Freiwillig in Kenia - Anja Friedrich - E-Book

Freiwillig in Kenia E-Book

Anja Friedrich

4,9

Beschreibung

Mal amüsant, mal nachdenklich, beschreibt die Autorin ihre naiven Anfänge als Freiwillige in Kenia. Der Leser taucht in eine andere Welt ein und erfährt dabei Wissenswertes über Freiwilligenarbeit, Lebensumstände in Kenia oder wie man einen Stein ins Rollen bringen kann. Im leichten Unterhaltungsstil beschreibt sie ihre anfänglich unbedarfte Vorstellung ihres Aufenthaltes. Sie wird schnell eingeholt von der kenianischen Realität und muss sich mit Anfeindungen, Korruption, Diebstahl und Gewalt auseinandersetzen. Ebenso bereichern Begegnungen mit wunderbaren Menschen ihr Leben, und sie spürt das unbeschreibliche schöne Gefühl, dort helfen zu können. Ständig hinterfragt sie sich, ob es sinnvoll ist, was sie dort bewegt, warum die Menschen dort so leben müssen und was man von zu Hause aus tun kann, um die Lebensumstände benachteiligter Kinder zu verbessern. Ihr Bericht über die Erfahrungen in einer anderen Kultur ist mit Herz und Humor geschrieben und soll Empathie und Verständnis für den schwarzen Kontinent wecken. Der Inhalt gibt dabei Impulse, sein eigenes Leben und Verhalten zu überdenken. Am Ende ist zu erkennen, dass jeder einzelne Mensch etwas bewegen kann ? oft mehr, als er sich am Anfang zugetraut hat. "Du bist nur so groß, wie die Träume, die du wagst zu leben". Das Buch wendet sich sowohl an Afrika-Interessierte allgemein, insbesondere aber an junge Leute, die bei einem sinnvollen Freiwilligendienst engagieren möchten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 368

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (14 Bewertungen)
12
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Freiwillig in Kenia

Eine Bankerin und ihr Waisenheim

Anja Friedrich

interconnections

Ähnliche Titel bei http://interconnections-verlag.de

Auch erhältlich über den Buchhandel

__________________________________________

Manuskripte gesucht

Sachbuch, Reise, Biographien, BelletristikAlles, was bewegthttp://www.interconnections-verlag.de

_________________________________________

Impressum

Reihe Jobs & Praktika Bd 71

Freiwillig in Kenia Eine Bankerin und ihr Waisenheim

Anja Friedrich

Umschlagfotos: Von der Autorin

Copyright

Verlag interconnections, Schillerstr. 44

79102 Freiburg, T. 0761-700 650, F. 700 688

[email protected]

http://www.interconnections-verlag.de

http://www.reisetops.com

Erste E-Bookauflage 2016

ISBN 978-3-86040-251-1, E-Book

ISBN 978-3-86040-239-9 (Buch)

Inhaltsverzeichnis

Neue Erfahrungen in einer fremden Welt

Anreise und viel Schweiß

Erste Nacht und unschöne Füße

Schwarz-Fahren und Lavendel-Wauzis

Eingewöhnungsphase und fröhliche Beerdigungen

Nairobi und kenianische Au-pair

Drollige Elefantenbabys, hinterhältige Giraffen

Kirchenbesuch der besonderen Art

Eingewöhnungsphase

Mango mit Chili und eine Fähre Made-in-Germany

Sparkassenbetriebswirtin wird Kindergärtnerin

Hektisches Mombasa und erste Piki Piki-Fahrt

Kenianischer Alltagskampf

Dompteur in der Manege

Backpacker mit Trolley und Nemo ohne Leine

Kids-Care und Muttermilch gegen Chilibrennen

Zweitwelten hinter Geschäftsräumen

Harry und Kenia-Zalandi

Neuorientierung und Veränderungen

Zweifel und schlagkräftige Erziehungsmethoden

Abschied und pampige Pasta

Umzug und erneute Zweifel

Isabell und der hinterhältige Schulleiter

German-Angst und eine gefährliche Fährfahrt

Abschiednehmen und Hühnerschlachten

Schläge und ohnmächtige Wut

Little Angels und direkte Hilfe

Ein berührtes Herz

Christopher

Mohammed und die Reise zum Patenkind

Schulbildung und Abschied mit Chapati

Waldelefanten und schlumpfblaue Verteidigung

Ablasshandel und das German-Fahrradtaxi

Altstadt und berauschte Straßenkinder

Kranke Kinder und ein wandelnder Geldsack

Stuart, ein Kind, das zu viel gesehen hat

Little Angels und eine unruhige Nacht

Eine Mzungu kauft ein Piki Piki

Isabells Schicksal

Unprofessionelle Ziegenbegutachtung

Existenzgründung und eine hervorragende Veranlagung

Weiterer Second-Hand-Laden und ein hartes Leben

Straßenkinder und eine tote Ziege

Zurück in die alte Welt

Und wieder in Kenia

Grundstückskauf per Daumenabdruck

Landvermessung und eine schwangere Rattendame

Ausgeraubt, Polizei-Einmarsch ins Hostel

Hitradio Antenne und ein schmerzhaftes Erlebnis

Kenia zum Vierten und tolle engagierte Helfer

Aggressive Straßenkinder und vereiterte Wunden

Was wir bislang erreichen konnten

Der Schleier der Nacht liegt über dem kleinen Hostel, als Mohammed, ein guter Freund von mir, mit seinem alten Toyota die kurze Auffahrt hochfährt. Ich sitze an der Rezeption auf einem durchgesessenen Sofa, starre vor mich hin und nehme kaum wahr, dass er durch die Tür kommt. Der Deckenventilator knarrt bei jeder Umdrehung leise, aber der Windzug gibt mir keine Abkühlung, mein Gesicht ist schweißbedeckt. Zu dieser Jahreszeit ist es in Kenia auch nachts tropisch heiß. „Was ist passiert?“, fragt Mohammed. „Du siehst so sonderbar aus, irgendetwas ist doch nicht in Ordnung mit dir!“.

Als ich ihm stockend die Kurzform erzähle, ist er ernsthaft schockiert. Es tut ihm aufrichtig leid, dass mir dies in seinem Land widerfahren ist. Auf sein Bedauern kann ich nichts mehr erwidern. Ich fühle mich leer, steige wie ferngesteuert ins Autos und starre während der Fahrt auf die dunkle Straße und die Gestalten, die durch die Gegend schleichen – ohne sie wirklich zu sehen. Ich zittere. Ich will nur noch fort von hier. Nur weg. Ganz schnell. Raus aus diesem Land.

Neue Erfahrungen in einer fremden Welt

Anreise und viel Schweiß

Was bringt eine 38-jährige erfolgreiche Vermögensberaterin einer Sparkasse dazu, ihre konservative Arbeit zu unterbrechen und sich auf den Weg nach Afrika zu machen? Das frage ich mich gerade, als der Flieger abhebt und ich mir die letzten Abschiedstränen aus dem Gesicht wische.

So ganz genau kann ich diese Frage nicht beantworten. Nicht mir selbst – somit auch kaum anderen. Vielleicht hat es mit meiner Krebserkrankung zu tun, dass ich hier im Flieger sitze? Vielleicht hätte ich sonst nicht den Mut gehabt, meinen lang gehegten Wunsch in die Tat umzusetzen? Vielleicht wäre ich lieber brav am Schreibtisch kleben geblieben? Die Diagnose „Krebs“ ist eine Grenzerfahrung, die aber in meinem Falle – nach der Genesung – mein eigenes Leben zum Positiven verändert hat. Ich lebe offener, dankbarer, mutiger und habe das extreme Bedürfnis, „helfen“ zu müssen. Wo auch immer dieses Gefühl hergekommen sein mag – nun ist es da! Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich einmal anders getickt hatte. Aber nun will ich meinem Leben einen Sinn geben, wie es so schön abgedroschen heißt.

Andere spenden, um etwas Gutes zu tun; aber ich will viel mehr. Also, wo gelingt das besser als bei bedürftigen Waisenkindern in Afrika, die nur auf mich warten? Mit einer Portion Naivität und Helfersyndrom im Gepäck mache ich mich auf den Weg.

Ich fliege von Hamburg über Istanbul nach Nairobi. Ein türkisches Paar, mittleren Alters, sitzt im engen Flieger neben mir und redet und redet – mit Händen und Füßen. Ich verstehe kein Wort ihrer angeregten Unterhaltung. Sie unterbrechen den Redefluss auch nicht, als sie mein Tablett von der Stewardess zu mir durchreichen. Sie nehmen mich gar nicht wahr. Ich versuche, das „Fliegermahl“, bestehend aus pappigem Reis und Gemüse, trotz ziemlich starker Turbulenzen ohne Kleckern zu meistern. Ein Puddingspritzer, Geschmacksrichtung „zu süß, schwer am Gaumen und kalorienreich im Abgang“, hüpft allerdings auf mein helles T-Shirt. Hervorragend! Währenddessen beschäftigt mich die Frage, wie das Essen in Kenia sein wird? Gedankenverloren schaue ich aus dem Fenster. Die Wolken sehen wie Zuckerwatte aus. Ich konnte da ja noch nicht erahnen, dass ich mich später einmal nach mäßig schmeckenden Reisgerichten sehnen würde. Von kenianischer Hühnerdarm-Pasta hatte ich bis dato auch noch nichts gehört.

In Istanbul gelandet, bekomme ich beim Verlassen des Fliegers direkt unschöne Schweißausbrüche. Es ist unglaublich heiß, extrem schwül. Ich will mir die drei Stunden Wartezeit mit Bummeln auf der langen Shoppingmeile des Flughafens vertreiben, bis ich nach Nairobi weiterfliegen kann. Zu meinem Unglück hat mich mein Handgepäck-Trolley im Stich gelassen. Die Billigvariante war wohl doch nicht die beste Wahl – am falschen Ende geknausert! Aber ich musste ja sparen, da ich nun drei Monate kein Gehalt mehr beziehen würde. Da fange ich doch mit dem Trolley gleich an. Die Verlängerung zum Ziehen dieses Gepäckstückes klemmt in der Schiene, somit kann ich ihn nur noch tragen und nicht ziehen – und das bei der Hitze. Ich bin genervt: Koffer schleppen und schwitzen. Das fängt ja gut an!

Frühzeitig mache ich mich auf den Weg zum Gate. Wir können sofort „boarden,“ - also zumindest raunt mir das ein Flugbegleiter zu – wenn ich es richtig gedeutet habe. Ich bin etwas verunsichert und gehe den Gang als einzige hinunter. Niemand folgt mir, niemand hindert mich daran. Im Fliegereingang steht kein „Stewardessen-Empfangskomitee“. Kein freundliches „Hello“. Hm. Zaghaft biege ich um die Ecke – in den vorderen Bereich des Fliegers – und sehe einen Flugbegleiter, der sich mit den Armen auf den oberen Sitzlehnen abstützt, die Beine in der Luft baumeln lässt und mit lockerer Hüfte durch den Gang schwingt. Er hat eindeutig Spaß. Ich bleibe stehen, starre ihn an – amüsiert und verwundert. Mr. Schwingende-Hüfte reißt die Augen auf, springt abrupt auf seine Füße und beendet erschrocken seine turnerischen Übungen. „Boooooarden“, schreit er. Seine Stimme bricht dabei. Die anderen Flugbegleiter kommen hektisch aus dem hinteren Teil des Fliegers zum Vorschein. Ich, der Eindringling, werde von einer stark geschminkten Stewardess energisch wieder hinausgeschoben und vor das Flugzeug in den Zugangstunnel gestellt. Ich bekomme noch ein genervtes doppeltes „Tz“ mit auf den Weg. Als ob ich unverschämt gewesen wäre. „Tz“! Derweilen erkläre ich den anderen langsam eintrudelnden Gästen, dass wir noch nicht in das Flugzeug einsteigen dürften; sondern erst dann, wenn die Flugbegleiterin ihr „Okay“ gibt. Dabei schmunzele ich weiter vor mich hin. Sehr amüsant, dieser locker schwingende Steward mit seinem entsetzten Gesichtsausdruck, als er mich erblickte. Herrlich! Ich frage mich, was die sonst noch so im Flieger machen.

Endlich gibt die „Tz-Dame“ ihre Erlaubnis und wir dürfen in den Flieger einsteigen. Ich werde nicht angelächelt, sondern nur skeptisch von ihr beäugt. Aber ich freue mich, dass es weitergeht und lasse mich in meinen Sitz fallen. Kurz vor dem Start merkt mein Sitznachbar, dass sein Anschnallgurt nicht richtig schließt. Er muss auf einen anderen Platz wechseln. Somit habe ich zwei Decken, zwei Kuschelkissen und zwei Sitze für mich. Klasse! Meine Mission fängt doch gut an. Der Istanbuler Schweiß ist ja schon wieder trocken und vergessen. Selig falle ich direkt nach dem Start in einen leichten Dämmerschlaf und träume absurde Geschichten, die sich in meinem Büro in der Sparkasse abspielen.

Nach etlichen Flugstunden landen wir – mitten in einer tiefschwarzen, sternenlosen Nacht – in Nairobi auf dem Jomo Kenyatta Flughafen, benannt nach dem ersten Ministerpräsidenten Kenias. Beim Landeanflug kann ich anhand der Lichter die Größe dieser Stadt erahnen. Wie ein riesiger Teppich breitet sich die Hauptstadt aus, ein Teppich mit ausgefranstem Rand. Ich schaue fasziniert aus dem Fenster. Nach einer rappeligen Landung mit scharfer Bremsung – der Kapitän scheint auch gerade erst aufgewacht zu sein, schnappe ich mir müde mein Handgepäck. Eine warme Luft umhüllt mich beim Verlassen des Flugzeuges. Es riecht tropisch feucht. Ich mag den Duft. Kenia, da bin ich – bereit zum Helfen! Jawohl! Aber erst ab morgen, jetzt bin ich dann doch zu müde.

Ich fühle mich ziemlich zerknautscht, als ich den Visumantrag ausfülle. Die Haare strubbelig, einen fiesen Geschmack im Mund und zu allem Übel habe ich das Gefühl, mein Deo hat versagt. Hervorragend! Ich bin ziemlich unlustig gelaunt, da ich trotz Doppel-Kissen und Doppel-Decke nicht tief schlafen konnte. Gegen Bares bekomme ich sofort einen Stempel für mein Visum und freue mich dann am Gepäckband, dass mein Koffer da ist.

Leider werde ich anschließend am Zoll rausgefischt. „Was machen Sie denn 90 Tage alleine in Kenia?“ Der Beamte schaut skeptisch, zieht die Augenbrauen hoch. „Kennen Sie jemanden in Kenia?“ „No!“ „No?“ „No!“ Wenn ich nämlich „ja“ sagen würde, hätte er meinen Koffer nach Geschenken durchwühlt – das wurde mir vorher von einem Bekannten erzählt. Kleine Aufmerksamkeiten werden auch von Zollbeamten gerne angenommen – als ganz persönliches Gastgeschenk. So wurde mir gesagt. Karibu Kenia! Willkommen in Kenia.

Er bleibt skeptisch, lässt mich dann aber passieren, weil er wohl keine Lust auf Anstrengung hat. Er wirkt ebenso müde wie ich, sein Deo hat auch versagt. „Schnell raus hier“, denke ich mir und gehe durch die Schiebetür. Hinter der Tür stehen drei mir fremde Kenianer mit meinem Namen auf einem zerknautschten Pappschild. Sie begrüßen mich mit einem lauten „Karibu“ und drücken mich alle herzlich an sich. Schon habe ich Freunde hier!

Raphaela, die Frau von Simon, begrüßt mich freundlich. Simon ist der Mittelsmann zwischen der Organisation und dem kenianischen Waisenheim. Er ist aber zu meiner Verwunderung nicht mit von der Partie. Bei ihnen werde ich die ersten Tage zu Hause wohnen. Eingewöhnungs- und Orientierungstage in einer fremden Kultur, so nannte es die Vermittlungsorganisation – damit ich keinen Kulturschock bekomme. Sehr fürsorglich. Die beiden Männer, der Fahrer und ein Freund, nehmen meinen Koffer und ich darf hinten in dem alten Nissan neben Raphaela einsteigen. Ich bin gerädert und verschwitzt von der 17-Stunden-Anreise und lasse mich erschöpft auf dem durchgesessenen Rücksitz fallen.

Wie in Trance erlebe ich die Autofahrt. Die Übermüdung macht mir zu schaffen. Wo bin ich? Wer bin ich? Warum bin ich hier? Während der Fahrt blicke ich aus dem Fenster und versuche in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Simon, Raphaleas Mann, ist mit ihren beiden Kindern zu der Beerdigung seines Bruders aufs Land gefahren. Somit werde ich die Tage alleine mit Raphaela verbringen, erfahre ich. Sie habe ein Jahr als Au-pair in Deutschland gearbeitet – erzählt sie munter. Das beruhigt mich irgendwie. Dann kennt sie ja auch meine Kultur. Kann ja nicht schaden, oder?

Die Fahrt dauert ungefähr eine Stunde. Der klapprige Wagen ruckelt durch die Nacht. Beim Versuch, das Fenster runter zu kurbeln, halte ich plötzlich den Griff in der Hand. Unauffällig schiebe ich ihn unter den Vordersitz. Wir tauchen immer weiter in die Slums von Nairobi ein. Hier und da sehe ich dunkle Gestalten am Straßenrand, sie blicken ins langsam vorbei fahrende Auto. Ich habe das Gefühl, dass sie mich ganz intensiv anschauen. Aber vielleicht können sie mich auf dem Rücksitz gar nicht sehen? Die Blicke gehen mir aber durch und durch. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Am Straßenrand stehen schäbige Holzhütten. Eine davon mit kleinen Blinklichtern über der Eingangstür. Einige Glühbirnen sind kaputt und ich kann nur noch „AROBI TUSK BA“ erkennen. Nairobi Tusker Bar, kombiniere ich blitzschnell. Wie das Bier hier heißt, weiß ich natürlich schon. Man muss sich ja auf ein fremdes Land vorbereiten! Aber ich habe das Gefühl, dass ich als Weißnase diese Art von Läden nicht betreten sollte. Oder nur ein Vorurteil von mir?

Eine fremde Welt offenbart sich hier in der Dunkelheit. Ich habe ein mulmiges Gefühl und mein Magen verkrampft sich. Was hat mich eigentlich auf die Idee gebracht, hier alleine durch die Welt zu reisen? Was mache ich eigentlich um drei Uhr nachts mitten in Nairobi – im Auto mit drei Fremden? Wo bin ich genau? Was will ich hier überhaupt? Ich bin müde und will schlafen. Das ist das einzige, was ich im Moment definitiv weiß.

Als die Männer im Auto mich erneut mit „Welcome in Kenia“ begrüßen und ich mit Asante sana – Dankeschön – antworte, lachen sie laut und herzlich. Die erste Annäherung hat schon mal geklappt. Ein paar Brocken aus meinem Kauderwelsch Sprachbuch konnten weiterhelfen. Raphaela sagt fröhlich, dass ich mir gar keine Sorgen machen muss. Sie lässt heute Nacht zwei Mädels in ihrem Haus übernachten. Somit kann jetzt keiner einbrechen, während wir unterwegs sind. Ich brauche mir also wirklich keine Sorgen zu machen, sie lacht mich mit ihren strahlend weißen Zähnen an. Ich brauche mir also keine Sorgen zu machen? Also bis gerade eben hatte ich auch keinerlei Gedanken bezüglich Einbrüchen! Nun kriecht das mulmige Gefühl langsam wieder hoch, mein Magen verkrampft sich erneut, mein Puls beschleunigt sich. Raphaela klärt mich auf. Sie ließe das Haus unter keinen Umständen nachts unbewohnt. „Nicht in der Gegend, in der wir wohnen. Das wäre viel zu riskant“, sagt sie. Reflexartig ziehe ich meine Augenbrauen nach oben, meine Müdigkeit ist schlagartig verflogen, aber ich bleibe stumm und versuche jetzt einfach nicht nachzudenken. Das ist jetzt die beste Variante. „Lasse deine Gedanken wie Wolken vorbeiziehen“, sage ich mir als Mantra – Oomm. Oomm. Oooooomm. Es schleichen sich aber Gedanken durch eine knarrende Hintertür in meinen Kopf ein. Die nächsten Nächte sind wir beiden Frauen doch auch alleine in dem Haus. Wer passt dann auf uns auf? Worauf habe ich mich hier eigentlich eingelassen? Ich hatte doch ein bequemes Leben: in einer schönen Stadt, in einem kleinen Haus, nicht weit zur Sparkasse. Heile Welt – und nun das!

Wir verlassen die geteerte Straße und biegen in einen sandigen Weg ein. Der Nissan versucht die holprige Piste und die Schlaglöcher zu meistern. Manchmal knallen wir mit der Bodenplatte auf. Ein „Sorry, sorry, car“ vom Fahrer sorgt für Gelächter. Das Auto ist einfach nicht für die Geländefahrt geeignet. Aber das Gelände ist eine normale Zugangsstraße für dieses Viertel! Am Wegesrand stehen kleine Geschäfte mit verriegelten Türen und riesigen Vorhängeschlössern. Einfachste unverputzte Wohnhäuser aus groben Steinen im Wechsel mit Holzverschlägen, deren Eingänge mit Plastikplanen verhängt sind. Wir biegen links ab, wir biegen rechts ab, wieder links, immer tiefer hinein in das Labyrinth. „Hat eigentlich zu Hause jemand die Kontaktdaten von der Organisation?“, schießt es mir durch den Kopf. Sie könnten mich hier überfallen und hinter einem Haus verscharren. Niemand würde mich jemals finden. Sie könnten einfach sagen, ich wäre gar nicht angekommen. Und – weg bin ich! Verscharrt in einem Slum in Nairobi. Verscharrt mit Helfersyndrom.

Ich schiebe diese wirren Gedanken auf meine Müdigkeit und schüttel mich kurz. Endlich sind wir am Haus angekommen. „Welcome, welcome, my home is your home“, ruft Raphaela laut durch die dunkle, stille Nacht, als wir aussteigen. Die Autoscheinwerfer erhellen den Weg. Der Rest der Umgebung ist ruhig und dunkel: keine Straßenbeleuchtung, alle Häuser ohne Licht. So mitten in der Nacht nichts Ungewöhnliches; dennoch irgendwie unheimlich. Der Fahrer und sein Freund schleppen meinen schweren Koffer und mein Handgepäck in das Haus. Der eine fragt, ob ich Steine mitgebracht hätte und lacht. Ich trete zaghaft durch die Eingangstür und blicke mich langsam um. Es ist für mein Verständnis nicht wirklich ein Haus; – mehr zwei Räume. Einer ist gleichzeitig die Küche, das Wohnzimmer, das Esszimmer und das Kinderschlafzimmer – quasi all in one. Es gibt noch einen zweiten, sehr kleinen Raum. Dieser ist das Elternschlafzimmer und dort angrenzend befindet sich ein sogenanntes Badezimmer. Aber die Toilettenspülung funktioniert nicht. „Is broken“, klärt Raphaela mich gleich auf, als ich mich zögernd umschaue. „Aber draußen, da ist alles in Ordnung“, nickt sie munter. Draußen? Meine Güte, muss ich mir selbst ein Loch buddeln?

Fließendes Wasser gibt es derzeit nur am Waschbecken in der Wohn-Kinderzimmer-Küche. Im Elternschlafzimmer gibt es ein Bett, keinen Schrank. Alles Hab und Gut der Familie ist in zwei Koffern verstaut. Das einzig Luxuriöse in diesem Raum sind ein alter Röhrenfernseher und eine noch ältere Musikanlage. Es gibt noch ein ausgeleiertes, abgewetztes Sofa mit einem zu niedrigen Couch-Tisch.

Dass diese Familie für kenianische Verhältnisse zur unteren Mittelschicht gehört, konnte ich da noch nicht erahnen. Für mich sieht in diesem Moment alles nur unglaublich schäbig aus.

Ich bin zu erschöpft und zu durstig um zu erkennen, dass das angebotene Glas Wasser echtes kenianisches Leitungswasser enthält. Einer meiner Gesundheitsvorsätze ist also in der ersten Stunde meiner Ankunft unwissentlich über den Haufen geworfen worden. Ich lösche gierig meinen Durst mit der ganz sicherlich keimfreien und reinen Nairobi-Plörre. Ganz bestimmt. Unter einem Welcome-Drink hatte ich mir eigentlich was anderes vorgestellt. Cheers!

Die Männer verabschieden sich höflich von mir und verschwinden auf leisen Sohlen in die dunkle Nacht hinaus. Der Nissan springt aber nicht an. Wir müssen zu dritt kurz Starthilfe geben. Ich schwitze schon wieder.

Erste Nacht und unschöne Füße

Der untere Schlafplatz im doppelstöckigen Kinderbett wird mir zugeteilt. Die beiden Mädels, die das Haus bewacht haben, sind aufgestanden, begrüßen mich schlaftrunken und geben mir zaghaft die Hand. Ich erlebe meine Ankunft nur verschwommen, im Nebel. Alles ist so unwirklich! Ich ziehe mir einen Schlafanzug an, verzichte auf das Zähneputzen und verschwinde in das Kinderbett. Für Gäste wird also nicht neu überzogen, merke ich sofort. Die bunte Bettwäsche, mit Batman-Comic-Aufdruck, hat so ihren eigenen Geruch und zieht mir gleich in meine sensible Nase. Das Bett hat eine sehr weiche und dünne Matte, die direkt auf Metallrollen liegt; sehr weich, sehr dünn und sehr ungemütlich. Ich spüre jedes einzelne Rohr unter meinem Rücken. Trotz schon ohnmächtiger Müdigkeit ist an Schlaf nicht zu denken. Die Bettdecke müffelt schrecklich. Die beiden Mädels über mir bewegen sich im Schlaf hin und her, somit wackelt und knarrt das ganze doppelstöckige Metallbett. Muss ich mir das in meinem Alter mit fast vierzig Jahren eigentlich noch antun? Hätte ich nicht spenden können und meinen Urlaub in einem schönen Hotel verbringen können? Es muss ja kein Luxushotel sein. Wo ist mein bequemes Bett mit rückenschonender Matratze, mit gut riechender kuscheliger Bettwäsche – in einer Wohngegend ohne erhöhtes Einbruchsrisiko? Die Gedanken kreisen und kreisen, bis mir fast schwindelig wird – aber irgendwann schlafe ich erschöpft ein. Out of order.

Als ich wieder aufwache, muss ich mich erst einmal sortieren, um zu begreifen, wo ich bin und – wie ich herkam. Es ist schon hell und die Sonne scheint durch das vergitterte Fenster. Ich recke mich, gähne ausgiebig, möchte sehr gerne duschen. Oh ja, eine Dusche wäre jetzt wunderbar. Wie viele Schweißschichten liegen schon auf meiner Haut? Bah! „Oh, ein kleines Problem“, sagt Raphaela, „kein Wasser!“. Das fängt ja gut an. „Aber das Wasser im Waschbecken funktioniert“, teilt mir Raphaela freudig mit. Wie kann man eigentlich am frühen Morgen so gut gelaunt sein, wenn das Wasser in der Dusche nicht funktioniert? Unglaublich.

Ich fülle mir einen kleinen Eimer mit Wasser und beginne draußen in einem Toiletten-Dusch-Raum mit der Katzenwäsche. In einer anderen Kultur zu leben und zugleich Gutes tun – hatte ich nicht immer davon geträumt? Die Wirklichkeit fühlt sich aber irgendwie anders an. Ganz anders! Hinter meinem Schreibtisch war alles sicher und sauber. Die Tagträume hatten einen rosa Anstrich. Nun hat mich die Realität eingeholt – Karibu.

Nach dem Waschen versuche ich im Wohnzimmer irgendwie meine langen Haare zu bändigen. „Wie sehe ich eigentlich aus?“, frage ich mich. Einen Spiegel finde ich im ganzen Haus nicht. „Zu teuer“, sagt Raphaela. Sie kommt gerade wieder zur Tür herein mit einem kleinen Beutel Milch in der Hand. Es gibt keinen Kühlschrank im Haus, daher muss sie solche Lebensmittel täglich im Shop um die Ecke kaufen; da sie nur dort kühl gelagert werden können. Ein Großeinkauf im Supermarkt, Tiefkühlkost lagern – undenkbar hier.

Sie bereitet für uns den traditionellen Chai-Tee zu, während ich auf dem Sofa sitze. Diesen trinken die Kenianer morgens immer zum Frühstück: Schwarzer Tee – aufgekocht mit Gewürzen, viel Milch und noch viel, viel mehr Zucker. Ich probiere zaghaft. Viel Zucker bedeutet auch viele Kalorien – das passt eigentlich nicht in meinen Ernährungsplan. Wenn ich nur daran denke, nehme ich zu. Schwupps. Zum süßen Tee gibt es eine Art „Krapfen“, – Mandazi – Teig in Öl gebacken. Noch ein Kilo. Schwupps. Schmeckt aber lecker! „Lebensgewohnheiten müssen hier sofort geändert werden“, denke ich mir. Ich bin ja als engagierte Helferin gekommen und nicht als Gourmet. Jawohl! Ich versuche mich schon mental darauf einzustellen, dass ich in den nächsten drei Monaten vieles essen und trinken werde, was ich zu Hause normalerweise nicht anrühren würde. Mein Gaumen wird sicherlich hier keinen Salto vor Geschmacksfreude schlagen, denke ich mir. Was mir noch alles vorgesetzt werden würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht erahnen. Zudem sollte ich mein Hygieneverständnis überdenken. Tolle Erkenntnisse nach nur einem halben Tag! Ich habe viel in Büchern gelesen und häufig Urlaub in zum Teil einfachen Unterkünften in Entwicklungsländern gemacht, aber den richtigen afrikanischen Alltag in einem privaten Haushalt zu erleben, ist doch etwas ganz anderes, – stelle ich ernüchtert fest.

Raphaela schaut schmatzend auf meine nackten Füße, die ich neben dem Tisch ausgestreckt habe. „Läufst du immer so rum?“, fragt sie ganz direkt. Wie bitte? Ich habe meine Fußnägel extra auf afrikanisch umgestellt. Das hieß für mich: Naturnägel. „Ich kann doch nicht mit lackierten Nägeln hier auflaufen. Das geht doch nicht“, dachte ich mir.

Sie zieht die Nase kraus, gleichzeitig spült sie den Mandazi-Bissen mit Chai-Tee herunter. Phänomenal, wie ihr beides gleichzeitig gelingt. „Da müssen wir dringend etwas machen“, sagt sie energisch. „So können wir nicht in die Stadt“. Und ob ich nur diese Flipflops hätte? „Jede Frau in Nairobi, die es sich auch nur irgendwie leisten kann, hat lackierte Nägel“, sagt Raphaela. Egal aus welcher Schicht. Man soll nie aufgrund des Äußeren gleich auf Armut schließen können. Sie wollen immer gepflegt erscheinen und versuchen im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles auszuschöpfen. „Und Sandalen tragen sie auch“, sie zieht die Augenbraunen hoch, “nicht solche ausgelatschten Flipflops“. Super! Hätte ich meinen teuren Lack auch drauf lassen können. Aber ich wollte ja nicht als Püppchen angesehen werden, wollte mich doch anpassen. Eine von vielen Fehleinschätzungen, wie ich später feststelle. Aber diese hier ist ja schnell zu korrigieren!

Schwarz-Fahren und Lavendel-Wauzis

Tourismus, wie er nicht sein sollte

Nach dem Frühstück fängt Raphaela an aus ihrem Leben zu erzählen. Sie war jeweils ein Jahr als Au-pair in Deutschland, Österreich und in den Niederlanden. Österreich war viel zu kalt für sie und sie schüttelt sich bei der Erinnerung daran. Dieser ganze Schnee und der Frost. Brr! In den Niederlanden hat sie sich als Schwarze sehr wohl gefühlt, sagt sie. Die Menschen dort waren sehr aufgeschlossen und freundlich ihr gegenüber.

In Deutschland, ihrer ersten Station außerhalb Kenias, hat sie häufig komische Blicke und blöde Bemerkungen erdulden müssen, sagt sie traurig. Einige gaben ihr das Gefühl, aufgrund ihrer Hautfarbe minderwertig zu sein. Aber was sagt denn die Farbe der Haut über einen Menschen aus? Gar nichts!

Sie war sehr verstört, als sie dort ankam, erzählt sie mir. Nur ein paar Flugstunden später in einer ganz anderen Welt anzukommen, allein auf sich gestellt, ohne vertraute Personen. Sie hatte ihren einjährigen Sohn bei ihrem Mann in Nairobi zurücklassen müssen. Simon war arbeitslos, die Familie hat sehr gelitten und oft gehungert. Deshalb nahm Raphaela diese Möglichkeit an, um alle zu ernähren. Sie wohnte bei einer alleinerziehenden Mutter in einer schönen Wohnung, in einem Vier-Familien-Haus in guter Lage in einem Vorort von Frankfurt.

Amüsant ist ihre Erzählung über das Abendessen. Die Kenianer kochen mittags und abends ein warmes Mahl. „Und essen auch nicht im Laufen auf der Straße“, sagt sie, erheitert über das, was sie in Fußgängerzonen gesehen hat. Ihre Gastgeberin hatte zum Abendessen den Tisch mit Brot, Käse und Wurst gedeckt. Aus Höflichkeit aß Raphaela eine halbe Scheibe Vollkornbrot mit Käse. So ganz und gar nicht ihr Geschmack, sie würgte es hinunter. Sie redeten ein wenig über ihre Familie, anschließend räumte die Gastgeberin den Tisch wieder ab. Raphaela fragte sich die ganze Zeit, wann sie denn jetzt endlich anfangen könnte, das Abendessen zu kochen. Sie wartete und wartete und blieb am Küchentisch sitzen. Ihr Hunger wurde immer größer und ihr Magen knurrte. Die Frau kam im Schlafanzug in die Küche zurück und wünschte ihr eine gute Nacht. Sie konnte gar nicht begreifen, warum sie ohne Abendessen ins Bett gehen sollte. Hatte sie etwas falsch gemacht? Am nächsten Tag verstand sie, dass das Brot ihr Abendessen sein sollte. Brot? Unglaublich!

Noch absurder fand sie den Umgang mit dem Hund der Familie, ein kleiner Terrier. In Kenia bekommt ein Hund Wasser und Essensreste, mehr nicht. Vielleicht streicheln ihn die Kinder, selten die Erwachsenen. Hier wurde der Hund als Familienmitglied betrachtet, bekam gesondertes Essen und hatte eine Schleife im Haar. Als Raphaela aufgetragen wurde, den Hund zu baden, wusste sie überhaupt nicht, wie ihr geschieht. Warum soll sie einen Hund waschen, wenn er nicht komplett verdreckt ist? Dazu noch in der Badewanne, in der sie manchmal versuchte ihren Körper wieder aufzuwärmen. Und nun sollte ein Tier da ein Entspannungsbad genießen? Dann sah sie, dass es auch noch extra Hundeshampoo gab. Shampoo für Hunde – Lavendelduft für wohlriechende Wautzis?

Zu ihren Aufgaben gehörte es auch, mit dem Hund Gassi zu gehen. „Warum soll man mit einem Hund durch die Gegend laufen? Er kann doch alleine gehen“, sagt sie, immer noch amüsiert darüber. Sie fand es auch merkwürdig, mit dem Hund an der Leine durch den Park zu spazieren und von älteren Damen angesprochen zu werden. Beziehungsweise nicht sie, sondern der in ihren Augen ach so süße Wautzi. Sie verstand diese Welt nicht, war aber sehr erheitert darüber.

Als Au-pair verdiente sie 200 Euro im Monat und versuchte fast alles für die Familie zu sparen. Sie war so sparsam, dass sie nicht mal das Busticket zu ihrem Deutschkurs bezahlte. Sie sparte – bis sie erwischt wurde. Der Kontrolleur wollte 40 Euro Bußgeld von ihr haben, überließ sie dann aber dem Busfahrer, da er genervt war, weil sie so bitterlich weinte. „Kümmere du dich um die Heulsuse“, sagte er. Dann wandte er sich zu Raphaela: „In unser Land kommen und dann nicht bezahlen wollen. Frechheit“. Der Fahrer ließ sie alle Stationen bis zum Ende seiner Dienstfahrt auf ihrem Sitz in der Ecke schmoren, bis er sich allein dazusetzte. Sie erzählte von ihrem kleinen Sohn, den sie so vermissen würde, dass das Leben hier so teuer und sie so sparsam sei, um eine Zukunft für die Familie aufzubauen. 40 Euro seien so viel Geld für die Familie dort. Der Busfahrer ließ sich von ihrer Geschichte erweichen, und sie war überglücklich.

Raphaela ist froh, dass ich nun bei ihr bin, sagt sie und unterbricht ihre Erzählungen. Endlich wieder jemand zum Reden im Haus! Für gewöhnlich bringt sie die Kinder um 20 Uhr ins Bett und wartet dann darauf, dass Simon nach Hause kommt. Manchmal kommt er erst um 22 Uhr und möchte dann noch warmes, frisch gekochtes Essen haben. Nicht aufgewärmt, das mag er nicht. „Kleiner Pascha“, denke ich mir.

Dabei ist sie ansonsten sehr selbstbewusst, wie sie mir stolz berichtet. Als sie 14 Jahre alt war, wollte ein Lehrer ein Verhältnis mit ihr anfangen; aber sie hat sich entschlossen gewehrt. Er hat sie anfänglich bevorzugt behandelt, was ihr geschmeichelt hat. Dann wollte er nach ein paar Wochen eine kleine Gegenleistung. Sie war aber sehr mutig und sagte ihm, dass sie auch ohne seine Sonderbehandlung die Schule erfolgreich beenden würde und hat ihn aufgefordert, sie in Ruhe zu lassen. Ansonsten würde sie alles dem Schulleiter und ihren Eltern erzählen, drohte sie ihm. Ihr Mut und der Rückhalt ihrer Familie haben ihr geholfen. Der Lehrer hat sie nicht mehr bedrängt. „Leider kommt es manchmal vor“, sagt sie traurig, „dass die Lehrer ihre Machtposition ausnutzen. Die Mädchen haben oft zu viel Angst vor dem Lehrer oder davor, dass die Familie vermutet, sie hätten sich aus freien Stücken mit dem Mann eingelassen. Häufig wird den Mädchen nämlich eine Mitschuld gegeben, auch wenn sichtbar Gewalt angewendet wurde. Aus Scham offenbaren sich die Schülerinnen erst spät oder gar nicht. Im Falle einer Schwangerschaft werden die jungen Mädchen oft vom Dorf wie eine Aussätzige behandelt und die Neugeborenen als Bastarde bezeichnet“. Geschändet und zudem ein Leben lang gestraft, Mutter wie Kind! Raphaela hatte Glück und war mutig. „Dieses Glück ist gerade in der ländlichen Gegend einigen Mädchen nicht vergönnt“, sagt sie traurig.

In ihrem Dorf – am Rande des riesigen Viktoria Sees – gab es aber auch viele Mädchen, die sich bereitwillig mit den LKW-Fahrern eingelassen hätten, erzählt sie weiter. Die Fahrer hätten den Tilapia Süßwasser-Fisch nach Mombasa gebracht und kämen immer mit tollen Geschenken zurück. Die Mädchen träumten von einem guten Leben mit den nicht schlecht verdienenden Männern. Leider hatten die Kerle auch Frauen in Mombasa, die ebenso von einem guten Leben mit ihnen träumten. Einige der Mädchen wurden im Laufe der Zeit krank und starben“, erzählt sie. „Vielleicht an Aids“. Sie zuckt mit den Schultern. In diesem kleinen Ort redet man nicht darüber. Aus. Vorbei. Tod! Woran gestorben, ist dann ja egal.

Das Thema Homosexualität spricht sie ganz offen an, da sie bei uns öfter Frauen oder Männer gleichen Geschlechts händchenhaltend durch die Gegend hat laufen sehen. „Hier ist es nur versteckt möglich“, erzählt sie. „In den Urlaubsorten machen es viele Männer – gegen Bares – mit den Touristen. Oft sind sie eigentlich gar nicht schwul, aber machen es wegen des schnellen Geldes. Einige sehen es als einzige Möglichkeit, ihre Familie zu ernähren. „Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch. Dadurch werden auch immer wieder sehr junge Mädchen zur Prostitution getrieben oder gezwungen“, sagt sie. Später lese ich, dass Sextourismus in Kenia ein ernsthaftes Problem ist. Gemäß Schätzungen sind mehr als 30.000 Kinder und Jugendliche hier in diesem Gewerbe tätig, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen und die Wünsche der Touristen oft für nicht mal 5 Euro zu bedienen. Die finanzielle Not hinterlässt grausame Narben auf diesen armen Kinderseelen. Die Touristen fliegen befriedigt in ihre Wohlstandswelt zurück.

„Aber nicht nur die Touristen machen schlimme Dinge“, erzählt sie weiter. „In Nairobi hat ein Priester im Ruhestand einen Jungen aus den Slums mit Essen gelockt“, berichtet Raphaela. „Allerdings war in dem Essen ein Betäubungsmittel. Der Junge konnte gerade noch eine SMS an seinen Freund schicken, dass ihm schwindelig würde und er Hilfe braucht. Dann wurde er bewusstlos. Als er wieder wach wurde, hatte er starke Schmerzen. Der Priester hatte sich an ihm vergangen. Sein Freund kam leider zu spät, aber rief sofort die Polizei. Diese waren auch sehr schnell vor Ort und führten den Priester in Handschellen ab. Durch die Nachbarn bekam die Presse Wind davon. Es stand tagelang in den Schlagzeilen“. Raphaela sagt weiter, dass der Priester sich mit Geld bei der Polizei freigekauft hätte. Er wurde entlassen, niemand redete mehr darüber. „So ist es häufig“, sagt sie und zuckt mit den Schultern.

Abends kocht Raphaela Reis und Gemüse und wir trinken Rotwein dazu. Mit dieser Grundlage kann ich bestimmt besser schlafen, denke ich. Doch nach all den Erzählungen wird es nicht leicht sein, einzuschlafen. Zu aufwühlend sind die Geschichten und die Schicksale, die dahinterstehen. Ich schenke uns deshalb lieber noch mal großzügig nach.

Simon hatte in einer Mail bereits erwähnt, dass seine Frau Rotwein liebe, falls ich überlegen sollte, etwas mitzubringen. Also nur, falls ich überlegen würde! Ein kleiner Wink mit dem ganzen Zaun. Leider hatte ich Übergepäck. Ich plante eine Flasche vor Ort zu kaufen. Raphaela war aber sehr, sehr enttäuscht, dass ich „ohne“ angereist bin. Ich habe heute im Shop um die Ecke dann gleich zwei Flaschen gekauft. Beziehungsweise sie sagte: „Kauf doch lieber gleich zwei, eine für uns beide und eine für mich allein, wenn du weg bin“. Klare Anweisung. Für Kenianer ist eine Flasche als reines Vergnügen auch kaum zu bezahlen. Für mich sind es nur 5 Euro.

Eingewöhnungsphase und fröhliche Beerdigungen

Eine Türkin, die keine ist

Am nächsten Tag werde ich von Raphaela wieder etwas hingehalten. Mir wurde ein abwechslungsreiches Informationsprogramm zum Eingewöhnen in der fremden Kultur von der Vermittlungsagentur versprochen. Dafür musste ich ja auch nicht wenig bezahlen. Allerdings wusste ich von Britta, die ein paar Wochen vor mir hier war, dass die Ausflüge von Simon nicht unbedingt durchgeführt werden. Ich muss also meinem Anliegen etwas Nachdruck verleihen. „Heute geht es wieder nicht, der Fahrer hat keine Zeit“, sagt Raphaela. „Dann müssen wir einen anderen nehmen“, sage ich. „So geht es nicht, ich habe für alles vorab mehr als gut bezahlt“. Raphaela lenkt ein.

„Simon hat sicherlich das gesamte Geld für die Bewirtung, bei der Beerdigung seines Bruders, ausgegeben. Bei so einer Beerdigung kommen das ganze Dorf und alle Verwandten zusammen“. Auf meine vorsichtige Nachfrage zur Beerdigung, antwortet sie, dass dieses keineswegs nur ein trauriges Ereignis ist. Es ist eher wie ein großes Fest, welches zwar mit Trauer verbunden ist, aber auch ein Fest der Freude am Leben! Nach der Beerdigung wird am Abend zusammen gegessen – nicht zu knapp getrunken – und am Lagerfeuer getanzt. „Wir feiern das Leben des Verstorbenen und nicht seinen Tod. So ist es halt; einer stirbt, die anderen bleiben, bis du selbst dran ist, bis deine Zeit gekommen ist. Das weiß doch jeder“.

Mit dem Thema „Sterben“ gehen die Kenianer wirklich ganz anders um als ich es kenne – das erfahre ich später noch. Ich habe sehr viele Frauen kennengelernt, die mindestens ein Kind verloren haben oder ihren Ehemann oder – beides. Das Thema „Tod“ ist hier viel gegenwärtiger als bei uns. Die Menschen müssen einfach damit klarkommen. Psychologen gibt es dafür nicht. Es ist der Lauf des Lebens – so wird mir auch später immer wieder der kenianische Blick auf unser aller Dasein erklärt. Viel offener als ich es kenne. Recht haben sie ja. Nur wir wollen es ja eigentlich nicht hören, dass wir geboren werden, um eines Tages wieder zu sterben. Früher oder später. Aus. Vorbei. Ende.

Ich erzähle Raphaela, dass ich eine Patenschaft für ein kenianisches Mädchen übernommen habe und dass ich es, im Laufe der drei Monate meines Aufenthaltes in Kenia, besuchen will. Sie fragt mich, welchem Stamm es angehört. Hm. Keine Ahnung. Ich hatte davon gelesen, aber es schon wieder vergessen, da es mir nicht wichtig erschien. „Dies ist aber von großer Bedeutung“, erklärt sie mir. „Es gibt über 40 Stämme und jeder Stamm hat seine eigene Sprache. Einige mögen die anderen Stämme aus uralter Tradition heraus nicht sonderlich gerne. Die sozialen Beziehungen und Gebräuche sind sehr unterschiedlich. Der eine Stamm setzt viele Kinder in die Welt, kümmert sich aber nicht darum“, sagt Raphaela. Na, das ist mir aber sehr pauschal geäußert, denke ich. „Cheyech ist eine Pokot“ – nun ist es mir wieder eingefallen. Raphaela ist eine Luo, sagt sie stolz. Und ihr Mann Simon? „Natürlich auch! Ich würde nur einen Luo heiraten. Barack Obama ist übrigens auch Luo“, nickt sie zufrieden. „Erfolgreiche Kenianer sind Luos“, erklärt sie mir. Sie steht auf und zeigt mir stolz ein Buch. Das einzige im Regal – die Biographie von Barack Obama. Sie redet von ihm wie von ihrem Bruder.

„Die Einflüsse der Stämme sind bedeutend. Sie entscheiden über die politischen Richtungen und bestimmen auch, ob du einen guten Job bekommst“, sagt sie. „Wenn dein Stamm in der Regierung ist, bekommst du auch einen besseren Job. Wenn du selbst nach Angestellten suchst, nimmst du natürlich erst mal die, aus deiner Familie und andere von deinem Stamm. Wenn du einem anderen Stamm angehörst, kannst du noch so gut qualifiziert sein, dann hast du manchmal Pech“, sie zuckt mit den Schultern, „so ist es halt!“ Ich vermag es nicht zu beurteilen, aber vielleicht ist da was Wahres dran – Vitamin S – sozusagen.

Raphaela bereitet das Mittagessen auf einem kleinen Gaskocher in dem Küchen-Wohn-Kinderzimmer-Raum zu. Ich bekomme schlagartig starke Kopfschmerzen und meine Augen tränen so schlimm, dass ich kaum noch sehen kann. Wie ein blindes Huhn stehe ich da. Raphaela guckt mich nur verständnislos an und schüttelt den Kopf. „Gehe ins Bett und schlafe“, sagt sie, als wäre ich ihr kleines Kind. Ich bin gerade erst in Afrika angekommen und wollte doch problemlos alles meistern! Und ein Gaskocher setzt mich schon außer Gefecht? Das kann ja was werden mit dem Aufenthalt hier. Ich will doch keine Mimose sein. Aber der Kopf hämmert so schlimm, dass mir übel wird. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als mich auf das schäbige Sofa zu legen, die Augen zu schließen und die Mimosen-Gedanken kurzzeitig zur Seite zu schieben. Mist! So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Gedanklich habe ich mit aufgeschnalltem Rucksack, einem Kopftuch gegen die Sonne, einer Flasche Wasser in der Hand, meine Mission munter gemeistert. Und dabei ganz nebenbei noch gut ausgesehen.

Nun denn, willkommen in der Wirklichkeit! Nun liege ich hier mit geröteten Augen, pochenden Kopfschmerzen und Übelkeit wegen der Dünste eines Gaskochers. Ernüchternd. Deprimierend!

Nachmittags geht es mir besser und Raphaela verordnet mir eine Pediküre. Bevor wir in die Stadt gehen, muss ich hübsch gemacht werden. Wir laufen durch die Wohngegend und ich nehme alles interessiert auf. Das Haus von Raphaela ist wirklich schon eines der besseren, muss ich feststellen. Straßen gibt es hier nicht wirklich. Es sind sandige Wege, oft mit einem Rinnsal in der Mitte, in dem Wasser, Dreck und Plastikabfall schwimmen. Es stinkt nach Urin und ein leichter Brandgeruch hängt in der Luft. Wir laufen an vielen kleinen Holzständen vorbei und ich schaue mir neugierig die Angebote an. Viele Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch, Kohl und Früchte. Am nächsten Stand Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch. Hm. Am nächsten Stand – ständige Wiederholung. Das nenne ich mal keinen gut sortierten Handel.

„Sind die Menschen hier arm, aber glücklich?“, frage ich naiv. Raphaela blickt mich verständnislos an. „Was ist denn das für ein Unsinn? Jeder ist doch glücklicher, wenn er mehr hat“. Sie schüttelt den Kopf und zieht die Stirn kraus. „Ist ein Hartz-IV-Empfänger arm, aber glücklich? Die Kenianer beklagen sich nur nicht so häufig wie ihr es macht. Vom Beklagen wird unser Leben ja auch nicht besser“, meint Raphaela, „wir lachen grundsätzlich gerne, nehmen unser Schicksal an und versuchen es zu verbessern“.

Viele der Händler und Passanten blicken mich skeptisch an, sagen aber nichts. Manche freundlich, interessiert. „Einige haben noch nie einen Weißen gesehen“, sagt Raphaela. „Mzungu“ (Weiße), rufen ein paar Erwachsene hinter mir her. Allerdings nur die Männer. Die Frauen sind zurückhaltender. Kinder kommen angerannt und schreien: „Mzungu, Mzungu, how are you?“. Sie versuchen meinen Arm anzufassen, um meine weiße Haut zu berühren. Es stört mich nicht, es amüsiert mich eher, aber Raphaela stört es gewaltig. Sie findet es total unangenehm. Ich bin doch keine Attraktion hier! Es kommen mir vergleichende Gedanken. Wie fühlen sich wohl viele Ausländer in der Fremde? Ich selbst sehe eher südländisch als nordfriesisch aus. Als ich 10 Jahre alt war, ist in der Schule mal ein anderes Kind hinter mir her gerannt und hat „Türkin, Türkin“ geschrien. Ich verstand überhaupt nicht, was der blöde Junge von mir wollte. Er lief aber die ganze Zeit hinter mir her, bis mein Klassenlehrer ihn geschnappt und quasi in den Schwitzkasten (damals durfte er das ganz bestimmt) genommen hat. „Sie ist keine Türkin und selbst wenn es so wäre, hättest du auch nicht das Recht dazu, hinter ihr herzulaufen!“. Ja, genau! Es war aber auch ein besonders dämlicher Junge. Leider belegen die Schlagzeilen heutzutage, dass es einige von dieser Sorte gibt. Das Erschreckende daran ist, dass es keine kleinen Jungs sind!

Ich wurde auch später so oft als Türkin angesehen, sodass ich mich immer gefragt habe, was würde es denn für einen Unterschied machen, wenn ich eine wäre? Als ich vor 20 Jahren bei der Sparkasse in einer Kleinstadt eingestellt wurde, haben einige die Nase gerümpft und auf einem Hausfrauen-Geburtstags-Nachmittag wurde in Anwesenheit einer Kollegin gelästert. „Soweit ist es schon gekommen, dass sie bei der guten Sparkasse Türken einstellen!“. Eine Dame war besonders entsetzt und überlegte, ihr Geld woanders anzulegen, da man ja Ausländern kein Geld anvertrauen könne. Vielleicht war es die Mutter des dämlichen Jungen? Oder sollte es tatsächlich mehr von dieser Sorte geben? Die Erfahrung, oft als „anders“ angesehen zu werden, hat mich schon geprägt. Die Frage ist ja auch, wer ist denn „anders“ und wer nimmt sich das Recht heraus, dieses zu beurteilen?

Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, als wir nach ein paar hundert Metern den Pediküre-Shop erreicht haben. Es ist ein kleiner Holzverschlag, an den Seiten mit Plastikplanen geschützt, vorne offen. Zwei wackelige Holzbänke befinden sich darunter. Fünf Damen sitzen dort und warten geduldig. In der Mitte sitzen zwei Männer im Schneidersitz auf dem staubigen Sandboden. „Wir machen Frauen glücklich“ – fehlt eigentlich noch als Werbeschriftzug. Es kommt mir alles so unwirklich vor. Draußen laufen viele Kinder in dreckigen, zerschlissenen Klamotten vorbei – und in diesem Verschlag werden die Fußnägel schön gemacht?

Sie sind ganz amüsiert, als sie meine hellen Füße sehen, die ich persönlich als gebräunt bezeichnen würde. Der jüngere der beiden Männer nimmt eine kleine Bürste und Seife und säubert als erstes meine Zehen. Es kitzelt fürchterlich. Grr! Jeder einzelne wird eingeseift und geschrubbt, sodass eine kleine Schaumkrone entsteht. Er nimmt seinen Job sehr ernst. Sehr sauber, sehr gründlich. Blitzeblank! Die anderen Frauen amüsieren sich über die Mzungu hier und lachen mich freundlich an. Ich empfinde es nicht als unangenehm und lache zurück. In diesen Teil der Stadt verirren sich selten Ausländer. Einige Schulkinder, die in grünweiß-karierten Uniformen vorbeigehen, bleiben lachend stehen und stupsen ihre Freunde an, zeigen mit dem Finger auf mich. Mzungu im Verschlag! „Schau dir die weißen Füße an!“ Mich belustigt es sehr, dass es alle so amüsiert. Ich fühle mich wohl, ich empfinde das Erstaunen dieser Menschen, mich hier zu sehen, nicht als herabwürdigend. Einige Frauen und Männer schauen im Vorbeigehen ungläubig – ich bin hier so etwas wie eine Erscheinung, habe ich das Gefühl. Eine reiche Weiße lässt sich in einem Holzverschlag die Füße schön machen. Weiße werden hier immer als reich angesehen. Da wird kein Unterschied gemacht, ob Studentin oder Geschäftsführer. Alle sind reich, die mehr haben als sie. Und mehr als sie, haben sicherlich die meisten weißen Menschen.

Nachdem meine Füße auf Hochglanz poliert wurden, kommt der Lack auf die Nägel. Am Ende habe ich diagonal gestrichenen, schwarz-pinken Lack mit einer kleinen weißen Blume auf jedem Zeh, auch auf dem Kleinen! Ein wahres Kunstwerk. Ich bin begeistert, geradezu euphorisch. Schöne Füße – da kann ja nichts mehr schiefgehen.

„Vielleicht schauen wir uns die nächsten Tage auch die Slums an“, sagt Raphaela auf dem Rückweg vom nairobischen Beautysalon. Wie? Welche Slums? Ich dachte, da wäre ich schon mittendrin! Ich beiße mir aber auf die Zunge, gucke sie stumm an und versuche angestrengt meine Stirn nicht kraus zu ziehen und einen neutralen Gesichtsausdruck zu machen. „Kibera“, sagt sie. „Wir müssen mit einem Insider hingehen. Wenn sie eine Weiße alleine sehen, kommst du da nicht ohne weiteres wieder heraus. Es kann unangenehm werden. Selbst ein ortsfremder Kenianer wird sofort erkannt und es kann gefährlich werden“, sagt sie. Muss ich da wirklich hin? Ich weiß nicht. Was ist das? Elendstourismus? Nein, da will ich nicht hin! Mich schaudert es bei dem Gedanken. Vielleicht ist es nicht schlecht für Touristen, die ansonsten nur in den schicken Hotels wohnen und sonst keine Chance haben, das andere Leben, das Elend, zu sehen. Ich denke, ich werde noch genug davon mitbekommen. So oder so.

Als wir wieder bei ihrem Haus ankommen, zeigt Raphaela mir, dass sie vor ihrem jetzigen Haus ein größeres – mit oberer Etage bauen, aber es wird noch einige Zeit dauern, bis sie die Mittel haben, es fertigzustellen. „Vergleichbares findet man in dieser Gegend nicht“, sagt sie stolz. Sie verdienen gut mit der Freiwilligen-Vermittlung – für kenianische Verhältnisse. Die Organisationen übernehmen natürlich gerne den größten Teil der hohen Gebühr. Ist es eigentlich nicht absurd, für das Helfen zu bezahlen? Ja, das ist es! Ich hatte allerdings im Internet kein Waisenheim gefunden, bei dem ich mich direkt engagieren kann. Es ging nur über eine Vermittlungsorganisation und deren Business ist das Verteilen der meist jungen freiwilligen Helfer, die in die Welt hinausströmen.