Freiwild - Monika Bittl - E-Book

Freiwild E-Book

Monika Bittl

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Beschreibung

Die junge Theres kennt als Magd nichts anderes als Arbeit, Strenge und Ungerechtigkeit. Wieso müssen sie verzichten, während andere alles haben? Als sie den Gesetzlosen Heigl trifft, sieht sie die Chance, ihren Traum von Freiheit zu leben. Von klein auf fällt Theres durch ihren Wissensdrang auf. Sie setzt durch, dass sie lesen und schreiben lernt. Harte Arbeit stört sie nicht, aber gegen Ungerechtigkeit wehrt sie sich stets. Theres will die bestehende Ordnung nicht als gottgegeben hinnehmen. Als sie Michael Heigl kennenlernt, glaubt sie die ersehnte Freiheit gefunden zu haben. Gemeinsam wildern sie und bringen die Beute den Ärmsten. Bald spricht das ganze Land über das ungleiche Paar, das von den Armen verehrt wird. Der Obrigkeit dagegen ist jedes Mittel recht, die Rebellion der beiden zu brechen.

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Seitenzahl: 332

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Monika Bittl

Freiwild

Roman

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Inhaltsübersicht

Nach dem Leben der [...]»Das Geheimnis der Freiheit [...]24. MaiRede der Therese Pritzl am 24. Mai 1854 vor dem Straubinger GerichtAktennotiz des Königlichen Gerichtsbeobachters Xaver Meierhuber am 24. Mai 1854 zu StraubingLa Presse (undatiertes Fundstück/ übersetzt aus dem Französischen)Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 24. Mai 1854Aussage des Michael Heigl vor dem Straubinger Gericht am 25. Mai 1854Aussage des Lehrers A.Stifter vor dem Straubinger Gericht am 25. Mai 1854Aussage der Annamirl Leitner vor dem Straubinger Gericht am 25. Mai 1854La Presse (undatiertes Fundstück/ übersetzt aus dem Französischen)Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 25. Mai 1854Aktennotiz des Königlichen Gerichtsbeobachters Xaver Meierhuber am 26. Mai 1854 zu StraubingTagebucheintrag der Therese Pritzl am 27. Mai 1854Aussage der Annamirl Leitner vor dem Straubinger Gericht am 29. Mai 1854Aussage des Pfarrers Kaltbichler am 29. Mai 1854Aussage des Lehrers A.Stifter vor dem Straubinger Gericht am 30. Mai 1854Aussage der Annamirl Leitner vor dem Straubinger Gericht am 30. Mai 1854Postkarte mit Zeichnung der Freiheitsstatue von New York, abgestempelt 1843Aussage des Ramsrieder Alois vor dem Straubinger Gericht am 31. Mai 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl (undatiert)Aussage des Pfarrers Kaltbichler am 1. Juni 1854Aussage des Michael Heigl vor dem Straubinger Gericht am 2. Juni 1854Aktennotiz des Königlichen Gerichtsbeobachters Xaver Meierhuber am 2. Juni 1854 zu StraubingRede der Therese Pritzl am 5. Juni 1854 vor dem Straubinger GerichtLa Presse (undatiertes Fundstück/ übersetzt aus dem Französischen/ der erste Teil des Artikels fehlt)Aussage des Ramsrieder Alois vor dem Straubinger Gericht am 5. Juni 1854Aussage der Annamirl Leitner vor dem Straubinger Gericht am 6. Juni 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 6. Juni 1854Aussage des Pfarrers Kaltbichler am 6. Juni 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 7. Juni 1854Aussage der Annamirl Leitner vor dem Straubinger Gericht am 7. Juni 1854Brief der Res an Annamirl Leitner aus München vom 27. Juli 1847La Presse (undatiertes Fundstück/ übersetzt aus dem Französischen)Aussage der Annamirl Leitner vor dem Straubinger Gericht am 7. Juni 1854Aussage des Ramsrieder Alois vor dem Straubinger Gericht am 7. Juni 1854Aussage des Lehrers A.Stifter vor dem Straubinger Gericht am 7. Juni 1854Brief der Annamirl Leitner nach München an die Res vom 10. August 1847Aussage des Ramsrieder Alois vor dem Straubinger Gericht am 8. Juni 1854Brief der Annamirl Leitner nach München an die Res vom 20. Oktober 1847Brief der Res an Annamirl Leitner aus München vom 20. Oktober 1847Aussage des Pfarrers Kaltbichler am 8. Juni 1854Brief der Res an Annamirl Leitner aus München vom 23. Oktober 1847La Presse (undatiertes Fundstück/ übersetzt aus dem Französischen)Aktennotiz des Königlichen Gerichtsbeobachters Xaver Meierhuber am 8. Juni 1854 zu StraubingBrief der Res an Annamirl Leitner aus München vom 14. Februar 1848Brief des Königlichen Gerichtsbeobachters Xaver Meierhuber am 8. Juni 1854 an König Maximilian II.Aussage des Michael Heigl vor dem Straubinger Gericht am 8. Juni 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 8. Juni 1854Brief des Nepomuk an Res aus Leipzig vom 31. März 1848Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 9. Juni 1854Aussage der Anna Gruber vor dem Straubinger Gericht am 9. Juni 1854Aussage der Annamirl Leitner vor dem Straubinger Gericht am 9. Juni 1854Aussage des Ramsrieder Alois vor dem Straubinger Gericht am 12. Juni 1854Rede der Therese Pritzl am 12. Juni 1854 vor dem Straubinger GerichtTagebucheintrag der Therese Pritzl am 12. Juni 1854Aussage der Anna Gruber vor dem Straubinger Gericht am 12. Juni 1854La Presse (undatiertes Fundstück/ übersetzt aus dem Französischen)Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 13. Juni 1854Erster Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 7. August 1848Aktennotiz des Königlichen Gerichtsbeobachters Xaver Meierhuber am 14. Juni 1854 zu StraubingAussage der Annamirl Leitner vor dem Straubinger Gericht am 15. Juni 1854Aussage des Lehrers A.Stifter vor dem Straubinger Gericht am 15. Juni 1854Aussage des Ramsrieder Alois vor dem Straubinger Gericht am 15. Juni 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 10. August 1848Aussage des Pfarrers Kaltbichler am 16. Juni 1854Aussage der Annamirl Leitner vor dem Straubinger Gericht am 16. Juni 1854Aussage des Lehrers A.Stifter vor dem Straubinger Gericht am 16. Juni 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 19. August 1848Aussage der Anna Gruber vor dem Straubinger Gericht am 16. Juni 1854Aussage des Pfarrers Kaltbichler am 16. Juni 1854Rede der Therese Pritzl am 19. Juni 1854 vor dem Straubinger GerichtLa Presse (undatiertes Fundstück/ übersetzt aus dem Französischen)Aussage des Ramsrieder Alois vor dem Straubinger Gericht am 19. Juni 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 4. September 1848Aussage des Regierungskommissars Christoph vor dem Straubinger Gericht am 19. Juni 1854Aussage der Annamirl Leitner vor dem Straubinger Gericht am 20. Juni 1854Brief des Regierungskommissars Christoph an Minister Denhagen vom 8. November 1848Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 27. April 1849Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 1. Mai 1849Brief des Regierungskommissars Christoph an Minister Denhagen vom 28. April 1849Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 4. Mai 1849Aussage des Pfarrers Kaltbichler am 20. Juni 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 13. Juli 1849Brief des Königlichen Gerichtsbeobachters Xaver Meierhuber vom 21. Juni 1854 an König Maximilian II.Aussage des Lehrers A.Stifter vor dem Straubinger Gericht am 23. Juni 1854Rede der Therese Pritzl am 23. Juni 1854 vor dem Straubinger GerichtTagebucheintrag der Therese Pritzl am 17. Juli 1849Aussage des Regierungskommissars Christoph vor dem Straubinger Gericht am 23. Juni 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 21. Juli 1849Aussage des Lehrers A.Stifter vor dem Straubinger Gericht am 26. Juni 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 21. Juli 1849La Presse vom 1. Juli 1854 (übersetzt aus dem Französischen)Aussage des Lehrers A.Stifter vor dem Straubinger Gericht am 26. Juni 1854Aussage der Anna Gruber vor dem Straubinger Gericht am 26. Juni 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 24. März 1850Aussage des Ramsrieder Alois vor dem Straubinger Gericht am 26. Juni 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 26. Juni 1854Aktennotiz des Königlichen Gerichtsbeobachters Xaver Meierhuber am 26. Juni 1854 zu StraubingBrief der Res an den Nepomuk vom 14. Mai 1850Brief des Nepomuk an die Res vom 27. Mai 1850Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 27. Juni 1854Aussage des Regierungskommissars Christoph vor dem Straubinger Gericht am 27. Juni 1854La Presse vom 14. Juli 1854 (übersetzt aus dem Französischen)Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 12. Juli 1854Aktennotiz des Königlichen Gerichtsbeobachters Xaver Meierhuber am 13. Juli 1854 zu StraubingAussage des Regierungskommissars Christoph vor dem Straubinger Gericht am 14. Juli 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 1. August 1850Aussage des Ramsrieder Alois vor dem Straubinger Gericht am 14. Juli 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 14. Juli 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 4. September 1850Aussage des Regierungskommissars Christoph vor dem Straubinger Gericht am 15. Juli 1854Aussage des Ramsrieder Alois vor dem Straubinger Gericht am 17. Juli 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 20. September 1850Aussage des Pfarrers Kaltbichler am 17. Juli 1854Aussage des Regierungskommissars Christoph vor dem Straubinger Gericht am 17. Juli 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 17. Juli 1854Aussage des Michael Heigl vor dem Straubinger Gericht am 18. Juli 1854Aussage der Anna Gruber vor dem Straubinger Gericht am 18. Juli 1854Aussage der Therese Pritzl vor dem Straubinger Gericht am 18. Juli 1854La Presse (undatiertes Fundstück/ übersetzt aus dem Französischen)Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 21. Februar 1851Aussage des Lehrers A.Stifter vor dem Straubinger Gericht am 19. Juli 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 23. Februar 1851Brief des Xaver Meierhuber am 21. Juli 1854 zu Straubing an KönigMaxmilian II.Brief von König Maximilian II. an Therese Pritzl vom 23. Juli 1854Rede der Therese Pritzl am 25. Juli 1854 vor dem Straubinger GerichtAussage des Ramsrieder Alois vor dem Straubinger Gericht am 25. Juli 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 21. Juli 1854Aussage des Lehrers A.Stifter vor dem Straubinger Gericht am 24. Juli 1854Aussage des Regierungskommissars Christoph vor dem Straubinger Gericht am 24. Juli 1854Aussage der Annamirl Leitner vor dem Straubinger Gericht am 24. Juli 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 9. Juli 1851Brief des Wirtssohns Basti an die Res (undatiert), ungeöffnet und nicht abgeschickt vorgefundenAussage der Annamirl Leitner vor dem Straubinger Gericht am 25. Juli 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 25. Juli 1854La Presse (undatiertes Fundstück/ übersetzt aus dem Französischen)Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 20. Juli 1851Aussage des Pfarrers Kaltbichler am 25. Juli 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 9. August 1851Aussage der Annamirl Leitner vor dem Straubinger Gericht am 26. Juli 1854Aussage des Lehrers A.Stifter vor dem Straubinger Gericht am 26. Juli 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 26. Juli 1854La Presse (undatiertes Fundstück/ übersetzt aus dem Französischen)Aussage des Ramsrieder Alois vor dem Straubinger Gericht am 27. Juli 1854Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 27. Juli 1854Aktennotiz des Königlichen Gerichtsbeobachters Xaver Meierhuber am 27. Juli 1854 zu StraubingAussage des Michael Heigl vor dem Straubinger Gericht am 28. Juli 1854Brief der Annamirl an die Res vom 28. Juli 1854Rede der Therese Pritzl am 29. Juli 1854 vor dem Straubinger GerichtLa Presse vom 7. August 1854 (übersetzt aus dem Französischen)Brief des Königlichen Gerichtsbeobachters Xaver Meierhuber am 7. August 1854 an König Maximilian II.Brief der Res an die Base Loni vom 9. Januar 1855La Presse (undatiertes Fundstück/ übersetzt aus dem Französischen)Brief des Basti an die Res vom 22. Dezember 1904Danksagung

Nach dem Leben der Therese Pritzl, genannt die Rote Res.

 

 

 

 

 

 

»Das Geheimnis der Freiheit ist Mut.«

(Perikles)

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Vorwort

Am 24. März 2012 kämpfte meine einundzwanzigjährige Tochter Kathi auf einer Lichtung des Bayerischen Waldes um ihr Überleben. Ich lag bewegungsunfähig neben ihr und »sah« dabei eine Geschichte, die wie ein Film ablief. Wenn meine Tochter überlebte, so gelobte ich voller Angst, würde ich dieses Gesicht so wahrheitsgemäß wie möglich aufschreiben. Bis heute ist weder uns noch Ärzten noch verschiedenen Wissenschaftlern erklärlich, was genau passierte. Dass es sich bei dem »Unfall« nicht um reine Einbildungen handelte, dokumentieren die Fotos unserer Verletzungen und die Blutwerte, die man kurz nach unserem Auffinden feststellte.

 

An diesem warmen Frühlingstag des Jahres 2012 wollte ich gerade zu einem wichtigen beruflichen Termin bei meiner Kollegin Michaela Karl in den Bayerischen Wald aufbrechen, als meine Tochter Kathi überraschend vor der Tür stand. Seit Monaten war das Verhältnis zu meiner Tochter angespannt, da Kathi meiner Meinung nach ihr Studium vernachlässigte, seitdem sie sich einer neuen politischen Gruppierung angeschlossen hatte. Ihr Kommen fasste ich als einen ersten Schritt auf mich zu auf – aber ausgerechnet an diesem Tag stand ein »Karriereschritt« mit dem Treffen der Kollegin an. Um berufliches Fortkommen und eine Annäherung an meine Tochter unter einen Hut zu kriegen, lud ich Kathi zu einer gemeinsamen Wanderung in der Nähe von Michaela Karls Wohnort ein und verschob das Meeting um drei Stunden.

 

Im Auto zeigte mir Kathi ihr neues Handy, ein iPhone. »Da ist übrigens auch ein Kompass drin, falls wir uns im Urwald verlaufen«, scherzte sie. Der Weg führte uns in die Nähe des Kaitersbergs, wir beschlossen spontan, dort anzuhalten, ich parkte den Wagen am Straßenrand, und wir schlugen einen ausgeschilderten Wanderweg ein. Nach rund zehn Gehminuten durch den Mischwald stöhnte Kathi: »Der Weg ist so langweilig, Mama, komm schon, wir gehen direkt nach oben!«

 

Über Moos und altes Laub, zwischen Gestrüpp und Felsvorsprüngen und unter alten Bäumen wanderten wir steil nach oben. Ich brauchte ab und zu eine Atempause, Kathi schien mir wie ein Reh davonzuspringen und sich an der Bewegung zu freuen. Plötzlich war sie hinter einem Kamm verschwunden und rief auch nicht mehr nach mir: »Mama, du Schnecke, komm schon!«

 

Nahe eines Höhleneingangs, hinter dem Kamm, sah ich mein Mädchen reglos in einer Mulde liegen. Ich rannte zu ihr, rief »Kathi, Kathi!«, packte sie an den Schultern, schüttelte sie – und verlor im nächsten Moment selbst das Bewusstsein. Dabei entsprach mein Zustand nicht einer »normalen Ohnmacht«, sondern ich wurde immer wieder für Sekunden wach, konnte die Augen öffnen, meine Tochter spüren und eine Amsel ganz bei uns in der Nähe sitzen sehen. Ich bemerkte, dass es Nacht wurde, sah kurz den Sonnenaufgang am nächsten Tag, empfand weder Durst noch Hunger noch Kälte und fühlte deutlich, dass Kathi ebenfalls lebte.

Kathis iPhone war bei ihrem Sturz so gefallen, dass es in meinem Blickwinkel am Rande der Mulde lag. In den Minuten meines Wachseins sah ich auf dem Handy einen Film ablaufen, manche Szenen wiederholten sich, manche zogen nur flüchtig vorbei. Die Menschen, Häuser und Werkzeuge muteten altertümlich an. Man fuhr noch mit Pferdegespannen, leuchtete mit Kerzen und wusch Wäsche in einem Fluss. Wild wurde mit altertümlichen Gewehren geschossen, mit Sensen Gras gemäht, und barfüßige Kinder kritzelten etwas auf Schiefertafeln.

Irgendwann einmal, während ich kurz sogar sprechen konnte, sagte ich zur Amsel: »Wenn Kathi überlebt, dann erzähle ich diese Geschichte allen!« Die Amsel schien mir daraufhin zu nicken.

 

Mein Mann alarmierte die Polizei, man fand unseren geparkten Wagen, Suchtrupps wurden losgeschickt, doch auch eine Ortung via Handy und Wärmebildkamera führte nicht zu uns. Schließlich fiel den Rettungskräften ein seltsames Verhalten von Waldtieren auf. Füchse, Rehe und andere scheue Tiere wie Eichhörnchen und verschiedene Vögel näherten sich gemeinsam den Rettungsmannschaften und stoben dann wieder in eine bestimmte Richtung davon. Nach einigen Stunden ließen sich die Männer auf das eigenartige Naturschauspiel ein und verfolgten die Richtung der Tiere – sie hatten ihnen tatsächlich den Weg zu unserer Mulde gezeigt.

 

Bis heute ist weder Ärzten noch Psychologen erklärlich, warum wir beide mitten in dieser Mulde umkippten und in diesen Zustand fielen. Mehr als achtundvierzig Stunden lagen wir, Kathi mit dem Tode ringend, auf altem Laub und Moos. Wir wurden – immer noch im Dämmerzustand – ins Krankenhaus gebracht. Dort wachten wir schließlich mit äußeren Verletzungen wie Schnittwunden und blauen Flecken auf. Einige Blutwerte bestätigten die Bewusstlosigkeit, andere die extreme psychische Stresssituation.

 

Sobald ich wieder etwas zu Kräften gekommen war, begann ich noch im Krankenhaus, die gesehenen Szenen stichpunktartig aufzuschreiben, um nur ja nichts zu vergessen. Doch ich merkte bald, dass dies gar nicht nötig war, denn der »Film« hatte sich in mein Gehirn eingebrannt. Während mein Mann und Freunde meiner Erzählung zwar glaubten, aber doch etwas Phantastisches darin sahen, blieb meiner Kollegin Michaela Karl bald nach den ersten Sätzen der Schilderung fast der Mund offen stehen. »Du hast die Geschichte der Roten Res gesehen!«, wusste sie. »Das war eine Räuberin, eine Sozialrebellin, im 19. Jahrhundert im Bayerischen Wald, die bei uns noch in alten Geschichten lebt.«

 

Nach meiner vollständigen Genesung machte ich mich wieder auf den Weg in den Bayerischen Wald, um nach der Roten Res zu forschen. Über Monate suchte ich verwandte Nachfahren der Res, durchblätterte Kirchenregister, durchstöberte Archive der Gegend und in München, wälzte Gerichtsakten in Bad Kötzting und Straubing und flog nach Paris, um Zeitungsartikel zu kopieren. Ich fand eine Fülle an Material, darunter Briefe, Protokolle, Zeitungsausschnitte, ein Tagebuch und Gerichtsakten.

 

Je länger ich mich in das Leben der Res vertiefte, desto mehr verstand ich die Beweggründe meiner Tochter Kathi, mit ihrer politischen Gruppe für eine gerechtere Welt zu kämpfen. Inhaltlich drängen sich regelrechte Parallelen auf, wenn Kathi heute von einer »neuen Bevormundung und Entmündigung der Bürger«, einem »Rückfall in ein parareligiöses Zeitalter« oder einem »Ausverkauf der Freiheit« spricht. Heute glaube ich zu wissen, dass die Mutter der Res mir dieses »Gesicht« erscheinen ließ, damit ich mich wieder hinter meine Tochter stelle, egal, wie ich nun inhaltlich zu ihren Ansichten stehe. Kathi und ich sind uns seither wieder innig verbunden.

 

Hiermit löse ich mein Versprechen ein und erzähle die Geschichte der Therese Pritzl, genannt die »Rote Res«. Da sich so viele Quellen fanden, können die Zeitzeugnisse für sich selbst sprechen und bedürfen keiner Ergänzung meines »eigenen Films«. Von dem gesichteten Material habe ich etwa ein Drittel verwendet, um Wiederholungen zu vermeiden. Ich ordnete nicht streng chronologisch, sondern stellte die Dokumente im Sinne einer schlüssigen Abfolge und guten Lesbarkeit zusammen. Heute nicht mehr geläufige Ausdrücke ersetzte ich teilweise durch zeitgemäße Wendungen.

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Rede der Therese Pritzl am 24. Mai 1854 vor dem Straubinger Gericht

Die Freiheit ist keine luxuriöse Dame, die nachmittags mit Sonnenschirm durch einen Park spaziert. Sie ist keine dicke Bürgerin, die mit spitzen Fingern im Tee rührt. Aber sie ist auch keine Bettlerin, der man ein paar Almosen zuwirft.

 

Die Freiheit ist deine Schwester! Ihr habt die gleiche Mutter Erde und das gleiche Vaterland. Die Freiheit ist deine Schwester, die sie jagen und verfolgen, um ihr Gewalt anzutun. Eine Hure sei sie, erzählen die Häscher den Leuten. Ein unanständiges Luder heißt sie die Obrigkeit. Und die Pfarrer verdammen sie als tief gefallene Sünderin und erklären die Demut zur Heiligen.

 

Deine Schwester, ein kleines, zierliches Weib, jagt man durch die Wälder. Man hetzt Spürhunde auf sie und will das Haus ihrer Eltern anzünden, damit sie ihr Versteck verraten. Kopfgeld hat man auf sie ausgesetzt, mit allen Mitteln will man sie fassen. Warum nur?

 

Die Freiheit ist kein Zustand, sondern ein Verlangen. Sie wiegelt die Unteren gegen die Oberen, die Weiber gegen die Männer, die Lämmer gegen die Wölfe auf. Sie begehrt noch mehr auf als die Liebe. Sie lässt sich nichts diktieren und wagt alles zu denken – das kleine, zierliche Weib, deine Schwester, ist der Obrigkeit gefährlicher als die Liebe, weil sie nicht nur für sich ein Recht einfordert, sondern für alle Menschen. Und weil sie notfalls zur Waffe greift. Sie wird gehasst und verfolgt, weil sie lacht und lebenslustig tanzt, weil sie aus der Heerschar der Untertanen einzelne Menschen macht, große und kleine, dicke und dünne, bucklige und gerade. Die Freiheit kann euch einen, euch Geknechtete da draußen, und genau das fürchten die Mächtigen wie die Pest, die Cholera und den Teufel zusammen. Denn jetzt eint euch Schafherde nur ein Hirte, der euch für dumm verkauft, auf euch aufpasst und euch nach Gutdünken schlachtet und opfert. Wie die Schafe blökt ihr dumm, wenn jemand aus der Herde ausschert. Seht ihr denn nicht, dass ihr nur das Bellen der Hunde schlecht nachahmt? Merkt ihr denn nicht, dass man euren Kleinmut nur züchtet, um euch zu willfährigen Opfern zu machen? Spürt ihr denn nicht die Verlogenheit der Gebote, mit der man euch einredet, ihr wäret schlechte Menschen, aber gute Schafe?

 

Die Freiheit ist kein unsichtbarer Geist, sondern eure Schwester. Sie hat zur Waffe gegriffen, damit ihr die Wahrheit sagen dürft, auch wenn ihr schlecht gekleidet seid. Damit alle Brot bekommen und nicht nur ein paar Herrscher Kuchen. Damit ihr Menschen sein dürft und nicht nur Sklaven.

 

Die Freiheit, eure Schwester, mögt ihr lange nicht mehr gesehen haben. Sie versteckt sich im Wald, reißt sich Beine und Arme an Hecken blutig, den Häschern entfliehend. Eure Schwester besucht euch und die Eltern nicht mehr, um sich nicht in Gefahr zu bringen. Sie haust in einer Höhle, lässt sich verleumden, ernährt sich von Beeren und Pilzen und wildert, um zu überleben. Sie nimmt sich von der Natur, was ihr zusteht – und ihr schimpft sie Hure deshalb? Noch hat sie bloß ein Messer in der Hand. Aber, fürchtet euch, ihr Pharisäer, sie wird eines Tages noch eure Paläste abfackeln. Denn ihr könnt sie jagen, vergewaltigen und foltern. Aber ihr könnt sie nicht töten, denn ihre Idee ist unsterblich.

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Aktennotiz des Königlichen Gerichtsbeobachters Xaver Meierhuber am 24. Mai 1854 zu Straubing

Die Angeklagte Therese Pritzl erschien um 7.03 Uhr in Begleitung zweier Gendarmen in Handfesseln vor dem Hohen Gericht. Ihr Erscheinen bestätigte die Ratscherei der Weiber. Sie ist von kleiner, knabenhafter Gestalt, hat Sommersprossen, wild gelockte rote Haare, sieht etwas älter als zweiundzwanzig Jahre aus und redet wirres Zeug über »Freiheit« daher. Anstatt zu ihren Personalien Stellung zu nehmen, hob sie den Kopf mit den grünen Augen auffällig hoch, stellte sich auf einen Stuhl im Saal und schwang Reden, wie sie einem Mannsbild von höherem Stand nicht anstehen würden. Nur der elendigen Geduld des vorsitzenden Richters ist es zu verdanken, dass man sie nicht zur Räson gerufen hat.

 

Die stinkenden, erbärmlich gekleideten Tagelöhner und Häusler im Gerichtssaal konnte sie damit auch nicht beeindrucken, weil sogar dieses einfache Drecksgesindel ihre offenbar wohlfeil vorbereitete Rede als das verstand, was es ist: wirres Zeug einer ehrlosen, verkommenen Person, auf die meiner Meinung nach zu Recht die Strafe durch Erhängen wartet. Zwar hat das Gesinde geklatscht am Ende der wirren Ansprache, aber kapiert hat das keiner. Eure Majestät, mein König, wenn dieses Weibsbild, das vor einigen Jahren noch auf den Hexen-Bänken der heiligen Inquisition gelandet wäre, endlich eliminiert ist, dann kehrt auch in unserem wunderschönen Bayern-Land wieder eine Ruhe ein, und diese aufständischen Waldler werden nicht mehr aufmucken oder gar noch andere mit ihrer ungehörigen Auflehnung anstecken.

 

Erst morgen soll der Spießgeselle der Res, der Michael Heigl, vernommen werden. Weil der aber weder lesen noch schreiben kann, wird der bestimmt keine solchen Reden schwingen. Und die Vernehmungen wurden so terminiert, dass sich die Res und der Heigl nicht treffen vor Gericht. Wie Eurer Majestät bekannt, ist der Heigl ja schon einmal aus einem Gerichtssaal geflohen. Nicht, dass noch eintritt, was so ein Schmierfink in einem französischen Blatt geschrieben hat: »Gelingt dem schönen Räuberpaar wieder die Flucht?« Persönlich angemerkt sei deshalb noch von mir, dass es äußerst weitsichtig war, diese sogenannte Pressefreiheit nach 1848 wieder einzuschränken! Sonst würden diese Liberalen auch heute wieder die Leute so richtig aufwiegeln können!

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La Presse (undatiertes Fundstück/ übersetzt aus dem Französischen)

Straubing: Wir berichten aus einem der entlegensten Winkel der zivilisierten Welt, dem Bayerischen Wald. Hier scheint die Zeit still gestanden zu sein. Liberale Gesetze, die 1848 anderswo erkämpft wurden, nahm man scheibchenweise wieder zurück oder ließ sie sich teuer abkaufen, wie das Jagdprivileg, das sich nur reiche Bauern leisten können. Hier aber hat ganz offensichtlich noch nicht einmal die kurze Blütezeit der Freiheit stattgefunden. So kommt es, dass auch heute noch Fürsten die Ernte der Bauern, Häusler und Tagelöhner niederreiten. Die Privilegierten gehen auf Treibjagd mit ihren Pferden und zerstören dabei nicht nur das Korn der hungerleidenden Bevölkerung, sondern bringen mit ihrer Gier nach Wild auch das natürliche Gleichgewicht des Tierbestands durcheinander. Hirsche, Rehe und Kleinwild dürfen sich blindlings vermehren und fressen den Menschen die Nahrung vom Acker, damit die Fürsten mit ihren Schüssen zur Jagdsaison ihre Erfolgserlebnisse haben. Keiner vom unteren Stand darf Fallen legen oder sich schießen, was die Natur dem Menschen eigentlich zur Verfügung stellt. Mehr noch: Die Hungernden müssen tatenlos zusehen, wenn das Wild ihre Nahrung wegfrisst.

 

Auf Wilderei stehen schwere Strafen, und doch greifen die armen Leute, vor allem junge Burschen, immer wieder zur Waffe und versorgen ihre Familien mit Fleisch.

Ein besonderer Fall wird jetzt vor dem Straubinger Gericht verhandelt: Eine junge Frau, genannt die Rote Res, hat jahrelang mit ihrem Gefährten, Michael Heigl, gewildert und den Armen Fleisch gebracht. Mehr noch: Das Paar hat Reiche bestohlen, Arme immer wieder beschenkt und lebte jahrelang versteckt in den Wäldern. Damit wurde ein ganzer Landstrich in Aufruhr versetzt, und der nun eröffnete Prozess gerät zu einem königlich-bayerischen Politikum. Mit aller Härte soll gegen die beiden verhandelt werden, um andere Rebellen abzuschrecken. Vor dem Gerichtssaal kam es zu kleinen Tumulten, weil Menschen in zerrissener Kleidung Einlass begehrten, aber nicht genügend Zuschauerplätze zur Verfügung standen. Das einfache Volk hier – die meisten sind Analphabeten – interessiert vor allem die Frage, wer die beiden verraten hat. Denn die Belohnung in Höhe des fünffachen Jahreslohnes eines Knechtes (»Judasgeld« hier genannt) wurde ausbezahlt.

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Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 24. Mai 1854

Heigl, sie wollen uns nicht zusammen in den Gerichtssaal lassen! Aber ich wünschte nichts mehr, als dich und die Kinder zu sehen, zu berühren, zu küssen … ich weine und weine, sobald kein Wärter in der Nähe ist … sollen sie mich hinrichten, sollen sie mich köpfen, sollen sie tun, was sie wollen, aber einmal noch möcht ich dich sehen, dich und die Kinder! … Oh nein, ich darf mich nicht versündigen, würdest du sagen, ich weiß doch!

Aber ich werde auf eine Taktik sinnen, wie man uns zusammenbringen muss. Und du wirst beten, ich weiß schon.

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Aussage des Michael Heigl vor dem Straubinger Gericht am 25. Mai 1854

Ich sag gar nix, als bis die Res net da ist.

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Aussage des Lehrers A.Stifter vor dem Straubinger Gericht am 25. Mai 1854

Ich habe mir erlaubt, für das Hohe Gericht eine kleine Beschreibung unserer Heimat zu verfassen:

Fichten, Tannen, Erlen, Kiefern, Weiden, Eschen, Weiden und zittrige Espen, und noch viele Baumarten mehr bewohnen vom Tal bis zu den Höhenlagen den Bayerischen Wald. Sträucher und Pflanzen wie Himbeeren, Geißkraut, Weidenröschen, Roter Holunder, Türkenbund und zahlreiche Farnarten füllen die majestätischen Hochwaldbäume mit herb-buntem Leben und zaubern mit Moos, Hochmooren, Bächen, versteckten Höhlen und kleinen Seen einen saftig-grünen Urwald von wildromantischer Schönheit. Einige Einödhöfe, wenige Dörfer und noch weniger Städte rang der Mensch diesem Stück Natur ab. Ach, es wohnet unsäglich viel Liebes und Wehmütiges in diesem Anblicke … der uns in der stillen Betrachtung unserer Nöte zu entreißen vermag.

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Aussage der Annamirl Leitner vor dem Straubinger Gericht am 25. Mai 1854

Ja, seit dreißig Jahr bin ich beim Ramsrieder-Bauern in Stellung, und da hab ich eigentlich alles mitgekriegt. Genauso wie der Sepp, mein Mann. Ich wüsst niemanden, der so lang wie der Sepp und ich bei einem Bauern in Stellung ist, da kann sich doch jeder selbst zusammenreimen, dass der Ramsrieder ein guter Bauer ist, wenn er jetzt auch im Sterben liegt, daheim im Bett. Und deshalb sind wohl der Sepp und ich zur Aussage geladen worden, denn wir sind doch bloß Gesinde. Also, die Res, die ist … nein, da muss ich noch früher anfangen, lang bevor die Res auf der Welt war.

 

Der Sepp und ich haben ja ganz jung heiraten können, weil der Sepp was geerbt hat, von einem weitläufigen Verwandten. Und da haben wir das Hochzeitsgeld schon in jungen Jahren zusammen gehabt und haben beide beim Ramsrieder die Stellung gleich nach der Hochzeit bekommen. Und kurz darauf ist der Heigl Michael auch zum Ramsrieder gekommen, als Hüterbub. Der Vater vom Heigl war ein armer Köhler, mit einer ganz einfachen Hütte am Waldrand, da ist es üblich, dass die Kinder schon mit zwölf, und nicht erst mit vierzehn, zum Arbeiten geschickt werden. Freilich meist als Hüterbuben, weil für richtige Arbeit wie Holzfällen sind sie dann doch noch zu zart. Obwohl der Heigl schon als Bub auffällig kräftig gewesen ist. Mit der bloßen Hand hat er mir damals schon einmal einen Pflock aus dem Boden gezogen, wo andere eine Axt gebraucht hätten. Und das schlaue Geschau mit diesem Adlerblick hat er auch damals schon gehabt.

Dem alten Ramsrieder hat der kräftige Heigl gleich gefallen. Wer kriegt schon einen so starken und schlauen Hüterbub? Und da war bald der Alois, der älteste Sohn vom Ramsrieder, der fast genauso alt war wie der Heigl, auf den Hüterbub eifersüchtig. Und wie der alte Ramsrieder dann seinem Alois und dem Heigl gleichzeitig das Schießen gezeigt hat und der Heigl sofort ein so vortrefflicher Schütze geworden ist, da hat der Heigl dann beim Essen neben dem Bauern sitzen dürfen, und nicht sein Sohn Alois. Ich kann mich noch gut an die giftigen Blicke erinnern, nicht bloß vom Alois, sondern auch von der Ramsrieder-Bäuerin. Dabei hat der alte Ramsrieder seinem Buben doch bloß zeigen wollen, dass er sich mehr anstrengen soll. Als ob Blut nicht dicker als Wasser wär. Doch da war schon der Keim für all das angelegt, was später noch passiert ist.

 

Irgendwann ist der Ramsrieder dann nicht mehr mit zum Wildern gegangen, sondern hat die Jungen alleine ziehen lassen. Meistens sind sie am frühen Abend oder gleich nach Sonnenaufgang losgezogen. Der Boden bei uns knarrt ja so, dass man immer gehört hat, wenn einer die Kellertreppe hinunter ist und aus dem Verschlag im Boden ein Schießgewehr geholt hat. Denn der Ramsrieder hat damals drei Waffen gehabt, glaub ich, auf jeden Fall zwei Zwillinge. Fallen haben die beiden Burschen nie gestellt, das wär unter ihrer Ehre gewesen. Dabei ist das Fallenstellen ja viel ungefährlicher, weil die Jäger die Schüsse nicht hören und so die Burschen weniger auf frischer Tat ertappt werden können. Es war ein offenes Geheimnis, dass der Heigl und der Ramsrieder Alois miteinander zum Wildern gegangen sind. Beide haben sich dazu auch immer fesch angezogen, der Heigl mit Hut und der Alois mit einer Lederweste. Das erlegte Wild – meistens Hasen übrigens und selten Rehe oder Hirsche – haben sie dann mitten in der Nacht oder in der darauffolgenden heimgebracht.

 

Ich hab mir immer gedacht, der Krug, der geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Weil die zwei ja gar keine Vorsicht mehr haben walten lassen, sondern – wahrscheinlich, um die Mädchen zu beeindrucken – auch noch extra fesch zum Wildern aufgetreten sind, so dass ein jeder es sehen hat können. Und dann ist es ja auch so gekommen – die zwei sind erwischt worden. Das heißt, die Jäger haben sie nicht direkt erfasst, sondern sind in aller Herrgottsfrüh ins Haus gestürmt und haben dann das erlegte Reh gefunden. Und da ist der alte Ramsrieder seelenruhig aufgestanden und hat gesagt: »Nehmt’s mich mit, ich büß schon dafür.« Die Ramsriederin hat dazu gesagt: »Aber was machst denn da? Das war der Heigl!« Da hat der Ramsrieder sie ganz bös angeschaut und gesagt: »Halt’s Maul, du Weib!« Und keiner hat sich daraufhin mehr was sagen traut, und die Jäger haben den Ramsrieder-Bauern mitgenommen, und daraufhin ist er ja, das muss hier sowieso aktenkundig sein, zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Fünf Jahre! Weil man ihm die ganzen anderen Wildereien der Gegend einfach auch noch dazugerechnet hat. Alles hat man auf den Ramsrieder geschoben, und der hat nicht widersprochen.

 

Bis heute ist nicht klar, wer von den beiden Burschen damals wirklich geschossen hat, aber weil der Heigl der bessere Schütze war, wird er es wohl gewesen sein, und der alte Ramsrieder hat also die Schuld nicht für seinen Sohn, sondern für den Heigl auf sich genommen.

 

Einen Tag nachdem der Ramsrieder verurteilt worden ist, hat der Heigl den Hof verlassen, da muss er sechzehn gewesen sein. Ich seh ihn noch vor mir, wie er mit einem Wanderstab und einem Bündel aus dem Haus gegangen ist. Die Ramsriederin hat ihm leise hinterhergeflucht, was auch verständlich ist. Schließlich hat der Hof jetzt fünf Jahre ohne Bauern auskommen müssen. Der Sepp, mein Mann, hat als erster Knecht zwar versucht, ihn so gut wie möglich zu ersetzen. Aber ein Bauer bleibt halt ein Bauer, und ein Knecht doch bloß ein Knecht. Die Ramsriederin hat über die Rührseligkeit geflucht, für einen anderen in den Kerker zu gehen. Und irgendwann, wie der Heigl unter den leisen Flüchen der Bäuerin vom Hof gegangen ist, da hat er sich noch einmal umgedreht, seinen Hut ein Stück nach hinten geschoben und hat einen Blick zu uns her geworfen, dass einem ganz gruselig geworden ist. Nein, das war kein böser Blick, aber so einer, der einem durch Mark und Bein gegangen ist, da hat man richtig gespürt, in dem geht was vor, der ist zu allem entschlossen. Und zur Ramsriederin hat er gesagt: »Bei euch mach ich’s wieder gut. Aber die andern sollen mich kennenlernen.«

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La Presse (undatiertes Fundstück/ übersetzt aus dem Französischen)

Straubing: Auch am zweiten Prozesstag war der Verhandlungssaal in Straubing überfüllt. Knechte, Mägde, Tagelöhner, Häusler in abgerissener Kleidung, Bauern im Wamst, Vertreter der örtlichen Presse, ein in Frack gekleideter königlicher Beobachter und andere Neugierige drängten sich zu den Bänken und Stühlen. Rund fünfzig Personen fanden Platz. Da es hierzulande nicht üblich ist, sich zu waschen, stank es bald im ganzen Saal, und der Richter ließ alle Fenster öffnen.

 

Michael Heigl wurde in doppelten Fußketten, bewacht von vier Gendarmen, hereingeführt. Der Räuber ist ein wahrer Hüne, zwei Köpfe größer als ein durchschnittlicher Mann der Gegend und von untersetztem, muskulösem Körperbau. Selbst nach der mehr als halbjährigen Untersuchungshaft sieht man seine Bärenkräfte sich noch durch das Hemd spannen. Seine Gesichtszüge sind im Augenblick der Ruhe mehr einnehmend als abstoßend. Unter einer hohen, gewölbten Stirn blitzt ein lebhaftes Auge hervor. Seine Nase ist gebogen, sein Mund ziemlich groß, aber wohlgeformt, und um seine starke Mundwinkel spielt ein Humor verratendes Lächeln. Dieser gewinnende Ausdruck des blassen Gesichtes verschwindet aber, sobald es innere Aufregung zeigt, dann bekommt sein Blick etwas Dämonisches.

 

Der vorsitzende Richter verlas vierundsechzig Anklagepunkte, fast alle beschreiben Diebstähle oder Verstöße gegen das Jagdgesetz. Heigl hat die Aussage verweigert, nur in Anwesenheit seiner Gefährtin würde er sprechen. Der Richter drohte, »keinerlei Gnade« walten zu lassen, wenn der Räuber sich nicht kooperativ zeige. Daraufhin lächelte der Rebell ironisch und schüttelte kaum merklich den Kopf. Ein paar Zuschauer im Saal riefen aus, was der Angeklagte wohl dabei dachte: »Der wird doch sowieso hing’richt.« Eine Vorverurteilung scheint für die Waldler festzustehen.

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Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 25. Mai 1854

Eine Amsel sitzt an meinem Kerkerfenster und schaut immer wieder durch die Gitterstäbe herein. Ich habe begonnen, mit ihr zu reden und ihr meine Gedanken zu erklären. Hier hocke ich auf einem lehmigen Boden, in einer Zelle mit einer Pritsche, einem Topf für die Notdurft, einem Tisch, einem Stuhl. Nur vormittags scheint für zwei Stunden die Sonne herein. Schräg fällt das Licht nach unten in meine Kellerbehausung.

Man gibt mir gut zu essen, zu trinken, und mich wundert, dass man mir das Papier und den Federhalter nicht genommen hat. Vermutlich messen nicht einmal die Juristen dem geschriebenen Wort einer vom unteren Stand Bedeutung bei. Einer Vogelfreien, hätte ich eben fast geschrieben – ach, wie schön wär es, frei wie ein Vogel zu sein. Und doch bin ich noch freier als der Heigl, dem man Fußketten angelegt hat, damit er nicht zu fliehen versucht.

 

Sogar Kerzen hat man mir gegeben für die Nacht und gestern Bücher angeboten. Ich frag mich, warum. Seit wann behandelt man eine wie mich im Kerker so menschlich? Was haben sie den Heigl früher im Gefängnis schon geschlagen und hungern lassen.

 

Ich schlafe schlecht hier, wache immer wieder auf. Drei Wünsche hätt ich, drei Wünsche, meine Amsel, trage sie doch weiter: die Kinder zu sehen, den Heigl zu sehen – und frei zu sein. Das, was alle tagtäglich für sich einlösen können, bei den Liebsten zu sein und sich frei zu bewegen – nur das ersehn ich mir, mit jedem Atemzug in dieser stinkenden Kerkerluft. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie ich mit dem Heigl, die Kinder zwischen uns an den Händen, durch unseren Wald gehe. Ich rieche die Beeren, die Pflanzen, das erdige Moos. Ein Kuckuck ruft verschlagen, hat Eier in fremde Nester gelegt. Ein Specht klopft am Baum an. Und eine Amsel sieht mich an, so wie du, mein Federtier hier.

 

Ach, noch einen kleinen Wunsch hätt ich, liebe Amsel. Trag dem lieben Gott zu, dass der Heigl lesen lernen soll. Dann könnt ich ihm Briefe schreiben. Heimlich würd ich einen Weg finden, dass er sie bekommt … Ja, ja, ich weiß schon, es ist ein kindlicher Wunsch. Ich mein es auch nicht ernst. Was für eine kleinliche Angelegenheit doch, wenn man bedenkt, dass ich bald meinen Kopf an den Tod verlieren kann.

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Aktennotiz des Königlichen Gerichtsbeobachters Xaver Meierhuber am 26. Mai 1854 zu Straubing

Auch am dritten Verhandlungstag hat der Michael Heigl wieder eine Aussage mit Hinweis auf die Anwesenheit der Res verweigert. Sachlich ruhig hat der Richter Johannes Paulsen darauf hingewiesen, dass Heigl sich damit jede Strafmilderung vergibt. Die erstaunliche Gutmütigkeit des Richters ist vielleicht auch der Tatsache zu schulden, dass der französische Schmierfink jeden Prozesstag anwesend ist, auch wenn er nicht täglich darüber berichtet. Ich halte das für eine völlig falsche Gangart, als ob wir Bayern so einen liberalen Fortschritt bräuchten, man hat ja gesehen, wohin die nationaldemokratischen Bestrebungen 1848 geführt haben, zu Aufruhr, Aufständen, ja fast zu einem Bürgerkrieg. Als ob unser Land national geeint werden sollte oder gar eine Demokratie bräuchte. Da haben sich die Aufrührler aber sauber getäuscht.

 

Sogar bis in den Bayerischen Wald und zu seinem elendigen Gesinde hat sich das herumgesprochen. Aus dem Zuschauerraum hat doch heute so ein dreckiger Häusler laut »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« gerufen, als ob so einer wüsst, was das ist. Und der französische Schmierfink hat das natürlich sofort notiert. Selbst der Heigl hat da düster fragend zu diesem Menschen hingeschaut. Soviel ich gehört habe, ist der Heigl nämlich – seiner jetzigen Sturheit zum Trotz – im Kern königstreu, wenn auch ein Verbrecher. Aber die Res ist viel schlimmer, weil sie die natürliche Ordnung der Stände bezweifelt und Demokratie fordert. Auch Arme und Reiche, Männer und Weiber sollten gleich gestellt sein – da muss ich ja fast lachen. Der Heigl ist eher ein verbrecherischer Irrläufer, der sich nicht einfügen hat können. Die Res hingegen ist von Grund auf gefährlich, weil sie ein »System« für alle Schandtaten verantwortlich macht. Sie stellt die Welt und unsere Werte auf den Kopf, und das auch noch rotzfrech. So sagte sie heute: »Der hungernde kleine Schulbub, der dem dicken Jäger ein Ei aus dem Hühnerstall stiehlt, soll also ein Verbrecher sein? Er wird mit Prügel bestraft für ein ungeheuerliches Verbrechen, das tagtäglich ein anderer begeht – unser König, seine Fürsten und ihre Helfershelfer. Sie pressen uns unteren Ständen alles ab, unsere Arbeitskraft, unsere Gesundheit und schließlich unser Leben. Sie lassen uns nicht einmal das Nötigste, um satt zu werden und uns anständig zu kleiden. Und wenn sich der kleine Schulbub nimmt, was ihm zusteht, dann prügelt man ihm so lange die Seele aus dem Leib, bis er selbst auch noch glaubt, er sei der Verbrecher.«

 

Da sehen Eure Majestät, um was für eine gottlose, dreiste und gefährliche Person es sich bei der Res handelt.

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Tagebucheintrag der Therese Pritzl am 27. Mai 1854

Zum ersten Mal frage ich mich, ob es ein Schicksal gibt, einen vorgezeichneten Weg des Lebens. Niemand konnte mich in die Knie zwingen, kein Pfarrer, kein Fürst und schon gar nicht die Angst. Auch jetzt fürchte ich den Tod nicht, denn tritt er auf die Bühne, trete ich ab. Jahre im Kerker aber, das geb ich unumwunden zu, wären kaum zu ertragen, denn schon immer habe ich enge Räume gehasst.

Wie komm ich dazu, an ein Schicksal zu glauben, ich, die stets den Leuten gesagt hat: Ihr seid mindestens so frei, wie eure Gedanken es euch erlauben! … Ich denke an den Brief der Base Loni aus Amerika vor zwei Jahren. Schon vor über zehn Jahren ist sie ausgewandert, fünf Kinder hat sie mittlerweile, alle gesund, alle gehen in die Schule, und nicht bloß zu einem Häuschen mit großem Grund und Feldern dazu haben sie und ihr Mann es gebracht, sondern sogar zu Landarbeitern in ihrem Dienst! Ich brauche keine Schatzkiste und keine Krone, nein, ich brauche auch keine Leibeigenen oder Arbeiter, denen ich anschaffen kann, wie es mir gefällt. Aber die Freiheit, all das erreichen zu können, wenn man nur möchte, die ist doch ein unerhörter Wert – und haben Heigl und ich nicht aus Angst diese Freiheit verspielt? Das Gegenteil der Freiheit ist nicht der Kerker, nein, das weiß ich jetzt. Das Gegenteil der Freiheit ist die Angst.