Galapagos - Kurt Vonnegut - E-Book

Galapagos E-Book

Kurt Vonnegut

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Beschreibung

Vor einer Million Jahre – 1986, um genau zu sein – ist die Welt, wie wir sie kennen, dem Untergang geweiht. Erst brechen die Finanzmärkte der Erde zusammen, dann das Klima und schließlich sorgt eine Pandemie dafür, dass alle Frauen unfruchtbar werden. Alle bis auf diejenigen, die sich an Bord des Kreuzfahrtschiffes Bahia de Darwin auf dem Weg zu den Galapagos-Inseln befinden. Plötzlich sind die Passagiere die letzte Hoffnung der Menschheit. Doch damit die Menschen als Spezies überleben können, muss sie die Evolution von dem befreien, was sie beinahe in den Untergang geführt hätte: ihren übergroßen Gehirnen.

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Seitenzahl: 342

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Das Buch

Im Jahr 1986 geschehen zwei Dinge gleichzeitig: Zum einen steht die lang erwartete Jungfernfahrt des Kreuzfahrtschiffes Bahía de Darwin zu den Galapagosinseln kurz bevor, für die sich allerlei Prominente angekündigt haben. Und zum anderen geht die Welt unter, woraufhin die Prominenz ihre Teilnahme kurzerhand wieder absagt. Die wenigen Männer und Frauen, die sich schon auf der Bahía de Darwin befinden, bekommen vom Weltuntergang jedoch nichts mit, und so sticht das Kreuzfahrtschiff in See.

Was niemand an Bord ahnt: Die Passagiere sind die einzigen, die einer Infektion mit dem Bakterium entkommen sind, das alle Frauen weltweit unfruchtbar gemacht hat. Und so wird die Bahía de Darwin zur schwimmenden Wiege einer neuen Menschheit, die sich nicht radikaler von ihren Vorfahren unterscheiden könnte.

In Galapagos, erstmals 1985 veröffentlicht, wirft der amerikanische Kultautor Kurt Vonnegut einen scharfen Blick auf alles, was in unserer Welt schiefläuft – und zeigt uns gleichzeitig, was es wert ist, vor dem Untergang gerettet zu werden. Seine umwerfende Satire auf die menschliche Fortschrittgläubigkeit hat bis heute nichts von ihrer Kraft verloren.

Der Autor

KURTVONNEGUT wurde 1922 in Indianapolis als Sohn deutscher Einwanderer geboren. Nach einem Biochemiestudium an der Cornell University meldete er sich freiwillig zur Armee und nahm 1944 an der Ardennenoffensive teil. Im Februar 1945 erlebte er als Kriegsgefangener die Bombardierung Dresdens. Nach dem Krieg war Vonnegut zunächst als Polizeireporter und PR-Fachmann tätig, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete.

In seinem bekanntesten Roman Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug verarbeitete er seine Erfahrungen als Soldat im Zweiten Weltkrieg. Kurt Vonnegut gilt heute als einer der bedeutendsten amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Er starb 2007 in New York.

Kurt

VONNEGUT

GALAPAGOS

Roman

Aus dem Amerikanischen von Lutz-W. Wolff

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

GALÁPAGOS

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Ausgabe 05/2024

Redaktion: Rainer Michael Rahn

Copyright © 1985 by Kurt Vonnegut

Copyright © 2024 dieser Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock (MarkOfShell, 80a90f)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30045-6V001

www.diezukunft.de

Zur Erinnerung an den Naturfreund Hillis L. Howie (1903 – 1982) – einen guten Mann, der mich, meinen besten Freund Ben Hitz und ein paar andere Jungs im Sommer 1938 von Indianapolis, Indiana, in den amerikanischen Wilden Westen geführt hat.

Mr. Howie stellte uns Indianern vor, ließ uns jede Nacht in der freien Natur schlafen, zeigte uns, wie man seinen Dung vergräbt, und lehrte uns reiten.

Er nannte uns die Namen vieler Pflanzen und Tiere und erklärte uns, wie sie überlebten und wie sie sich fortpflanzten.

Eines Abends erschreckte uns Mr. Howie zu Tode: Er fauchte wie eine Wildkatze ganz in der Nähe des Lagers.

Und eine richtige Wildkatze fauchte zurück.

Denn ich glaube, trotz allem, noch stets an das Gute im Menschen.

Anne Frank (1929 – 1945)

ERSTES BUCH

Die Sache war nämlich so …

1

Die Sache war nämlich so:

Damals, vor einer Million Jahren, 1986 n. Chr., war die Stadt Guayaquil der wichtigste Hafen der kleinen südamerikanischen Republik Ecuador. Die Hauptstadt des Landes war Quito, hoch in den Anden. Guayaquil lag zwei Grad südlich des Äquators, jener imaginären, den ganzen Planeten umspannenden Bauchbinde, der das Land seinen Namen verdankte. In Guayaquil war es immer sehr heiß und feucht, denn die Stadt lag in der Kalmenzone, erbaut auf sumpfigen, von mehreren Flüssen durchzogenen Marschen, durch die das Wasser aus dem Gebirge abfloss. Der Hafen lag einige Kilometer vom offenen Meer entfernt. Das trübe Wasser war oft mit Flößen aus Pflanzen verstopft, die sich im Pfahlwerk und in den Ankerketten verfingen.

Die Menschen hatten damals viel größere Gehirne als heute, und deshalb ließen sie sich immer wieder von rätselhaften Phänomenen in ihren Bann ziehen. Ein solches Rätsel im Jahr 1986 war die Frage, wie es zahlreiche Lebewesen, die nicht in der Lage waren, große Strecken zu schwimmen, wohl geschafft haben mochten, den Galapagos Archipel zu erreichen, eine Inselgruppe vulkanischen Ursprungs westlich von Guayaquil, die vom Festland durch tausend Kilometer sehr tiefen, eiskalten Wassers getrennt ist, das frisch aus der Antarktis heraufströmt. Als die Menschen die Inselgruppe entdeckten, gab es dort bereits Geckos, Leguane, Wasserratten, Meerechsen, Spinnen, Ameisen, Käfer, Heuschrecken, Milben und Zecken, von den gewaltigen Landschildkröten ganz zu schweigen.

Welche Art Beförderungsmittel hatten diese Tiere benutzt?

Vielen Menschen gelang es, ihre großen Gehirne mit folgender Antwort zufriedenzustellen: Sie waren auf natürlichen Flößen gereist.

Andere Leute wiesen darauf hin, dass sich derartige Flöße sehr rasch mit Wasser vollgesogen hätten und verfault wären, dass noch niemand ein solches Floß auf offener See entdeckt habe und die Strömung so primitive Fahrzeuge eher nach Norden als nach Westen tragen würde.

Sie behaupteten, all diese landgebundenen Geschöpfe seien einfach trockenen Fußes über eine natürliche Brücke spaziert oder hätten eine Reihe von mittlerweile in den Wellen versunkenen Inseln als Zwischenstation benutzt, um nur kurze Strecken schwimmen zu müssen. Dank ihrer großen Gehirne und raffinierten Instrumente verfügten die Wissenschaftler des Jahres 1986 aber längst über genaue Karten des Meeresbodens. Es gebe keinerlei Spuren einer versunkenen Landmasse, sagten sie.

Wieder andere Leute behaupteten in jener Zeit der großen Gehirne und der extravaganten Ideen, die Inseln seien einmal Teil des Festlands gewesen und durch eine ungeheuerliche Katastrophe abgetrennt worden.

Aber die Inseln sahen überhaupt nicht so aus, als wären sie von irgendetwas abgetrennt worden. Es handelte sich ganz offensichtlich um noch junge Vulkane, die genau dort entstanden waren, wo sie jetzt lagen. Manche von ihnen waren noch sehr jung, und man musste jederzeit damit rechnen, dass sie erneut ausbrachen. Damals, 1986, hatten sie noch nicht einmal größere Korallenriffe ausgebildet, geschweige denn jene blauen Lagunen und weißen Strände, die viele Menschen in jener Zeit für einen Vorgeschmack auf das Leben im Paradies hielten.

Heute, eine Million Jahre später, haben die Inseln diese weißen Strände und diese blauen Lagunen. Aber damals, zu Beginn dieser Geschichte, gab es da nur hässliche, rasiermesserscharfe, spitze Hörner, Kegel und Buckel aus Lava, deren Risse und Spalten, Höhlen und Niederungen nicht mit Humus und Süßwasser, sondern mit allerfeinster, staubtrockener Vulkanasche gefüllt waren.

Eine andere Theorie von damals besagte, Gott der Allmächtige habe alle Geschöpfe der Galapagosinseln eben dort geschaffen, wo die Entdecker sie vorgefunden hatten, sodass keinerlei Beförderung notwendig war.

Wieder eine andere Theorie besagte, sie seien paarweise an Land gescheucht worden – über das Fallreep der Arche Noah.

Sollte es tatsächlich eine Arche Noah gegeben haben, und das erscheint ja durchaus möglich, dann sollte ich meine Geschichte vielleicht Die Zweite Arche Noah nennen.

2

Keinerlei Rätsel war damals, vor einer Million Jahren, die Frage, wie sich ein fünfunddreißigjähriger Amerikaner namens James Wait, der keine zwei Meter weit schwimmen konnte, vom amerikanischen Kontinent auf die Galapagosinseln zu begeben gedachte. Er würde sich mit Sicherheit nicht auf ein Floß aus Pflanzenstängeln hocken und auf ein gütiges Schicksal hoffen. Er hatte vielmehr soeben in seinem Hotel in Guayaquil ein Ticket für eine zweiwöchige Kreuzfahrt auf dem neu erbauten Passagierdampfer Bahía de Darwin erworben. Die Jungfernreise des Schiffes, das unter ecuadorianischer Flagge fuhr, sollte auf die Galapagosinseln führen. Dies war im Jahr zuvor überall auf der Welt als Jahrhundertereignis angekündigt worden, als die »Nature Cruise of the Century«.

Wait reiste allein. Er war kahl und untersetzt, und er war so blass wie die Kruste eines Apfelkuchens in einem billigen Café. Außerdem trug er eine Brille, und so konnte er jederzeit behaupten, er sei schon über fünfzig, wenn er glaubte, daraus einen Vorteil ziehen zu können. Sein Bestreben war es, harmlos und schüchtern zu wirken.

In der Cocktail-Lounge des Hotel El Dorado an der breiten Calle Diez de Agosto, wo er ein Zimmer hatte, war Wait gegenwärtig der einzige Kunde, und der Barkeeper, ein einundzwanzigjähriger Abkömmling stolzer Inkafürsten namens Jesús Ortiz, hatte das Gefühl, dass dieser graue, einsame Mann, der behauptete, Kanadier zu sein, an irgendeiner schrecklichen Ungerechtigkeit oder Tragödie zerbrochen sein musste. Es war Waits Wunsch, dass jeder, der ihn sah, eben dieses Gefühl hatte.

Jesús Ortiz, der zu den freundlichsten Menschen in dieser Geschichte gehört, verachtete den armen Touristen nicht etwa, sondern er bedauerte ihn. Ganz wie Wait es erhofft hatte, fand Ortiz es außerordentlich traurig, dass Wait gerade eine Menge Geld in der Hotelboutique für neue Kleidung ausgegeben hatte, einen Strohhut, geflochtene Sandalen, gelbe Shorts und ein blau-weiß-scharlachrot gemustertes Baumwollhemd. Als er in seinem Anzug vom Flugplatz gekommen war, hatte Wait durchaus Würde ausgestrahlt, fand Ortiz. Jetzt aber hatte er sich unter erheblichem finanziellem Aufwand in einen Clown, in die Karikatur eines nordamerikanischen Touristen in den Tropen verwandelt.

Am Saum seines brettsteifen neuen Hemds klebte immer noch das Preisschild, und Ortiz machte ihn darauf aufmerksam, sehr höflich und in gutem Englisch.

»Ach ja?«, sagte Wait. Er wusste genau, wo sich das Schild befand, und er wollte, dass es da blieb. Dennoch führte er eine selbstironische Pantomime auf, die zeigen sollte, wie peinlich ihm die Sache war, und schien das Schild entfernen zu wollen. Aber dann hatte er allem Anschein nach den Vorgang auch schon wieder vergessen, weil der Kummer, vor dem er zu fliehen versuchte, ihn wieder eingeholt hatte.

Wait war ein Fischer. Er benutzte das Preisschild als Köder. Es war seine Methode, Fremde dazu zu bringen, ihn anzusprechen, um ihm auf die eine oder andere Weise mitzuteilen, was ihm Ortiz gerade gesagt hatte: »Entschuldigen Sie, Señor, aber mir fiel eben auf …«

Wait war unter dem Namen Willard Flemming mit seinem falschen kanadischen Pass im Hotel abgestiegen. Er war ein außergewöhnlich erfolgreicher Krimineller.

Für Ortiz selbst stellte Wait keine Gefahr dar, wohl aber für jede allein reisende Dame, die unverheiratet und jenseits der Gebärfähigkeit war und nach ein bisschen Geld aussah. Wait hatte bisher insgesamt siebzehn solcher Frauen erfolgreich umworben. Er hatte sie geheiratet, ihre Schmuckkassetten, Bankschließfächer und Konten geplündert und sich dann in Luft aufgelöst.

Er war in seinem Beruf so erfolgreich, dass er es zum Millionär gebracht hatte und bei Banken in ganz Nordamerika unter verschiedenen Namen gut verzinste Konten besaß, ohne jemals verhaftet worden zu sein. Soviel er wusste, wurde er nicht einmal gesucht. Die Polizei, vermutete er, hielt ihn einfach für einen von siebzehn treulosen Ehemännern, von denen jeder einen anderen Namen trug, nicht aber für einen einzelnen Gewohnheitsverbrecher, dessen richtiger Name James Wait war.

Heutzutage erscheint es natürlich ziemlich unglaublich, dass es einmal Menschen von so brillanter Doppelzüngigkeit gegeben hat. Auch ich muss mir in Erinnerung rufen, dass damals im Grunde jeder erwachsene Mensch ein Gehirn hatte, das ungefähr drei Kilogramm wog! Die Zahl der Teufeleien, die eine solche überdimensionierte Denkmaschine planen und ausführen konnte, war praktisch unendlich.

Obwohl niemand mehr da ist, der sie beantworten könnte, möchte ich deshalb folgende Frage aufwerfen: Gibt es irgendwelche Zweifel daran, dass die Entwicklung von drei Kilogramm schweren Gehirnen ein verhängnisvoller, nahezu tödlicher Irrweg in der Evolution der Menschheit war?

Und eine zweite Frage: Gab es, wenn man von unserem allzu komplizierten Nervensystem einmal absieht, damals noch irgendeine andere Quelle für die zahllosen Übel, von denen man ständig hörte und die man überall sah?

Meine Antwort: Nein, es gab keine andere Quelle. Die Erde war ein sehr unschuldiger Planet, abgesehen von diesen großen Gehirnen.

3

Das El Dorado war ein brandneues, fünf Stockwerke zählendes Hotel aus unverputzten Sichtbetonbauteilen. Es hatte die Proportionen und das Aussehen eines Bücherregals, hoch und breit und flach. Jedes Zimmer hatte an der Westseite eine vom Boden bis zur Decke reichende Glaswand, durch die man auf den drei Kilometer entfernt ins Delta gebaggerten Hochseehafen hinaussah.

Früher war dieser Hafen ein Schauplatz brodelnden Handels gewesen. Von überall auf dem Planeten hatten die Schiffe Fleisch und Getreide, Gemüse, Obst, Fahrzeuge, Kleidung, Werkzeugmaschinen, Haushaltsgeräte und zahlreiche andere Güter gebracht und dafür in ehrlichem Austausch ecuadorianischen Kaffee, Kakao, Zucker, Petroleum, Gold und indianische Volkskunst mitgenommen, einschließlich der »Panama«-Hüte, die schon immer aus Ecuador und nicht aus Panama kamen.

Jetzt, während James Wait in der Bar des Hotels saß und gelegentlich an seinem Cola mit Rum nuckelte, lagen allerdings nur zwei Schiffe im Hafen. Wait war kein Trinker. Da er von seinem Verstand lebte, konnte er sich einen alkoholischen Kurzschluss in den komplizierten Schaltkreisen des großen Computers in seinem Schädel nicht leisten. Ebenso wie das Preisschild an seinem lächerlichen Hemd war der Drink ein Requisit der theatralischen Vorstellung, die er gab.

Ob der gegenwärtige Stand der Handelsaktivitäten im Hafen normal war, hätte Wait nicht beurteilen können. Bis vor zwei Tagen hatte er noch nie von Guayaquil gehört, und er war zum ersten Mal in seinem Leben südlich des Äquators. Für ihn unterschied sich das El Dorado in nichts von all den anderen gesichtslosen Hotels, in denen er in der Vergangenheit schon Unterschlupf gesucht hatte – in Moose Jaw, Saskatchewan, in San Ignacio, Mexiko, in Watervliet, New York und so weiter und so weiter.

Den Namen der Stadt, in der Wait sich befand, hatte er auf der Abflugtafel des Kennedy International Airport entdeckt. Er hatte gerade seine siebzehnte Ehefrau an den Bettelstab gebracht und verlassen – eine siebzigjährige Witwe aus Skokie, Illinois, einem Vorort Chicagos. Wait war der Ansicht gewesen, Guayaquil sei der Ort, wo sie ihn zuletzt suchen würde.

Diese Frau war so dumm und hässlich gewesen, dass sie wahrscheinlich besser nie geboren worden wäre. Und doch war Wait schon der Zweite gewesen, der sie geheiratet hatte.

Auch im El Dorado wollte Wait nicht lange bleiben, nachdem er im Reisebüro in der Hotelhalle ein Ticket für die »Nature Cruise of the Century« gekauft hatte. Es war mittlerweile später Nachmittag, und die Straßen waren heißer als die Türangeln der Höllenpforte. Kein Lüftchen regte sich draußen, aber Wait war das egal, denn er war ja drinnen, das Hotel hatte eine Klimaanlage, und bald würde er ohnehin abreisen. Sein Schiff, die Bahía de Darwin, sollte am nächsten Tag, Freitag, dem 28. November 1986, vor einer Million Jahren also, aus Guayaquil auslaufen.

Die Bucht, nach der Waits Beförderungsmittel benannt worden war, lag an der Südküste der Insel Genovesa im Galapagos-Archipel. Wait wusste nichts von den Galapagosinseln. Er stellte sie sich wie Hawaii vor, wo er einmal Flitterwochen gemacht hatte, oder wie Guam, wo er sich einmal versteckt hatte – mit breiten, weißen Stränden und blauen Lagunen, sich im Wind wiegenden Palmen und kaffeebraunen Mädchen.

Der Mann im Reisebüro hatte ihm einen Prospekt mit einer Beschreibung der Kreuzfahrt gegeben, aber Wait hatte noch nicht hineingeschaut. Der Prospekt lag ungeöffnet vor ihm auf der Theke. Er beschrieb ganz wahrheitsgemäß, dass die meisten der Inseln recht scheußlich waren, und warnte die künftigen Passagiere vor den Strapazen der Reise. Im Gegensatz zu dem Mann im Reisebüro, der davon kein Wort gesagt hatte, wies der Prospekt auch darauf hin, dass die Passagiere eine halbwegs robuste Kondition haben sollten und feste Stiefel und Kleider mitnehmen müssten, da es unvermeidlich sein würde, wie die Marines an Land zu waten und steile Felsen hinaufzuklettern.

Die Darwin Bay war nach dem großen englischen Wissenschaftler Charles Darwin benannt, der Genovesa und mehrere ihrer Nachbarinseln im Jahre 1835, als er noch ein junger Bursche von sechsundzwanzig und damit neun Jahre jünger als Wait war, fünf Wochen lang erforscht hatte. Darwin war damals freischaffender Naturforscher an Bord eines Schiffes Ihrer Majestät, der Beagle, gewesen, die sich auf einer kartografischen Expedition befand, die rund um die Welt führen und fünf Jahre dauern sollte.

Der Prospekt der Kreuzfahrt, der weniger Vergnügungsreisende als Naturliebhaber ansprechen sollte, zitierte ausführlich aus Darwins erstem Buch Die Reise derBeagle, in dem er eine typische Galapagosinsel wie folgt beschrieb:

»Nichts konnte weniger einladend sein als die erste Erscheinung. Ein zerklüftetes Feld schwarzer basaltischer Lava, welche in die verschiedenartigst zerrissenen Wellen geworfen und von großen Spalten durchsetzt ist, wird überall von verkümmertem, sonnenverbranntem Buschholz bedeckt, welches nur wenige Zeichen von Leben erkennen lässt. Die trockene und ausgedörrte, von der Mittagssonne erhitzte Oberfläche gab der Luft ein enges und drückendes Gefühl, wie ein Ofen; wir bildeten uns sogar ein, dass die Gebüsche unangenehm röchen.«

Weiter hieß es bei Darwin: »Die ganze Oberfläche … scheint von den unterirdischen Dämpfen wie ein Sieb durchlöchert worden zu sein: Hier und da ist die Lava, solange sie weich war, in große Blasen aufgeworfen worden; an anderen Stellen ist das Dach ähnlich gebildeter Höhlen eingestürzt und hat kreisförmige Gruben mit steilen Seitenwänden hinterlassen.« Insgesamt fühlte sich Darwin, wie er schrieb, lebhaft erinnert »… an jene Teile von Staffordshire, wo die großen Eisenwerke am zahlreichsten sind«.

Hinter der Bar des El Dorado hing ein Porträt von Charles Darwin, umrahmt von Regalen und Flaschen. Es handelte sich um die vergrößerte Reproduktion eines Stahlstichs, der ihn allerdings nicht als jungen Mann auf den Galapagosinseln zeigte, sondern als gewichtigen Familienvater zu Hause in England mit einem üppigen Vollbart, der wie ein Adventskranz um seinen Hals hing. Das gleiche Porträt befand sich auch auf den T-Shirts, die es in der Hotelboutique zu kaufen gab, und Wait hatte zwei davon erworben. Darwin hatte so ausgesehen, als ihn seine Freunde und Verwandten endlich dazu überredet hatten, seine Erkenntnisse schriftlich niederzulegen und der Welt zu erklären, wie alle Lebewesen, einschließlich seiner eigenen Person, seiner Freunde und Verwandten und sogar seiner Königin, sich zu dem entwickelt hatten, was sie im neunzehnten Jahrhundert waren. Er hatte daraufhin das bei Weitem einflussreichste wissenschaftliche Werk aus der Zeit der großen Gehirne verfasst. Weit mehr als jeder andere Wälzer trug es dazu bei, dass sich die wirren Ideen der Menschen über die Bewertung von Erfolg und Versagen stabilisierten. Das muss man sich einmal vorstellen! Für den gnadenlosen Inhalt des Buches gibt es keine treffendere Zusammenfassung als den Titel: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder Die Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe ums Dasein.

Wait hatte das Buch nie gelesen, und auch der Name Darwin sagte ihm nichts, obwohl er sich von Zeit zu Zeit erfolgreich als gebildeter Mann ausgegeben hatte. Auf der bevorstehenden Kreuzfahrt gedachte er als Ingenieur aus Moose Jaw, Saskatchewan, aufzutreten, dessen Frau vor Kurzem an Krebs gestorben war.

Seine formale Erziehung hatte nach zwei Jahren Berufsschule in seiner Heimatstadt Midland City, Ohio, in denen er eine Lehre als Autoschlosser absolviert hatte, ein abruptes Ende genommen. Er hatte zu diesem Zeitpunkt bereits die Fürsorge von fünf verschiedenen Pflegemüttern hinter sich, denn er war eine Art Waisenkind: die Frucht einer inzestuösen Beziehung zwischen einem Vater und einer Tochter, die unmittelbar nach seiner Geburt gemeinsam aus Midland City geflohen waren.

Als er groß genug war, um selbst wegzulaufen, machte er sich per Anhalter auf den Weg nach Manhattan. Dort half ihm ein Zuhälter weiter, der ihm beibrachte, wie man erfolgreich als Strichjunge arbeitet, dass man Preisschilder an den Kleidern lassen und sich mit seinen Freiern so gut amüsieren sollte wie möglich. Wait hatte damals sehr gut ausgesehen.

Als seine Attraktivität verblasste, wurde er Tanzlehrer. Er besaß ein natürliches Talent für den Tanz, und zu Hause in Midland City hatte man ihm häufig erzählt, seine Eltern seien ebenfalls sehr gute Tänzer gewesen. Er hatte deren Rhythmusgefühl wahrscheinlich geerbt. Und als Tanzlehrer lernte er auch die erste seiner bisher siebzehn Ehefrauen kennen.

Während seiner gesamten Kindheit war Wait von seinen verschiedenen Pflegeeltern ständig für nichts und alles grausam bestraft worden. Sie waren der Überzeugung, er werde sich aufgrund seiner Erbanlagen zu einem moralischen Ungeheuer entwickeln.

Und jetzt saß dieses Ungeheuer zufrieden, reich und, soviel Wait wusste, auch durchaus gesund im El Dorado und wartete darauf, dass seine Überlebenskünste erneut auf die Probe gestellt würden.

Übrigens bin ich als Teenager auch weggelaufen, genau wie James Wait.

4

Im brodelnden, leidenschaftlichen, vielsprachigen Guayaquil war der diskrete, unpersönliche, asexuelle und in seinen Schriften kühl registrierende englische Gentleman Charles Darwin vor allem deshalb so populär, weil er einen Touristenboom ausgelöst hatte. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte es für James Wait kein El Dorado und keine Bahía de Darwin gegeben, ebenso wenig wie die Boutique, in der Wait sich so kurios einkleiden konnte.

Wenn Charles Darwin die Galapagosinseln nicht wunderbar lehrreich genannt hätte, wäre Guayaquil lediglich ein heißer, schmutziger Hafen gewesen, und die Inseln hätten für Ecuador nicht mehr Wert gehabt als die Schlackenberge von Staffordshire.

Darwin veränderte die Inseln zwar nicht, dafür aber das, was die Leute über sie dachten. Das, was die Leute dachten, war in der Zeit der großen Gehirne sehr wichtig.

Bloße Meinungen bestimmten die Handlungen der Leute mindestens genauso wie beweisbare Tatsachen, und sie waren immer wieder Gegenstand heftiger Umschwünge, wie sie bei Tatsachen niemals auftreten konnten. So konnten die Galapagosinseln von einem Augenblick zum anderen erst als die Hölle, dann als das Paradies auf Erden gelten; Julius Caesar, eben noch Staatsmann, war plötzlich ein Schlächter; die Banknoten Ecuadors, die gerade noch gegen Nahrung, Wohnung und Kleidung eingetauscht werden konnten, waren plötzlich nur noch zum Auslegen von Vogelkäfigen gut; das Universum, das eben noch die Schöpfung des allmächtigen Gottes gewesen war, wurde zum Ergebnis einer gewaltigen Explosion, und so weiter und so weiter.

Dank des Rückgangs ihrer Gehirnmasse werden die Menschen heute glücklicherweise von den Hauptaufgaben des Lebens nicht mehr durch Meinungen abgelenkt.

Der weiße Mann entdeckte die Galapagosinseln im Jahre 1535, als ein spanisches Schiff, das vom Kurs abgekommen war, auf sie stieß. Die Inseln waren zu diesem Zeitpunkt unbewohnt, und es wurden auch nie Spuren einer früheren Besiedelung gefunden.

Das unglückliche Schiff hatte kein anderes Ziel, als den Bischof von Panama nach Peru zu befördern und dabei stets in Sichtweite der südamerikanischen Küste zu bleiben. Aber dann kam dieser Sturm, der es rücksichtslos aufs Meer hinaustrieb, Richtung Westen, immer weiter nach Westen, wo es nach damals herrschender Meinung nur Wasser und mehr Wasser gab.

Und als der Sturm nachließ, stellten die Spanier fest, dass sie den Bischof in eine Gegend gebracht hatten, die für jeden christlichen Seemann ein Albtraum sein musste. Das Land war eine Farce, ohne sichere Ankerplätze, ohne Schatten und Süßwasser. Es gab weder tropische Früchte noch Menschen. Die Inseln waren ein Hohn. Überdies gerieten die Spanier in eine Flaute, Wasser und Lebensmittel gingen zur Neige. Der Ozean war glatt wie ein Spiegel. Schließlich mussten sie eine Barkasse aussetzen und ihr Schiff und ihren geistlichen Oberhirten ins Schlepp nehmen.

Sie nahmen die Inseln für die spanische Krone nicht in Besitz. Auf die Hölle erhebt man keine territorialen Ansprüche. Drei Jahrhunderte lang zeigte auch keine andere Nation Interesse an der Inselgruppe, der allerdings aufgrund der geänderten herrschenden Meinung inzwischen ein Platz auf den Seekarten eingeräumt wurde. Dann aber, im Jahre 1832, forderte eines der kleinsten und ärmsten Länder auf diesem Planeten, nämlich Ecuador, die Welt auf, mit ihm darin einer Meinung zu sein, dass die Galapagosinseln zum ecuadorianischen Territorium gehören.

Es widersprach niemand. Man hielt diese Meinung zum damaligen Zeitpunkt für harmlos, ja für beinahe komisch. Es war, als ob Ecuador in einem Anfall von imperialistischem Größenwahn einen vorbeiziehenden Asteroidenschwarm annektiert hätte.

Aber dann kam nur drei Jahre später der junge Charles Darwin und überzeugte seine Mitmenschen davon, dass die ziemlich eigenartigen Pflanzen und Tiere, die es geschafft hatten, auf den Inseln zu überleben, dem Archipel einen außergewöhnlichen Wert gaben, vorausgesetzt, dass die Menschen bereit waren, es so zu betrachten wie Darwin: rein naturwissenschaftlich. Für diese Wandlung von völliger Wertlosigkeit zur Unbezahlbarkeit gibt es nur ein einziges Wort: wundersam.

Als James Wait in Guayaquil eintraf, waren schon so viele Personen mit naturgeschichtlichen Interessen auf den Inseln gewesen, um zu sehen, was Darwin gesehen hatte, und zu denken, was Darwin gedacht hatte, dass bereits drei Kreuzfahrtschiffe ihren Heimathafen in Guayaquil hatten, von denen die Bahía de Darwin das neueste war. Es gab einige moderne Hotels, von denen das El Dorado das neueste war, und es gab die Calle Diez de Agosto hinauf und hinunter reichlich Boutiquen, Restaurants und Souvenirläden für die Touristen.

Die Sache war allerdings so: Als James Wait nach Guayaquil kam, hatte eine weltweite Finanzkrise, ein plötzlicher Umschwung der herrschenden Meinung über den Wert von Bargeld, Aktien, Hypotheken, Schuldverschreibungen und anderen Papierschnipseln den Tourismus in Ecuador und praktisch überall auf der Welt ruiniert. Das El Dorado war das einzige noch geöffnete Hotel in der Stadt, und die Bahía de Darwin das einzige Schiff, das noch zum Auslaufen bereit war.

Das El Dorado blieb nur deshalb geöffnet, weil es der Treffpunkt für alle sein sollte, die an der »Nature Cruise of the Century« teilnehmen wollten. Es gehörte demselben Konzern wie das Schiff. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt, weniger als vierundzwanzig Stunden vor der geplanten Abreise, hatten sich allerdings erst sechs Gäste in dem Zweihundert-Betten-Hotel eingefunden, James Wait eingeschlossen, versteht sich. Die übrigen fünf Gäste waren:

*Zenji Hiroguchi, neunundzwanzig, ein japanisches Computergenie;

Hisako Hiroguchi, sechsundzwanzig, seine hochschwangere Frau, eine Lehrerin, die Unterricht in Ikebana erteilte, der japanischen Kunst des Blumensteckens;

*Andrew MacIntosh, fünfundfünfzig, ein amerikanischer Finanzmann und Abenteurer mit großem ererbtem Vermögen, verwitwet;

Selena MacIntosh, achtzehn, seine Tochter, die seit ihrer Geburt blind war;

und Mary Hepburn, einundfünfzig, eine verwitwete Amerikanerin aus Ilium im Staate New York, die praktisch noch niemand im Hotel zu Gesicht bekommen hatte, weil sie seit ihrer Ankunft am Vorabend in ihrem Zimmer im fünften Stock geblieben war und dort auch all ihre Mahlzeiten einnahm.

Die beiden Personen mit dem Sternchen vor ihrem Namen sollten noch vor Sonnenuntergang tot sein. Das Prinzip, gewisse Namen mit einem Stern zu kennzeichnen, wird sich die ganze Geschichte hindurch fortsetzen. Es soll den Leser darauf hinweisen, dass die eine oder andere Person unmittelbar vor dem letzten Darwinschen Test ihrer Stärke und Verschlagenheit steht.

Ich war natürlich ebenfalls anwesend, aber vollkommen unsichtbar.

5

Zum Untergang war auch die Bahía de Darwin verurteilt, aber für ein Sternchen vor ihrem Namen ist die Zeit noch nicht reif. Sie sollte noch fünf Sonnenuntergänge erleben, bevor ihre Maschinen für immer versagten, und weitere zehn Jahre, ehe sie auf den Meeresboden sank. Sie war nicht nur das neueste, schnellste und luxuriöseste Kreuzfahrtschiff in Guayaquil, sie war auch das einzige, das speziell für die Galapagosroute gebaut worden war. Von Anfang an, schon als sie auf Kiel gelegt wurde, war klar, dass sie immer nur zu den Inseln hinaus und wieder zurückfahren würde.

Die Bahía de Darwin war in Malmö gebaut worden, wo ich selbst an ihr gearbeitet habe. Die aus Schweden und Ecuadorianern zusammengesetzte Mannschaft, die sie von Malmö nach Guayaquil überführte, war der Ansicht, das Unwetter auf dem Nordatlantik, das sie durchquerten, sei mit Sicherheit das erste und letzte für das Schiff gewesen.

Die Bahía de Darwin war schwimmendes Restaurant, Vortragssaal, Nachtlokal und Hotel für einhundert zahlende Gäste. Sie war mit Radar, Sonar und elektronischen Navigationshilfen ausgestattet, die es erlaubten, ihre Position auf dem Globus jederzeit auf hundert Meter genau zu bestimmen, und sie war so durch und durch automatisch gesteuert, dass eine einzelne Person von der Brücke aus ihre Maschinen in Gang setzen, die Anker lichten und ablegen konnte, ohne dass jemand an Deck oder im Maschinenraum schuften musste. Die Bedienung war so einfach wie bei einem Auto. An Bord gab es fünfundachtzig Toiletten mit automatischer Spülung, zwölf Bidets und sowohl auf der Brücke als auch in den Kabinen Satellitentelefone.

Es gab auch Fernsehen an Bord, damit die Passagiere sich über das Tagesgeschehen informieren konnten.

Die Besitzer, ein bejahrtes deutsches Brüderpaar aus Quito, rühmten sich, ihr Schiff werde die Verbindung mit dem Rest der Welt niemals auch nur für eine Sekunde verlieren. Sie hatten wirklich null Ahnung.

Die Bahía de Darwin war siebzig Meter lang.

Das Schiff, auf dem Charles Darwin freischaffender Naturforscher war, die Beagle, war nur achtundzwanzig Meter lang.

Als die Bahía de Darwin in Malmö vom Stapel lief, mussten sich elfhundert Tonnen Salzwasser einen neuen Platz suchen. Ich war zu diesem Zeitpunkt schon tot.

Als die Beagle in Falmouth vom Stapel lief, mussten sich lediglich zweihundertfünfzehn Tonnen Salzwasser einen anderen Platz suchen.

Die Bahía de Darwin war ein modernes Motorschiff mit einem Ganzmetallrumpf.

Die Beagle war ein Segelschiff, das aus Baumstämmen gebaut worden war, und hatte zehn Kanonen zur Abwehr von Piraten und Wilden an Bord.

Die beiden älteren Kreuzfahrtschiffe, deren Konkurrenz die Bahía de Darwin hatte werden sollen, waren stillgelegt worden, noch ehe der Kampf überhaupt anfing. Bis vor Kurzem waren beide noch auf Monate ausgebucht gewesen, aber dann kamen plötzlich aufgrund der internationalen Finanzkrise Hunderte von Stornierungen. Jetzt lagen sie irgendwo in den Marschen im Brackwasser vor Anker, von der Stadt aus nicht sichtbar, weit entfernt von jeglicher Ansiedlung. In Erwartung einer längeren Periode der Gesetzlosigkeit hatten ihre Besitzer die gesamte elektronische Ausrüstung und alle sonstigen Wertgegenstände aus ihnen entfernt.

Denn Ecuador bestand, ganz wie die Galapagosinseln, zum größten Teil aus Lava und Asche und war keineswegs in der Lage, seine neun Millionen Menschen allein zu ernähren. Ecuador war bankrott und konnte deshalb von den Ländern mit genügend fruchtbarem Boden keine Lebensmittel mehr kaufen. Der Hafen von Guayaquil lag brach, und die Menschen waren dabei zu verhungern.

So ist nun mal das Geschäftsleben.

Auch die Nachbarstaaten, Peru und Kolumbien, waren bankrott. Das einzige andere Schiff im Hafen von Guayaquil neben der Bahía de Darwin war ein rostiger kolumbianischer Frachter, die San Mateo, die nur deshalb nicht wieder auslaufen konnte, weil es am Geld für Lebensmittel und Öl fehlte. Die San Mateo lag auf der Reede, und das schon so lange, dass sich an ihrer Ankerkette eine gewaltige Menge Pflanzen angesiedelt hatte. Auf einem Floß dieser Größe hätte sogar ein Elefantenbaby die Galapagosinseln erreicht.

Mexiko, Chile, Brasilien und Argentinien waren ebenfalls bankrott – ebenso wie Indonesien, die Philippinen, Pakistan, Indien, Thailand, Italien, Irland, Belgien und die Türkei. Ganze Völker waren plötzlich in derselben Situation wie die Mannschaft der San Mateo. Sie konnten mit ihrem Papiergeld, ihren Münzen oder schriftlichen Zahlungszusagen nichts mehr kaufen, selbst das Notwendigste nicht. Diejenigen, die lebensnotwendige Güter besaßen, Mitbürger wie Ausländer, weigerten sich, diese Waren gegen Geld einzutauschen. Denjenigen, deren Reichtum nur in Papier bestand, sagten sie plötzlich: »Ihr Narren! Wacht auf! Wie konntet ihr jemals glauben, Geld sei so wertvoll?«

Es gab immer noch genug Nahrungsmittel und Brennstoff für alle Menschen auf dem Planeten, so zahlreich sie waren, trotzdem waren Millionen und Abermillionen jetzt dabei zu verhungern. Auch die Gesündesten konnten nur vierzig Tage lang ohne Nahrung auskommen, dann trat der Tod ein.

Und diese Hungersnot war, ebenso wie Beethovens Neunte, ein reines Produkt der überdimensionalen Gehirne.

Es geschah alles in den Köpfen der Leute. Die Leute hatten lediglich ihre Meinung über das Papiergeld geändert, aber die Ergebnisse waren nicht weniger katastrophal, als hätte ein Meteor von der Größe Luxemburgs den Planeten getroffen.

6

Die damalige Finanzkrise, die heute gänzlich unmöglich wäre, ist lediglich die letzte einer ganzen Serie von mörderischen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen, die den menschlichen Gehirnen entstammten. Ein Beobachter von einem anderen Planeten hätte aufgrund der Brutalität, mit der die Menschen sich selbst, ihre Mitmenschen und darüber hinaus alles Lebendige zerstörten, ohne Weiteres annehmen müssen, dass sich die Umwelt in Aufruhr befand und die Menschen sich deshalb so hysterisch verhielten, weil die Natur sie alle umbringen wollte.

In Wirklichkeit aber war der Planet vor einer Million Jahren schon genauso feucht und nahrungsreich gewesen wie heute – und in dieser Hinsicht ganz einzigartig in der gesamten Milchstraße. Alles, was nicht stimmte, war die Meinung der Leute.

Zugutehalten kann man der Menschheit von damals nur eines: Es gab immer mehr Leute, die sagten, dass ihre Gehirne unverantwortlich, unzuverlässig, entsetzlich gefährlich, vollkommen unrealistisch, kurz, verdammt unbrauchbar seien.

Im Mikrokosmos des El Dorado zum Beispiel verfluchte die Witwe Mary Hepburn, die all ihre Mahlzeiten in ihrem Zimmer eingenommen hatte, gerade mit gedämpfter Stimme ihr Gehirn, weil es ihr einzureden versuchte, sie solle sich umbringen.

»Du bist mein Feind«, flüsterte sie. »Warum nur trage ich einen so schrecklichen Feind in meinem Körper?« Sie hatte ein Vierteljahrhundert lang an der mittlerweile geschlossenen öffentlichen Highschool in Ilium, New York, Biologie unterrichtet und war deshalb mit der eigenartigen Entwicklungsgeschichte einer damals schon ausgestorbenen Tierart vertraut, die von den Menschen »Irischer Elch« genannt wurde. »Wenn ich die Wahl zwischen meinem Gehirn und dem Geweih eines Irischen Elchs hätte«, sagte Mary zu ihrem zentralen Nervensystem, »würde ich das Geweih nehmen.«

Der Irische Elch (Megaloceros giganteus) hatte ein Geweih von den Ausmaßen eines Kronleuchters. Ihren Schülern pflegte Mary zu sagen, dieser Riesenhirsch sei ein faszinierendes Beispiel dafür, wie tolerant die Natur gegenüber offensichtlich lächerlichen Fehlentwicklungen sein könne. Obwohl ihn sein Geweih, das zum Kampf und zur Selbstverteidigung viel zu groß war, bei der Nahrungssuche in dichten Wäldern und im Unterholz stark behinderte, überlebte der Megaloceros zweieinhalb Millionen Jahre.

Mary hatte ihren Schülern auch erklärt, das menschliche Gehirn sei die großartigste Überlebensmaschine, welche die Evolution bis dato hervorgebracht habe. Und doch versuchte ihr eigenes großes Gehirn sie gerade dazu zu überreden, jetzt hier in Guayaquil ihr rotes Abendkleid aus dem Schrank zu nehmen, den dünnen Polyäthylenüberzug abzustreifen und ihn sich über den Kopf zu stülpen, damit ihre Zellen keinen Sauerstoff mehr erhielten.

Am Tag zuvor hatte ihr wunderbares Gehirn die Reisetasche, die sie auf dem Flug von Quito nach Guayaquil als Bordgepäck mitführte, am Flughafen einem Dieb anvertraut. In dieser Reisetasche waren nicht nur ihre Toilettenartikel, sondern auch sämtliche Kleider gewesen, die sie hätte im Hotel tragen können. Zum Glück hatte sie wenigstens noch den Inhalt des Koffers, den sie aufgegeben hatte. Darin waren das Abendkleid, das im Schrank hing und für die Partys auf der Bahía de Darwin gedacht war, ein Taucheranzug mit Flossen und Maske, zwei Badeanzüge, ein Paar Wanderstiefel und ein Kampfanzug aus Überschussbeständen der US Marines für Exkursionen an Land. Den Kampfanzug trug sie im Moment.

Der Verbleib des Hosenanzugs, den sie auf dem Flug von Quito nach Guayaquil angehabt hatte, war nicht völlig zu klären. Ihr großes Gehirn hatte Mary dazu überredet, ihn der Hotelwäscherei anzuvertrauen und dem melancholischen Hoteldirektor zu glauben, der ihr versichert hatte, sie werde ihn mit Sicherheit am nächsten Morgen zum Frühstück zurückhaben. Sehr zur Verlegenheit des Direktors war der Anzug stattdessen verschwunden.

Abgesehen davon, dass es ihr dazu riet, sich selbst umzubringen, war das Schlimmste, was ihr Gehirn Mary angetan hatte, die Weigerung gewesen, angesichts der Nachrichten über die planetarische Finanzkrise und der Wahrscheinlichkeit, dass die vor einem Monat noch völlig ausgebuchte »Nature Cruise of the Century« aus Mangel an Passagieren abgesagt werden würde, auf den Flug nach Guayaquil zu verzichten.

Marys kolossale Denkmaschine konnte auch kleinlich sein. So ließ sie es zum Beispiel nicht zu, dass sie in ihrem Kampfanzug den Speisesaal aufsuchte. Alle würden sie komisch finden in diesem Kostüm, behauptete ihr Gehirn, obwohl ja so gut wie niemand im ganzen Hotel war. »Sie werden hinter deinem Rücken über dich lachen«, sagte es. »Sie werden dich für verrückt halten und dich bedauern. Außerdem ist dein Leben sowieso vorbei. Du hast deinen Mann und deinen Job verloren, du hast keine Kinder und auch sonst nichts, wofür zu leben sich lohnt. Also nimm jetzt den Plastiksack und mach deinem Elend ein Ende. Es ist doch so einfach! Und es tut auch nicht weh! Und außerdem ist es logisch!«

Der Gerechtigkeit halber muss gesagt werden: Es war nicht nur die Schuld ihres Gehirns, dass 1986 bislang ein so absolut schreckliches Jahr für Mary gewesen war. Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen. Zu Beginn des Jahres schien Marys Ehemann Roy noch bei bester Gesundheit zu sein, und er hatte einen sicheren Job als Ingenieur bei der GEFF-Company, dem wichtigsten Arbeitgeber in Ilium. Die Kiwanis hatten ihr zu Ehren ein Essen gegeben und ihr bei dieser Gelegenheit eine Plakette zur Erinnerung an ihre fünfundzwanzigjährige erfolgreiche Lehrtätigkeit überreicht. Die Schüler hatten sie zum zwölften Mal hintereinander zur populärsten Lehrerin der Schule gewählt.

Anfang 1986 hatte Mary gesagt: »Ach, Roy, es gibt so viel, wofür wir dankbar sein müssen. Es geht uns so gut im Verhältnis zu anderen Leuten. Manchmal könnte ich weinen vor Glück.«

Und Roy hatte die Arme um sie gelegt und gesagt: »Warum tust du es dann nicht einfach? Weine doch, wenn dir danach ist.«

Mary war einundfünfzig, und er war neunundfünfzig, und sie waren beide gern an der frischen Luft, liebten lange Wanderungen, Skifahren, Bergsteigen, Paddeln, Laufen, Fahrradfahren und Schwimmen. Und so waren ihre Körper jugendlich schlank. Beide rauchten nicht und tranken kaum Alkohol, dafür aßen sie sehr viel Obst und frisches Gemüse und gelegentlich etwas Fisch.

Auch mit ihrem Geld waren sie geschickt umgegangen. Sie hatten ihren Ersparnissen die gleiche vernünftige Ernährung und Ertüchtigung zukommen lassen wie sich selbst.

Was Mary über ihre und Roys finanzielle Klugheit zu sagen gehabt hätte, wäre natürlich für einen James Wait eine hochinteressante Geschichte gewesen.

Und obwohl er sie noch gar nicht kannte und erst recht nicht wusste, wie gut sie bestückt war, dachte Wait, dieser Witwenausnehmer, tatsächlich über Mary nach, als er in der Bar des El Dorado saß. Er hatte ihren Namen im Hotelregister gelesen und sich beim Direktor nach ihr erkundigt.

Das Wenige, was dieser ihm erzählen konnte, hatte Wait sehr gefallen. Diese schüchterne, einsame Lehrerin da oben war zwar viel jünger als die Frauen, die er bisher ruiniert hatte, aber sie schien ihm trotz allem seine natürliche Beute zu sein. Er würde sich während der »Nature Cruise of the Century« in aller Ruhe an sie heranpirschen können.

An dieser Stelle möchte ich eine persönliche Bemerkung einfügen: Als ich noch lebte, erhielt ich mehrfach Anweisungen von meinem großen Gehirn, die man im Hinblick auf meine Überlebenschancen oder die Überlebenschancen der Menschheit im besten Falle als fragwürdig bezeichnen kann. Zum Beispiel veranlasste mich mein Gehirn, zu den US Marines zu gehen und in Vietnam zu kämpfen.

Vielen Dank, großes Gehirn!

7

Die Landeswährungen der Gäste im El Dorado – der beiden Japaner und der vier Amerikaner, von denen sich einer als Kanadier ausgab – waren immer noch überall auf dem Planeten so wertvoll wie Gold. Allerdings darf man nicht vergessen: Der Wert des Geldes war vollkommen imaginär. Ebenso wie die Vorstellungen vom Wesen des Universums bestand die Attraktivität des amerikanischen Dollar und des japanischen Yen ausschließlich in den Köpfen der Leute.

Hätte Wait, der nicht einmal wusste, dass es eine Finanzkrise gab, seine Maskerade als Kanadier so weit getrieben, dass er kanadische Dollar mit nach Ecuador gebracht hätte, wäre er allerdings nicht so freundlich aufgenommen worden wie jetzt. Kanada war zwar noch nicht bankrott, aber die Einbildungskraft der Leute in immer mehr Ländern der Welt, einschließlich Kanada, ließ sie daran zweifeln, ob es weiterhin ratsam sei, wirklich wertvolle Dinge gegen kanadische Dollar einzutauschen.

Ein ähnlicher Verfall des imaginären Wertes spielte sich beim Englischen Pfund, beim Französischen Franc, beim Schweizer Franken und der Deutschen Mark ab. Der ecuadorianische Sucre, nach dem Nationalhelden Antonio José de Sucre benannt, war inzwischen weniger wert als eine Bananenschale.

In ihrem Zimmer im fünften Stock fragte Mary Hepburn sich gerade, ob sie vielleicht einen Hirntumor hatte und ihr Gehirn ihr deshalb nur die schlechtestmöglichen Empfehlungen gab. Es war ein ganz selbstverständlicher Verdacht, denn vor knapp drei Monaten hatte ein Gehirntumor Marys Mann umgebracht. Roy umzubringen, hatte dem Tumor allerdings nicht genügt. Zuvor musste er noch Roys Gedächtnis verwirren und seine Urteilskraft angreifen.

Mary fragte sich natürlich, wann der Tumor begonnen hatte, Roy zu beeinflussen. Und ob es nicht womöglich der Tumor gewesen war, der ihn dazu veranlasst hatte, im vielversprechenden Januar dieses letztlich so schrecklichen Jahres zwei Plätze für die »Nature Cruise of the Century« zu buchen.

Dass er die Kreuzfahrt gebucht hatte, fand Mary folgendermaßen heraus: Eines Nachmittags kam sie von der Arbeit nach Hause und erwartete eigentlich, dass Roy noch bei der GEFFCo war; normalerweise musste er eine Stunde länger arbeiten als sie. Aber Roy war bereits da, und es stellte sich heraus, dass er schon mittags seinen Arbeitsplatz verlassen hatte. Und das bei einem Mann, der nicht nur sehr stolz auf seine Maschinen war, sondern auch in seinen neunundzwanzig Jahren bei der GEFFCo noch keine Stunde gefehlt hatte! Roy war nie krank gewesen, und andere Gründe gab es erst recht nicht.

Mary fragte ihn, ob ihm etwas fehle, und Roy sagte, im ganzen Leben sei es ihm noch nicht besser gegangen. Er schien sehr stolz auf sich zu sein. Fast wie ein junger Bursche, der es leid war, ständig für einen Musterknaben gehalten zu werden, fand Mary. Und das bei einem Mann, der sonst nur wenig sprach, der stets wohlüberlegt handelte und an dem es nichts Albernes oder Unreifes gab! Aber jetzt sagte er unglaublicherweise mit einem dümmlichen Grinsen: »Ich habe geschwänzt.« Als wäre sie seine Mutter, die an ihm herumnörgelte.

Jetzt, in Guayaquil, war Mary davon überzeugt, dass es der Tumor war, der das gesagt hatte. Er hätte sich allerdings keinen schlechteren Tag zum unbekümmerten Schwänzen aussuchen können, denn in der Nacht zuvor war ein Eisregen gefallen, und der Wind hatte den ganzen Tag über Graupelschauer durch die Straßen getrieben. Und doch war Roy die Clinton Street, die Hauptgeschäftsstraße von Ilium, hinauf und hinunter gebummelt und hatte den Verkäuferinnen erzählt, dass er blaumache.