Gaisburger Schlachthof. - Christine Lehmann - E-Book

Gaisburger Schlachthof. E-Book

Christine Lehmann

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Beschreibung

Lisa Nerz in der Muskelszene: ein spannender Plot voller Witz und Realismus und ein actionreiches Abenteuer mit der aufsässigen Hardboiled-Heldin Lisa Nerz. Sorgfältig recherchiert, virtuos geschrieben, thematisch zeitlos und trotzdem aktuell. Im alten Gaisburger Schlachthof.hat sich ein Fitnessstudio für die High Society etabliert. Lisa Nerz’ Freundin Sally pflegt dort ihre gewichtige Weiblichkeit und erzählt Lisa Anekdoten aus der Welt der Wohltrainierten. Plötzlich stirbt eine junge Aerobic-Trainerin, und Sally wittert Mord. Nerz, die inzwischen für den Stuttgarter Anzeiger schreibt, stößt prompt auf eine Spur: Gegen den Studiobetreiber gab es ein Verfahren wegen Wirtschaftsbetrugs. Staatsanwalt war ein gewisser Weber, der ebenfalls dort trainiert. Dann aber laufen die Kraftproben aus dem Ruder: Eine weitere Leiche, ein nächtlicher Überfall und ein unverblümter Mordversuch halten die Journalistin in Atem … »Welch farblos-öde und traurig-dumpfe Wüstenei wäre die deutsche Krimilandschaft doch ohne die knallharte Stuttgarterin Lisa Nerz und ihre so wortuose Schöpferin Christine Lehmann.« Jule Blum, Lesbenring, Heidelberg »Christine Lehmann ist den meisten deutschen Krimischreibern stilistisch haushoch überlegen. Ihr unverwechselbarer Sound beruht auf Menschenkenntnis, Lebenserfahrung, Selbstironie und Belesenheit.« Perlentaucher

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Über das Buch

Im alten Gaisburger Schlachthof hat sich ein Fitnessstudio für die High Society etabliert. Lisa Nerz’ Freundin Sally pflegt dort ihre gewichtige Weiblichkeit und erzählt Lisa Anekdoten aus der Welt der Wohltrainierten. Plötzlich stirbt eine junge Aerobic-Trainerin, und Sally wittert Mord. Nerz, die inzwischen für den Stuttgarter Anzeiger schreibt, stößt prompt auf eine Spur: Gegen den Studiobetreiber gab es ein Verfahren wegen Wirtschaftsbetrugs. Staatsanwalt war ein gewisser Weber, der ebenfalls dort trainiert. Dann aber laufen die Kraftproben aus dem Ruder: Eine weitere Leiche, ein nächtlicher Überfall und ein unverblümter Mordversuch halten die Journalistin in Atem ...

Lisa Nerz in der Muskelszene: ein spannender Plot voller Witz und Realismus und ein actionreiches Abenteuer mit der aufsässigen Hardboiled-Heldin Lisa Nerz. Sorgfältig recherchiert, virtuos geschrieben, thematisch zeitlos und trotzdem aktuell.

»Welch farblos-öde und traurig-dumpfe Wüstenei wäre die deutsche Krimilandschaft doch ohne die knallharte Stuttgarterin Lisa Nerz und ihre so wortuose Schöpferin Christine Lehmann.« Jule Blum, Lesbenring, Heidelberg

»Christine Lehmann ist den meisten deutschen Krimischreibern stilistisch haushoch überlegen. Ihr unverwechselbarer Sound beruht auf Menschenkenntnis, Lebenserfahrung, Selbstironie und Belesenheit.« Perlentaucher

Über die Autorin

Christine Lehmann lebt in Stuttgart und Wangen (Allgäu), ist als Nachrichten- und Aktuellredakteurin beim SWR tätig und schreibt Romane, Kurzkrimis, Kriminalhörspiele (Radio Tatort) und Glossen. Weitere Informationen finden Sie auf ihrer Homepage

Christine Lehmann

Gaisburger Schlachthof

Der zweite Lisa-Nerz-Krimi

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2015

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Printausgabe: © Ariadne Verlag 2006

Lektorat: Iris Konopik

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 01.03.2015

ISBN 978-3-944818-83-2

Prolog

Und so habe ich Oberstaatsanwalt Dr. Richard Weber kennen gelernt, den arrogantesten Affen im Anzug.

»Wie lange ist das mit dem Toten im Schlachthof jetzt her? Sieben Jahre?«

»Nein, acht«, antwortet er und blickt mich mit seinen asymmetrischen Augen unbehaglich an.

Es hat sich vieles verändert seitdem. Ich arbeite nicht mehr für den Stuttgarter Anzeiger. Wir bezahlen nicht mehr mit D-Mark. Ein neues Jahrhundert ist angebrochen. Und wir haben unsere Naivität verloren.

Aber in der Bäckerschmide von Gaisburg wird immer noch wie vor hundertfünfzig Jahren – oder wieder – der Gaisburger Marsch serviert. Richard und ich sitzen im Lokal vor einer Terrine und löffeln aus unseren Tellern Rinderbrühe mit Ochsenfleisch, Kartoffelschnitzen, handgeschabten Spätzle und geschmälzten Zwiebeln. »Gemüse gehört da eigentlich nicht rein«, erklärt er mir und erzählt, dass einst noch vor dem Ersten Weltkrieg die Offiziersanwärter aus der Bergkaserne ihrem Kantinenessen davonmarschierten, hinüber nach Gaisburg, um in der Bäckerschmide »Kartoffelschnitz ond Spatza« zu essen.

»Daher der Name, falls die Legende stimmt«, bemerkt er, immer stirnrunzelig allem Unbewiesenen gegenüber. Nur in Fakten fühlt er sich sicher. »In den Gründerjahren«, erläutert er mir über die Terrine hinweg, »wurde aus dem Wengerterdorf Gaisburg im Osten von Stuttgart eine rote Arbeitervorstadt. Das Gaswerk kam hierher, der Schlachthof wurde errichtet, die Fettschmelze, die Tierhäuteverwertung. 1901 wurde Gaisburg dann von Stuttgart eingemeindet, denn die Residenzstadt suchte einen Zugang zum Neckar. Und hier oben auf dem Berg, der Brandwache, wurde die evangelische Jugendstilkirche gebaut, übrigens von Martin Elsässer, der auch die Stuttgarter Markthalle erbaut hat.«

»Ah so.«

Der alte Schlachthof ist ja nun auch schon seit über fünfzehn Jahren geschlossen, die meisten Gebäude sind verschwunden, neue Hallen stehen. Inzwischen erhebt sich in der Kulisse von Gaskessel, Stadtautobahn und Daimlerstadion auch schon die Museumsspirale der Mercedes-Benz-Welt.

»Ich bin ja damals in den Schlachthof auch nur zum Probetraining gegangen, weil Sally es unbedingt wollte«, erinnere ich mich.

-1-

»Du musst mir einen Gefallen tun, Lisa!« Sally stellte drei Weizen, zwei Pils und zwei Viertele Lemberger mit Trollinger aufs Tablett und kam hinter dem Tresen vor. »Du hast doch sicher schon vom Schlachthof gehört?« Sie nahm das Tablett und zog in den Gastraum ab. »Dieses neue Fitnesscenter, meine ich«, sagte sie, als sie wiederkam.

»Du gehst doch nicht etwa dahin, Sally? Du bist verrückt.«

Sie puffte ihre blonden Locken auf. »Irgendwann muss man doch mal anfangen, was für die Fitness zu tun!«

»Du doch nicht! Du stemmst jeden Abend deine flüssigen Gewichte, rennst täglich mehrmals achtzig Stufen rauf und runter und gehst mit deiner Senta spazieren. Mehr muss nicht sein.«

Außerdem ochste Sally in drei Jobs, als Kellnerin im Tauben Spitz, bei einem Kinderarzt als Sprechstundenhilfe und als Sekretärin beim Rundfunk, nur um ihren Zoo mit drei Katzen und einem Hund über die Runden zu bringen und sich selbst den kleinen Luxus von Massage und Maniküre zu gönnen. Leider hatte Sally ein unlösbares Problem: Sie schämte sich ihrer Rundungen.

»Ausgerechnet der Schlachthof!«, stöhnte ich.

Sally zapfte Bier, dass es schäumte. »Du gehst doch auch sporteln!«

»Aber nicht in einem glitzernden Abschreibungsobjekt, das sich Fitnesscenter nennt, sondern in einer Sportschule mit Schweißgeruch.«

Sally rümpfte die Nase, spülte das Glas kalt aus, schrägte es und begann, ein Weizen einzufüllen. »Trotzdem!« Ihre blauen Augen trotzten in den Winkeln. »Die Aerobickurse von Anette, die hams echt gebracht! Bei mir zumindest. Und auf einmal kippt sie um, und drei Tage später ist sie tot.«

»Sport ist Mord.«

Sally konnte nicht mal genervt grinsen. Zwischen tropfenden Bierhähnen und spritzendem Spülwasser rückte sie mit der Story heraus. Sie hatte Anette hier im Tauben Spitz kennen gelernt. Dünn wie ein Strich, aber Kässpätzle spachtelnd. Beim Nachschlag machte Sally einen neidischen Kommentar und bekam von Anette einen Gutschein für eine Aerobicstunde in dem nagelneuen Fitnesscenter Schlachthof. Gierig auf ein Wunder, hüllte sie sich in weite T-Shirts und begab sich aufs Parkett.

»Ist das normal, dass eine junge Frau einfach umkippt, und buff ist sie tot. Anette war topfit.«

»Eine Überdosis Clenbuterol«, schlug ich vor. »Als Sprechstundenhilfe solltest du wissen, dass ein winziger Fehler in der linken Herzklappe reicht, um jemanden aus den Sportschuhen zu hauen. Das trifft hin und wieder auch junge Fußballer.«

»Aber Anette hat nichts genommen. Dafür leg ich meine Hand ins Feuer.«

Ich roch verbranntes Fleisch. »Auch keine Appetitzügler?«

Sally lachte unfroh. »So wie die reingehauen hat! Anette gehörte zu den Leuten, die essen können, was sie wollen, und dabei noch abnehmen.«

»Und was nimmst du derzeit, Sally?«, fragte ich bei dieser Gelegenheit mal wieder mahnend. »Nimmst du schon Muskelaufbaupräparate oder immer noch Schlankmacher? Dreieinhalb Kilo in drei Tagen. Pass nur auf! Damit kannst du dich in einem Monat vollständig weghungern.«

Sally zapfte eine Weile stumm. Der Schaum schwoll über den Glasrand hinaus. »Ich glaube, Anette hatte was mit dem Fritz Schiller. Der ist der sportliche Leiter vom Schlachthof. Und dem Schiller seine Frau schafft auch dort, als Judo-Lehrerin.«

»Katrin Schiller? Die?«

»Kennst du sie?«

»Nicht persönlich. Aber die Jungs und Mädels, die sie trainiert, siegen überall auf Landesebene. Sie hat Ende der Achtziger die Deutsche Meisterschaft gewonnen, vom Judobund den sechsten Dan verliehen bekommen und war dann ein paar Jahre lang Bundestrainerin. Bis die Intriganten im Verein wieder Oberwasser bekamen.« Ich hatte vor einigen Jahren mit Judo angefangen, um nach meinem Unfall meine lahmen Beine wieder in Gang zu bringen, mich aber nie in die Siegerschmiede Katrin Schillers getraut. »Hatte sie nicht immer ihre eigene Sportschule?«

Sally zuckte mit den Achseln. »Im Schlachthof haben die Kampfsportler ein ganzes Stockwerk für sich. Schau es dir doch mal an. Wie wär’s? Ein Probetraining koscht ja nix.«

»Hm.«

»Oder hast du Schiss?« Sally zog, um mir drei Minuten zur Besinnung zu geben, mit einem neuen Tablett zu einer neuen Runde ins Lokal ab, in dem sich abends im Bohnenviertel die Kulturelite von Stuttgart versammelte.

Immerhin schuldete ich Sally noch was. Genauer: mein Leben. Sie hatte es mir als Zimmergenossin im Krankenhaus gerettet, als ich nach meinem Unfall auf ein Medikament allergisch reagierte und abzugehen drohte. Seitdem betrachtete sie mich als Teil ihrer Menagerie kranker oder altersschwacher Tiere.

»Und was genau soll ich im Schlachthof für dich tun?«, erkundigte ich mich.

Sally machte blaue Augen. »Aber, Lisa, es hat eine Tote gegeben. Da kann man doch nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Einen Tag später hatten sie eine neue Aerobiclehrerin eingestellt, eine von diesen strammen Fitnesshexen, bei denen man die ganze Dreiviertelstunde lang springen muss.«

»Und das ist dir zu anstrengend?« Ich lachte schadenfroh.

»Das ist überhaupt nicht komisch!«, keifte Sally und fuchtelte mit einem Lappen um mein Bierglas auf dem Tresen herum. »Schließlich musste ich für ein halbes Jahr zahlen, egal, ob ich hingehe oder nicht.«

»Und jetzt soll ich die Leute bedrohen, damit sie dich aus deinem Vertrag entlassen? Oder worum geht es dir genau?«

»Blöde Kuh!«

Ich feixte. »Also gut, ich gehe da mal hin. Okay?«

-2-

Der alte Schlachthof lag im Industrieensemble von Neckarhafen, Gaskessel und Wohnburgen. In der damaligen Wirtschaftsbrache stand gerade mal noch das ausrangierte Gebäude der Kopfschlachter. Es enthielt auf drei Etagen Fitness. Die Eröffnung, ein halbes Jahr zuvor, hatten wir im Stuttgarter Anzeiger gebührend gewürdigt.

Die Blonde an der Rezeption war über vierzig und wog unter vierzig. Mit strengen blauen Augen taxierte sie mein unkultiviertes Gesicht und Gewicht und errechnete aus beidem meine Finanzkraft. Das Ergebnis hatte ein negatives Vorzeichen. Aber da täuschten sich die Menschen in mir gern. Mit meiner Narbe im Gesicht passte ich halt nicht in dieses Institut für schöne Menschen.

»Zum Probetraining?«, erkundigte sie sich. »Das kostet zwanzig Mark.«

Ich rümpfte die Nase. Wo gab es denn so was? Fürs Probetraining auch noch zahlen? Beim Zücken eines Zwanzigers verstreute ich hochnäsig mehrere Hundertmarkscheine über die Theke. Das war damals die gültige Währung. Die Dame fing die Scheine im Flug und schenkte mir ein Lächeln. »Füllen Sie das bitte aus, nur wegen der Versicherung.«

Ich hatte den Kuli kaum angesetzt, da rammte mir einer, der hinter mir vorbei an die Theke drängte, die Sporttasche ins Kreuz. Das Gerät gehörte zu einem Herrn in cognacbraunem Dreiteiler, der, ohne das »Guten Abend, Herr Dr. Weber« zu erwidern, der Dame am Empfang ein Plastikkärtchen reichte, das sie durch ein Lesegerät zog und ihm zusammen mit einem Chip aus einer Schachtel und einem gewinnenden Lächeln zurückgab. Dr. Weber wandte sich ab und hieb mir dabei seine Tasche in die Rippen.

»Flegel!«, murmelte ich.

Das hatte er gehört. Ich blickte in die asymmetrischen Augen einer Führungspersönlichkeit von aggressiver Intelligenz. Immerhin kapierte er sofort, dass ich zur jüngeren Generation der roten Zoras gehörte, die sich nicht mädchenhaft scheu vor einer Klopperei drückten, besann sich auf eine knappe Entschuldigung und entschwand ins Gebäude, in dem die Maschinen klapperten.

»Frau Nerz«, las die Empfangsdame von meinem Zettel ab. »Zum Judo bitte in den zweiten Stock. Umkleidekabinen gibt es oben. Einen schönen Aufenthalt wünsche ich.«

»Danke.«

Schräg hinter ihr öffnete sich eine Bürotür. In ihr erschien ein wahrhaftiges Riesenbaby von Mann. Er trug einen elefantengrauen Anzug.

»Gertrud? Könntest du mal bitte ...« Das Elefantenbaby knetete sich mit Wurstfingern die weichen Backen und nickte mir dabei freundlich zerstreut zu. Gertrud versicherte sich, dass die Kasse verschlossen war, und stand auf. Wobei sie mir einen äußerst griffigen Hintern in blauen Leggins zeigte.

Man hatte die alte Schlachterei ausgebeint und mithilfe von hellblauen Stahlträgern und hellen Hölzern zwei Stockwerke in die Halle gezogen. In den Ober- und Seitenfenstern fing sich die Abendsonne und sprang über die stählernen Züge und Stangen der Kraftmaschinen, in denen sich die Gewichte hoben und senkten, bewegt von schweißig oder textil glänzenden Armen, Schultern und Beinen.

Ein blonder Herkules in blauen Hosen und gelbem Shirt stand der Kundschaft zu Diensten. Mit knapp hundert Mark monatlich lagen die Tarife im Snob-Bereich. Das Publikum lag knapp darüber: Consulting-Manager, Akademiker, Gattinnen, Leistungsästhetik.

Die zentrale Treppe war ein luftiges Gebilde aus blondem Holz und hellblauem Gestänge. Auf der dritten Stufe stand ein Muskelkerl in rostrotem Mikrofaserfreizeitanzug mit klaffender Jacke und ließ den Feldherrenblick über die widerstreitenden Kräfte im Maschinenpark schweifen. Seine Hand klimperte nahe dem Geschlecht mit einem Schlüssel in der Hosentasche.

Er machte keine Anstalten zu weichen, als ich auf die Treppe zusteuerte. Sein Blick ruhte unverschämt taxierend auf meinem Gesicht und dem schwarzen Leder meiner Jacke.

Das also war Fritz Schiller. Sally hatte ihn mir beschrieben: groß, schwarzer Schnauzer, Latino-Augen, Goldkettchen im Brusthaar.

Seine Mimik bereitete sich auf den ersten Kontakt vor, doch da fiel ein Schatten in seine Augen. Es war der Führungsflegel, Dr. Weber, der um die Ecke bog, jetzt in schlabberigen Baumwollhosen und einem kecken Trägershirt, das seine glatten, muskelrunden Schultern voll zur Geltung brachte.

In den Feldherrn kam Bewegung. Die beiden umrundeten sich auf der Treppe steifbeinig wie zwei Rüden vor dem Törchen einer läufigen Hündin. Schiller wandte sich ab und verzog sich in den Saal. Dr. Weber stieg die Treppe hinauf, als sei er es gewohnt, dass die Leute vor ihm Leine zogen.

Auf der zweiten Ebene herrschte hitziges Treiben. Männliche Kraft auf der einen Seite, Bauch-Beine-Po auf der anderen Seite eines verglasten Bistros, an dessen Tischchen ein paar gestylte Damen und Herren sich bei Orangensaft und Mineralwasser regenerierten. Männer mit Nierengürteln wuchteten vor der Spiegelwand die blanken Hanteln. Die Geräte mit den wirklich schweren freien Gewichten, die Drückbänke und Langhantelstangen, parkten in einem Separée hinter der Spiegelwand. Dorthin begab sich Dr. Weber, nahm ein Springseil vom Haken und verschwand zum einsamen Kampf mit sich selbst hinter der Wand.

Die Damen auf dem Aerobicparkett hatten die Problemzonen mit Pullovern kaschiert und rissen vor ihrem Spiegel die Arme hoch. »Zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht und eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht ...«, keuchte lächelnd die Vorturnerin, eine lange Schwarzhaarige mit weißem Stirnband, die sich bis ins letzte Glied der ausfahrenden Hände Mühe gab, fürs Fernsehaerobic entdeckt zu werden. Das also war Marianne, die Neue, die Sally aus Gründen, die mir noch nicht klar waren, so missfiel.

In den Vitrinen an der Treppe turnte Sportswear zwischen Dosen mit Elektrolytgetränken.

Noch ein Stockwerk weiter oben, unter den gekalkten T-Trägern des Hallendachs, bestimmten die Farbe Weiß und die Kirschblüte mit japanischer Kalligraphie die Philosophie. Obgleich das Gewummer der Aerobicstunde heraufdrang, ließ man jegliche Hektik unter sich zurück. Die drei mit Matten ausgelegten Trainingsräume besaßen Glastüren, die im Moment alle offen standen. An einer kurzen Getränketheke lehnte ein ungefähr dreißigjähriger Mann im Karateanzug mit dem schwarzen Gürtel des Meisters. Sein Gesicht war bemerkenswert zerklüftet und entstellt von einer einstigen Pubertätsakne. Er musterte mich durch eine Stahlbrille.

Katrin Schiller stand in weißem T-Shirt und Judohose am Spülbecken hinter der Bar und säuberte Gläser.

»Guten Abend«, meldete ich mich, »ich heiße Lisa Nerz. Ich komme zum Probetraining.«

Katrin Schiller blickte auf, zog die Hand aus dem Spülwasser und kam an die Theke. Die Sehnen ihrer kräftigen Hände wurzelten in prallen Unterarmmuskeln unter glatter gebräunter Haut. Am Haken hinter ihr hing über der Judojacke ein rotweißer Gürtel. »Freut mich«, sagte sie. »Haben wir uns nicht schon mal irgendwo gesehen?«

Mein Gesicht vergaß man leider nicht. »In Pforzheim bei den Landesmeisterschaften«, schlug ich vor. »Ich war für den Stuttgarter Anzeiger dort: Mädchen und Kampfsport, eine Reportage.«

Katrin Schiller war das, was Journalisten gemeinhin als zierliches Persönchen beschrieben, dem man all das nicht zutraute, was es verkörperte. Ihre Augen waren blau, die rotblonde Mähne zu einem Zopf geflochten, der ihr bis zum Po baumelte.

»Und nun wollen Sie es auch mal mit dem Judo versuchen?«

»Ich bin mit meinen Versuchen bereits bis zum braunen Gürtel vorgedrungen«, antwortete ich und zückte das blaue Mitgliedsheft des Württembergischen Judoverbands.

Sie lachte wieder und duzte: »Dann zieh dich mal um.«

In der Umkleide fluchte eine kompakte Brünette, weil sich das Band ihrer Judohose im Hohlsaum so verschlungen hatte, dass es sich nicht herausziehen ließ. Auf dem weißen Kimono lag der Gelbgurt der Anfänger. Judoanzüge besaßen weder Haken noch Knöpfe, nichts, was den Gegner verletzen konnte.

Als ich nackt bis auf den Schlüpfer dastand, riss eine langgliedrige Blonde die Tür auf und grüßte munter, während die Kompakte aus dem Augenwinkel meine Titten und Schenkel abschielte, offensichtlich zufrieden, dass auch ich nicht zu den Grazilen gehörte.

Ihr Kimono war eine zerknautschte Billigvariante, nicht zu vergleichen mit meinem Competition, einem teuren Kampfexemplar, dessen Verstärkungen an Schultern, Brust und Rücken dazu dienten, dem Gegner das Fassen zu erschweren.

Die lange Blonde schlang sich einen Orangegurt um die Hüften. Sie gehörte zu den Eleganten.

Im Dojo kickten schon ein paar Jungs mit einem weichen Ball. Sie trugen blaue, grüne und braune Gürtel. Ein massiger Schwarzgurt zog sich in einer Ecke die Socken von den Füßen. Er war auch schon über dreißig, nicht groß, aber breit, mit kurzen Haaren und dickem Hals, im Judoanzug eine lächelnde Kampfmaschine und in Zivil vermutlich ein unangreifbares Phlegma.

Ich verbeugte mich in der Tür.

Nur Unwissende lachten über den Verbeugungsernst der fernöstlichen Ritter, der dem Training ein meditatives Korsett verlieh. Hing im Dojo das Bild des Judogründers Kano, dann verbeugte man sich sogar vor dem leeren Saal. Ansonsten: Verbeugung voreinander, Abknien und Verbeugen vor dem Meister zu Beginn und zum Schluss des Trainings, Verbeugung voreinander vor und nach jeder Trainingseinheit. Auf diese Weise erkannte man die Regeln an, erwies dem Gegner Respekt und beendete jedwede im Kampf entstandene Feindseligkeit. Obgleich man die Gürtelfarben durch Prüfungen erwarb, waren sie weniger Trophäen als vielmehr Ausdruck der Offenheit dem Gegner gegenüber. Ich durfte nicht nur Braun tragen, der letzte Grad vor dem Dan – dem Schwarzgurt –, ich musste sogar, damit die Gelb- oder Orangegurte wussten, mit welchen Fähigkeiten sie bei mir zu rechnen hatten und wie sie mich behandeln mussten. Der rotweiße Gürtel, mit dem Katrin die Matte betrat, verbot es uns beispielsweise, sie zu werfen. Sie war eine Meisterin so hohen Grades, dass sie sich keinem Kampf mehr stellen musste.

Budo ist das japanische Wort für den »militärischen Weg«. Ju-do heißt »der sanfte Weg«. Ju bedeutet »nachgeben«. Man unterläuft die Kraft des Gegners und nutzt sie für sich aus, beispielsweise, um ihn zu werfen. Vor über hundert Jahren entwickelte der Japaner Kano aus dem Jiu-Jitsu, das Knochenbrecher kennt, den sanften Weg für den Wettkampf, bei dem es am Ende keine Toten geben sollte. Für mich war Judo die unterhaltsamste Art von Krafttraining und die zivilste Art, Kampfgeist zu wecken und zugleich in kultivierte Bahnen zu lenken. Beides hatte ich nach meinem Unfall dringend nötig gehabt.

Zum Aufwärmen taugte alles, was Ausdauer, Beweglichkeit, Reaktionsvermögen und Kraft schulte, von Liegestützen bis zu Ballspielen. Dann übten wir Seoi-nage, einen Wurf, der zur Grundausstattung des Gelbgurts gehörte. Man fasste den Gegner frontal an Kragen und Ärmel, drehte sich mit dem Rücken vor seinen Bauch ein, nahm ihn Huckepack und schwuppte ihn über die eigene Schulter auf die Matte, wo er ausgestreckt halb auf der Seite liegen blieb. Es knallte immer, wenn im Judo einer fiel. Denn man schlug dabei mit der flachen Hand auf die Matte. Die abschlagende Hand fing immerhin dreißig Prozent des Aufpralls ab. Den Rest absorbierte die totale Körperspannung.

Nach einer halben Stunde erlaubte ich mir die Hoffnung, dass man mir die Initiation ersparen würde. Katrin Schiller schien es nicht darauf anzulegen, einen Neuling auseinanderzunehmen. Selbstverständlich machte ich alles verkehrt, den Griff, den Eingang, den Wurf. Aber das war zu ertragen. Der lächelnde Schwarzgurt, den Katrin Wolf nannte, warf mich so schnell, so perfekt, dass ich lag, ehe ich wusste, dass ich nicht mehr stand. Auch das war okay. Aber dass Katrin mich zum Randori, dem Übungskampf, am Boden mit der Kompakten mit dem Gelbgurt paarte, war die Tücke, auf die ich nicht gefasst war.

Sie kniete vor mir wie ein Mehlsack. Während die anderen Paare sich bereits am Boden kugelten und um Oberlage, Armhebel und Würgegriff rauften, besichtigte sie lustlos einen blauen Fleck am Arm. Ehe sie reagieren konnte, hatte ich sie beidseitig am Kragen gepackt, trat ihr das Knie weg, ließ mich rückwärts fallen, zog sie dabei auf mich und drehte ihr die Fingerknöchel in die Halsschlagadern. Sie klopfte ab, ehe der Würger kam. Ich musste den Regeln gemäß loslassen. »Dein Vergewaltiger wird’s dir danken.«

Augenblicklich hatte ich ihre Faust im Gesicht, zwar regelwidrig, aber durchschlagend. Sie hechtete sich auf mich. Der Haltegriff eines Gelbgurts war auch für einen Braungurt nicht selten das Ende. Auf einmal wurde es ernst.

»Vicky, halt durch!«, schrie Katrin, herankommend. »Dreißig Sekunden. Stell dir vor, sie will deinen Kindern was tun!«

Das Gewicht auf meinem Brustkorb verdreifachte sich. Mein Schlüsselbein knirschte im Klammergriff, aus dem ich mit keiner der erlernten Befreiungstechniken herauskam, sosehr ich auch zappelte. Vicky hasste, ich keuchte. Nie werde ich die rote Stoppuhr über mir vergessen, welche die dreißig Sekunden abtickte, die eine regelrechte Niederlage dauerte. Die andern grinsten. Ich rang um den aufrechten Gang. Am meisten wurmte mich, dass Katrin mich durchschaut hatte: viel Kraftmeierei und nichts dahinter. Sie hatte nicht einmal einen Blaugurt auf mich ansetzen müssen.

Die Deos, die sich die Girls vom Karatekurs hinterher in der Umkleide unter die Achseln sprühten, trieben mich ungekämmt hinaus. Katrin stand lächelnd und kühl hinter ihrer Theke. Aber ihr Lächeln galt natürlich nicht mir, sondern dem Führungsflegel, Dr. Weber, der in seinem kecken Trägershirt und mit gekämmten Haaren die Art von Konversation pflegte, die Eindruck auf Katrin machte. Die beiden passten gut zusammen, beide hübsch, glatt, kühl und kultiviert.

Ich ging abschiedslos und entschlossen, Katrin Schillers Dojo nie wieder zu betreten.

Im Stockwerk darunter ordnete Fritz Schiller die Fausthanteln der Größe nach auf dem Ständer vor dem Spiegel. Pure männliche Kraft. Er schaute in die Ecken, als gelte es, abgefallene Arme und Beine in die Tonne für herrenlose Klamotten zu sammeln.

Im Bistro war eine minderjährige Kuh im nabelfreien Top mit Schlaghosen schon beim Gläserwegstellen, aber sie schraubte für mich dann doch noch mal die Orangensaftflasche auf. Es roch nach Rauchverbot, auch wenn die hübsche Kuh nicht nach Nichtraucherin aussah.

»Na, zum ersten Mal hier?« Fritz Schiller stand plötzlich so dicht neben mir, dass ich seine Aura aus angeschwitztem Irish Moos und Nikotin roch. Sein Latinoblick drang tief in mein Fett- und Muskelgewebe. Der brauchte Frauen nicht erst auf die Waage zu stellen, die mithilfe von elektrischem Strom die Verteilung von Fett und Muskeln maß. Beim weiblichen Körper sollten 25 Prozent aus Muskeln und 25 Prozent aus Fett bestehen, während Männer sich auf 40 Prozent Muskeln und 10 Prozent Fett hochpäppeln mussten. »Irgendwann muss man ja mal anfangen, was zu tun, nicht«, nudelte Fritz seine Geschäftsanbahnung herunter.

»Sind Sie der sportliche Leiter hier?«, störte ich. »Staatlich geprüfter Sportlehrer?«

Er blinzelte. »Und wer bist du?« Seine Stimme war wie flüssige Schokolade.

»Lisa Nerz. Ich war zum Judo bei Ihrer ... äh, deiner Frau.«

»Hallo, Lisa, freut mich. Ich bin der Fritz.« Er quetschte mir die Handknochen zusammen. Zu viel Kraft beim Händedruck war als Dominanzgeste kalkuliert, aber die Fältchen um Fritz’ Augen verrieten, dass er nervöser war, als er aussehen wollte. »Aber, wenn du mir die Bemerkung erlaubst, ich glaube, Judo ist nichts für dich. Du solltest Ausdauersport machen, Quickstepp, Laufband, den Puls nie über 120. Und dazu eine kleine Ernährungsumstellung. Dann siehst du die ersten Ergebnisse schon nach drei Wochen.«

Seine dunklen Augen schälten mir fünf, sechs Kilo meiner Selbstsicherheit vom Leib, und ich blickte zu ihm auf wie eine siebzehnjährige Schülerin zu ihrem ersten Mann. »Aber Diäten sind nicht mein Ding!«

Unter Fritz’ Schnauzer blitzte ein Lächeln. »Wer redet denn vom Hungern? Wir kurbeln nur deinen Stoffwechsel ein wenig an. Das ist kein Hexenwerk. Viel Fisch, Fleisch, Gemüse, wenig Kohlehydrate.«

»Ach!« Der Gedanke war im vergangenen Jahrhundert brandneu, und es dauerte danach noch Jahre, bis die Krankenkassen und Frauengazetten aufhörten, Anti-Fett-Kampagnen auszurufen. »Und ich dachte immer, viele Kohlehydrate, kein Fett!«

»Das war vielleicht für den Steinzeitmenschen richtig, der täglich vierzig Kilometer zu Fuß zurückgelegt hat«, belehrte mich Fritz. »Aber bei uns führt das nur noch direkt zur Diabetes, der Schokoriegelkrankheit, wie ich immer sage. Denn ganz verheerend: die Kombination von Fett und Kohlehydraten, sprich Zucker!« Er dehnte die Brust.

Aber ein bisschen schien er sich mit mir zu langweilen, denn seine Augen unter den langen Wimpern rutschten zu der Kuh hinüber, die in trotziger Teeniepose mit eckig vorgeschobener Hüfte hinter der Bistro-Bar darauf wartete, dass ich mein Glas leerte.

Richtig, sagte ich mir, es geht um Schönheit! Ich schwang mich in den siebten Himmel: ich eines Tages schön, blond, jung und narbenfrei. Hoffnungsvoller hätte ich Fritz Schillers Diagnose, »Schokoriegelfigur«, und die Erklärung meines völligen physiologischen Bankrotts kaum entgegennehmen können.

Seine Hand lag warm und schwer auf meiner Schulter, sein Atem ging mir ins Ohr. »Ich habe schon viele Frauen glücklich gemacht. Dich kriegen wir auch hin!«

Noch ein kurzer Händedruck, dann hatte er sich von mir gelöst und abgewandt. In der Linie seines Nackens kurvte eine Selbstsicherheit in seine Schultern hinab, die in mir eine närrische Mischung aus Grimm und Gier zum Schwingen brachte. Das musste es sein, was auch Sally benagte: Schlank werden ist unvernünftig, aber einfach zu schön!

Durfte man sich auf Schiller einlassen oder nicht? Das war die entscheidende Frage, die ich Sally beantworten musste. Womöglich hatte sie sich in ihn vergafft. Er war so einer. Und Sally war so eine, die sich immer in die Männer verguckte, die sie eigentlich nicht riechen konnte.

Ich bezahlte bei der jungen Kuh meinen Saft mit sechs Mark fünfzig und schulterte meine Sporttasche. An der Treppe stieß Fritz soeben mit Vicky zusammen, die herabschusselte, aufschreckte, auflächelte und ihr Herz hingab. Auch so eine. Wahrscheinlich hatte ich Fritz eben genauso vertrauensinnig angelächelt wie sie – und wie Sally.

Ihr Sieg über mich hatte Vickys Selbstvertrauen so gefestigt, dass ich nicht einmal in den Genuss eines eifersüchtigen Blicks kam, als Fritz sein Lächeln teilte. Ich blieb stehen.

»Also gut, ich mach’s«, sagte ich zu ihm. »Wann fangen wir an?«

»Am Montag, wenn du willst«, antwortete er. »Ich bin hier.«

Nun wurde Vicky doch etwas missgünstig. »Ich war ja früher auch so fett wie ein Walross. Aber Fritz, der versteht sei’ Sach’, gell?«

Ich fand, dass das Auch bei meinen siebzig Kilo Kampfgewicht gewiss nicht angebracht war. Aber solche Nadelstiche würden mich bald nicht mehr treffen, wenn ich, perfekt bis in die Titten, im nabelfreien Kurzshirt über die Königstraße schlenderte.

»Aber ein bissle Disziplin ghört halt au dazu«, schwäbelte Fritz leutselig.

»Klar doch!«

Was für Verabredungen traf ich da? Als ob ich es nicht eilig genug haben könnte, meinen ausgelatschten Körper loszuwerden und mich in neuem Leder wiederzufinden. Von dem Mann ging etwas aus, das einen zwang, sich mit fliegenden Fahnen aufzugeben. Dass er schon wieder die Hand auf meiner Schulter hatte, merkte ich erst, als er sie wegzog.

Die Treppe erbebte, und in trauter Phalanx kamen Katrin, Dr. Weber und der Karatemeister herab. Katrin trug schwarze Hosen und eine gemusterte Bluse, der Karatemeister war in Jeans und Hemd und der Führungsaffe immer noch in seinem eitlen Sportdress. Fritz hob das Kinn und blickte beiseite wie ein Hund, der nicht angegriffen werden will. Seine Frau Katrin presste die Lippen zusammen und kräuselte die Mundwinkel.

Diese Ehe war im Eimer!

Und wie war das? War da nicht vor kurzem erst die Aerobiclehrerin Anette auf dem Parkett liegen geblieben? Zum Beispiel, weil sie etwas mit Fritz Schiller gehabt hatte.

Die drei Dämonen aus dem Kampfsportstockwerk zogen an uns vorbei. Vicky trudelte ihnen hinterher die Treppe hinunter. Fritz gewann rasch seine hypnotische Selbstsicherheit zurück, aber nicht ganz vollständig.

»Hier finden die Aerobickurse statt«, erklärte er mir, während er zum Lichtschalter ging, »jeden Morgen halb acht und abends um acht, außer sonntags.«

»Ach ja«, sagte ich, »arbeitet Anette eigentlich noch hier?«

»Nein.« Er knipste das Licht aus. Das Parkett verlor seinen Schimmer, die Spiegel erloschen. »Nein, sie hat uns verlassen.«

»Ach, warum denn?«

Der nächste Lichtschalter befand sich an einem Pfeiler im abgetrennten Geviert der Langhantelgeräte mit den wirklich schweren Gewichten. Etwas abseits stand eine Flachdrückbank in erstaunlich derangiertem Zustand. Die Beine verbogen, die Haltegabeln geknickt, als ob sie ein Dinosaurier plattgemacht hätte.

»Gott, was ist denn damit passiert?«, rief ich.

Das Licht erlosch, und ich hätte mich in den Arsch beißen können. Anette entglitt mir, ehe ich sie packen konnte, entschwand und verging.

Fritz lachte. »Die neue Bank ist schon bestellt. Hoffentlich ist sie stabiler. Man sollte nicht glauben, dass eine Firma derartigen Schrott zu verkaufen wagt. Aber heutzutage stellen ja alle, die sonst nix können, Fitnessgeräte her. Die Bank ist zusammengekracht, als sich unser Hundertzwanzig-Kilo-Mann ein Gewicht von hundertzwanzig Kilo auflegte. Zum Glück ist ihm nichts passiert.«

In den schwarzen Spiegeln blitzten die Reflexe der Beleuchtung aus dem Untergeschoss, heraufgesiebt von den luftigen Treppenstufen. Fritz und ich stießen zusammen, als wir uns beide dem Treppenabstieg zuwandten. »Hoppla!«

Unten trat der blonde Herkules zu uns, ein Muskeltier, noch stärker als Fritz, noch kühler, auch beschränkter und schwerfälliger als sein einfühlsamer sportlicher Chef. Der Herkules versuchte ein Lächeln. Aber Fritz biss ihn sofort weg. »Horst, vergiss nicht wieder das Licht in den Duschen!«

Mit verfrorenem Lächeln bog Horst zu den Umkleideräumen ab. Hinter uns fiel die Dunkelheit wie ein Rollladen.

Am Empfang hatte Gertrud den Computer auch bereits abgemeldet. Sie fachte aber ihr Lächeln noch mal an, als Fritz mich ihr als neue Kundin präsentierte, und versprach mir eine Ausweiskarte bis Montag.

Fritz gab mir die Hand. »Ich freue mich schon auf unsere Zusammenarbeit, Lisa.«

So entließ man mich aus einem allseits falschen Lächeln.

-3-

Auf dem dunklen Parkplatz sah ich Vicky an einem weißen Audi mit einem Mann streiten. Ihre Hände sichelten seine Argumente nieder. Er sackte zusammen. Halbglatze, krumme Schultern, mager, ein Hädele, wie man in Schwaben sagt. Ein Autoschlüssel wechselte von seiner in ihre schnappende Hand. In der Absicht, wütend zu erscheinen, stakte er gedrückt vom Platz. Vicky winkte mir mit dem Schlüssel zu. »Soll ich dich irgendwohin mitnehmen? Ich habe das Auto! Wir könnten doch noch was trinken gehen. Oder hast du Kinder?«

»Nein.«

»Dann musst du also nicht gleich nach Hause!«

Ich hätte gern gemusst.

»Steig ein!« Vicky steuerte das Familienauto vom Parkplatz auf die Wangener Straße, bog in die Talstraße ab und rammelte dann bergauf in die verschlungenen Gassen von Gaisburg. Ich schloss die Augen und halluzinierte krachende Außenspiegel.

»Angst?«, hörte ich Vicky triumphieren. »Deine Narbe, hast du die von einem Autounfall?«

»Hm.«

»Wer war schuld? Du?«

»Nein.«

»Aber du fährst nicht mehr Auto seitdem?«

»Doch!«

»Du willst wohl nicht darüber reden?«

»Richtig.«

Vicky warf mir einen Blick zu. Lächelnde Seelenverwandtschaft zweier Frauen mit schlecht verheilten Verletzungen. Ich überließ ihr das Gefühl der Überlegenheit.

»Verstehe schon«, sagte sie gönnerhaft. »Eine Männergeschichte, was? Ich bin auch mal vergewaltigt worden. Da konnte ich jahrelang nicht drüber reden.«

Vicky neigte zum indiskreten Auch.

»Ist jetzt zehn Jahre her. Damals war ich total fertig, wie tot. Aber jetzt, wenn mir noch mal einer käme oder wenn ich den Kerl noch mal erwischen täte, dann würde ich ihn umbringen.«

Sagte sie einfach so, während sie den Wagen den Bordstein hinauf auf eine Straßenecke rammte.

»Auch keine Lösung«, bemerkte ich.

»Was kann man denn sonst tun?«

»Ihn anzeigen.«

»Ha, längst verjährt! Außerdem bekäme er höchstens zwei Jahre auf Bewährung. Aber ich habe lebenslänglich.«

Auch wieder wahr. Ich kämpfte gegen innere und äußere Lähmung. Unangenehme Themen lösten in starken Muskeln manchmal eine Schreckschwäche aus.

Vicky stieg aus. Die Bäckerschmide bemühte sich um mittelalterliche Winkeligkeit und kultivierte auch etwas Fachwerk in der Hotelfassade.

»Anfangs«, nahm Vicky ihren Faden wieder auf, während wir die Straße überquerten, »habe ich mich nicht mal mehr alleine auf die Straße getraut. Gezittert habe ich, sobald ein Mann auftauchte. Dann kam Hans. Der ist kein Mann, der ist ein Versager. Aber das habe ich damals gebraucht. Hans konnte sich als mein Beschützer aufspielen. Das hat er gebraucht. Leider rafft er jetzt nicht, dass er mich nicht mehr abholen soll wie ein eifersüchtiger Trottel. Lässt einfach die Kinder daheim.«

Wir stiegen sechs Treppenstufen hinauf.

»Dann habe ich mit Karate angefangen, damals bei Waldemar. Das ist der mit dem pockennarbigen Gesicht. Das war noch in Katrins Sportschule. Ein Tritt in die Eier, dachte ich, und schon ist die Sache erledigt. Aber so einfach funktioniert das leider nicht. Im Karate übst du eine Kata nach der anderen, aber Vollkontakt hast du praktisch nie. Und warum solltest du dann im Ernstfall zuschlagen? Ist doch alles eine Sache der Reflexe. Und wenn du immer lernst, beim andern kurz vorm Kinn zu stoppen, wie soll das dann gehen? Und bei Gericht heißt es dann: ›Sie können doch Karate. Warum haben Sie sich denn nicht gewehrt?‹«

Wir tasteten uns durch Rauchschwaden an einen Tisch in der erstaunlich weitläufigen Restaurantanlage.

»Hier musst du unbedingt Gaisburger Marsch essen«, befahl Vicky und bestellte für sich ein Viertele. »Oh, gibst du mir eine?«, fragte sie, als ich die Zigarettenschachtel zog. »Eigentlich rauche ich ja nicht mehr. Wegen der Kinder.«

Ich gab Feuer und bestellte den Gaisburger Marsch.

»Jedenfalls«, fuhr Vicky fort, »war es dann so, dass Katrin gesagt hat, ich solle es mal mit Judo probieren. Wenn dich einer von hinten umreißt, dann gibt es ja immer noch den Bodenkampf.«

Sie grinste, und ich grunzte voller unangenehmer Erinnerungen. Meine Beiträge zum Gespräch beschränkten sich dann aufs Zigarettengeben und auf »Oje!«, »Du meine Güte!« und »Verstehe«. Der Eintopf lenkte mich nur unwesentlich ab.

Vicky erzählte ihr Elend: Mutter arbeiten, Vater abgehauen, sie in der Schule gescheitert, mit sechzehn schwanger und abgetrieben, mit siebzehn im Stadtpark vergewaltigt, mit achtzehn den Versager geheiratet, dann zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, Abtreibung des dritten, Sterilisation und Schuldgefühle. Sie war erst siebenundzwanzig.

»Wenn irgendwo eine Taube vom Dach scheißt«, sagte sie, »dann sitz ich garantiert drunter.« Sie schluckte auch ordentlich. Beim dritten Viertele und der siebten Zigarette innerhalb von anderthalb Stunden blickte sie sich um, beugte sich über den Tisch und raunte: »Sag mal, bist du eigentlich auch in Fritz verknallt?«

»Was heißt hier auch?«

Sie kicherte. »Alle sind in ihn verknallt. Alle! Auch die Männer.«

»Ich bin lesbisch, im Prinzip!«, bollerte ich dagegen.

»Oh!« Vicky riss die nussbraunen Augen auf und beäugte mich. »Aber so wie du Fritz angeschaut hast, da ist doch was! Er hat ja auch was Weibliches, nicht?«

»Der?« Jetzt riss ich erstaunt die Augen auf. »Dieser Moschusochse?«

»Na, so wie der mit einem redet, so einfühlsam und verständnisvoll, so zartfühlend.« Sie kicherte venusfeucht. »Er kann echt zuhören. Aber ... tja ...« Sie hielt sich resigniert ans vierte Viertele. »Vermutlich ist er schwul. Männer, mit denen du über alles reden kannst, sind meistens schwul.«

»Aber hatte Fritz nicht was mit Anette?«

»Wie kommst du auf Anette?« Vicky wirkte alarmiert. »Woher kennst du die überhaupt. Du warst doch noch nie vorher im Schlachthof.«

Ich beugte mich vor und wisperte über unsere Gläser hinweg: »Ich habe gehört, dass sie gestorben ist, plötzlich und unerwartet.«

»Das ist ja auch in der Zeitung gestanden«, sagte Vicky.

Vielleicht sollte ich ab und zu mal mein eigenes Blatt lesen.

»Herzversagen«, fuhr Vicky fort. »Aber davon, dass sie was mit Fritz hatte, hat da nichts gestanden. Woher weißt du das?« Sie fragte ziemlich eifersüchtig.

Ich versteckte mich hinter Feuer und Zigarettenrauch.

»Fritz steht nämlich nicht auf dürre Frauen. Und Anette hat es echt übertrieben. Magersüchtig, würde ich sagen. Wahrscheinlich war der Herzmuskel zum Schluss auch angegriffen. Die Aerobicstunde hat sie jedenfalls kaum noch durchgehalten.«

»Auf wen steht Fitz denn nun, auf muskulöse Männer oder auf dicke Frauen?«

Vicky zuckte mit den Schultern, hob sich den Weinbecher vors Gesicht und leckte die Neige aus dem Glas. Entweder sie warf Nebelkerzen oder sie wusste es tatsächlich nicht, und folglich hatte sie mit ihm auch nichts gehabt.

»Auf muskulöse Frauen steht er jedenfalls nicht«, hakte ich nach. »Sonst würde er Katrin ja nicht betrügen.«

»Hm«, machte Vicky wortkarg und pflanzte das Glas wieder auf den Bierdeckel. »Und du ... lebst du mit einer Frau zusammen? So richtig, in einer eheähnlichen Gemeinschaft?«

»Nein.«

Vickys Blick wurde verträumt und schräg. »Das stelle ich mir echt toll vor: mit einer Frau leben! Keine offenen Schubladen und Schranktüren mehr.« Sie fokussierte mich. »Kennst du den? Frau wirft Mann aus dem Fenster. In welcher Zeitung steht das?«

»Bildzeitung?«

»Nein: Schöner Wohnen.« Sie lachte hemmungslos.

Ich lachte nett mit. Der Abend endete damit, dass ich mich gegen halb elf hinters Steuer des Familien-Audis setzte und Vicky, angefüllt mit vier Vierteles und erleichtert um zehn Gramm Traumata, in die Abelsbergstraße, keine zehn Minuten zu Fuß vom Schlachthof entfernt, chauffierte.

-4-

Oma Scheible schloss gerade von innen die Haustür ab, als ich von der Straße hineinwollte.

»Ah, das Fräulein Nerz. Sooo, kommet Sie vom Schport? Aber übertreibet Sie’s nett! I hen in dr Zeitung gläse, dass a jongs Mädle gschtorbe isch, annem Herzinfarkt.«

Oma Scheible besaß eine schöne Sammlung von Schauergeschichten über Krankheit, Siechtum und Tod. Zwischen ihren bläulichen Lippen blitzten feuchte Mäusezähnchen, und ihre Augen schillerten wie fette Aalsuppe. »Übrigens, i hen noch Kässpätzle ibrig. Wenn Sie wellet ... Sie hen doch sicher wieder nix gesse!«

»Doch, einen Gaisburger Marsch«, beruhigte ich sie.

Ich hatte nicht verhindern können, dass die Alte mit ihrem unerschöpflichen Vorrat an Neugierde und Schlüsseln auch in meine Wohnung eingedrungen war. Zunächst hatte sie noch behauptet, es habe brenzlig gerochen, inzwischen hielt sie meine beiden Zimmer und die Küche in Ordnung, ohne Ausreden zu benutzen.

Ich knarrte die Holztreppen in den dritten Stock hoch und füllte die Kaffeemaschine. In der Neckarstraße herrschte Nacht, wenn sie es auch schwer hatte, zwischen der Lichtinsel der Haltestelle Stöckach und dem von Strahlern erleuchteten Bunker der Staatsanwaltschaft meinem Fenster genau gegenüber zur Dunkelheit zu finden.

Die Neckarstraße war eine der Problemzonen Stuttgarts. Hier kam die U-Bahn hoch und nahm mit ihren Hochbahnsteigen und ihrem Schienendamm den Fahrbahnen die Luft. Arbeitsamt, Deutsche Verlagsanstalt und Landespolizeidirektion I klotzten damals noch gegenüber alten Wohnzeilen mit ihren Klinkerfassaden, in deren Untergeschossen sich Parfümerien, Autofilialen, Pfennigmärkte und Schilderdruckereien anpriesen, die inzwischen Selbstbedienungsbäckern, Handyläden und einem Biomarkt gewichen waren.

Der fünfstöckige gelbliche Ziegelbau, den ich seit einigen Jahren bewohnte, war Altbau in seiner unromantischen Form. Die Dielen spreißelten, der mit Gas beheizte zentrale Kachelofen blies Staub unter die Decken. Den Stuck hatte man wegrenoviert. Als ich einzog, hatte sich die Badewanne noch in der Küche unter der Spüle befunden, was so viel hieß wie erst abwaschen, dann baden. Doch schon bald hatte der Hausbesitzer aus steuerlichen Gründen, und um uns die Miete erhöhen zu können, den Wirtschaftsraum zu einem Badezimmer umkacheln lassen.

Einen Flur besaß die Wohnung nicht. Man fiel direkt von der Wohnungstür in meinen Salon. Die Fenster von Küche und Schlafzimmer wiesen zur Straße, das Fenster des Wohnzimmers zeigte auf einen Hinterhof mit einem mageren Bäumchen und der Schrott- und Reifenrumpelkammer einer Autowerkstatt.

Ich hätte mir längst eigene Möbel leisten und den alten Kneipentisch und die harten Holzstühle auf den Sperrmüll stellen können, aber ich war nicht der Mensch, der seinem Leben aktiv Gestalt verlieh.

Ich holte den Kaffee aus der Küche und stellte den Fernseher an, damit etwas Farbe in den Raum kam.

Der Wetterbericht sagte ein kühles Aprilende voraus. Ich schluckte den Kaffee und dachte über den Freitagabend nach, der mir bevorstand. Erst mal unter die Dusche. Dann band ich mir die gestreifte Krawatte um und legte den dunklen Nadelstreifenanzug an. Einen Diamanten ins Ohr, und die Haare, dieses Jahr an den Schläfen blond, sonst braun, gelte ich nach hinten. Fertig war der Bube.

Seit mich die neue Belegschaft einmal als Mann aus dem Frauencafé Sarah gejagt hatte, wusste ich, dass ich mich so der Realität stellen konnte.

Die Straßenbahn brachte mich zum Charlottenplatz. Ich entstieg dem unterirdischen Bahnhof ins Bohnenviertel. In den Gassen gingen Fresskultur, Künstlerszene und Junkstrich nahtlos ineinander über. Im Tauben Spitz nahe dem alten Pulverturm versammelten sich, je später der Freitagabend, desto mehr Theaterpublikum, Journalisten und Schriftsteller. Sally zapfte hinter dem Tresen.

»Inner Stunde habe ich Schluss«, versprach sie mir.

An den blanken Holztischen unter Kupferlampen saßen im Stimmengeröhr die Leute mit dem Scheitel im Qualm und den Nasen über den Bier- und Weingläsern.

»Alles muss ich wieder selber machen«, machte Sally auf unentbehrlich. »Karola sitzt schon seit Stunden auf dem Klo. Schick siehst du aus. Wohin gehen wir nachher? Übrigens glotzt dich da hinten ein Typ an.«

»Wo?«

»In der Ecke neben der Tür. Nicht umdrehen!«

Ich suchte das wellige Spiegelbild in den Vitrinen hinter der Theke ab. Als Sally mit einer neuen Runde Getränke abzog, konnte ich mich dann einigermaßen unauffällig umdrehen.