und doch moralisch gestärkt, gehen die gefangenen Frauen aus dieser gemeinsamen Aktion hervor.

Nach fünf Monaten Untersuchungshaft wird Käthe entlassen. Der Prozeß findet 1934 statt. Ihre Anklage lautet auf Vorbereitung zum Hochverrat. Sie wird zu einem Jahr Gefängnis verurteilt und muß ihre Strafe im Frauengefängnis Lübeck-Lauerhof antreten. Diesmal ist sie in einer Sechserzelle. Die Frauen versuchen, auch noch aus diesem Leben etwas zu machen und sich nicht zu Kriminellen abstempeln zu lassen. Sich nicht demoralisieren zu lassen, betrachten sie als Widerstand. Sie bekommen täglich Säcke Kartoffeln in die Zelle hineingestellt und müssen für die Küche ein bestimmtes Quantum schälen. Das machen sie meistens so, daß fünf Frauen arbeiten und die sechste vorliest, aber immer mit dem Ohr zur Tür, denn es ist natürlich verboten. Oder sie bringen sich Lieder und Gedichte bei. Käthe hat zum Beispiel ein reiches Repertoire von Volks- und Kampfliedern im Gedächtnis. Die anderen lernen Texte und Melodien von ihr, wiederholen sie täglich als Training. Fremdwörter werden erklärt und buchstabiert, Ratespiele gemacht, Vokabeln abgehört, und es wird heftig diskutiert. Nach dem Einschluß, wenn sie in die Betten müssen, fangen die Frauen an, sich Romane zu erzählen, die sie einmal gelesen haben. Da das bei mehreren von ihnen die gleichen sind, ergänzen die anderen, wenn eine nicht mehr weiter weiß. Auf diese Weise kommen sie zu einem vollständigen Roman, und zwar viel intensiver, als sie ihn vorher gelesen haben, zumal sich auch noch Diskussionen anschließen.

Zu den sechsen in Käthes Zelle gehören die junge Jüdin Lotte Ehmann, der nach ihrer Entlassung die Ausreise in die USA gelingt, Heidi aus Bremen, Lotte Burmester, die spätere Frau von Herbert Wehner, und Muttchen Mary, eine alte Frau, gelähmt und völlig der Obhut der anderen anvertraut; verurteilt, weil sie ihrem Neffen zur Flucht verholfen hat.

Alle sind am Lesen interessiert. Im Gefängnis gibt es eine Bibliothek; zwar ist vieles ausgemerzt, was den Nazis nicht paßte. Aber es sind noch eine Menge guter Bücher geblieben, und vor allem, die Bibliothek wird von politischen Häftlingen verwaltet, zu dieser Zeit von Hedwig Voegt, heute noch Käthes Freundin und Literaturwissenschaftlerin in der DDR. Es findet ein reger Buchaustausch statt. Eine der Frauen, Annemarie Jacobs, richtet einen Englisch-Kursus ein. Ihre Tante ist eine bekannte Professorin in der Schweiz, darum macht die Gefängnisleitung ihr Zugeständnisse. Annemarie hat einige Semester Kunstgeschichte studiert. Die Frauen lassen sich auf ihre Anregung hin Kunstpostkarten schicken, man kann zu dieser Zeit noch öfter Post bekommen, und machen eine Ausstellung mit den Karten. Sie gibt die Erläuterungen dazu. Für Käthe sind das neue Erfahrungen.

Manchmal wird sie mit anderen zur Arbeit in einen großen Saal geführt. Da stehen eine Reihe langer Tische, auf denen riesige Mengen Bindfäden liegen, kurze und lange, verknotet und verteert, mit Blut und Siegellack beschmutzt., Sie fragt sich entsetzt, woher die wohl kommen. Die Bindfäden müssen nach Beschaffenheit und Farbe sortiert werden. Es ist eine furchtbar schmutzige Arbeit. Positiv findet Käthe, daß sie in einer großen Gemeinschaft sitzt, die anderen sieht, mit ihnen sprechen kann. Die Arbeitsaufseherin ist noch eine von der alten Garde, eine Sozialdemokratin. Wenn sie rausgeht und die Frauen allein läßt, beginnen sie zu singen, meistens das alte Wandervogel-Lied Wilde Gesellen vom Sturmwind verweht. Erst summen alle leise, aber dann immer lauter die Zeile: Uns geht die Sonne nicht unter. Oft gehen Käthes Gedanken zu ihrer kleinen Tochter. Ursel ist bei guten Freunden untergebracht. Einmal kommt sie die Mutter im Lauerhof besuchen. Die Vierjährige bestaunt die Gefängnistracht, das altmodische blaue Kleid mit der weißen Schürze, weißem Häubchen auf dem Kopf. Käthe darf sie auf den Schoß nehmen. Sie steckt der Mutter ein Stück Schokolade in den Mund. Das sieht die Aufseherin und schimpft sie aus, noch einmal so etwas, und sie wird die Besuche verbieten.

Zivilcourage

Schon 1933 konnte Käthe ihre Wohnung nicht mehr bezahlen, stellte ihre Möbel bei Freunden unter, suchte sich ein Zimmer. Als sie jetzt im Dezember 1935 aus dem Gefängnis entlassen wird, beginnt die quälende Zimmersuche von neuem, bis sich die Gelegenheit bietet, eine Zweieinhalbzimmerwohnung in der Jarrestraße zu mieten, wenn sie einen Bürgen stellt. Käthe hat keine Arbeit gefunden, muß stempeln gehen und bekommt den Wohlfahrtssatz, der unter zwanzig Mark in der Woche liegt. Sie findet den Bürgen. Es ist ihr alter Kohlenhändler Rudolf Gieselmann. Nicht nur, daß er durch seine Unterschrift für Käthe bürgt, er liefert ihr auch billige Kohlen auf Abzahlung. Das ist so eine der Solidaritätshandlungen, die große Bedeutung haben, materiell und psychisch helfen. Um die Wohnung bezahlen zu können, muß Käthe zwei Räume vermieten. Mit ihrer Tochter schläft sie in dem halben Zimmer und wohnt in der Küche.

1936 liest Käthe in der Zeitung eine Annonce der Firma »Blembel-Gebrüder«: »Kontoristin gesucht«. Sie bewirbt sich trotz Hemmungen wegen ihrer geringen Qualifikation. Wieder befällt sie die alte Angst: Wirst du den Anforderungen nachkommen können? In dem Bewerbungsschreiben hat sie angegeben, daß sie von ihrem Mann getrennt lebt. Der Chef spricht sie darauf an. Käthe denkt: Jetzt schenkst du ihm reinen Wein ein, und sagt, daß ihr Mann aus politischen Gründen ins Ausland emigriert ist. Sie wird tatsächlich eingestellt. Bald merkt sie, daß die Chefs dieser Im- und Exportfirma auch keine Nazis sind. Nirgends ist ein Hitlerbild zu sehen, auf den deutschen Gruß wird verzichtet. Käthe kann sich nun denken, warum man gerade sie genommen hat.

Regelmäßig kommen in Käthes Wohnung Gesinnungsgenossen zum Austausch von Informationen zusammen. In kleinen Gruppen hören sie ausländische Sender; das ist streng verboten und gefährlich. Den Kopf unter einer dicken Decke, drückt Käthe ihr Ohr dicht an den Radioapparat und lauscht begierig den Worten von BBC/London und Radio Moskau.

Käthe wird am Silvesterabend 1938 mit einer Reihe von Freunden festgenommen und im KZ Fuhlsbüttel inhaftiert. In dieser Zeit wird ihre Ehe geschieden. Ihr Mann Walter war nach 1933 eine neue Bindung eingegangen. »Die Verhältnisse haben es so mit sich gebracht«, sagt Käthe. In der Haft kommt eine neue große Sorge auf sie zu. Das Amtsgericht Hamburg entzieht ihr das Sorgerecht über ihre Tochter Ursel. Käthe hat große Angst. Man droht, das Kind in eine nationalsozialistische Erziehungsanstalt zu stecken. Da tritt Ursels Lehrerin Gertrud Klempau auf den Plan, eine Sozialdemokratin, 1933 in die Meerweinschule strafversetzt. Sie hat vorher an einer Versuchsschule gearbeitet, deren gesamtes Kollegium von den Nazis abgelöst wurde. Diese Frau hat sich auch in schlimmer Zeit ihre Zivilcourage bewahrt. Sie erklärt sich sofort bereit, die Vormundschaft für Ursel Hochmuth zu übernehmen; für ein Kind, dessen Vater als Emigrant im Ausland lebt und dessen Mutter als Nazigegnerin eingesperrt ist. Damit ist eine große seelische Belastung von Käthe genommen.

Uber die Lehrerin Klempau schreibt Käthe später: »Mich begeisterten auch ihre fortschrittlichen Lehrmethoden, bei denen ich selbst lernte. Meine eigenwillige Tochter hatte ihre kleinen Konflikte mit ihrer Lehrerin. Sie wußte nichts von der »schützenden Hand«, die auf ihr ruhte. Ich erinnere mich an ein Aufsatzthema: Wie ich mir das Schlaraffenland vorstelle. Ursel hatte darin ein kindliches Gegenbild zur nationalsozialistischen Wirklichkeit entworfen. Obwohl unter ihrem Aufsatz eine Eins stand, durfte sie ihn nicht vorlesen, wie es sonst bei guten Zensuren üblich war. Enttäuscht und empört kam sie nach Hause. Frau Klempau hatte das Heft an sich genommen und gab es ihr erst nach dem Kriege zurück. Der Aufsatz verriet zuviel vom Geist des Elternhauses. Sie sah darin eine Gefahr für das Kind, wenn er in unrechte Hände geriet; aber sie bewahrte ihn auf.«

Auszug aus dem Beschluß des Amtsgerichts Hamburg über die Gewährung des Sorgerechts für Katharina Jacobs Tochter Ursel.

Mut zur Liebe und zum Widerstand

Vier Monate vor Kriegsausbruch werden Käthe und ihre Freunde aus dem KZ Fuhlsbüttel entlassen. Sie kann ihre Stellung in der alten Firma wieder einnehmen. Das bedeutet viel. Ursel fährt für ein Jahr mit der KLV (Kinderlandverschickung) nach Sachsen.

Käthes Leben erhält eine neue Wendung. Sie begegnet Franz Jacob, den sie schon aus der Jugendarbeit kennt. Er war ebenfalls kommunistischer Bürgerschaftsabgeordneter in Hamburg. Nach drei Jahren Zuchthaus und vier Jahren KZ Sachsenhausen kommt er 1940 nach Hamburg zurück, nimmt bald wieder Verbindung mit Freunden und Genossen auf, um Widerstand zu organisieren. Er erhält Arbeit in einem kleinen Betrieb, in der Wäscherei BOCO, als Schlosser. Seinen Wunsch, auf die Ingenieurschule zu gehen, lehnt die Arbeitsfront ab: Das könne ihm so passen.

Furchtbares hat er erlitten und mitansehen müssen. Die Schlußfolgerung, die er daraus zieht, ist nicht Resignation, sondern die Erkenntnis, daß der Kampf gegen Hitler und den Krieg bis zum Ende weitergeführt werden muß. Bei Zusammenkünften in Hamburg treffen sich auch Franz und Käthe wieder. In diesem Leben ständiger Gefahr haben sie den Mut zur Liebe, auch wenn ihr Glück vielleicht nur von kurzer Dauer ist.

Käthe und Franz warten, bis Ursel aus der KLV zurückkommt. Es ist ihnen beiden wichtig, daß sie den neuen Vater akzeptiert. Sie sind alle drei glücklich. Im Dezember 1941 wird geheiratet. Trauzeugin der beiden politisch Vorbestraften ist die Lehrerin Gertrud Klempau. Franz zieht in die Jarrestraße.

Es wird eine Zeit großen persönlichen Glücks. Noch heute empfindet es Käthe so. Sie schreibt 1941 an Franz: »Du machst mich sehr glücklich, daß du soviel Bereitschaft und Liebe und Einfühlenwollen für unsere Ursel mitbringst. Ich wußte es immer: Einen Mann so richtig liebhaben und mein Leben auf Dauer mit ihm teilen könnte ich nur, wenn er das Kind bejaht und in seine Liebe einbezieht. Daß alles einmal so vollkommen gelöst werden könnte, daran habe ich nicht geglaubt. Ich bin dem Walter nicht mehr gram …«

Es gelingt, mit anderen zusammen wieder eine Organisation aufzubauen, die große Widerstandsgruppe Bästlein-Jacob-Abshagen, die in den Hamburger Großbetrieben und Werften verankert ist und darüber hinaus nach Bremen, Kiel und Lübeck reicht. Käthe ist die beste Kampfgefährtin ihres Mannes, arbeitet mit in der Organisation. Sie weiß, ein Mann, der vorne steht, braucht eine Frau, die sein Tun bejaht, ihm, so gut es geht, den Rücken freihält und die selbst Aufgaben übernimmt. Sie vermittelt Treffpunkte, besorgt Quartiere für Illegale, sammelt Geld und Abschnitte von Lebensmittelkarten zur Unterstützung von Verfolgten. Sie organisiert Beratungen, die ab und zu auch in ihrer Wohnung stattfinden. Sie schreibt Materialien, die Franz oder andere zusammengestellt haben und die den Genossen die politische Lage aufzeichnen und damit die illegale Betriebsarbeit unterstützen. Von der Herstellung von Flugblättern hatte man im Anfang wegen der Gefährlichkeit der Verbreitung abgesehen, später aber, im Juni 1942, wird u.a. das Merkblatt für Bauarbeiter verteilt.

Die dringend benötigte Schreibmaschine steht bei einem Freund, der sie eines Tages aus Sicherheitsgründen nicht mehr behalten kann. Franz und Käthe holen die Maschine und fahren in ein außerhalb Hamburg gelegenes Häuschen, das ihnen für die illegale Arbeit zur Verfügung steht. Käthe ist unruhig, sie weiß, ihr Mann ist bekannt, auch ist er eine Erscheinung, die auffällt, sehr groß, gekrümmter Rücken, hochgezogene Schultern, und nun trägt er die Schreibmaschine im Rucksack bei sich. Sie hat Angst um ihren Mann. Ihr ist klar, daß sie die Maschine nicht mit nach Hause nehmen können. Aber wohin damit? Käthe fällt ein Freund ein, der früher in der Jarrestraße gewohnt hat, 1933 umgezogen und dadurch der Gestapo entgangen war. Fritz Bartsch sagt sofort zu, die Maschine zu nehmen, und verbirgt sie.

Es gibt jetzt 1942 eine größere Anzahl von Menschen, denen die Nazis verhaßt sind, die den Krieg satt haben, die bereit sind, etwas dagegen zu tun. Die antifaschistischen Materialien, die von der Leitung der Organisation an die illegalen Betriebsgruppen weitergegeben werden, enthalten Informationen und Argumente, die unter den Arbeitern verbreitet werden sollen. Genossen unter den ausländischen Arbeitern und Kriegsgefangenen übersetzen es mündlich. In den Flugblättern, die Käthe tippt, stehen Aufforderungen, denen die Menschen nachkommen können. Es ist die Zeit der britischen Fliegerangriffe auf Hamburg. Da heißt es z.B.: Wenn der Alarm vorbei ist, geht sofort nach Hause! Laßt euch nicht zu zusätzlichen Aufräumungsarbeiten in den Betrieben einsetzen. Seht zuerst nach, ob eure Familien, eure Wohnungen noch da sind. Oder: Arbeitet langsam, sabotiert Hitlers Rüstungsindustrie! Diese Parolen werden auch befolgt, wie nach 1945 ausgesagt wird.

Das läuft gut, etwa zwei Jahre lang. Am 18. Oktober 1942 will die Gestapo Franz verhaften. Er ist schon durch einen Telefonanruf gewarnt: Der Bruder sei gestern ins Krankenhaus gekommen. Krankenhaus ist immer das Wort für Gestapo, Verhaftung. Auch ist am Tag zuvor schon jemand nicht zum Treffpunkt erschienen. Böse Vorahnung! Franz und Käthe überlegen, wen sie in der Nähe benachrichtigen können, falls die Gestapo käme. Sie brauchen eine Stelle, bei der Käthe Nachricht für Franz hinterlassen kann. Sie kommen auf Lidde Klingenberg, eine alte Arbeiterfrau und Genossin, die Käthe schon immer zur Seite gestanden hat und von der sie annehmen, daß sie dazu bereit ist. Käthe ist sich völlig klar darüber, daß sie ein gefährliches Ansinnen an die Frau stellt. Aber sie kennt auch ihren Mut und ihre Solidarität. Lidde ist einverstanden, verschwindet aber erst einmal. Dann sagt sie: »Immer, wenn die politische Situation gefährlich wird, muß ich erst mal aufs Klo! Aber dann mach ich alles. Ihr könnt das Tollste von mir verlangen, wenn es gegen die verfluchten Nazis geht.«

Wieviel Ängste um Franz Käthe in den nächsten Stunden aussteht, wie viele Überlegungen sie anstellt. Der schnelle Abschied kann ein Abschied für immer sein. Dann ihr Zustand, sie steht kurz vor der Niederkunft. Es dauert nicht lange, und die Gestapo erscheint. Franz ist nicht da, und die Männer gehen wieder. Käthe läuft zum Knickweg, zu Lidde, um Franz zu warnen. Ihrer Tochter schärft sie ein, auf keinen Fall beim Klingeln die Wohnungstür zu öffnen. Ursel, inzwischen elf Jahre alt, befolgt die Anweisung. Die Gestapo kommt ein drittes Mal, durchsucht die Wohnung. Käthe bleibt dabei, nicht zu wissen, wo ihr Mann ist. Sie weiß es wirklich nicht. Franz hält sich noch zwei Wochen bei Genossen in Hamburg verborgen und kann Anfang November mit Hilfe von Charlotte Groß nach Berlin entkommen.

Charlotte, Käthes Freundin, Kommunistin, Mutter von zwei Kindern, arbeitet aktiv im Widerstand: Sie knüpft die Fäden zwischen Hamburg und Berlin, macht Kurierdienste, als Franz, der steckbrieflich gesucht wird, in Berlin zusammen mit Anton Saefkow und anderen eine große Widerstandsgruppe aufbaut. Diese Organisation hat Mitarbeiter in den Berliner Großbetrieben, Verbindung zu anderen illegalen KPD-Gruppen in vielen Teilen Deutschlands, arbeitet mit Sozialdemokraten, bürgerlichen Hitlergegnern, solchen in der Wehrmacht und ausländischen Zwangsarbeitern zusammen.

Charlotte hält lose Verbindung zwischen Franz und Käthe. Sie ist es auch, die ihm erzählen kann, daß am 9. November 1942 seine Tochter Ilse während eines schweren Bombenangriffs auf Hamburg im Luftschutzkeller einer Klinik geboren ist. Gertrud Klempau, der gute Geist der Familie Jacob, besucht Käthe am Tag nach der Entbindung und legt einen großen roten Rosenstrauß auf die Bettdecke. »Von Franz«, sagt sie.

Käthes Gedanken gehen zu ihrem Mann. Wann wirst du unser Kind sehen? Ich habe es Ilse genannt, Franz, wie du es gern wolltest, um dir eine Freude zu machen. Wie alle Mütter der Welt wünscht sie sich eine gute Zukunft für ihr Kind, aber die düstere Gegenwart verdrängt jede Vorstellung von künftigem Glück. In ihre Wohnung zurückgekehrt, beginnt Käthe ein Tagebuch über Ilse zu schreiben. Franz soll so an der Entwicklung seiner Tochter teilhaben. Bei einer Kurierfahrt nach Berlin kann ihm Charlotte die Aufzeichnungen übergeben.

Nach den großen Bombenangriffen im Sommer 1943 ist die Verbindung zu Franz für einige Zeit unterbrochen. Eines Abends klopft es an Käthes Tür. Es ist eine junge Frau aus dem Haus. Luise Hesse wohnt mit ihrer Mutter zusammen. Käthe kennt sie beide als Christen und Nazigegner. Obwohl die Mutter immer wieder aufgefordert wird, bei bestimmten Anlässen die Hakenkreuzfahne herauszuhängen, tut sie es nicht, verschwindet an diesen Tagen jedesmal aus der Wohnung, setzt sich lieber der Gefahr aus, als die verhaßte Fahne zu zeigen. Die Tochter steht nun vor Käthe, nestelt an ihrem Strumpf, reicht Käthe einen Brief von Franz. Käthes Herz klopft schneller vor Freude. Ein Lebenszeichen! Franz schreibt, von Sorgen bedrängt. Die Nachrichten vom brennenden Hamburg und den Schreckensszenen, die sich abspielten, hatten auch ihn erreicht. Er wählt die Firmenadresse, um an Luise Hesse zu schreiben, und baut auf Anständigkeit und Mut einer christlichen Hitlergegnerin. Franz hatte geschrieben, er wäre sehr dankbar, wenn sie es fertigbrächte, Käthe den einliegenden Brief zu geben, aber er hätte auch Verständnis, wenn sie es nicht täte. Sie bringt Käthe den Brief am gleichen Tag.

Käthe weiß immer, daß sie es mit einem Gegner zu tun hat, der seine Macht mit den infamsten Methoden aufrechtzuerhalten versucht. Das muß sie sogar innerhalb ihrer eigenen vier Wände erfahren. Die Gestapo versteht es, Käthes Untermieterin zum Spitzel zu machen, gibt ihr Geld und verspricht ihr Käthes Wohnung. Durch die Aussagen einer Gestapo-Angestellten werden später nach 1945 die Einzelheiten bekannt. Aber Käthe, deren Wachsamkeit durch jahrelanges Leben in Gefahr geschärft ist, spürt es und kann sich darauf einstellen. Zuerst will sie es nicht glauben, daß diese Frau, die selbst Kinder und Enkelkinder hat, die in der gemeinsamen Wohnung Käthes Leben und Ilses Geburt aus engster Nähe miterlebt hat, zu solcher Schmutzarbeit fähig ist. Ursel hält sich zu dieser Zeit mit ihrer Schulklasse in der Kinderlandverschickung (KLV) auf. Wenn Käthe abends einen Brief an Ursel zum Kasten bringt, benachrichtigt die Verräterin schnell die Gestapo, die den Brief herausfischt, kontrolliert. Sie hofft dadurch, an Käthes Mann heranzukommen. Wenn Käthe mit Ilse im Kinderwagen sich auf einen Spaziergang vorbereitet, schüttelt die Frau als Zeichen ein Staubtuch aus, und Käthes Wege werden beobachtet. Ein V-Mann der Gestapo hatte sich im gegenüberliegenden Haus eingemietet.

Die primitive Frau fängt einen Kleinkrieg um die einfachsten Dinge im Haushalt an. Ihren Gemeinheiten ist Käthe nicht gewachsen. Bei einer Auseinandersetzung schlägt die Frau ihr ins Gesicht. Käthe versucht eine Räumungsklage gegen die unerwünschte Untermieterin, natürlich ohne Erfolg. So kann sie sich nicht einmal in ihrer Wohnung zu Hause fühlen.

Ruf aus der Zelle

Am 6. Juli 1944 wird Käthe wieder von der Gestapo verhaftet. Sie ist in einer schlechten Verfassung, Ilse hat starken Keuchhusten und Käthe einige durchwachte Nächte hinter sich. Es ist furchtbar, sich von dem kranken Kind trennen zu müssen. Die kleine Ilse, bald zwei Jahre alt, spricht manche Worte, die nur verständlich für die Ohren der Mutter sind. Wird man ihr Plappern verstehen, sorgt sich Käthe. Ihre Nachbarn eine Etage tiefer nehmen Ilse sofort in ihre Obhut, benachrichtigen die Schwiegermutter in Bergedorf. Sie holt sich ihr Enkelkind. Die Gestapo nimmt Käthe mit. Unterwegs Fragen mit merkwürdig hämischem Unterton, ob sie nicht wüßte, wo ihr Mann sei. Später erfährt sie, daß Franz und die anderen führenden Kräfte der Gruppe in Berlin verhaftet sind. Ein Fahndungsschreiben liegt vor, Käthe und Charlotte Groß in Hamburg festzunehmen. Charlotte ist verreist, hält sich gerade in Thüringen auf und wird dort verhaftet.

Zur Nacht wird Käthe in das KZ Fuhlsbüttel überführt und in ihrer Zelle mit Händen und Füßen ans Bett gekettet, trotz der drohenden Fliegerangriffe. Am anderen Morgen kommt der Beamte, der sie nach Berlin bringen soll, und nimmt sie an eine lange Leine. Die Gestapo hat nicht mehr genug Benzin für Gefangenentransport per Auto. Der Beamte versenkt den größeren Teil der Leine in seiner Tasche, und Käthe muß dicht neben ihm gehen. Sie möchte lieber, daß man sie in dieser Situation sieht, daß ihre Festnahme erkennbar ist, falls ihnen Bekannte begegnen. Sie fahren mit der Hochbahn bis Barmbek, dann mit der S-Bahn bis Altona. Barmbek ist Käthes S-Bahn-Station. Ihre Hoffnung, in der Menge ein bekanntes Gesicht zu erblicken, ist vergeblich. In Altona hat gerade der Fahrplan gewechselt, und der Zug nach Berlin ist schon weg. Wieder in die S-Bahn, dem Zug hinterher. Am Hauptbahnhof erwischen sie ihn noch und springen in den anfahrenden Zug. Käthe fragt: »Warum beeilen Sie sich denn so?«-»Ja«, sagt der Beamte, »in Berlin wartet die Zelle auf Sie; wenn wir Sie da nicht schnell hinbringen, sitzen wir selbst drin.«

In Berlin verbringt Käthe die Nacht in einem Gefängnis. Am Morgen wird sie ohne Bewachung als erste in die grüne Minna gesetzt. An der nächsten Station werden zwei Leute in die Einzelzellen, die sich vorne im Wagen befinden, eingeliefert. Ein Gedanke schießt Käthe durch den Kopf: Könnte das Lotte sein? Sie geht durch den Wagen und ruft: »Lotte?« – Unvorstellbar, sie ist es wirklich. Käthe flüstert ihr die wichtigen Neuigkeiten zu, daß Franz, Bernhard Bästlein und Anton Saefkow verhaftet sind, daß die Gestapo über Lottes Fahrten von Hamburg nach Berlin Bescheid weiß. Dann müssen sie aussteigen. Käthe dreht sich einen Moment nach der Freundin um, will sie sehen, aber grob wird sie gestoßen: »Runter mit dir, dalli!« Käthe ist erleichtert, daß sie Lotte informieren konnte. Das wird ihr helfen.

Alle Inhaftierten der Saefkow-Jacob-Bästlein-Gruppe kommen in das Gestapo-Gefängnis nach Potsdam. Hier erlebt Käthe den 20. Juli 1944. Aufregung auf dem Flur, Schimpfen und Nervosität der Aufseherinnen sind Anzeichen dafür, daß irgend etwas Besonderes passiert sein muß. Sie sind zu dritt in einer Einzelzelle. Als sie am anderen Tag (geschlossen) zur Toilette geführt werden, sieht Käthe hinter dem großen Abflußrohr die kleine Ecke einer Zeitung herausgucken. Sie steckt sich den Fetzen Papier in den Kleiderausschnitt. In der Zelle warten sie eine Zeit des Tagesablaufes ab, zu der gewöhnlich keine Aufseherin kommt. Der Zeitungsausschnitt berichtet vom 20. Juli und hat die Überschrift Attentat auf Hitler. Aber er ist am Leben, und sie fragen sich, wie wird das ausgehen? Beim nächsten Gang zur Toilette steckt Käthe das Papier wieder zurück, für weitere Leser.

Lotte und sie sind getrennt. Franz sieht sie einmal für einige Minuten im Beisein eines Beamten. Es ist Glück und doch furchtbar. Alles, was Käthe am Herzen liegt, kann sie nicht sagen. Irgendwelche Worte, unwichtig, alltäglich, drängen sich ihr auf die Lippen, weil sie die kurze Zeit ausnutzen will. Aber die läßt sich nicht halten, verstreicht so schnell.

Sie werden verlegt ins Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit. Die Aufseherin fragt, ob Käthe Hemden flicken kann. obgleich es nicht der Wahrheit entspricht, sagt sie sofort ja. Die Arbeit sieht sie als willkommene Abwechslung im Gefängniseinerlei an. Man stellt ihr eine Nähmaschine in die Zelle und legt einen Haufen entsetzlich zerrissener Soldatenhemden dazu. Käthe wird mutlos, denkt, wie kann ich das bewältigen? Dann besinnt sie sich auf das, was sie mal in der Volksschule im Handarbeitsunterricht gelernt hat. Das kommt ihr jetzt zugute. Einmal muß sie auch stricken. – Aus Versehen hat man sie in eine Dreierzelle gesteckt, obwohl sie doch Einzelhaft hat. Sie soll ja mit keinem anderen zusammen sein. Die zwei anderen Frauen stricken Strümpfe für die Soldaten. Da strickt sie eben mit. Als die Verwechselung bemerkt wird und Käthe wieder in die Einzelzelle muß, darf sie das Strickzeug mitnehmen. Der fertige Strumpf hat eine ganz kleine Spitze und eine riesengroße Ferse, wird aber abgenommen. Der Aufseherin ist das egal. Nur Käthe bedauert den armen Soldaten, der diesen Strumpf anziehen soll.

Der Aufenthalt in Moabit dauert nicht lange. Die nächste Station ist die Untersuchungshaft im Frauen-Gefängnis Barnimstraße. Käthe wird zum Verhör geholt, soll aussagen, welche Arbeiten Lotte gemacht hat. Es geht jetzt nicht um sie, es geht um Lottes Kuriertätigkeit. Käthe leugnet zuerst, daß Lotte ihr Geld oder auch mal einen Brief gebracht hat. Das wäre ein anderer gewesen. Inzwischen hat die Gestapo aber Lotte unter Druck gesetzt, sie mit Fingerquetschungen gefoltert. Charlotte gibt zu, was sie gemacht hat. Danach wird Käthe nicht mehr zum Verhör geholt.

Um 18 Uhr ist im Gefängnis Barnimstraße Dienstwechsel, der sogenannte Einschluß. Dann beginnt oft ein reges Leben im Bau. Die Frauen treten – obgleich es streng verboten ist – an die Zellenfenster und rufen, geben Nachrichten weiter, bestimmt für eine Mitgefangene oder für alle. So verständigt man sich. Zum Beispiel will jeder wissen, wo die Front verläuft. Vielleicht noch mehr als die draußen hoffen sie auf das schnelle Ende des Krieges und damit der Naziherrschaft.

Die Fenster sind hoch; aber wenn man dicht genug herantritt und alle Kraft in die Stimme legt, wird man gehört. Eines Abends, Anfang September, dringt so ein Ruf in Käthes Zelle, der sie ins Herz trifft. »Ich hatte heute Prozeß. Franz Jacob, Bernhard Bästlein und Anton Saefkow sind zum Tode verurteilt!« Es ist Judith Auer, selbst zum Tode verurteilt, Mutter eines kleinen Mädchens, die es ruft. So erfährt Käthe, daß ihr endgültig das Liebste genommen wird, als sie da in ihrer Zelle allein am Fenster steht.

Wenige Wochen später wird Judith im Zuchthaus Berlin-Plötzensee auf dem Schafott sterben, weil sie unter anderem illegale Materialien der Saefkow-Jacob-Bästlein-Gruppe nach Thüringen und Sachsen gebracht hat. Sie war es auch, die Franz in ihrer Wohnung in Berlin vorübergehend Unterkunft gewährte.

Käthe schreibt an ihre Schwester Mariechen, ihre Schwiegermutter Marie Jacob und ihre Tochter Ursel (auf einem Briefbogen):[1]

Frauenstrafgefängnis

Berlin NO 18, den 9. Sept. 1944

Barnimstraße 10

Liebes Schwesterherz!

Herzl. Glückwunsch auch. Ich warte so sehnsüchtig auf Post von Euch allen. Ich weiß seit meiner Verhaftung noch nichts von den Kindern. Am 10. 8. schrieb ich einen Brief an Dich von einem anderen Gefängnis. Ist er nicht angekommen? Ich teilte Euch mit, daß auch Franz verhaftet ist. Mariechen, schicke auch diesen Brief bitte an meine Schwiegermutter, Marie Jacob, Hbg-Bergedorf, Ernst-Mantiusstr. 10. Hat Ursel an Franz geschrieben? Ich kenne immer noch nicht seine Anschrift. Alles würde für mich leichter sein, würde ich etwas von ihm hören oder könnte ich ihm selbst schreiben. Mariechen, versuch Du mal an Franz zu schreiben: Innige Grüße von mir, vor allem meine Adresse. Er soll doch alles versuchen, mir zu schreiben oder mich zu sprechen. Steckst den Brief in einen Umschlag: Herrn Franz Jacob, nimmst einen 2. Umschlag und adressierst: Herrn Oberreichsanwalt beim Volksgericht Berlin, Bellevuestr., und legst einen Brief zu, bitte weiterzuleiten an Franz, da dessen Adresse unbekannt. Hoffentlich hast Du kapiert, Schwester. Und tue es bitte sofort. Es ist keine Stunde zu verlieren. Grüß alle Lieben. Eure Käthe. Meine Post richten an Frau Katharina Jacob. Das letzte Stück unten abschneiden und an Ursel schicken.

Liebe Mutter!

Es ist furchtbar, daß ich Dir das Schreckliche mitteilen muß: Franz ist am 5.9. zum Tode verurteilt worden. Das Schlimmste ist, daß ich gar nichts von ihm höre. Keinen Gruß, nichts. Und ich möchte ihm jetzt besonders gern gut sein. Und kann nichts für ihn tun, den ich doch so sehr liebhabe. Es ist das Fürchterlichste meiner Haft. – Mutter, solltest Du seine Adresse erfahren, schreibe sie mir umgehend. Vielleicht beauftrage ich einen Rechtsanwalt, die Adr. festzustellen. Was macht unsere Ilsebill? Und wie geht es Dir, Mutter? Ich habe noch keine Post erhalten. Wenn ich erst mal was von den Kindern gehört habe, ist manches leichter. Dich, Vater u.Anne u. die kleine Süße grüßt Käthe.

Mein liebes großes Mädel!

Wie es Dir wohl geht u. wie es Dir zumute ist? Von keinem, den ich so liebhabe, habe ich bis heute etwas gehört. Ich denke den ganzen Tag nur: Franz, Ursel, Ilse. Schreib mal ausführlich an Tante Mariechen, die es mir umgehend zuschicken soll. Ob Du noch im Lager bist? Es sind so unruhige Zeiten. Wie geht es mit dem Lernen? Wirst Du mitversetzt? Hast Du meinen ersten Brief bekommen, in dem ich schrieb, daß Franz auch hier ist? Vor allem an ihn schreiben, auch an Tante M. Und noch mal, mein Urschel, halte Dich bei allen Entscheidungen an Waltrauts Mutti und an Deine Lehrerin Frl. Klempau. Ich kann gar nichts für Dich tun. Nur aus der Ferne immer an Dich denken und Dir gut sein. Solltest Du nach Hamburg zurück müssen, halte Dich an Tante Magda. Sei guten Muts, kleiner Kamerad, es ist immer wieder das Schönste, daß ich Euch habe. 1000 Küsse, Mutti.

Freundschaft

Der Prozeßtermin für Käthe und Charlotte ist auf den 20. September angesetzt. Erst eine gute Woche vorher erhalten sie die Anklageschrift. Kein Verteidiger sucht sie auf. Käthe ist angeklagt, daß sie wußte, wo ihr Mann sich aufhielt, und es nicht angezeigt hätte und daß ihr seine politische Tätigkeit bekannt gewesen sei. Es besteht ein Gesetz, daß man jeden von der Gestapo Gesuchten anzuzeigen hat, ganz gleich ob Mutter, Vater, Bruder, Schwester, Ehepartner oder Kind. Käthe scheinen diese beiden Anklagepunkte nicht so schlimm. »Ich möchte die Frau sehen, die ihren Mann anzeigt«, wird sie sagen. Schlimm aber ist es für ihre Freundin Lotte: »Kuriertätigkeit, Geld und Flugblätter überbracht, Leute aufgesucht, die sie für die illegale Arbeit gewinnen sollte.« Käthe ist sich bewußt, daß es für Lotte hoffnungslos aussieht. Außer Judith Auer, bei der hinzukam, daß sie Jüdin war, hatten schon andere Frauen, denen man weniger nachweisen konnte, Todesurteile erhalten.

Käthe überlegt hin und her, wie sie ihrer Freundin helfen kann. Zunächst muß es ihr gelingen, Verbindung mit ihr aufzunehmen. Das ist schwer. Die Zeit, in der sie bei den jetzt in Berlin häufigen Fliegerangriffen in die Keller geführt wurden und Käthe hätte versuchen können, sich an Lotte heranzupirschen, ist vorbei. Sie müssen auch bei Fliegeralarm in ihren Zellen bleiben. Lotte liegt ganz vorn in der ersten Zelle des langen Ganges, Käthe in der vorletzten. Wenn sie einmal täglich im Hof spazierengehen, bilden sie einen Kreis, der sie fast hintereinander bringt. Mit der Nachbarin verständigt sie sich, sie will versuchen, mit ihr den Platz zu tauschen. Die geeignete Stelle hierfür weiß Käthe schon. Auf ihrem Weg zum Hof müssen sie eine Wendeltreppe hinuntergehen. Es gibt eine Biegung, die die Aufseherinnen oben und unten an der Treppe nicht im Blick haben können. Hier muß Käthe blitzschnell den Platz wechseln. Auf dem Spaziergang darf man nicht miteinander sprechen. Aber an einer bestimmten Stelle kann man vielleicht drei Worte wechseln, und die Fortsetzung folgt, wenn man einmal herumgegangen ist. Wieviel, oder besser, wie wenig nützt das schon bei den wenigen Runden. Wenn es mit dem Platzwechsel auf der Treppe nicht klappt, muß der bei Gefangenen übliche Trick herhalten: Natürlich geht Käthe oder Lotte das Schuhband auf. Das heißt, aus der Reihe treten, sich falsch einordnen, so daß sie hintereinander kommen.

Aber das alles reicht für eine sinnvolle Verständigung nicht aus. Käthe grübelt so lange, bis ihr etwas einfällt. Beim Spaziergang flüstert sie der Freundin zu: »Lotte, beim nächsten Duschen aufpassen! Vordere Dusche nehmen!« Sie läßt sich Tinte und Briefpapier geben mit der Begründung, sie wolle einen Antrag stellen. Für Anträge offizieller Art, die Kinder, Wohnung oder ähnliches betreffen, erhält man eine Extra-Schreiberlaubnis. In der Zelle ist ein Spülklo und Toilettenpapier, dünne braune Blätter, circa 10× 8 Zentimeter groß. Darauf entwirft Käthe eine Verteidigungslinie für Charlotte. Punkt für Punkt geht sie die Anklageschrift durch. Ihre Taktik ist, Lottes Taten aus dem Bereich des Politischen in die Sphäre des Privaten zu ziehen. Ihre Freundschaft zueinander ist ja aktenkundig. So soll Lotte sagen, sie habe das alles aus Freundschaft für Käthe getan, hier mal einen Brief von ihrem Mann gebracht, auch mal Geld, die Verbindung gehalten trotz Bedenken. Sie hätte ja immer damit aufhören wollen, schon wegen ihrer zwei Kinder. Aber Käthe hätte zu niemandem sonst Vertrauen gehabt, und so habe sie es eben immer weiter getan, um die Freundin nicht zu enttäuschen.

Belastend für Lotte ist, daß man noch einen Teil Flugblätter bei ihr gefunden hat und die Namen von drei alten Kommunisten, die sie zur Arbeit gewinnen sollte. Käthe schlägt vor zu sagen, diese drei hätte sie sich vorgemerkt, um zu fragen, ob nicht einer von ihnen die Verbindung zwischen Franz und Käthe übernehmen wollte an ihrer Stelle, sie hätte ihre politische Arbeit aufgeben wollen.

So baut Käthe die Verteidigung auf. Der Duschtag kommt. Sie werden wie immer in zwei Abteilungen hingeführt, Lotte in der ersten und Käthe in der zweiten. Käthe kommt mit ihren eng beschriebenen Papierchen, die so klein gefaltet sind, daß sie sie notfalls verschlucken kann, und marschiert in den falschen Duschraum. Sie atmet auf, als sie Lotte vornean unter der Dusche stehen sieht. Da schreit schon die Aufseherin, Käthe muß schnell aus dem Raum, aber Lotte hat die Botschaft abgenommen. Wird es etwas nützen?

Am 20