Für Dancing Boy - Sara Johnsen - E-Book

Für Dancing Boy E-Book

Sara Johnsen

0,0
20,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wie bestimmend ist Sexualität und Biologie für unser Leben? Wie gehen wir mit Verlangen, Lust, Fehlbarkeit, Sehnsucht und Liebe um? Davon erzählt Sara Johnsen mit psychologischem Feingefühl in diesem ungewöhnlichen, spannenden, großen Roman. "Pure Pleasure" ist der Name des Instituts zur Befriedigung sexueller Wünsche, das Lizz und ihr Ehemann Boje gegründet haben, und der Name ist Programm: Mithilfe modernster Technik erleben die Kunden körperliche Sensationen, die sie bisher nicht kannten. Das Institut floriert, Lizz und Boje verdienen gut, aber auch wenn sie sich im teuersten Viertel der Stadt ein Haus kaufen, sie bleiben Außenseiter. Ihre Tochter findet keinen Anschluss, die Nachbarn wollen mit ihnen nichts zu tun haben. Lizz leidet darunter und das führt zunehmend zu Konflikten in ihrer Ehe. Eines Tages kommt ein junger Mann in das Institut, der Lizz damit konfrontiert, dass er eine persönliche Betreuung wünscht, was nach den Regeln der Ethikkommission, der das Institut untersteht, strikt verboten ist. Lizz wehrt das ab, aber als sie feststellt, dass der Mann ein Muttermal an der gleichen Stelle hat wie das Kind, das sie vor vielen Jahren als Leihmutter ausgetragen hat, ist es um ihre Professionalität geschehen. Sie wird von Erinnerungen überschwemmt und von der Sehnsucht nach diesem Sohn, die sie seitdem immer begleitet hat. Er wäre heute im gleichen Alter wie dieser junge Mann, der ihr jetzt gegenübersteht. Ist er es?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 435

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



SARA JOHNSEN

FÜR DANCING BOY

Roman

Aus dem Norwegischenvon Anja Lerz

Verlag Antje Kunstmann

Inhalt

1 DER NATURFREUND

2 DER WUNSCH

3 DAS ERSTGEBORENE

4 SIGURD

5 DIE ERSTE QUELLE

6 DER PREIS

7 ROSI

8 TIMOTHY

9 DIE ZWEITE QUELLE

10 HOCHZEIT

11 AUGE UM AUGE

12 DAS ANGEBOT

13 JESÚS

14 LIZZ

DANK

1DER NATURFREUND

»Haben Sie für jeden etwas?« Das fragen die Kunden häufig, und ich wette, der Mann im Vorzimmer oder im Foyer – wie wir es nennen sollen, wenn es nach Boje ginge – wird die Frage auch gleich stellen. Im Vorzimmer stehen lediglich ein Wasserspender und eine Couch, immerhin eine schicke und teure aus Leder. Ich hole ein Tablet aus dem Regal in der Rezeption, wo Maria sie auflädt und die Hüllen abwischt.

Dieser Kunde hat blonde Locken, ein rundes Gesicht mit einem spitzen Kinn und unendlich breite Schultern, über die sich ein zerknittertes Hemd spannt.

Vermutlich ist er einer der jungen, einsamen Bauern, die immer lange überlegen, ob sie herkommen sollen. Seine großen Hände ruhen an der Seite der Oberschenkel auf dem Sofa. Ich zeige ihm das Portfolio auf dem Tablet.

»Wir haben fünf Gästezimmer«, sage ich. »Vier Standardzimmer und eine Suite, die ist moderner und etwas teurer.«

Die Hände bleiben, wo sie sind.

»Möchten Sie nicht selbst reinschauen?«

Mit gesenktem Blick beuge ich mich vor und lege ihm das Tablet auf den Schoß. Wenn es nach Boje ginge, würden wir die Angebote einfach an der Wand aushängen, aber ich weiß, dass die Leute gerne etwas in der Hand haben. So eine saubere und schicke Angebotsübersicht auf einem Tablet vermittelt doch Sicherheit, und dieses Sicherheitsgefühl ist wichtig für die Wahl des richtigen Programms.

»Fragt sich, ob Sie haben, wonach ich suche«, murmelt er. Als er anfängt zu lesen, sacken seine Schultern leicht ein. Obwohl seine langen Hosenbeine beinahe bis über die Schuhe reichen, kann ich erkennen, dass eins seiner Beine eine etwas unnatürliche Form hat. Ich vermute eine Prothese.

Ein paar Minuten liest er schweigend.

Weil es oft auf eine für alle Seiten unangenehme Diskussion hinausläuft, wenn sich die Kunden zu lange mit dem Angebot aufhalten, fange ich schon an zu reden, bevor er zu Ende gelesen hat.

»Wenn Sie wollen, können Sie eine Beratung buchen. Sie sagen einfach, was Sie möchten, und wir designen ein Programm, das, je nach Inhalt, innerhalb von einer oder zwei Wochen fertig ist.«

»Das ist dann wohl auch sehr teuer?«

Der Blick ist durchdringend, fast schon unverschämt, aber seine blauen Augen sind wunderschön. Beinahe türkis. Ich nicke nur und spare mir die Erklärung, dass sich unsere Mehrkosten für Software und Kreativität auch auf den Preis auswirken. Ist doch Kindergarten, sogar Thelma Tee weiß das, und die sieht überhaupt nicht ein, warum man auf etwas sparen oder warten sollte, bis es im Sonderangebot ist.

»Alles hat seinen Preis, oder?«

»Na ja, das Beste im Leben ist gratis.« Er legt das Tablet neben sich. »Schönes Sofa.«

Ich nicke.

»Als ich klein war, hab ich mich gern nackt auf genau so ein Sofa gekniet und meinen Pimmel in die Ritze gesteckt.« Er steckt den Zeigefinger in den Spalt zwischen den Polstern. »Vermutlich war es ein etwas billigeres Modell, aber es war ein echt gutes Gefühl.«

»In der Richtung haben wir auch etwas im Angebot.«

Er schüttelt den Kopf.

»Haben Sie nichts mit Natur?«

»Natur? Im Sinne von Wildnis?«

»Wildnis? Ja, so könnte man es nennen.«

»Ein Programm mit Natur haben wir, ja.«

Die Unverschämtheit ist aus seinem Blick verschwunden, jetzt ist er neugierig.

»Die Kundin war eine alte Bergsteigerin«, erkläre ich, und mein Herz schlägt etwas schneller. Natur wird nicht oft verlangt. »Aber in dem Programm geht es eher um Natur als ums Klettern.«

»Also um Wald, Wasser, Wind?«

Ich nicke.

»Und warum steht das nicht auf der Liste?«

»Es war eine persönliche Anfertigung, deshalb schien es uns nicht richtig, es in unser Angebot aufzunehmen. Außerdem hätte die Kundin eigentlich das Recht, es die ersten drei Jahre für sich zu behalten.«

»Eigentlich?«

»Sie ist tot, da verfallen sämtliche Rechte.«

»Ist es sehr weiblich?«

»So genau kann ich das nicht sagen. Was suchen Sie denn?«

Er blickt sich um, aber nur er und ich sind im Raum. »Rinde«, sagt er. »Kriegen Sie das hin? Astlöcher vielleicht?«

Die meisten bevorzugen andere Löcher, aber das sage ich nicht, schließlich bin ich Profi. »Wir kriegen alles hin. Das Beste wäre, wie gesagt, eine Beratungsstunde, damit wir alles Ihren Wünschen entsprechend programmieren können.«

Er sitzt da, den Zeigefinger immer noch in der Sofaritze, und betrachtet seine Beine. »Was ist denn so in dem Programm von der Frau?«

Ich atme tief durch, eine kleine Kunstpause, die er mit seinen Erwartungen füllen kann. Er zieht den Finger aus der Ritze und faltet die Hände. Dann fange ich mit geschlossenen Augen und leiser Stimme an zu sprechen. »Sonne, die die Haut wärmt, das Gefühl, sich gegen einen warmen Stein zu lehnen, weicher Regen auf der Kopfhaut, Klettern in den Bergen ohne Seil, feuchtes Moos am Hintern, der Sternenhimmel, die Handfläche an einem Baumstamm, der Geruch eines Lagerfeuers, der Geruch nach Wald, nach Gras.«

Er nimmt meine Hand. Seine ist warm und trocken. Ich drücke sie kurz, als würden wir uns begrüßen, lasse wieder los und fahre fort. »Schlamm in der Poritze, das Geräusch des Windes in den Bäumen, ein Sprung von einer Felskante, das Gefühl, unter Wasser zu schwimmen, Löwen, die sich paaren. Gegen Ende taucht ein Mensch auf, dessen Geschlecht wir ändern können. Momentan ist es ein Mann.«

»Oje. Wenn mich eins nicht anmacht, dann irgendwelche Menschen.«

»Es ist ja nicht für Sie programmiert worden. Aber wie Sie sehen, könnten wir etwas anfertigen, das ganz zu Ihnen passt, nur steht Ihnen das dann heute noch nicht zur Verfügung.«

»Einfach aus dem Programm rausnehmen können Sie ihn nicht, oder?«

Ich schüttele den Kopf. »Dazu müsste ich die Datei kopieren und überarbeiten, dafür habe ich jetzt keine Zeit.«

Er steht auf, schwankt ein bisschen, verlagert das Gewicht auf das gesunde Bein. »Muss ich eben die Augen zumachen.«

»Er hat kein Gesicht«, sage ich. »Falls Ihnen das hilft.«

Der große Mund verzieht sich zu einem Lächeln. Er hat schiefe Zähne und zwischen den Schneidezähnen eine Lücke. »Ein Mensch ohne Gesicht.«

Ich nicke und merke, dass ich ihn jetzt am Haken habe. Dreiviertel aller Männer mögen mich, auch die jüngeren. Mein Gesicht ist nicht schön, fast schon hässlich, trotzdem gibt es drei Gründe, warum Männer mich begehren. Der erste und wichtigste ist mein Mund. Ich habe eine volle Oberlippe mit einem Spalt, der sie in der Mitte teilt, eine kleine rosa Öffnung in meinem warmen weichen Mund, dazu die lästige Angewohnheit, meine Zungenspitze in diese Öffnung zu legen. Außerdem kann ich meine Augen leuchten lassen. Es ist, als hätte ich zwei Laternen im Kopf, und wenn diese Laternen angezündet sind, strahlen meine Augen so, dass das restliche Gesicht dahinter verschwindet. Der dritte ist meine heisere, dunkle Stimme, die offenbar sexy klingt. Als ich jünger war, habe ich sehr viele Komplimente dafür bekommen.

»Vorher muss jeder eine Gesundheitserklärung unterschreiben, die Alten genauso wie die Jungen.«

»Haben Sie das Programm selbst mal ausprobiert?« Er greift nach meinem Arm, als müsste er sich abstützen, aber dann gleitet seine Hand zum Handgelenk hinunter, um meinen Puls zu fühlen.

Boje behauptet, ich sei selbst schuld, wenn so was passiert, und ehrlich gesagt hat er recht. Ich gebe gerne nach, verschwinde in der Lust eines anderen, aber dem jungen Mann geht es nicht um mich. Ich versuche möglichst rücksichtsvoll, meinen Arm aus seinem Griff zu winden. »Ich persönlich würde Ihnen etwas mit mehr Menschen empfehlen. Eine hybride Geschichte vielleicht? Mit Ureinwohnern und Natur. Alles, was wir hier haben, ist genehmigt, keine Menschen oder anderen Lebewesen wurden missbraucht oder in ihrer Würde verletzt, es sind alles Animationen, in 3-D, aber mit Duft und Geschmack.«

Er unterbricht mich. »Ich nehme das mit der Sonne, das für die tote Frau.«

Gemeinsam gehen wir in mein Büro. Er kann sehr gut alleine gehen.

»Hier.« Ich zeige auf die Linie ganz unten auf der Gesundheitserklärung, wo er unterschreiben muss.

In Schönschrift schreibt er seinen Namen, kindliche, feminine Buchstaben – Sigurd V. – und kreuzt an den richtigen Stellen Ja und Nein an. Leute, die Viagra oder Erecticox schlucken, nehmen wir nicht.

»Und was passiert jetzt?«

»Möchten Sie ein Standardzimmer?«

Er zuckt die Achseln, Geld scheint keine Rolle mehr zu spielen.

»Möchten Sie die Suite ausprobieren? Weil Sie sich für etwas entschieden haben, das nicht genau auf Ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist, können wir einen Orgasmus nicht garantieren, aber in der Suite ist die Chance deutlich höher.«

»Warum?«

»Das Bett ist aus Leder, und es gibt sechs zusätzliche Elektroden, zwei für das zentrale Organ, zwei für die Füße und zwei fürs Gesicht.«

Er zieht das Hosenbein hoch, damit ich die Prothese sehe. »Dürfte nicht viel bringen, hier eine Elektrode dranzukleben.«

Das klingt fast, als sei er stolz auf das fehlende Bein.

»Die Prothese könnten Sie abnehmen«, sage ich. »Dann platzieren wir die Elektroden direkt auf dem Stumpf.«

Er schüttelt den Kopf und zieht das Hosenbein wieder runter. Beugt sich vor, legt die Hände auf die Knie und wirkt ratlos. Plötzlich erinnert er mich an einen kleinen Jungen, ein Trollkind mit runden, traurigen Augen und schiefen Zähnen. Am liebsten würde ich ihm ein Glas Milch und ein Stück Schokolade anbieten.

»Es ist wirklich nichts, wovor man sich fürchten muss.«

»Ehrlich gesagt hab ich tatsächlich ein bisschen Angst.«

»In Zimmer 5, das ist die Suite, habe ich nun ›Natur‹ eingestellt. Oder möchten Sie lieber an einem anderen Tag wiederkommen?«

»Nein, ich mach das jetzt oder nie.«

»Also gut.«

»Was passiert als Nächstes?«

»Sie gehen ins Zimmer, ziehen sich aus und legen sich aufs Bett. Dann komme ich, platziere die Elektroden und befestige den Bildschirm. Ist das in Ordnung?«

»Dürfte ich kurz die Toilette benutzen?«

»Zuerst müssen Sie bezahlen. Die Toilette ist ganz hinten im Flur.«

Als ich Zimmer 5 betrete, steht er immer noch neben dem Bett. Er hat sich das Hemd ausgezogen, und die Hose liegt auf dem Boden. Die am rechten Knie befestigte Prothese endet in einem künstlichen Fuß.

»Die Unterhose auch?«

»Das bleibt ganz Ihnen überlassen, aber wenn Sie sie anbehalten, kommen die Signale nicht so stark an, deshalb würde ich empfehlen, sie auszuziehen.«

»Ich habe mir schon gedacht, dass Sie das sagen.«

Er zieht sich den Slip mit einer Hand runter. Ich wende mich ab, hebe die Hose auf und lege sie auf den Stuhl neben der Wand. Plötzlich beginnt mein Herz zu rasen; links neben dem Nabel hat er ein schokoladenbraunes Muttermal. Es waren schon öfter Kunden mit einem Muttermal hier; eigentlich will ich sie mir gar nicht mehr anschauen, aber ich kann nicht anders, ich tue es trotzdem. Nackt steht er neben dem Bett und schaut mich ebenfalls an. Eine ganze Weile schon. Am liebsten würde ich sagen, wenn er zwei gesunde Beine hätte, hätte ich seine Kleider nicht aufgehoben, aber ich versuche einfach, ruhig weiterzuatmen, weil es so aufregend ist, ihn zu betrachten. Seine Brust ist eingesunken und die Haut vernarbt, die Arme sind muskulös und der Bauch ist irgendwie eingefallen. Ein bisschen sieht er aus wie ein Hund oder Wolf, der auf den Hinterbeinen steht. Er stützt sich mit den Armen ab, schwingt sich aufs Bett und legt sich hin. Sein Herz schlägt wie wild, das spüre ich, denn es schlägt im Gleichtakt mit meinem. Nach einem weiteren Blick auf das Muttermal streife ich mir die dünnen Baumwollhandschuhe über, die ich beim Anbringen der Elektroden immer trage.

Bei meiner Arbeit sehe ich viele Körper. Die meisten sind nicht schön und vom Leben gezeichnet, darum kann ich Thelma Tee versichern, dass sie sich keine Sorgen machen muss, weil sie auf jeden Fall ganz vorne mitspielt, oder jedenfalls ziemlich weit vorne, aber wer hört mit dreizehn schon auf seine Mutter?

Sigurd V. ist durchtrainiert und abgesehen von seinem fehlenden Bein gesund, keine Schönheitsoperationen oder Botox, und er reagiert sehr schön. Gesunde Kunden werden schon lange bevor es losgeht geil, und auch bei ihm zeigt sich schon eine leichte Erektion. Sein Schwanz hat eine gute Größe, ist ein bisschen nach links gekrümmt. Wenn er nackt in der Sonne läge, würde sein Ständer einen Schatten auf das Muttermal werfen. Mit geschlossenen Augen liegt er jetzt da, die Arme seitlich am Körper, und sein Zeigefinger zuckt ganz leicht.

Ich setze ihm die weichsten Kopfhörer auf, die wir haben, und platziere einen der besten Bildschirme vor seinen Augen.

Gleich geht es los.

»Vorher müssen Sie noch die Vorschriften über sich ergehen lassen, aber das dauert nur ein paar Minuten.«

Er hebt die Hand zum Zeichen, dass das okay ist.

Früher, bevor ich Boje kennenlernte und wir die Firma gründeten, arbeitete ich in einer Bar. Meine Aufgabe dort bestand darin, dem Publikum erotische Geschichten zu erzählen, und für die Dramaturgie unserer Programme habe ich vieles aus der Zeit übernommen. Zuerst muss man die Leute in die Geschichte hineinziehen, indem man mit etwas beginnt, das sie erwarten. Dabei kann man auch schon einige Überraschungen einbauen, um die Spannung zu erhöhen. Das kann ein Detail sein, ein Duft, ein Geschmack oder ein Geräusch. Das Orgasmusprogramm Natur beginnt mit dem Geräusch, wie der Wind in den Blättern rauscht. Das Subjekt liegt unter den Bäumen, während es den Wind hört und auf seiner Haut spürt. Es wird in die Bäume gehoben. Diese abrupte Veränderung funktioniert bei den meisten, man hat das Gefühl, fast keine andere Wahl zu haben, als der Lust nachzugeben. Der erste sogenannte »Point of No Return« ist früh erreicht. Ich baue immer drei dramatische Höhepunkte in die Geschichte ein, von denen eigentlich erst der letzte zum Orgasmus führen soll, aber die meisten kommen schon davor.

»Bleibst du hier?«

Er atmet schon schwer, er wird nicht lange brauchen.

»Ich muss zurück an die Rezeption«, sage ich, bleibe aber stehen und schaue zu, wie sein ganzer Körper, von der Prothese einmal abgesehen, zu zittern beginnt.

Ich will Boje von dem Muttermal erzählen, aber er geht nicht ran, außerdem kommen zwei neue Kunden herein.

Die erste ist eine Frau aus unserer Nachbarschaft, die so tut, als würde sie mich nicht kennen. Wahrscheinlich aus Scham, aber ich kenne diese hochgezogenen Augenbrauen. Ich weiß, sie wird jetzt das ganze Angebot durchgehen und sich schließlich doch für den Klassiker entscheiden: »Die Sauna«. Das ist immer noch eine der beliebtesten Geschichten, die ich mir ausgedacht habe.

Ganz zu Anfang gab es in der Orgasmerie, der wir nach vielem Hin und Her den Namen »Pure Pleasure« gaben, nur zwei Geschichten: »Die Sauna« für Frauen und »Das Au-pair« für Männer. Ursprünglich war Boje für das Programmieren und das Sounddesign zuständig. Damals gab es Sensoren aus Japan, mit denen Wasser und Wärme simuliert werden konnten, und in »Die Sauna« geht es um eine Frau in einem Thermalbad. Sie setzt sich in die Sauna, und ein junger Mann, der gerade Becken geputzt hat, kommt zu ihr herein. Er ist eine unserer ersten Animationen, deshalb ist sein Gesicht ganz verpixelt, aber seine Zunge ist rosa, und er steckt sie zwischen ihre warmen Schamlippen. Die Schockwirkung, die wir damals damit erzielten, funktioniert bis heute perfekt und ist immer noch äußerst beliebt.

Frauen mögen eher Geschichten, die so aufgebaut sind, dass sie von Anfang an in alles miteinbezogen werden, Männer dagegen eher solche, in denen sie versuchen, eine Art Moral aufrechtzuerhalten, bis die Lust sie dann mit solcher Wucht überkommt, dass sie gar nicht mehr anders können und einfach nachgeben müssen. Den Affen Zucker geben, sagt Boje. Der Ethikrat und diverse Wissenschaftler können gerne behaupten, dass es zwischen Frauen und Männern keinen Unterschied gibt, aber was sexuelle Präferenzen angeht, sind sie auf jeden Fall total unterschiedlich. Wenn man es so sieht, bin ich die Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Kunde Nummer zwei heute ist Osman, der sich kein bisschen dafür schämt, zu uns zu kommen. Er hat vier Kinder und zwei Ex-Frauen, arbeitet im Einkaufszentrum und braucht mindestens vier Orgasmen pro Woche. Da muss eine Menge Druck raus, und wir haben das passende Programm dafür entwickelt und immer weiter angepasst: Angefangen hat er mit einer schlichten Fahrstuhlfantasie, aber inzwischen ist er bei einer wilden Sexparty angekommen, mit Frauen, die ihm einen blasen, die er sich einfach nimmt, wenn er will, und die ihn sich einfach nehmen, wenn sie wollen. Jedes Mal kommt Osman mit roten Wangen und strubbeligen Haaren wieder heraus. Für ihn habe ich zwei Geschichten designt; dabei habe ich alles getan, damit er eine gute Zeit hat. Die Stammkunden halten den Laden schließlich am Laufen, sagt Boje immer.

Manchmal bringt Osman Dosen mit kleinen, süßen Kuchen mit. Obwohl ich Thelma Tee jedes Mal zum Probieren überreden will, isst sie am Ende dann doch unsere Putzkraft.

Boje ist immer noch nicht aufgetaucht, dabei hat er versprochen, Thelma von der Schule abzuholen. Hoffentlich hat er nicht schon wieder verschlafen. Ich ärgere mich ständig über Boje, aber jetzt werde ich schon langsam richtig wütend.

Als ich zum dritten Mal versuche, ihn anzurufen, kommt der Naturfreund rein und bleibt vor dem Tresen stehen. Er sieht entspannt und zufrieden aus. Ich lege mein Handy weg. »War alles in Ordnung?«

Er nickt. »Sie haben nicht zufällig Zeit für einen Kaffee? Oder ein Bier?«

Meine Laternen beginnen zu leuchten. »Ein andermal vielleicht.«

Warum um alles in der Welt habe ich das gesagt? Es ist streng verboten, mit Kunden Kaffee zu trinken. Auf persönliche Beziehungen reagiert der Ethikrat mit strengen Maßnahmen, mit Bußgeldern und Strafpunkten. Und das aus gutem Grund, schließlich könnten sich die Machtverhältnisse verschieben und alles Mögliche passieren, was die Experten in Wallung bringt. Es könnte sich jemand gekränkt oder schlecht behandelt fühlen. Der Ethikrat nimmt es unglaublich ernst, wenn sich jemand benachteiligt fühlt. Für mich selbst war das hingegen immer die größte Motivation, ich ziehe Kraft aus all den Kränkungen. Sie bringen mich dazu, einen Gang hochzuschalten und doppelt so schnell und doppelt so hart zu arbeiten. Manchmal denke ich, die Menschen machen es sich zu einfach, wenn sie sich beklagen, wie sehr sie benachteiligt werden und dass das schon fast systemisch ist. Die sollen sich mal nicht so anstellen. Aber dann denke ich an Thelma und wie verletzlich sie ist, und dann bin ich trotz allem wieder froh über die Regeln. Ich weiß natürlich, dass es ihr nichts bringt, wenn ich mir Sorgen mache. Unsere Sorgen bringen uns nicht weiter; letztlich sind die Regeln und Vorschriften dazu da, Leute wie Thelma Tee zu schützen, und das ist gut. Denn sie und ihre Generation sind die Zukunft, auch wenn sie sich vor Dingen fürchten, von denen keine Gefahr ausgeht, wie zum Beispiel Nacktbildern und bestimmten Nahrungsmitteln.

»Dann komm ich morgen zu einer Beratungsstunde wieder.«

Ich werfe einen Blick auf meinen Computer. »Ich habe frühestens am Mittwoch wieder was frei.«

»Aber wir könnten doch einen Kaffee trinken? Darf ich Ihre Nummer haben?«

Meine Nummer gebe ich nie an Kunden heraus, das ist, wie gesagt, streng verboten. Meine Hand zittert ein bisschen, als ich die Zahlen aufschreibe.

Er geht zur Tür, durch die Licht hereinfällt. Das blaue Hemd klebt ihm am Rücken.

Mein Handy vibriert; eine Nachricht von Thelma Tee: Bauchweh, will heim, kannst du mich JETZT abholen?

Wie konnte ich bloß mit Boje ein Kind bekommen? Er hat fast ausschließlich schlechte Eigenschaften, ist jähzornig, egozentrisch und leicht reizbar. Abgesehen von seinen Saufkumpanen und den Nachbarn, mit denen er raucht, halten es nur wenige länger mit ihm aus. Boje schafft es zwar, jeden zum Lachen zu bringen, zugegeben, er kann auch mal charmant und anders sein, und er verkauft sich gut, aber in meinen Augen ist er manipulativ. Im Grunde genommen ist er schüchtern und sozial unsicher, und ich hätte wissen müssen, dass jemand wie Thelma Tee diese Unsicherheit erben würde und darum kämpfen müsste, wahrgenommen zu werden. Sie verbringt sehr viel Zeit allein und ihr fehlen die Fähigkeiten, um aus dieser Einsamkeit herauszufinden. Außerdem ist Thelma viel zu schlau und stolz, um sich anderen anzubiedern.

Bojes Eigenschaften verschaffen ihm keine Freunde, aber Frauen. Zurzeit hat er mich. Warum? Er kann Frauen befriedigen, darin ist er wirklich gut. Alles mit Körper und Lust ist sozusagen sein Ding. Immer, wenn ich ihn besonders hasse, schiebt er mir seine heißen Hände unter die Bluse. Er hat glühende Kohlen unter den Handflächen und riecht gut, aber er ist hässlich wie ein Wildschwein, und außerdem fehlt ihm ein Finger. Es ist seltsam, aber obwohl Boje und ich im Zirkus oder Zoo ausgestellt werden könnten, weil wir Höhlenmenschen ähnlicher sehen als die meisten Leute, ist Thelma Tee außergewöhnlich schön. Sie ist nur viel zu dünn.

Weil Boje den Anruf nicht annimmt, schreibe ich Thelma, dass ich in der Firma alleine bin, und frage, ob sie ein Taxi hierher nehmen kann.

Was ist mit Papa?

Glaube, er schläft. Er antwortet nicht.

Thelma kommt nicht gern her, sie schämt sich für uns. Boje meint, das würde sie sowieso, weil sie jetzt in einem Alter ist, in dem einem alles peinlich ist. Diese Scham verletzt mich. Wenn es einen Menschen auf dieser Welt gibt, von dem ich mir wünsche, dass er mich mag, dann ist das Thelma, und nach allem, was ich durchgemacht habe, glaube ich, dass wir eine engere Beziehung zueinander haben als andere Mütter und ihre Kinder. Ganz egal, wie sie entstanden sind.

Schlechtes Timing ist die Geißel meines Lebens. Thelmas Taxi hält genau in dem Moment draußen an, als die Frau aus der Nachbarschaft den Flur entlangkommt. Als sie Thelma mit dem Rucksack über der Schulter und der Sonne im Haar über die Brücke kommen sieht, macht sie auf der Stelle kehrt und verschwindet wieder in einem der Zimmer. Ich glaube, sie hat einen Sohn in der Klasse unter Thelmas; vermutlich hat sie Angst, dass Thelma sie verrät. Aber Thelma würde nie erzählen, dass sie jemanden bei uns gesehen hat. Thelma erzählt überhaupt nie irgendetwas in der Schule, sie spricht mit den anderen Schülern nicht mehr als unbedingt nötig. Mit mir dagegen redet sie die ganze Zeit, und wenn Boje spricht, macht sie seine heisere, schnarrende Stimme so nach, dass ich lachen muss. Jetzt steht sie draußen vor der Tür, als wäre sie zu schwach oder hätte keine Lust, sie zu öffnen. Ich winke sie herein, doch sie bleibt stehen und winkt mich raus. Erst da kapiere ich, dass ich das Taxi bezahlen soll.

Unsere Geschäftsräume befinden sich in einem Gebäude am Ufer des Akerselva, das, als Boje und ich es fanden, total heruntergekommen war. Früher war es eine Fabrik, dann ein Konzertschuppen, eine Werbeagentur, eine Teststation und zuletzt eine Suppenküche. Als uns der Kredit für den Kauf des Ladens bewilligt wurde, waren wir glücklich und verliebt, und Boje erklärte allen, dass wir unsere Firma mit umweltfreundlichem Strom aus Solarzellen und Wasserkraft betreiben würden. Weil wir auf alle Öko-Sachen günstige Kredite bekamen, konnten wir der Bank das Geld schon in den ersten drei Jahren zurückzahlen.

Direkt vor der Eingangstür führt eine Brücke über den Fluss. Thelma Tee steht am Geländer und schaut melancholisch in das stoisch fließende Gewässer. Wenn sie so drauf ist, bringt es nichts, sie zu umarmen. Sie will da nicht warten, und ich schäme mich für den säuerlichen Geruch des Wasserfalls auf der anderen Seite. Ich eile über die Brücke und bezahle das Taxi. Auf dem Rückweg kommt uns Osman mit dem Handy am Ohr entgegen und nickt mir zu. Er trägt weiße Laufschuhe und sieht so energiegeladen aus wie ein Tennisstar.

Thelma Tee möchte unbedingt hinter dem Empfangstresen sitzen und nirgends sonst, weil sie fürchtet, für eine Kundin gehalten zu werden, dabei liegt die Altersgrenze bei sechzehn, und Thelma sieht noch aus wie ein kleines Mädchen.

»Können wir bald nach Hause?« Sie schafft es nicht mal, die Augen zu öffnen.

Ich klopfe kurz an die Zimmertür der Frau aus der Nachbarschaft und sage, dass die Stunde um ist.

»Wie können Sie nur Ihr Kind hierherkommen lassen?«

Verlegen stammele ich, dass Thelma krank ist und hinterm Tresen sitzt und sie ganz bestimmt nicht sieht.

Ich weiß noch, dass Boje und ich nach Thelmas Geburt Angst hatten, man würde sie uns wegnehmen, vor allem wegen mir und meiner Vergangenheit, aber auch, weil Boje im Gefängnis gewesen war. Doch dann schrieb das Jugendamt Sachen wie »liebevolle und gute Eltern« in den Bericht, und wahrscheinlich hatte nie jemand vor, sie uns wegzunehmen. Trotzdem trage ich diese Angst immer noch in mir, diese tiefe Furcht, dass ich Thelma nicht behalten darf, dass ich irgendwann auch sie verlieren werde.

Im Auto auf dem Weg nach Hause darf sie diese schreckliche Musik anmachen, die sie so mag, und singt mit ihrer reizenden Stimme mit. Ich bekomme eine Nachricht, die sie mir vorliest, weil wir beide glauben, sie sei von Boje: Nicht die Verabredung zum Kaffee vergessen, muss etwas Wichtiges erzählen. S.

Sie schaut mich mit ihren hellen Augen an, und mein Herz schlägt schneller. »Wer ist das?«

Vor Thelma habe ich keine Geheimnisse. Wenn in der eigenen Vergangenheit so viel Dunkles ist, ist das am besten. Boje hält seine Vergangenheit vor ihr geheim, weil sie noch schlimmer ist als meine.

»Heute war ein Kunde da, und irgendwie habe ich gehofft, er könnte vielleicht der Junge sein, den ich weggegeben habe.«

Thelma stöhnt. »Welcher denn?«

»Der erste.«

»Wie kommst du auf die Idee?«

»Er hatte ein Muttermal auf dem Bauch.«

»Du hast ihn nackt gesehen?«

Ich biege in die Auffahrt vor der Garage ein.

»Du bist echt so eklig!«

Noch bevor wir richtig zum Stehen kommen, öffnet Thelma die Tür. Sie geht zum Blumenbeet und tut so, als würde sie sich übergeben.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich glaube, mein Junge sei bei Pure Pleasure aufgetaucht. Ich hoffe auf einen sanften, einsamen Mann, der sich sein Leben lang danach gesehnt hat, mich kennenzulernen. Anfangs war Boje sehr rücksichtsvoll, und wir spielten beide Detektiv, aber inzwischen haben sowohl er als auch Thelma genug von meiner Sehnsucht, sie sind es leid, dass ich ständig über den Halbbruder spreche, den Thelma irgendwo da draußen hat.

Mein Sohn hat ein Recht darauf, zu erfahren, wer ich bin, und Kontakt aufzunehmen. Das Gesetz wurde verabschiedet, als ich Nummer zwei bekam, mit rückwirkender Gültigkeit. So ganz unrealistisch ist es also nicht, dass er eines Tages auftaucht. Als Thelma klein war, erzählte ich ihr ein Märchen über eine einsame, traurige Prinzessin. Eines Tages traf die Prinzessin einen jungen Mann, der einen schweren Stein über einen Fluss tragen sollte. Doch der Stein wurde vom Wasser so rutschig, dass er ihn nicht alleine tragen konnte. Da gab die Prinzessin dem jungen Mann ihren Umhang, in den sie den Stein legten, und so konnten sie ihn zusammen hinübertragen. Danach lud er sie zum Essen ein, und sie lernten einander besser kennen. Er erzählte ihr, dass er in die Welt hinausgezogen sei, um seine kleine Schwester zu finden, und dass jene ein Zeichen am Körper tragen würde. Da zeigte ihm die Prinzessin das Muttermal an ihrem Bauch, das inzwischen jedoch verblasst war.

»Erzähl von dem Schmetterling«, forderte Thelma an dieser Stelle immer. Also erzählte ich von dem schönen braunen Schmetterling, der sich eines Nachts von Thelmas Muttermal losgerissen hatte und so lange herumgeflattert war, bis er schließlich auf der Nasenspitze ihres älteren Bruders landete, wo er mit den Flügeln geschlagen und von Thelma erzählt hatte. Und so folgte der Bruder dem Schmetterling über Wasser und Land, bis er Thelma endlich fand. Am Ende der Geschichte, bei ihrem gemeinsamen Essen, kam der kleine Schmetterling und setzte sich auf Thelmas Muttermal und passte so wunderbar perfekt darauf, dass er mit ihrer Haut verschmolz. Der Bruder hatte ein ähnliches Muttermal und verstand auf diese Weise, dass er seine kleine Schwester gefunden hatte.

Boje und ich kamen in dem Märchen nicht vor, klar. Unsere Geschichten passen nicht in Erzählungen von Prinzessinnen und Schmetterlingen.

2DER WUNSCH

Meine Mutter war psychisch krank. Wir besaßen vier Messer, eins für Fleisch, eins für Fisch, eins für Gemüse und eins für Brot, und ich musste jeden Abend zuschauen, wie sie die Messer in eine Schublade legte, diese abschloss und mir den Schlüssel gab. »Pass gut darauf auf, kleine Lizz«, nuschelte sie. Manchmal rief sie sogar mitten in der Nacht: »Hast du den Schlüssel? Hast du den Schlüssel?«

Sie fürchtete, sie könnte mich erstechen, wenn sie aufwachte, weil die Wirkung des Alkohols nachließ und die Angstzustände einsetzten. Arme, böse, liebe Mama. Vom Tag meiner Geburt an fürchtete sie, sie könnte mich im Schlaf umbringen. Das sagte sie oft, und immer war in ihrem Blick die Bitte um Hilfe oder zumindest um so etwas wie Verständnis. Mama schämte sich und das machte sie wütend. Sie hasste es, sich zu schämen. Manchmal stellte ich mir vor, wie sie den Schlüssel in die Finger bekommt, sich dann aber nicht für eins der Messer entscheiden kann, weil Papa mich sein »Goldperlenfröschlein« nannte, und ob ein Frosch eher Fisch oder eher Fleisch ist, ist schwer zu sagen. Vor den Messern hatte ich sowieso keine Angst.

Vor meiner Mutter auch nicht, denn obwohl sie wie ein zorniger Hund aussah, wenn sie die Kontrolle über sich verlor, und ich in ihren Augen so was wie Hass erkannte, wusste ich genau, dass sie mir nie wehtun würde. Jedenfalls nicht körperlich.

Während des ersten Vorstellungsgesprächs vor meiner ersten Schwangerschaft antwortete ich auf die Frage, ob meine Mutter mich liebte, laut und deutlich mit Ja. Das war, bevor ich Thelma Tee bekam und wusste, was Mutterliebe ist.

Meine Geschichte als Leihmutter begann damit, dass wir in der Schule einen Film über eins der vielen Paare anschauten, die keine Kinder bekommen konnten. Am Schluss zerbrach sogar ihre Beziehung daran, und die Frau versuchte, sich das Leben zu nehmen. Im Film wurde geweint, im Klassenzimmer auch. Die Trauer des kinderlosen Paares wirkte so unendlich viel größer als unser Kummer über Pickel und Menstruationsbeschwerden. Einige Wochen später schauten wir noch einen Film, in dem es um eine Pilotin ging, die keine Kinder bekommen konnte, und ihre unfruchtbare Partnerin. Die beiden lernten ein junges Mädchen kennen, das auf der Straße Schmuck verkaufte. Der Freund des Mädchens saß wegen Bankraubs im Gefängnis. Eigentlich war er unschuldig, konnte sich aber keinen Anwalt leisten. Das Paar arrangierte alles so, dass dem Mädchen eine mit dem Sperma ihres Freundes befruchtete Eizelle der Pilotin eingesetzt wurde. Das schwangere Mädchen zog bei der Freundin der Pilotin ein und wurde wie eine Tochter für die beiden. Nach der Geburt überließ sie dem Paar das Baby und bekam dafür genug Geld, um ihren Freund aus dem Gefängnis zu holen.

Die Filme waren Teil des »Menschen, Verantwortung und Körper«-Unterrichts, und drei von uns ließen sich davon ködern. Wenke, Kaja und ich gingen zusammen zu einer Beratungsstelle, wo man uns erklärte, wir könnten uns als Leihmütter das Geld für unsere Ausbildung verdienen. Wenke bekam kalte Füße, als die Beraterin erklärte, dass wir während der gesamten Schwangerschaft im »Ønsket« wohnen müssten, dem Wunsch-Haus, einer Art Heim, wo auch die Geburt stattfinden würde. »Ønsket« lag vierhundert Kilometer von Oslo entfernt auf der Halbinsel Lista. Die Beraterin zeigte uns Bilder von Sanddünen, Windmühlen und dem Meer. Kaja und ich hatten nichts dagegen, von zu Hause wegzukommen, wir füllten die Formulare aus und teilten uns auf dem Schulhof eine letzte Zigarette. Leihmütter müssten kerngesund und fortpflanzungsfähig wie Karnickel sein, sagte die Beraterin. Schon während unserer Zeit im »Ønsket« könnten wir ein Studium beginnen, und wenn das Kind dann auf der Welt sei, würden wir einen Betrag erhalten, der dem Jahresgehalt einer ungelernten Arbeitskraft entspricht.

Mama und Papa rasteten komplett aus, als ich ihnen von meinen Plänen erzählte. Lieber würden sie das Haus beleihen und mir die gleiche Summe geben, wenn ich diesen Plan aufgäbe, schimpfte Papa. Aber ich wusste genau, alles, was ich von Mama bekäme, würde ich ihr am Ende doppelt zurückzahlen müssen – das war mir völlig klar. Mama sagte immer wieder, es wäre ihr Fehler, dass ich bereit sei, ihr Enkelkind wegzugeben, weil sie so eine schlechte Mutter gewesen sei. Als sie später am Abend einen sitzen hatte, fragte sie mich, ob ich denn keine Angst hätte, dass das Kind auch mit einer Lippenspalte zur Welt kommen würde, solche Missbildungen seien schließlich erblich. Und was wäre, wenn die künftigen Eltern das Kind deswegen nicht haben wollten? Ich erwiderte, dass sich darum bestimmt das Jugendamt kümmern würde, und ich wollte eben auch meinen Beitrag für die Gesellschaft leisten. Dabei schaute ich Papa an, aber der murmelte nur was von Propaganda und Gehirnwäsche der Jugend.

»Es war nicht einfach, dich zu stillen«, sagte Mama. »Das erforderte viel Geduld und Liebe.«

Geduld war nun wirklich das Allerletzte, das ich mit jemand aus meiner Familie in Verbindung gebracht hätte, aber ich ließ das so stehen, weil meine Mama ein gutes Herz hatte. Sie hatte es nicht leicht gehabt im Leben und behauptete immer, sie sei an allem schuld; dabei kam es mir oft so vor, als würden alle ihre Geschichten darauf hinauslaufen, was für ein unmögliches Kind ich gewesen war. Ihr größter Fehler war angeblich, dass sie immer alles für mich geregelt hätte und ich deshalb nun nicht mehr auf sie hören würde. Angeblich hatte ihre »Fürsorge« etwas damit zu tun, dass ich sozial noch nicht reif genug war. Ich wäre für mein Alter zwar groß und weit entwickelt, innerlich aber noch sehr kindlich. Bis ich etwa dreizehn war, hätte ich keinerlei Sozialkompetenz gehabt, behauptete sie und umarmte mich, als sie mir das ins Ohr flüsterte, damit ich es nicht falsch verstand. Ihre Umarmung ängstigte mich. Mama stellte mich als ein eigensinniges Gefühlsmonster hin, das immer über alle bestimmen wollte, ein kleines Mädchen, das sich heulend zu Boden warf, wenn es seinen Willen nicht bekam, und sämtliche Freundinnen sofort wieder vergraulte. Sie sagte, sie habe ja versucht, auf mich einzuwirken und mir zu helfen, indem sie sich für mich immer wieder entschuldigte, wenn ich wieder jemanden beleidigt hatte, auch schriftlich.

Aber von den Dingen, an die ich mich erinnerte, wie die Messer in der Schublade oder ihre Tobsuchtsanfälle, sagte Mama kein Wort.

Ich war achtzehn und fast mit der Schule fertig, als Kaja und ich zum ersten Vorstellungsgespräch beim Institut für Bevölkerungswachstum gingen. Zuerst sollte ich mit einer Sozialarbeiterin reden. Sie fragte mich, ob es mir schwerfallen würde, das Kind nach der Geburt wegzugeben, ob ich missbraucht worden sei oder Suizidgedanken hätte, ob meine Eltern noch verheiratet waren und ob es in meiner Familie Erbkrankheiten gab. Die Lippenspalte erwähnte sie nicht, bat aber um Einsicht in unsere Patientenakten. Das war sowieso Pflicht und für mich völlig in Ordnung. Papa weigerte sich, seine herauszugeben, aber Mama gab nach und gewährte ihnen Einsicht. Sie habe viele Leiden, sagte sie, aber nichts zu verbergen, und wenn eine ihrer Krankheiten erblich wäre, würde ich vielleicht davon ablassen, Leib und Seele an wildfremde Menschen zu verkaufen, wie sie es nannte, aber sie meinte wohl eher meinen Leib und meine Eizellen.

Eine Ärztin wog und maß uns, nahm Blutproben und untersuchte uns innen und außen. Ich hatte mich schon vielen Menschen gezeigt, aber noch nie jemandem in Mamas Alter. Als die Ärztin sich zwischen meine Beine beugte, sah ich, dass über einem Ohr eine kahle Stelle in ihrem dunklen Haar war. Die Haut dort war kreideweiß. Immer wenn ich solche kleinen Mängel wie meine Lippenspalte bei anderen entdecke, muss ich an Tiere denken, an Kaninchen, Hunde, die Augen kleiner Dachse, die aus dem Müll hervorschauen, Vögel mit gebrochenen Flügeln. Unsere Mängel erinnern mich an herrenlose und dem Schicksal ausgelieferte Tiere. Während mir die Ärztin mit der kahlen Stelle erklärte, dass sie lediglich eine kleine Probe nehmen wollte, hatte ich das Gefühl, eine große, schlanke Bärin würde die Innenseiten meiner Schenkel berühren und mir ein kühles Instrument in den Körper schieben. Wenn sie sprach, ahnte ich eine rosa Zunge zwischen ihren Lippen, und trotz der Plastikhandschuhe strahlten ihre großen Hände Wärme aus. Unangenehm war es nicht, aber ich bekam Herzklopfen und mir stand der Schweiß auf der Stirn. Plötzlich bekam ich Angst. Vielleicht lag es an der kahlen Stelle oder wie sich ihre Hände auf meinen Beinen anfühlten, aber auf einmal hatte ich das Gefühl, das, was vor mir lag, würde viel schwieriger und völlig anders werden, als ich es mir vorstellte.

Anschließend wurden Kaja und ich im Haus auf einem blauen Sofa und draußen im Garten unter einem Baum fotografiert. Lächelnd und mit ernstem Gesicht, von der Seite und von vorne. Der Fotograf war ein junger Mann mit Schnurrbart, der uns nebenbei erzählte, dass er zweimal Spender gewesen sei, nun aber eine Freundin hätte, die eifersüchtig würde, wenn er es noch mal täte. Und dann fragte er Kaja, nicht mich, ob sie einen Freund habe. Kaja erwiderte, sie habe mehrere, auch wenn ihn das einen feuchten Kehricht anginge. So ein altmodisches Wort hatte ich von ihr noch nie gehört. Sie zwinkerte mir zu, während er an seiner Kamera herumfummelte.

Nach den Fotos sollten wir an einer Informationsveranstaltung teilnehmen.

Wir bekamen Kaffee in kleinen weißen Bechern und Feigentörtchen. Kaja erzählte, sie hätte nach der Untersuchung durch die Bärin zu bluten begonnen, und fragte, ob ich eine Binde dabeihätte. Weil ich keine hatte, schlug ich vor, sie solle eine von den Servietten nehmen, auf denen die Feigentörtchen lagen.

Als Kaja auf dem Klo war, beobachtete ich verstohlen die anderen drei. Eine war schon älter, schon richtig erwachsen, und hatte einen Rock an und schicke Stiefeletten und starrte aus dem Fenster. Die anderen zwei waren in unserem Alter, sie hatten Turnschuhe an und zappelten ungeduldig herum. Beide rochen nach Zigaretten.

Als Kaja zurückkam, wandte sich die Ältere an uns.

Sie heiße Kari, sagte sie, und freue sich, uns kennenzulernen. Ehe wir uns in den vorbereiteten Stuhlkreis setzten, sollten wir uns vorstellen.

Kari erzählte, sie sei bereits zwei Mal Leihmutter gewesen, habe nun aber drei eigene Kinder, eine ganz normale, nette Familie. »Viele aus meiner Generation sind nach den ganzen Impfungen unfreiwillig kinderlos.« Sie habe es als Pflicht und Freude empfunden, anderen zu helfen. Es ginge darum, als Nation zusammenzuhalten und Verantwortung für das Bevölkerungswachstum zu übernehmen. »Neue Menschen müssen geboren werden, damit andere alt werden können.« Vielleicht hatte sie vergessen, dass wir das schon hundertmal in »Menschen, Verantwortung und Körper« gehört hatten.

»Ist das hier jetzt das Informationstreffen?«, fragte eins der Mädchen, und Kari nickte und führte weiter aus, dass man auf zweierlei Art Leihmutter sein konnte: entweder mit einer eigenen Eizelle oder aber mit der Eizelle einer anderen Frau. Am besten bezahlt wurde man für eigene Eizellen, weil man damit eigenes Material beisteuerte.

»Und dann ist man die biologische Mutter«, warf dasselbe Mädchen ein, mit Betonung auf biologisch. Wahrscheinlich hatte sie ADHS oder so, weil sie kaum eine Minute still sitzen konnte. Ihr Blick wanderte ständig hin und her und ihre Füße zappelten. Ich fand es merkwürdig, dass sie mit dieser Energie überhaupt Leihmutter werden durfte.

Kari nickte zweimal und lächelte. Es sei mit das Allerschönste, was sie je erlebt habe, sagte sie, biologische Mutter werden zu dürfen, aus sich selbst heraus einen neuen Menschen hervorzubringen. Die meisten Paare wünschten sich Eizellen von einer Leihmutter, die ähnlich aussah wie sie, obwohl empfohlen wurde, das Kind über seine biologische Herkunft aufzuklären; man war aber nicht dazu verpflichtet. Wenn zwei gleichgeschlechtliche Partner Eltern werden wollten, wollten sie meistens einen Spender, der der biologisch nicht beteiligten Seite entsprach. Der Prozess, den wir durchlaufen würden, sei eine gleichermaßen ethische wie ästhetische Reise, philosophierte Kari. Mehrere Jahre hatten die besten Juristen des Landes an den Gesetzen gearbeitet, damit alle Beteiligten sich beschützt fühlen konnten, und im Mittelpunkt ihrer Überlegungen stand selbstverständlich das Kind, das unantastbare, unschuldige Kind, das keine eigene Stimme hatte.

Nach der Veranstaltung gingen Kaja und ich einen trinken. Wir waren beide froh und stolz; es war, als hätte unser Leben auf einmal einen Zweck und einen Sinn. Kaja war im Kinderheim aufgewachsen, hatte also keine Eltern, die weinten und sich die Haare rauften, weil sie Leihmutter werden wollte. Sie hielt ihr Glas in ihren schönen, hellbraunen Händen, und ihr grüner Nagellack funkelte in der Sonne.

»Ich hoffe, ich krieg ein dunkles«, sagte sie. »Eins mit braunen Augen und schwarzen Haaren.«

In den letzten Schulwochen entwickelte ich eine große Zuneigung für meine Klassenkameraden und mochte auf einmal unsere Schule, die Lehrkräfte und sogar das Essen dort, kurz gesagt, ich liebte mein Leben als Ganzes, so, wie es war. Alles fühlte sich intensiv und wichtig an, als wäre jedes Detail und jeder Duft stärker, wie so oft, wenn etwas zu Ende geht. Die Jungs würden zum Militär gehen, und mein Verhältnis zu ihnen veränderte sich rasant. Vorher war mir nie aufgefallen, wie schön sie waren. Selbst die dämlichsten, nerdigsten, gemeinsten und schwächsten hatten auf einmal etwas Sympathisches. Ich begann, mit dem Typen zu gehen, der vor mir saß: Andreas, der Singvogel, Liebling aller Lehrer, weil er der Klasse immer etwas vorsingen wollte, auf Englisch oder auf Norwegisch. Er kannte alle Lieder, die wir am Nationalfeiertag sangen, und rezitierte gern uralte nordische Stabreime. Andreas war durchschaubar wie eine Glasscheibe und deshalb so gar nicht mein Typ, er roch nach Blumen und hatte weiße Hände. Eines Abends, als der Himmel blau war und eine unerwartete Kälte die Pfützen mit einer dünnen Eisschicht überzogen hatte, knutschten wir trotzdem herum. Er hatte helles, lockiges Haar und Lachgrübchen und ich fand, er sah aus wie ein Engel. Andreas wollte nicht zur Armee und plante deshalb, nach Indonesien abzuhauen, glaubte, sich mit seinem musikalischen Talent quasi überall auf der Welt durchschlagen zu können. Er schenkte mir einen Ring mit einem blauen Stein, bevor ich aufbrach, um Leihmutter zu werden.

Vor etwa zehn Jahren, ich hatte Thelma gerade zum Kindergarten gebracht, traf ich Andreas zufällig wieder. Als ich gerade an einigen Müllsammlern in orangen Warnwesten mit einer langen Zange in der einen und einem Sack in der anderen Hand vorbeiging, erhielt ich eine Nachricht, und als ich das Handy aus der Tasche zog, fiel mir eine kleine Zeichnung von Thelma, eine Katzenprinzessin, auf den Boden. Ich blieb stehen, um sie aufzuheben, und schaute auf einmal geradewegs in Andreas’ Gesicht. Obwohl der Mund mit den schönen Grübchen zahnlos und das helle krause Haar verfilzt war, erkannte ich ihn sofort wieder. Vielleicht hatte ein kleiner Teil meines Gehirns ihn auch schon von hinten erkannt, weil er ziemliche O-Beine hatte. Vielleicht hatte ich die Zeichnung ja auch absichtlich fallen lassen, wer weiß? Weil ich bin, wie ich bin, und vor Sehnsucht nach mehr Liebe fast platze.

Wir tranken einen Kaffee zusammen, und er erzählte mir, dass er drei Jahre lang geschmuggelt und gedealt hatte, ehe wegen Rhox die Grenzen geschlossen wurden und es wieder zu einem vollständigen Lockdown kam. Danach war für ihn alles den Bach runtergegangen. Seine Frau hatte eine Menge Schulden. Sie hatte sich eingebildet, sie könne von einer Brücke fliegen, war auf der Autobahn aufgeschlagen und seitdem behindert. Jetzt war er als »betreuter Drogenabhängiger« eingestuft, was bedeutete, dass ihm pro Tag zwei Einheiten, ein Bett und Zugang zu einer Dusche und Mahlzeiten zustanden. Den Schlafsaal teilte er sich mit drei anderen, mit denen er sich gut verstand. Seine Frau hatte sich ein Tier als Freund zugelegt.

»Niemand hat mich je so gekränkt wie die«, sagte Andreas. »Am Nasenring durch die Manege geführt hat sie mich.«

Seine Stimme hatte sich verändert, klang wie ein rostiges Scharnier. Ich sagte, er solle bei Pure Pleasure auf eine Gratisstunde vorbeikommen, weil nichts eine Kränkung so gut kuriert wie ein Orgasmus, aber seitdem habe ich ihn nicht wiedergesehen.

Papa fuhr uns zum »Ønsket«, obwohl wir eigentlich lieber die Bahn genommen hätten. Lieber, guter Papa. Die ganze Fahrt über redete er ununterbrochen. Als Kind war er schon einmal im »Ønsket« gewesen, um seine Vettern zu besuchen. In seiner Kindheit war »Ønsket« noch ein Heim für labile Menschen und psychisch Kranke.

Nach jedem Satz krampften sich seine Finger mit den goldenen Ringen ums Lenkrad. Kaja war höflich und sagte Sachen wie »wirklich?« und »ach, echt?«.

Papa wollte immer, dass wir uns mit Katastrophen und Kriegen beschäftigten und damit, wer für das Elend der Welt verantwortlich ist. Ich hatte schon tausendmal gehört, wie Norwegen sich verändert hatte, als ich noch klein war, wie die vielen Viren und Umweltkatastrophen die Demokratie in die Knie gezwungen hätten, die von russischen Hackern manipulierten Impfstoffe dazu geführt hätten, dass die Menschen keine Kinder mehr bekommen konnten.

»Früher haben wir das Wasser direkt aus dem Wasserhahn getrunken«, kommentierte Papa das Öffnen jeder Wasserflasche.

»Wissen wir doch, Papa«, sagte ich, weil Papa vergaß, dass Kaja und ich uns noch an vieles aus der Zeit vor dem Flaschenwasser erinnerten.

Als ich neulich mit Thelma Papas Grab besuchte, sagte ich: »Jetzt trinken wir wieder aus dem Wasserhahn, und die Russen waren’s auch nicht, Paps, es war viel komplizierter.« Das sprach ich vor allem deshalb laut aus, um Thelma Tee neugierig zu machen; sie sollte mir Fragen zu meinem Vater stellen, aber sie war an meinem Leben nicht mehr besonders interessiert. Sie hat alle goldenen Ringe meines Vaters geerbt und in eine Schatulle gelegt. Als sie klein war, fand sie alles, was glitzerte, wunderschön, aber jetzt würde sie sich wahrscheinlich nur noch beschweren, dass die Ringe eines Verstorbenen eklig seien. So tickt sie inzwischen, für sie ist alles dreckig.

Je weiter wir uns von Oslo entfernten, desto schöner wurde es. Nach ein paar Stunden sah man keine Häuser mehr, nur noch Felder mit blassgelben Weinreben und Sonnenblumen und niedrigen, weißen Gewächshäusern. Vor lauter Schönheit wurden wir ganz still. In jenem Sommer gab es viele Rehe und Vögel. Aus Oslo waren Kaja und ich Füchse und Dachse gewohnt, aber so viele Rehe mit glänzendem Fell auf einmal hatten wir noch nie gesehen. Als Papa anhielt, um die Batterie zu wechseln, stiegen Kaja und ich aus und machten Fotos. Wir fanden, die Rehe sahen aus, als kämen sie von einem anderen Planeten, aber Papa wurde schwermütig und sagte, ihr Fell sei zu hell, in seiner Kindheit seien die Rehe grau oder braun gewesen.

»Die Menschen haben die Tiere, die sie so lieben, kaputt gemacht«, sagte Papa, und ich fürchtete, Kaja wäre beleidigt, weil sie für viele Tiere eine Patenschaft übernommen hatte.

»Früher fürchteten die Menschen sich vor Wölfen, Bären und Vipern.« Papa seufzte und sah traurig aus. »Die Liebe des Menschen ist das Tödlichste, was es gibt.«

»Nicht alle Wölfe sind tot«, wandte Kaja leise ein, fast, als hätte sie Angst vor Papa; aber anscheinend fand er den Widerspruch gut. So konnte er uns noch weiter belehren.

»Hast du schon einmal einen Wolf gesehen? Denn du hast doch noch keine gesehen, Elisabeth, oder?«

»Deshalb musst du mich noch lange nicht Elisabeth nennen.«

»Ich finde, es ist ein schöner Name.« Er zwinkerte mir im Rückspiegel zu, ehe er fortfuhr. »Wo hast du denn Wölfe gesehen, Kaja?«

»Als ich klein war, hab ich einen beim Basketballplatz hinter der Schule gesehen.«

»Ach, da oben im Wald?«

»Ja, aber der war sehr klein und sein Fell war ganz struppig, wahrscheinlich war er krank.«

»In Russland haben sie immer noch Bären und Wölfe«, sagte Papa. »Diese Füchse.«

Ich hatte meinen Vater sehr lieb, war ihm aber nicht nahe, nicht so, wie Thelma Tee und Boje sich früher nahe waren. Als Thelma Tee klein war, schlief sie oft auf Bojes Rücken, die speckigen Ärmchen auf seinen Schultern. Bojes Rücken ist voller bunter Tätowierungen, und wo die Haut nicht tätowiert ist, ist sie voller seltsamer Narben von Verletzungen, die er sich selbst zugefügt hat. An der Wand des Hausboots, in dem er aufwuchs, hing ein Bild mit einem Wildschwein und zwei Frischlingen, und wenn er es mit sich selbst nicht mehr aushielt, nahm er das Bild ab, zog den Pulli hoch und drückte den Rücken gegen den Nagel, bis es blutete. Weil er das in unterschiedlichen Positionen gemacht hat, verteilen sich die Narben wie Punkte auf seinem ganzen Rücken. Seine Gefühle nimmt Boje sehr ernst, so ernst, dass sein Weltschmerz nur durch physischen Schmerz gebannt werden kann. Hinterher tut er sich selbst furchtbar leid und möchte, dass ich ihn frage, warum er da und dort eine neue Wunde hat, oder woher diese alte Narbe auf seinem Bein kommt.

Bojes schlechte Angewohnheit hat mich zu Geschichten über Schmerzerfahrungen inspiriert. In der Inhaltsangabe von »Die Dampfwalze« heißt es: »Vermittelt das Gefühl, sich in Luft aufzulösen«, und sie beginnt damit, dass das Subjekt, Mann oder Frau, sich selbst verletzt. Außerdem kommen brechende Knochen und das harte Aufschlagen des Kopfes darin vor, und am Ende liegt man flach auf der Straße und eine Dampfwalze kommt auf einen zu. Boje hat einen großartigen Sound dafür geschaffen und die Sensoren können schwach, medium oder extrastark eingestellt werden. Man spürt tatsächlich, wie der Körper auf den Asphalt gedrückt und platt wird und verschwindet. Dann ertönt ein lautes, in den Ohren schmerzendes Pfeifen, alles wird schwarz-weiß, ein Gefühl von Schwerelosigkeit. Das Programm wurde so oft von aggressiven Männern und extrem dünnen Frauen genutzt, dass es im März nur von unserem »Sports Now!«-Programm übertroffen wurde, in dem es um Boxen, Tauchen und eine Lawine geht, die wir mit etwas Unterstützung in der Schweiz produzieren konnten. Bei »Sports Now!« bekommt man eine Maske über den Mund und immer weniger Sauerstoff, je länger man unter der Lawine liegt. Wer unter Asthma oder COPD leidet, darf das Programm nicht benutzen, das hat das Gesundheitsamt verboten, aber es gehört trotzdem konstant zu den beliebtesten, vermutlich, weil die Altersgrenze bei achtzehn Jahren liegt. Junge Leute fahren total auf »Sports Now!« ab, besonders während Prüfungsphasen.

Dass Boje ein Ventil braucht, wie er es nennt, ist in Ordnung. Mir gefällt nur nicht, wenn er sich Programme mit jungen Mädchen und Geschichten mit Netzstrümpfen und hochhackigen Schuhen aussucht. Das macht er immer, wenn wir uns gestritten haben, aber ich tu so, als würde ich es nicht bemerken, und bitte ihn lediglich, Arbeit und Vergnügen zu trennen – als ob das ginge! Meine Eltern stritten sich selten, ich glaube, Mama tat Papa leid und sie brauchte auch seine besonders bedingungslose Liebe. Obwohl er der klügere von den beiden war, behandelte sie ihn ein bisschen wie einen kleinen Bruder. Ich habe viel darüber nachgedacht, warum ich an so einen Rüpel von Mann geraten bin, wo mein Vater doch so ein netter, freundlicher Mensch war. Mein Vater mochte andere Menschen aufrichtig und nahm sich selbst zurück, damit meine Mutter sich »zu voller Blüte entfalten« konnte, wie sie es nannte. Wie Boje hatte sie mitunter die Größe, sich über ihre Stimmungsschwankungen lustig zu machen und sich sozusagen von außen zu betrachten. Mit diesem Humor wickelt man mich nicht mehr um den Finger, und meistens bitte ich Boje, sein Verhalten zu ändern, anstatt mit ihm darüber zu lachen. Vielleicht verbringt er deswegen immer mehr Zeit mit den Nachbarn im Garten. Wenn ich mit Thelma Tee im Bett liege, damit sie besser einschlafen kann, höre ich sie immer lachen. Sie lachen gerne über Boje, während sie Pott rauchend um ein Feuer herumstehen, und ich liege da und wünschte, ich wäre woanders. Doch dann nimmt Thelma vielleicht meine Hand, und ich vergesse für eine Weile alles andere. Ich habe mein Kind, denke ich. Und mein Kind ist hier bei mir.

Um nach Lista zu kommen, mussten wir von der Hauptstraße abbiegen und über eine große Brücke fahren. Die Straße ist von hohen Bäumen gesäumt, und die Natur sah aus wie auf alten Gemälden.

Die meisten Häuser wirkten verlassen, die Fenster mit Pappe oder Brettern vernagelt, mancherorts waren sie völlig überwuchert und die Bäume wuchsen schon durchs Dach. Wir fuhren an großen Weiden mit Rindern, Schafen und Lamas vorbei. Beim Anblick der Tiere wurde Papa kribbelig und hungrig, er ließ die Scheibe runter und zielte mit Daumen und ausgetrecktem Zeigefinger auf die großen Bullen, als wollte er sie erschießen. »Schmeißt den Grill an und holt Ketchup!«, rief er.

Kaja musste lachen.