Gated - Die letzten 12 Tage - Amy Christine Parker - E-Book

Gated - Die letzten 12 Tage E-Book

Amy Christine Parker

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Beschreibung

Furchterregend, bedrohlich und erschreckend wahr Bis vor Kurzem glaubte die siebzehnjährige Lyla, die Gemeinschaft von Mandrodage Meadows, in der sie mit ihrer Familie lebt, bewahre sie vor dem Bösen in der Welt und dem bevorstehenden Weltuntergang. Dann trifft sie Cody, einen Jungen von außerhalb, und stellt fest, dass sie in Wahrheit in einem perfiden Unterdrückungssystem gefangen ist. Doch Lylas Versuch, gegen Pioneer, den ebenso charismatischen wie gefährlichen Führer der Gemeinschaft, zu rebellieren, führt zum Kampf . . .  

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Seitenzahl: 449

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Amy Christine Parker

Gated

Die letzten 12 Tage

Roman

Aus dem amerikanischen Englischvon Bettina Münch

Deutscher Taschenbuch Verlag

Die Übersetzung des Werkes wurde vom Deutschen Übersetzerfonds und dem Europäischen Übersetzerkollegium in Straelen gefördert.

Die Bibelzitate auf den Seiten 93, 106, 159, 199 wurden entnommen der Lutherbibel, revidierte Fassung 1984.

Die Zitate von Jim Jones auf den Seiten 218, 230, 244, 253, 262, 279, 306 entstammen einer Tonbandaufnahme vom Massenselbstmord der Sekte »Peoples Temple«, 1978.

© der deutschsprachigen Ausgabe:

2014 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH und Co. KG, München

© 2013 Amy Christine Parker

Titel der amerikanischen Originalausgabe: ›Gated‹,

2013 erschienen bei Random House Children’s Books, New York

Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Bildes von andreiuc88

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

eBook ISBN 978-3-423-42526-1 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-76098-0

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

Für meinen liebevollen Ehemann Jay

und meine wunderschönen Töchter

Samantha und Riley,

weil sie mir Zeit

und Gelegenheit gaben,

meine Träume zu erfüllen

Das Gute in der Welt, so wenig davon noch übrig sein mag,

ist es wert, mit allen nötigen Mitteln beschützt zu werden.

Wir dürfen keine Angst haben, aufzustehen und

es zu verteidigen.

Pioneer, Gemeindeführer

1

»Diesmal schießt du, um zu töten, okay?« Will zwinkert mir zu und schubst mich in den hoch stehenden Mais, während wir über das Feld zum Schießstand laufen. Ich schubse zurück und er lacht. Der Himmel ist wolkenlos blau und die Luft von der Sommersonne aufgeheizt. Es ist ein Tag für Picknicks, nicht für Vor-Weltuntergangs-Schießtraining.

»Dafür habe ich doch dich«, antworte ich. Ich hantiere am Ledergurt meines Gewehrs herum, rücke ihn auf der Schulter zurecht, bis er bequem in meiner Nackenbeuge liegt. Als ich zu Will hochschaue, rechne ich fest damit, ihn über mein übliches Genöle lächeln zu sehen, stattdessen runzelt er die Stirn.

»Und falls ich nicht da bin, wenn wir angegriffen werden? Du kannst nicht davon ausgehen, dass immer jemand anderes für dich abdrückt.« Er zupft geistesabwesend an seinem Ohr, ein sicheres Zeichen dafür, dass ihm nicht mehr nach Scherzen zumute ist.

Ich schlucke die Antwort hinunter und schaue über den Mais hinaus in die Prärie. Die unausgesprochenen Worte legen sich mir schwer auf den Magen, in dem es anfängt zu rumoren. Vor uns liegt der Schießstand. Marie und Brian sind bereits da. Ihre Schüsse hallen über das Maisfeld und untermalen das aufkommende Unbehagen zwischen Will und mir.

»Ich will damit nur sagen, dass es vielleicht an der Zeit ist, das alles ernst zu nehmen.« Will greift nach meiner freien Hand. Ich zögere, meine Finger zucken zurück. Er senkt den Kopf und lächelt mich von der Seite an.

Ich weiß, dass er es gut meint. Er meint es immer gut. Er hat mich gern. Ich bin das Problem. Noch genau drei Monate bis zum Weltuntergang und ich schaffe es immer noch nicht, angemessen darauf zu reagieren. Dankbar für die viele frische Luft um mich herum atme ich tief durch. Der Gedanke an das Ende der Welt gibt mir immer das Gefühl zu ersticken.

Will fischt nach meiner Hand, bis er sie erwischt. Er verschränkt seine langen Finger mit meinen. »Ich mache mir Sorgen um dich, Lyla. Ich kann nicht jede Sekunde bei dir sein, nicht mal, wenn wir im Silo sind. Ich will einfach sicher sein, dass du tun wirst, was getan werden muss, um am Leben zu bleiben.«

Ein Seufzer entwischt mir. Wir haben diese Unterhaltung schon so oft geführt. Das Schießtraining ist der Grund, warum sie sich gerade zuspitzt. Wir sind erst das fünfte Mal hier draußen auf dem Schießstand und sein Drängen nimmt allmählich epische Ausmaße an.

»Los, komm«, sage ich schließlich, als wäre er derjenige, der uns aufhält. Er drückt sacht meine Hand. Wir gehen die letzten Meter bis zur offenen Grasfläche und dem Schießstand. Ich fische meine Ohrstöpsel aus der Tasche und stopfe sie mir in die Ohren, bevor Will noch irgendetwas sagen kann. Als er sich zu mir herabbeugt, wirft seine schlaksige Gestalt einen Schatten auf mein Gesicht. Er ist wie ein Barometer, überwacht pausenlos meine Stimmungen, und ich kann sie dann an seinem Mienenspiel ablesen. Seine blassblauen Augen blicken bekümmert und er zieht besorgt die Nase kraus. Was bedeutet, dass er mich für hypernervös hält. Ich will ihn beruhigen, und sei es nur, damit er woanders hinschaut, aber es ist, als hätte sich über meinem Kopf plötzlich eine Wolkenwand gebildet.

Brian steht hinter Marie, das Gesicht in ihren dunklen Locken vergraben. Zärtlich legt er bestimmt zum hundertsten Mal die Waffe an ihre Wange. Gemeinsam richten sie Maries Gewehr auf den großen Stapel Heuballen auf der gegenüberliegenden Seite. An jedem Ballen ist eine lebensgroße Holzfigur befestigt. Sie zielen auf eine Frau. Es ist nur eine Silhouette, trotzdem spüre ich ein Kribbeln auf der Haut, als der Schuss fällt und ich sehe, wie aus der Brust der Frau ein Stück Sperrholz ins Gras fliegt. Marie schaut uns grinsend entgegen und ihre Wangen färben sich rot.

»Habt ihr das gesehen?«, ruft sie. Ich kann sie durch meine Ohrstöpsel nicht richtig hören, aber das ist auch nicht notwendig. Sie sagt immer das Gleiche, wenn sie einen Schuss ins Ziel bringt. Ich klebe mir ein Lächeln ins Gesicht, trete aus Wills Schatten und gehe auf sie zu.

»Nicht schlecht!«, rufe ich zurück. Ich stelle mich auf meinen üblichen Platz auf dem Gras vor den Heuballen mit der Männerfigur. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das sexistisch ist, aber das männliche Ziel ist das Einzige, das ich überhaupt anvisieren kann. Ich nehme das Gewehr von der Schulter und versuche mich innerlich zu wappnen.

Nicht genug Platz für alle. Wir können nicht alle aufnehmen. Sie hatten ihre Chance. Wir müssen unsere verteidigen.

Ich bete diese Litanei im Kopf immer wieder herunter in der Hoffnung, dass sie mein Herz irgendwie zur Einsicht bringen möge. Beim letzten Mal hat es nicht funktioniert und für dieses Mal mache ich mir auch keine großen Hoffnungen. Wie kann ich jemanden ums Leben bringen, der einfach nur Angst hat und Hilfe sucht, selbst wenn es dazu dient, mein eigenes Leben zu retten?

Ich spähe zu Will hinüber. Er schießt auf zwei Sperrholzfiguren: einen Mann und eine Frau. Sein Gewehr liegt in der Beuge zwischen Brust und Schulter und seine Wange klebt am Kolben. Er lässt beide Augen offen und nimmt das Ziel ins Visier. Sobald er die Waffe ausgerichtet hat, gibt es kein Zögern mehr. Das Gewehr zuckt, als der Schuss losgeht, und der Kopf des Sperrholzmannes fliegt nach hinten. Sein konturloses Gesicht blickt suchend in den Himmel. Will legt abermals an und trifft die Sperrholzfrau fast genau an der gleichen Stelle. Ihr Kopf bleibt oben, doch die Rundung am Oberkopf fehlt. Er lächelt, als er die Waffe sinken lässt und mich ansieht.

Ich wende mich wieder meinem eigenen Heuballen und dem stummen Brettermann zu, der dort auf mich wartet. Ich lege an und gehe in Stellung. Ich spüre, dass die anderen mich beobachten, dass sie hoffen, ich möge endlich einmal die vorgeschriebenen Ziele treffen: Kopf oder Herz. Meine Ponyfransen kleben mir in der Stirn und der Schweiß, der mir über den Rücken läuft, kitzelt. Ich halte ganz still, lege den Finger auf den Abzug und drücke ab. Der Rückschlag lässt mich zusammenfahren und ich schließe die Augen. Als ich sie wieder aufmache und zu dem Männerumriss hinübersehe, atme ich erleichtert aus. Die Kugel ist genau dort eingeschlagen, wo ich es wollte.

»Im Ernst, Lyla? Schon wieder die Kniescheibe?« Marie hat die Hände in die schmalen Hüften gestemmt und einen Fuß ausgestellt, als habe sie sich plötzlich in eine gestandene Attentäterin verwandelt. Sie scheint einfach nicht zu begreifen, warum ich mich so beharrlich sträube, richtig zu schießen.

»Das ist ihr Tribut an Terminator 2«, wirft Will ein. »Da verbietet der Junge dem Terminator, weiter tödliche Schüsse abzugeben.« Er schaut mich nicht an, als er an seinen Platz zurückgeht und wieder auf seine Scheibe zielt, aber ich weiß, dass unser Gespräch noch nicht beendet ist. Nicht, bis ich einen Weg finde, das zu tun, was sie wollen: nachgeben und kämpfen.

Wir machen weiter, bis alle ihre Munition verschossen haben. Am Ende ist mein Sperrholzmann der Einzige, der eine Chance hat weiterzuleben. Der Rest seiner Kameraden ist schon seit der ersten Runde tot. Ich stelle mein Gewehr ab und helfe, die Patronen aufzulesen, die um uns herum verstreut liegen. Ich bewege mich schneller als die anderen. Wenn wir früh genug fertig werden, schaffe ich es vielleicht, vor dem Nachmittagsunterricht noch ein wenig zu malen.

Marie hockt sich neben mich und pickt eine Patronenhülse aus dem hohen Gras zwischen uns. »Also was ist los, Lyla? Warum schießt du nicht richtig?«

Ich zucke die Achseln und stecke Hülsen in meine Patronentasche. »Ich weiß nicht. Es ist einfach so, dass ich jedes Mal, wenn ich diese blöden Figuren anschaue, echte Leute sehe  – wie dich oder Brian oder Will. Was wäre, wenn wir aus irgendeinem Grund draußen vor dem Silo stünden und Hilfe brauchten? Ich meine, wie sollen die Außenstehenden überhaupt wissen, dass es das Ende der Welt ist? Pioneer hat sich entschlossen, uns zu retten, aber hat sonst noch jemand eine Ahnung davon, dass das Ende naht? Müssten sie dann nicht schon hier sein und darum kämpfen, hereingelassen zu werden?«

Marie starrt mich an. Ihr Gesicht ist so frei von Sorgen wie der Himmel von Wolken. »Keine Ahnung, Lyla. Du machst dir zu viele Gedanken. Du bist in Sicherheit und deine Familie und Freunde auch. Reicht das nicht? Außerdem ist es den Leuten draußen bestimmt zu sterben. Es ist ihr Schicksal, nicht unseres.«

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Ja? Nein? Was soll man empfinden, wenn man weiß, dass für Milliarden andere Menschen in Kürze alles schrecklich enden wird? »Vergiss es«, sage ich stattdessen. »Ich bin heute einfach in komischer Stimmung, okay?«

Marie schüttelt den Kopf und fährt fort, Hülsen aufzusammeln. Ich tue es ihr nach, als am anderen Ende des Felds unser ramponierter roter Gemeindetruck auftaucht. Er ist zu weit weg, um den Fahrer genau erkennen zu können, doch die steife Körperhaltung verrät ihn. Es ist Pioneer, unser Anführer.

Na super.

Er kommt, um unsere Schießfertigkeit zu überprüfen. Und er wird sehen, dass ich keine Fortschritte mache. Beim letzten Training hat er angesichts meiner Abneigung gegen das Töten die Ruhe bewahrt, mir zugleich aber unmissverständlich klargemacht, dass ich mich würde bessern müssen, und zwar bald. Meine Hände fangen an zu zittern. Ich lasse mehr Patronen fallen, als ich aufheben kann.

Pioneer hält den Transporter an und rutscht vom Fahrersitz. Augenblicklich wirkt das Feld um uns herum enger, kleiner, als nähme Pioneer den größten Teil des Raums ein. Dabei ist er kein besonders großer oder muskulöser Mann. Eigentlich genau das Gegenteil  – blass und spindeldürr. Aber was sich in seinem Innern abspielt, ist gewaltig. Seine Aura zeigt sich nicht in seiner schmalen Statur. Sie pulsiert um ihn herum wie Schallwellen oder Lichtstrahlen, sodass er förmlich zu leuchten scheint. Er ist der Einzige in Mandrodage Meadows – oder sonst wo –, der das tut. Wenn er in der Nähe ist, kann ich nirgendwo anders hinsehen. Er lässt einfach keinen Platz dafür. Er kratzt sich am Stoppelkinn und kommt zu uns herübergeschlendert.

Marie, Brian und Will schauen mich an. Ich achte nicht auf sie und tue, als würde ich weiter Patronen aufsammeln, wobei ich mich am liebsten in ein Loch verkriechen würde.

»Und? Wie ist es heute gelaufen?« Pioneers Stimme ist sanft und warm, wie von Sonnenschein erfüllt.

»Hm, gut«, sagt Will.

Ich halte die Luft an. Warte. Wenn ich Glück habe, lässt Pioneer es auf sich beruhen, glaubt Will und geht … aber allzu große Hoffnungen mache ich mir nicht. Während ich weiter Hülsen einsammle, schaue ich immer wieder verstohlen zu Pioneer und den anderen hinüber. Trotz seines freundlichen Plaudertons ist der Blick seiner blauen Augen, den er abwechselnd in meine Freunde hineinbohrt, stechend. Er weiß, dass etwas nicht stimmt.

Aufgekratzt und mit fliegenden Locken springt Marie auf ihn zu. »Ich habe zweimal hintereinander Kopf und Herz getroffen!«

»Ohne Brians Hilfe?« Pioneer klingt skeptisch. Aus den Augenwinkeln kann ich sehen, wie er die Hand hebt, um ihr die Schulter zu tätscheln.

»Jep. Bei den letzten beiden Schüssen schon.«

»Das hat sie wirklich«, höre ich Brian sagen.

Als ich wieder aufschaue, strahlt Pioneer Marie an und nimmt sie dann in den Arm. »Gut gemacht. Ich wusste, du schaffst es … irgendwann.«

Will und Brian kichern los und Marie streckt ihnen die Zunge heraus.

Pioneers Blick schwenkt zu mir herüber, während ich noch die Szene beobachte, und fängt meinen ein. Ich versuche zu lächeln, versuche Begeisterung darüber vorzutäuschen, dass er hier ist. Die anderen schieben sich zwischen Pioneer und mich. Sie wollen ihn ablenken. Das tun sie schon die ganze Zeit, wird mir klar, und eine Welle der Zuneigung überkommt mich. Selbst wenn sie mich hier draußen immer wieder drängen, richtig zu schießen, tun sie es nur, weil sie nicht wollen, dass ich Schwierigkeiten mit Pioneer bekomme.

»Wollen wir uns die Zielscheiben ansehen?«, schlägt Pioneer hinter der Wand aus meinen Freunden vor, extra laut, damit ich weiß, dass es ihm vor allem um meine geht.

Ich lasse die eingesammelten Hülsen auf einen Haufen fallen, stehe wortlos auf und gehe zu den anderen. Obwohl der Tag immer noch klar und wunderschön ist, wirkt die Luft geladen, als braue sich ein Sturm zusammen. Ich balle die Fäuste und folge den anderen zu den Zielscheiben.

Brian zeigt Pioneer seine Scheibe als Erster, danach meldet sich Will eilig mit seiner. Offensichtlich zufrieden mit den beiden nickt Pioneer. Dann präsentiert ihm Marie ihre Zielscheibe – und plappert dabei ununterbrochen, dass sie ihre Haltung verbessert habe und nicht mehr zusammenzucke, wenn das Gewehr losgehe. Ich weiß, dass sie Zeit schinden und ihn einfach noch eine Weile ablenken will, doch es irritiert Pioneer. Er vibriert förmlich – wie eine Stimmgabel, die man besonders hart angeschlagen hat. Ich beiße die Zähne zusammen und trete vor. Augenblicklich verstummt Marie und zieht sich zurück, bis sie zwischen den Jungen steht. Sie wirkt, als hätte sie Angst. Ich verbeiße mir ein Lachen. Ich bin es, die in Schwierigkeiten steckt, und sie hat Angst. Typisch.

»Lyla«, sagt Pioneer langsam, »zeig mir bitte deine Scheibe.«

Ich bringe nur ein kurzes Nicken zustande. Ich werde ihn enttäuschen, aber was soll ich machen? Ich zeige auf den Sperrholzmann, als handle es sich um einen ganz besonders faden Preis in der Fernsehshow, die Pioneer uns manchmal anschauen lässt. Dann straffe ich die Schultern und warte auf seine Reaktion.

Pioneer steht irritierend lange vor der Zielscheibe. Ich trete von einem Fuß auf den anderen, kaue auf der Unterlippe und ziehe an meinem Zopf. Die anderen drängen sich schweigend zusammen.

»Diese Zielscheibe sieht mir ziemlich unbeschädigt aus«, stellt Pioneer schließlich fest. »Warum?«

Will macht den Mund auf, wird jedoch von Pioneer mit einem Blick zum Schweigen gebracht. »Meine Frage war an Lyla gerichtet.«

Sein bohrender Blick richtet sich auf mich und versengt mir die Haut. Warum kann ich nicht schießen wie alle anderen auch? Es gibt keine Antwort, mit der ich es ihm verständlich machen könnte, schließlich verstehe ich es selber nicht. Panik überkommt mich, so wie jedes Mal, und ich sage das Erstbeste, was mir einfällt.

Das Falsche.

»Hm, wahrscheinlich habe ich eine Schwäche für große dunkle gesichtslose Typen?« Ich stoße ein kurzes, nervöses Lachen aus. Kaum habe ich die Worte ausgesprochen, wird mir klar, wie schnippisch sie klingen, aber es ist zu spät, um sie zurückzunehmen.

Pioneers Stimme ist wie Eis. »Das ist nicht lustig. Du bist eine Belastung für die Gemeinde, wenn du nicht dazu beitragen kannst, sie zu verteidigen.«

Er atmet tief und beherrscht durch und sein Blick wird sanfter. Dann verzieht er den Mund zu einem Lächeln. »Es geht mir doch um euren Schutz.« Er weist über das Feld und auf die Zielscheiben. »Dass alles dient nur eurer Sicherheit.«

Er geht zu Brians Zielscheibe hinüber, bückt sich und hebt sie auf. Er klopft darauf. »Das hier ist nur Pappmaché. Holz, kein Mensch. Diese Übung sollte euch nicht schwerfallen, dazu ist sie gedacht. Sie soll euch abhärten. Wenn ihr die Zielscheiben nicht treffen könnt, werdet ihr auch die Menschen nicht treffen. Und das müssen wir, Lyla. Höchstwahrscheinlich.«

Pioneer geht zu Brian hinüber und deutet auf sein Gewehr. Brian reicht es ihm. Pioneer dreht sich zu mir um und hebt die Waffe so an, dass sie auf meinen Bauch gerichtet ist. Seine Augen blitzen, als er mich anstarrt. Ich weiß, dass er nicht auf mich schießen wird, dennoch spannen sich meine Muskeln an und meine Nerven vibrieren.

»Die Außenstehenden kennen dich nicht. Ihnen liegt nichts an dir. Sie werden dich erschießen, um zu bekommen, was du hast, wenn sie damit ihre eigenen Leute retten können.« Er schwingt mit der Waffe herum und richtet sie auf Will. Der zuckt zusammen. Ich kann sehen, dass er an sich halten muss, um nicht zurückzuweichen. »Wenn du ihnen die Gelegenheit dazu gibst, werden sie die umbringen, die du liebst.« Er spricht wieder zu mir. »Und sie werden nicht zögern. Niemals. Also darfst du es auch nicht.« Er lässt die Waffe sinken und wir atmen wieder aus.

Pioneer fasst mich am Arm und führt mich zur gegenüberliegenden, noch unbenutzten Zielscheibe. Es ist die Silhouette einer Frau mit einem Kind an der Hand. Ich erstarre. Vermutlich ist das albern, aber ich kann nicht anders.

»Du darfst sie nicht als Menschen wie du und ich betrachten. Sie sind jetzt schon Geister. Die Brüder werden nur uns, ihre Auserwählten, retten. Wenn sich die Erdrotation in drei Monaten umkehrt, werden die meisten Menschen in Minutenschnelle von diesem Planeten getilgt, von Tsunamis, Erdbeben oder Vulkanausbrüchen verschlungen. So haben es mir die Brüder beschrieben und ich habe es euch beschrieben. Immer und immer wieder. Es ist ihr Schicksal, so wie es unser Schicksal ist zu überleben. Misstraust du mir etwa? Glaubst du nicht, dass die Brüder, unsere allwissenden Schöpfer, in ihrer unendlichen Weisheit erkannt haben, wer es verdient, neu anzufangen, und wer nicht? Hat der Zweifel in dir Wurzeln geschlagen?«

Ich schüttele den Kopf und schlucke. Seine Worte treffen mich ins Mark. Er hat recht. Mich dem hier zu widersetzen ist, als würde ich jenen ins Gesicht spucken, die mir geholfen haben, das Licht zu sehen. Was ist los mit mir?

»Würdest du zulassen, dass sie einige von uns mitnehmen, während du zögerst? Liegen wir dir nicht ebenso am Herzen wie du uns? Jene zu erschießen, die deiner Familie Schaden zufügen und den Plan der Brüder gefährden, ist ein Beweis deiner Liebe für uns und deines Glaubens an die Brüder.« Er tätschelt mir die Schulter. »Du bist eine sanfte Seele, Kleine Eule. Das ist der Grund, warum du zu den Auserwählten gehörst. Aber selbst Lämmer müssen manchmal Löwen sein.«

Er benutzt meinen Spitznamen – den Namen, den er mir gegeben hat, weil ich dazu neige, alles zu beobachten und in mich aufzunehmen. Normalerweise mag ich den Namen und den warmen Klang seiner Stimme, wenn er ihn ausspricht, aber jetzt nicht. Heute bewirkt er nur, dass ich mich schwach fühle.

Er drückt mir das Gewehr an die Schulter und zieht behutsam meinen Zopf beiseite, der zwischen der Waffe und meiner Wange liegt. Ich konzentriere mich zuerst auf die Frauengestalt und nehme sie ins Visier. Ich muss tun, was er von mir will. Ich bin es ihm schuldig, uns allen.

»Wenn du diesmal abdrückst, zielst du auf den Kopf oder das Herz«, flüstert Pioneer mir ins Ohr. »Zeig mir, zeig ihnen«  – er deutet auf Will, Brian und Marie –, »wie sehr du uns liebst.«

Er tritt zurück und stellt sich neben die anderen. Ich kann ihre Blicke spüren und beiße mir auf die Unterlippe. Reiß dich zusammen. Sie sind nicht mal echt. Also ziele ich auf die Brust der Frau. Atme ein und aus. Dann schließe ich im letzten Moment die Augen und drücke ab. Als ich sie wieder aufmache, hat die Figur ein Loch in der Brust.

»Gut. Gleich noch mal!«, befiehlt Pioneer.

Ich nehme mir die kleinere Gestalt vor und versuche, die kleinen Hände und Füße nicht zu sehen. Ich konzentriere mich auf die schwarze Mitte des Sperrholzes. Trotzdem schnürt es mir die Luft ab, als die Kugel davonsaust. Pioneer befiehlt mir, wieder und wieder zu schießen. Als ich fertig bin, sind die beiden Zielscheiben bis zur Unkenntlichkeit demoliert, doch mir ist nicht mehr so übel wie am Anfang. Das Schießen behagt mir immer noch nicht, aber wenigstens zucke ich dabei nicht mehr jedes Mal zusammen.

Pioneer sieht mich mit einem breiten Grinsen an. »Das ist mein Mädchen!« Er zieht mich an sich und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Sein Hemd riecht nach Heu und Gras und Schießpulver. »Dein sanftes Naturell ist das, was ich am meisten an dir liebe. Aber bis diese Welt aufhört zu existieren, stellt dein Naturell leider eine Gefahr dar. Für dich und für uns alle. Du musst dich auf die Monate, die vor uns liegen, vorbereiten. Dich wappnen.« Er hebt mein Kinn an und schaut mir in die Augen. »Lass mich dir dabei helfen, Kleine Eule. Je mehr du dich gegen das wehrst, was ich sage, desto schwerer wird es für dich.« In seiner Stimme schwingt jetzt ein Unterton mit, der die Wärme seiner Umarmung abschwächt. Er lässt mich schaudern.

»Ihr werdet Lyla alle helfen, sich zu besinnen, nicht wahr? Ihr werdet es mich wissen lassen, wenn sie meine ungeteilte Aufmerksamkeit braucht, während wir auf die letzten Tage zugehen?«

Meine Freunde nicken gehorsam. Ich schlucke und konzentriere mich auf das Gras unter meinen Füßen. Jetzt bin ich jedermanns Projekt. Ich kann keinem von ihnen in die Augen schauen. Es ist mir einfach zu peinlich.

»Also schön, der Nachmittagsunterricht beginnt in zwanzig Minuten«, sagt Pioneer. »Räumt auf und beeilt euch. Ich erwarte, dass ihr pünktlich seid.« Er wendet sich ab und geht, ohne sich noch einmal umzuschauen, zum Transporter.

Stille legt sich über uns. Wir nehmen unsere Zielscheiben von ihren Ständern und ersetzen sie durch neue aus dem Schuppen am anderen Ende des Feldes. Der vom Transporter aufgewirbelte Staub fliegt immer noch durch die Luft. Etwas davon gerät mir in die Kehle und ich muss husten.

Als der Schießstand wieder hergerichtet ist, folgen Will und ich Brian und Marie durch das Maisfeld und über die dahinterliegende Straße. Die Stimmung zwischen uns ist steif und angespannt. Ich hasse es, beim Verteidigen eine solche Niete zu sein  – selbst auf Marie ist dabei mehr Verlass. Ich habe keine Ahnung, wie ich meine Instinkte umpolen soll, um genauso schnell zu schießen wie alle anderen. Pioneers Hilfe hat daran nichts geändert.

Auf halbem Weg zur Straße dreht Marie sich um und deutet mit dem Gewehr auf den Schießstand. Sie senkt die Stimme und sagt mit völlig unbewegter Miene und leicht mechanischem Tonfall: »Ich komme wieder.« Das bricht das Eis zwischen uns und ich würde sie dafür am liebsten umarmen.

Brian verdreht lachend die Augen. »Was habt ihr beiden nur mit diesen Terminatorfilmen? Ich dachte, die seien eigentlich für Kerle.«

Marie und ich schauen uns an und sie grinst. »Hm, man kommt einfach nicht drum herum, sie zu zitieren, schließlich hat Pioneer sie uns schon zigtausendmal gezeigt. Und wenn Typen mitspielen, die so heiß sind wie dieser Kyle, werden sie auf jeden Fall zu Mädchenfilmen.«

Brian hält sich die Ohren zu. »Das habe ich nicht gehört«, sagt er ein bisschen zu laut. Alle lachen los und auch die letzte verbliebene Anspannung zwischen uns verfliegt. Ich schaue Marie dankbar an und sie zwinkert mir zu. Ich weiß, dass ich es ihr – und Will, Pioneer und allen anderen – schuldig bin, mich zu besinnen. Sie sind meine Leute. Meine Gemeinde. Meine Familie. Ich kann mir nicht länger um den Rest der Welt Gedanken machen. Ihr Schicksal wurde vor langer Zeit entschieden – genau wie meins.

Wenn ich es schaffe,

auch nur einem anderen Menschen zu helfen,

Ruhe und Frieden zu finden, nun, dann kann ich

als glücklicher Mann sterben.

Pioneer, Gemeindeführer

2

Als ich Pioneer das erste Mal sah, war ich gerade mal fünf Jahre alt. Er hatte damals einen anderen Namen, einen, der so ähnlich klang wie die, die wir anderen haben, aber ich weiß nicht mehr, wie er lautete, weil wir ihn, solange ich denken kann, Pioneer nennen.

Damals lebten wir in New York City, in dem Brownstone-Haus, das meine Eltern gekauft hatten, kurz bevor meine ältere Schwester geboren wurde. Ich erinnere mich noch an die rosa-weiß gestreifte Tapete in Karens und meinem Zimmer und an Karens braune Wildlederschuhe für die Schule, die sie immer mitten im Hausflur liegen ließ. Diese Schuhe hielt meine Mutter in der Hand, als wir feststellten, dass meine Schwester verschwunden war. Karen und ich hatten draußen vor dem Haus gespielt – na ja, eigentlich hatten wir uns darüber gestritten, was wir spielen wollten. Karen wollte malen und ich Himmel und Hölle spielen. Ich war hineingelaufen, um sie bei meiner Mutter zu verpetzen, weil sie mich an den Haaren gezogen hatte, und als ich mit Mom wieder herauskam, war sie weg. Niemand hatte etwas gesehen. Es gab keine Hinweise darauf, wohin sie gegangen war oder wer sie mitgenommen haben könnte. Es gab nur ein leuchtend gelbes Stück Kreide und eine fast fertig gemalte Zeichnung unserer Familie auf dem Bürgersteig vor dem Haus. Nur unsere Füße fehlten noch. Damals dachte ich, dass, wer auch immer sie mitgenommen hatte, sie absichtlich an dieser Stelle aufhören ließ, damit wir keine Möglichkeit hatten, ihr zu folgen.

Danach drückte meine Mutter Karens Schuhe pausenlos an ihre Brust  – als die Polizisten auftauchten, um Fragen zu stellen, und vor allem, als wenig später die beiden Wolkenkratzer in der City von Flugzeugen getroffen wurden und die Polizei aufhörte, nach meiner Schwester zu forschen und stattdessen anfing, nach Überlebenden zu suchen.

Nicht lange danach kam Pioneer zu uns. Ich erinnere mich noch daran, wie mein Vater ihn ins Haus ließ. Sein Lächeln schien das ganze Zimmer aufzuhellen. Bevor er kam, hatte ich gar nicht gemerkt, wie dunkel es bei uns geworden war, selbst bei eingeschaltetem Licht. Wenn er lächelte, schienen sich seine Augen mit verborgenem Kerzenschein zu füllen, und das ließ mich an den Nikolaus denken oder sogar an Jesus – obwohl er mit seinem kurz geschorenen Haar und dem blassen Teint keinem von beiden ähnelte. Er sah nicht wirklich gut aus, aber er war freundlich, das spürte ich.

Von meiner Mutter habe ich bei den wenigen Malen, an denen sie über diese Zeit sprach, erfahren, dass Pioneer in den Nachrichten von uns gehört hatte. Karens Gesicht sei ihm nicht aus dem Sinn gegangen, habe er ihr erzählt, und Moms Hilfsappelle hätten ihn verfolgt. Als die Türme einstürzten und die Welt vollends aus den Fugen geriet, zog es ihn zu meiner Familie. Uns bei der Suche nach Karen zu helfen sah er als eine Möglichkeit an, sich angesichts der gewaltigen Tragödie um uns herum auf einen kleinen Teil davon zu konzentrieren und diese dadurch weniger erdrückend wirken zu lassen. Er bot uns an, mit seiner Hilfe die Suche fortzusetzen, und in den nachfolgenden Wochen löste er sein Versprechen ein. Er brachte sogar andere mit, von denen einige später mit uns nach Mandrodage Meadows gingen.

Ich weiß nicht genau, warum wir uns zu Pioneer so hingezogen fühlten. Ich denke, wir spürten einfach, dass er etwas Besonderes war. Meine Familie war ziemlich zurückhaltend und ruhig. Die Gesellschaft anderer hatten wir nie gebraucht, bis eine von uns verschwand. Doch allein konnten wir Karen nicht finden. Wir waren zu verängstigt und traurig, um zu wissen, was zu tun war.

Pioneer hingegen wirkte nie ängstlich oder traurig, er schien sich in allem so sicher zu sein. Fast jede Nacht, während der meine Mutter weinte, saß er stundenlang mit meinen Eltern in der Küche. Oft konnte ich nicht schlafen, sondern lag im Bett und hörte ihre Stimmen. Und dann, wenn die Leere auf Karens Seite des Zimmers immer größer zu werden schien, bis ich sicher war, dass sie mich mit Haut und Haaren verschlingen würde, konzentrierte ich mich auf ihre Stimmen, vor allem auf den tiefen Klang von Pioneers, als wäre er das Einzige, was mich vor dieser Dunkelheit bewahren könnte.

Als er mich das erste Mal ansprach, lag ich bäuchlings auf dem Boden im Wohnzimmer, direkt vor dem Fenster, wo die Sonne den Teppich aufheizte. Es war damals der einzige Platz im Haus, an dem ich mich nicht wie ein Eisklumpen fühlte – innerlich wie äußerlich. Ich malte immer wieder das gleiche Bild: Ich beendete, was Karen angefangen hatte. Ich musste es tun. Wenn ich nicht darauf bestanden hätte, Himmel und Hölle zu spielen, wenn ich mich einfach entschlossen hätte, ebenfalls zu malen, wäre sie jetzt nicht verschwunden. Immer wieder malte ich meine Eltern, meine Schwester und mich auf einem schmalen grünen Grasstreifen, die Hände zu einer durchgehenden Kette verschränkt. Vielleicht dachte ich, wenn ich uns nur oft genug so malte, würde Karen zu uns zurückkommen. Sie war dort auf dem Blatt. Unser Familienbild war komplett. Sie konnte nicht fort sein, nicht wirklich, nicht für immer.

Ich hatte nie sonderlich gern gemalt, nicht wie Karen, trotzdem tat ich tagelang nichts anderes. Ich hoffte, dass sie vielleicht nur böse war und sich versteckte, um mich dafür büßen zu lassen, dass ich sie alleingelassen hatte. Dass sie mir vielleicht verzeihen und nach Hause kommen würde, wenn ich nur genug malte. Außerdem konnte ich bei der Suche nach ihr nicht helfen. Mom ließ mich nicht mehr vor die Tür, nicht allein – und nachdem die Türme eingestürzt waren, überhaupt nicht mehr. Meine Eltern verbrachten die meiste Zeit am Telefon oder sie starrten durchs Fenster auf den Bürgersteig. Es war, als würden sie mich überhaupt nicht mehr oder, schlimmer noch, stattdessen Karen sehen. Nichts war mehr wie vorher. Ich wusste nicht, was geschehen würde, wenn wir meine Schwester nicht fanden. Ich wusste nur, dass ruhig und brav zu sein das war, was alle am dringendsten brauchten. Als Pioneer auftauchte, hatte ich vier komplette Zeichenblöcke mit Bildern gefüllt.

»Was hast du da?«, fragte Pioneer an jenem ersten Nachmittag, als er ins Wohnzimmer kam und mich entdeckte. Er zeigte auf meinen Bilderberg.

Ich starrte zu Boden und zuckte die Achseln. Ich mochte ihn, aber er war ein Außenstehender und das machte ihn beängstigend.

»Darf ich sie mir ansehen?«, versuchte er es wieder und streckte diesmal die Hand aus.

Meine Mutter tippte mir sacht auf die Schulter. Ihr Gesicht war vom Weinen geschwollen, was sie ebenfalls beängstigend aussehen ließ. »Na komm, Süße, zeig ihm deine Bilder.«

Ich holte tief Luft und reichte ihm, ohne ihn anzusehen, einen meiner Zeichenblöcke. Stattdessen konzentrierte ich mich auf seine Hände. Sie waren weich und seine Nägel glänzten. Am liebsten hätte ich sie umgedreht, um nachzuschauen, ob seine Handflächen genauso weich waren.

Pioneer hielt den Zeichenblock eine Weile vor sich und blätterte die Seiten durch. Seine Augen wurden glänzend und feucht und leuchteten dadurch noch intensiver. Er pfiff leise vor sich hin und verzog die Mundwinkel zu einem sanften Lächeln. »Sieht aus, als hätten wir es hier mit einer angehenden Künstlerin zu tun. Ich wette, deine Schwester fände sie toll. Sie sieht genauso aus wie auf den Fotos.« Er wies zum Kaminsims, wo mein Lieblingsfoto von Karen und mir stand.

Ich schaute auf das schwarze Strichmännchen, das meine Schwester sein sollte, mit spiralförmigen gelben Haaren und einer so gut wie nicht vorhandenen Nase, und verzog unwillkürlich den Mund. Selbst mir war klar, dass meine Schwester nicht die geringste Ähnlichkeit mit dieser Bohnenstange hatte, aber irgendwie ließen mich seine Worte sie auf einmal so sehen – weniger wie ein vermisstes Mädchen als wie eine witzige Comicfigur. Es reizte mich zum Lachen und ließ mich für einen Moment vergessen, dass sie nicht wiederkommen würde. Ich biss mir auf die Lippe und schnitt eine Grimasse bei dem Versuch, nicht zu kichern, woraufhin er nur noch breiter grinste.

»Nun lass das Lächeln schon heraus«, sagte er leise. »Du bist zu hübsch, um so traurig in die Welt zu schauen.«

Ich bohrte einen Turnschuh in den Teppich und versuchte nicht zu lächeln. Es schien mir nicht richtig zu sein, nicht, wenn Karens Verschwinden ganz allein meine Schuld war. Aber dann konnte ich nicht länger an mich halten. Ich schaute zu ihm auf und grinste.

Diese letzten Tage lassen wenig Raum für Angst.

Angst zersetzt den Glauben,

deshalb muss sie auf der Stelle ausgemerzt

und zertreten werden.

Pioneer, Gemeindeführer

3

Als wir zurückkommen, hat mein Vater Wachdienst. Er steht neben dem kleinen, aus nur einem Raum bestehenden Wachhäuschen unmittelbar vor dem Tor. Ich konzentriere mich auf das  Holzschild daneben. WILLKOMMEN IN MANDRODAGE MEADOWS, steht darauf. Die Schrift schwebt über einem sonnenbeschienen Feld, ganz ähnlich dem, von dem wir gerade kommen, abzüglich der Gewehre und Zielscheiben.

Ich meide den Blick meines Vaters. Ich will ihm nicht sagen müssen, dass ich immer noch Probleme mit dem Schießtraining habe, aber aus den Augenwinkeln sehe ich, wie seine Schultern herabsacken, und ich weiß, dass er es bereits erraten hat.

»Es wird schon«, sagt Will leise und nimmt meine Hand. Als mein Vater unsere verschränkten Hände bemerkt, leuchten seine Augen auf. Seit Pioneer Will zu meinem Versprochenen erklärt hat  – dem Jungen, den ich nach seinem Willen nächstes Jahr, wenn ich achtzehn bin, heiraten werde –, feiern meine Eltern jede  noch so kleine Geste der Zuneigung zwischen uns. Ich frage mich, ob ihnen auffällt, dass diese Gesten stets von Will ausgehen und nie von mir. Will ist es mit Sicherheit aufgefallen, aber bislang  hat er es nicht angesprochen. Ich bezweifle allerdings, dass es  noch lange dauern wird, bis es das nächste Problem wird, an dem ich – nach Wills Meinung und der aller anderen – arbeiten muss.

»Hallo, Kinder, ein wunderschöner Tag, nicht?« Mein Dad klopft Will auf den Rücken und versucht mir die Haare zu zerzausen, obwohl sie zu einem Zopf zusammengebunden sind. Ich schneide eine Grimasse und lasse Wills Hand los, um meine wirren Strähnen wieder in Ordnung zu bringen.

Marie kichert hinter uns. »Als ob das helfen würde.«

Ich werfe ihr einen vermeintlich bösen Blick zu, doch in Wirklichkeit hat sie recht. Meine Haare haben mir noch nie gehorcht. Trotz aller Versuche, sie zu bändigen, enden sie immer da, wo sie hinwollen  – in einem spaghettiglatten Durcheinander. Spitze Haarsträhnen lugen aus meinem Zopf, als kämpften sie verzweifelt dagegen an, sich biegen zu müssen.

»Ihr seid auf dem Weg zum Unterricht, nicht?«, erkundigt sich mein Dad lächelnd. Er beugt sich ins Wachhäuschen und drückt auf den Knopf, der das große Eisentor vor unserer Siedlung öffnet. Mit lautem Ächzen gleitet es scheppernd hinter die hohe Backsteinmauer, die rund um Mandrodage Meadows verläuft.

»Leider.« Marie runzelt die Stirn. »Es ist viel zu schön hier draußen, um sich im Klubhaus einpferchen zu lassen.«

Dad betrachtet Marie mit dem gleichen Blick wie die meisten Erwachsenen der Gemeinde – als wisse er nicht genau, ob er sie in den Arm nehmen oder bestrafen solle. »Der Unterricht ist wichtig. Wie wollt ihr euch an all das erinnern« – er weist in die weite Landschaft jenseits des Tores – »und daraus lernen, wenn ihr die Geschichte dahinter nicht versteht?«

Ich verdrehe die Augen. Wir haben keine Zeit für einen seiner leidenschaftlichen Vorträge darüber, dass wir die einzige Zukunft sind, die diese Welt noch hat, die Hüter ihrer dem Untergang geweihten Geschichte und Kultur. Bla, bla, bla. In New York war er Bauingenieur, aber ich schwöre, dass er eigentlich Geschichtslehrer sein müsste, so besessen ist er davon.

»Wir kommen zu spät, Dad.« Ich deute auf meine Uhr. Pioneer hat den ganzen Tag durchstrukturiert, sogar unsere Freizeit. Nicht zur festgelegten Zeit am festgelegten Ort zu sein bringt einem nur Ärger ein. Und ich habe für einen Tag schon genug Mist gebaut, herzlichen Dank.

»Ja, gut, tut mir leid«, sagt Dad mit einem verlegenen Lächeln. »Dann geht. Wir sehen uns beim Abendessen, Lyla.«

Mandrodage Meadows sieht genauso aus wie jede andere bewachte Siedlung in einer amerikanischen Vorstadt  – behauptet jedenfalls meine Mom. Hinter dem Eingangstor befindet sich ein Kreis aus zwanzig Häusern, eines für jede Familie, die hier lebt. Sie sind aus geschichtetem Stein und Holzplatten gebaut und sehen ein bisschen aus wie Berghütten. Die urige Holzatmosphäre habe ich schon immer gemocht.

Im Zentrum des Kreises liegt ein großer begrünter Platz mit einem Teich, Gärten und einem Picknickbereich, und dahinter  – dort, wo die Häuser enden  – befinden sich unser Klubhaus, der Pool, die Holzwerkstatt, die Scheune und die Stallungen. Ganz am Ende des Geländes sind die Obstgärten, die gleich hinter den Wiesen, auf die die Tiere zum Grasen hinausgelassen werden, an die Steinmauer grenzen. Und direkt unter ihnen liegt das Silo, unsere unterirdische Zuflucht, die schweigend darauf wartet, dass die nächsten drei Monate vergehen und die Apokalypse über uns hereinbricht. Beim Gedanken daran zieht sich mir die Brust zusammen, also versuche ich das Silo die meiste Zeit zu ignorieren, was nicht leicht ist, weil seine Ausläufer sich praktisch unter jeden Zentimeter Boden erstrecken, über den wir hier gehen. Ich schaue in den endlos weiten Himmel, atme die frische Luft ein und versuche mich auf den bevorstehenden Unterricht oder auf Maries pausenloses Geplapper zu konzentrieren. Es klappt nicht besonders gut.

Manchmal scheint mir, als hätten unsere Familien viel zu viel Geld und Mühe darauf verschwendet, die überirdischen Gebäude so schön zu gestalten, wo doch am Ende alles zerstört werden wird. Aber Pioneer sagt, abgesehen davon, dass unsere Familien dadurch in den letzten zehn Jahren eine komfortable Heimat hatten, diene die behagliche Normalität auch als Ablenkung für jene, die zufällig auf uns stoßen. Besucher sähen uns als äußerst zurückgezogen lebende exzentrische Vorstädter und würden mit Sicherheit nicht vermuten, dass wir unter den Obstgärten eine unterirdische Zuflucht angelegt haben oder ein komplettes Waffenarsenal besitzen, um uns zu verteidigen. Selbst der Name unserer Siedlung verstärkt diesen Eindruck. »Mandrodage Meadows« klingt ein bisschen hochnäsig und könnte fast aus dem Französischen stammen. Wir sind die Einzigen, die wissen, dass es sich um ein Anagramm für »Armageddon Meadows« handelt  – ein Insiderwitz, den Pioneer sich ausgedacht hat.

Wir joggen den ganzen Weg bis zum Klubhaus und erreichen den Versammlungsraum gerade noch rechtzeitig, bevor Pioneer eintrifft. Er geht an seinen Platz am Kopfende des Raums und setzt sich mit übergeschlagenen Beinen auf den Resopaltisch, der dort steht. Dann lehnt er sich auf den Händen zurück und lächelt uns an. Alles in allem sind wir dreißig – sämtliche Kinder der Gemeinde –, alle etwa im gleichen Alter. Es gibt genauso viele Jungen wie Mädchen; das sicherzustellen hatten die Brüder Pioneer aufgetragen, als er die Familien aussuchte, die hierherziehen sollten. Auf diese Weise haben wir alle jemanden, der uns versprochen ist. Will mir, Brian Marie und so weiter. Kein Detail unseres Lebens wird dem Zufall überlassen.

Pioneer nimmt eines der dicken Bücher neben sich in die Hand und schlägt es auf den Knien auf. Er räuspert sich. »Heute wollen wir uns mit Geschichte beschäftigen, insbesondere mit historischen Gestalten, deren falsche Entscheidungen  – deren  … Zögern – nicht nur ihr Land, sondern auch ihre Mitmenschen in Gefahr gebracht haben.« Er legt eine Pause ein, schaut mich an und lächelt. »Historische Feigheit ist unser heutiges Thema. Irgendwelche Gedanken dazu … Kleine Eule?«

Seine Worte überrumpeln mich. Wieder beginnt mein Gesicht zu brennen. Alle Augen sind abwartend auf mich gerichtet. Obwohl Will, Brian und Marie die Einzigen sind, die wissen können, was beim Schießtraining vorgefallen ist, fühle ich mich bloßgestellt. Hat er wirklich vor, mich bei den anderen zu verpetzen?

»Äh, eigentlich nicht, nein«, sage ich. Die anderen lachen nervös. Die Atmosphäre ist angespannt. Ich weiß, dass ich nicht die Einzige bin, die es spüren kann. Aber dann lacht Pioneer und beginnt einen weitschweifigen Vortrag über George B. McClellan, einen General der Unionsstaaten, der sich während des Sezessionskriegs immer wieder weigerte, in die Schlacht einzugreifen, selbst wenn er klar im Vorteil war  – mein historisches Ebenbild, nehme ich an. Pioneer ist offensichtlich weiter darauf aus, mich zu reformieren.

Am liebsten würde ich einen guten Grund vortäuschen, um den Raum zu verlassen: ihn bitten, auf Toilette gehen zu dürfen,  Übelkeit vorschützen oder sonst irgendetwas, damit ich nicht länger hier sitzen muss. Will legt mir die Hand auf das Bein, drückt es ein bisschen zu fest und zwingt mich damit zu bleiben. Beifällig nickt er mit dem Kopf, während Pioneer redet. Offensichtlich stimmt er mit diesem überein. Wills Entschlossenheit, die  Gemeinde zu beschützen, wirkt manchmal schon fast krankhaft.

Ich unterdrücke den Impuls, mein Bein loszureißen. Wenn ich jetzt davonlaufe, beweise ich damit nur, was alle ohnehin schon ahnen: dass ich ein Feigling bin und sie vehementer daran arbeiten müssen, mich wieder in die Gemeinschaft einzugliedern. Diese Art von Aufmerksamkeit macht mir mehr Angst als alles andere.

Nach dem Unterricht laufe ich wortlos hinaus. Am liebsten würde ich mich an den Teich setzen und malen oder zur Koppel hinauslaufen und Indy satteln, aber ich weiß, dass Will mir einfach folgen würde, und ich will ihn im Moment nicht sehen. Sein Drang nach Perfektion in allen Belangen, selbst beim Befolgen von Regeln, ist manchmal einfach nervtötend, und sein Verhalten eben im Unterricht hat mich mehr als nur ein bisschen sauer gemacht. Er muss mich wirklich nicht an all das erinnern, woran ich arbeiten sollte! Also gehe ich stattdessen nach Hause.

Meine Mutter steht in der Küche und bereitet das Abendessen vor. Es ist Sonntag, der einzige Tag in der Woche, an dem wir in unseren eigenen Häusern essen. Alle anderen Mahlzeiten werden mit dem Rest der Gemeinde im Speisesaal des Klubhauses eingenommen. Ausnahmsweise bin ich froh darüber, dass es Sonntag ist. Heute Abend weder Will noch Pioneer sehen zu müssen ist der einzige Lichtblick an diesem total verkorksten Tag.

Ich bleibe im Türrahmen stehen und sehe meiner Mutter beim Gemüseschnippeln zu. Sie hebt einen Fuß und kratzt sich mit der Zehe hinten an der Wade. Ihre Haare sind zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zurückgebunden. Das einfallende Licht betont das Rotgold in ihnen und verdeckt das sich einschleichende Grau. Sie ist kleiner als ich, und obwohl wir beide blass sind, wirkt sie wesentlich dünner und zerbrechlicher. Wenn ich, wie jetzt, hinter ihr stehe, fühle ich mich nicht nur größer, sondern auch kurviger – robuster, wie ein Kaffeebecher neben einer feinen Porzellantasse.

Sie dreht sich um und will den Berg aus Gurken und Tomaten in eine Schüssel mit kalten Nudeln geben, als sie mich entdeckt. »Hallo, Lyla. Das Essen ist fast fertig. Kannst du bitte nach deinem Vater suchen?«

»Klar.« Ich trete neben sie, um eine Gurkenscheibe aus der Schüssel zu fischen, aber sie schlägt mir auf den Handrücken. Etwas in mir drängt mich, ihr zu erzählen, was auf dem Feld los war  … aber wird sie mich verstehen? Ich weiß, dass es ihr beim Schießen nicht anders ergeht als mir und sie in den Zielscheiben echte Menschen sieht, doch bei ihr ist es genau umgekehrt wie bei mir. Sie sieht den Menschen, der Karen mitgenommen hat, und hat noch nie danebengeschossen. Nicht ein einziges Mal.

Ich beschließe, lieber zu gehen und sie das Essen allein vorbereiten zu lassen. Beim Rausgehen höre ich sie vor sich hin summen. Wenn ich das nächste Mal schieße, sollte ich versuchen, mir ebenfalls denjenigen vorzustellen, der Karen mitgenommen hat, aber ich weiß, dass ich dabei nicht das Gleiche empfinden kann wie sie. Karen ist für mich kein Mädchen aus Fleisch und Blut mehr, sie ist eine verschwommene Erinnerung, ein weiterer Faktor  in meinem Leben, der mir ein schlechtes Gewissen bereitet. Kann ich den Schmerz nicht so empfinden wie Mom, weil meinem Herzen ein entscheidender Teil fehlt? Bin ich wirklich genau wie McClellan, feige und selbstsüchtig? Das Schlimmste ist, dass ich wahrhaftig gut sein und tun möchte, was man von mir erwartet. Warum also zögere ich dann immer noch?

»Und, wie war das Schießen heute?«, fragt Dad zwischen zwei Gabelladungen Pastasalat, nachdem wir uns zum Essen gesetzt haben. Ich seufze schwer und lege die Gabel auf das Platzdeckchen. Als ich wieder aufschaue, sehe ich als Erstes das Bild von Pioneer, das an unserer Küchenwand hängt. Ich habe immer das Gefühl, der echte Pioneer würde mich daraus beobachten. Das war’s mit meinem Appetit.

»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du schon weißt, wie es war«, murmele ich.

»Ich hätte da einen Verdacht.« Dad lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und schaut mich an. Moms Blick wandert von ihm zu mir und wieder zurück. Jetzt komme ich in den zweifelhaften Genuss, ihr erzählen zu dürfen, was passiert ist, nachdem ich es versäumt habe, es gleich zu tun, und darf mir dann von beiden einen Vortrag anhören. Super! Ich drücke mit den Fingern auf die Gabelzinken, dass der Stiel auf den Tisch knallt.

»Kniescheiben«, sagt Dad zur Erklärung und meine Mutter macht ein »Ah-ja«-Gesicht. Meine Schießgewohnheiten sind für die beiden anscheinend keine große Überraschung mehr.

»Ich habe heute auch ins Herz getroffen, okay? Pioneer hat schon mit mir darüber geredet. Ich weiß, was ich zu tun habe.« Ich lehne mich zurück und schaue zur Decke.

Dad wischt sich mit der Serviette den Mund ab. »Das haben wir nie bezweifelt. Aber bringst du es auch fertig, wenn dir ein Gesicht entgegenstarrt und kein schwarzes Stück Sperrholz?«

»Wenn es sein muss, schon«, sage ich, aber ich bin keine große Lügnerin. Ich kann nicht mal mich selbst überzeugen.

»Es würde mir leichter fallen, das zu glauben, wenn du richtig schießen würdest, ohne dass Pioneer dich vorher dazu drängen muss«, sagt Dad.

Ich schaue zu Mom hinüber. Ich hatte gehofft, sie würde vielleicht aus Mitleid das Thema wechseln, aber sie und Dad halten sich an der Hand und bilden eine vereinte Front.

Dad schaltet in seinen Vortragsmodus. »Hör mal, keiner von uns will Menschen verletzen. Das verstehst du doch, oder? Aber wenn wir überleben wollen, müssen wir vielleicht schon bald ein paar harte Entscheidungen treffen. Die Gemeinde hat viele Jahre in Sicherheit gelebt, trotzdem sind wir für die Städte im Umkreis immer noch ein Gegenstand der Neugierde. Glaubst du denn, sie fragen sich nicht, warum wir hier draußen so isoliert leben? Und glaubst du nicht, dass ihnen ein Licht aufgeht, sobald sich die Erdrotation umkehrt? Wir haben nur genug Vorräte für unsere eigenen Leute eingelagert und selbst das ist vielleicht nicht genug. Wenn die Leute hier auftauchen und Schutz suchen, werden sie sich nicht mit einem ›Tut uns leid, wir sind schon voll‹ zufriedengeben und wieder abziehen. Sie werden kämpfen.« Je länger Dad mich belehrt und je mehr er sich in das Thema hineinsteigert, desto lauter wird er. »Willst du wirklich riskieren, dass einer von uns stirbt, nur damit du dein eigenes fehlgeleitetes Gewissen entlasten kannst?«

»Du sprichst viel zu gut von ihnen, Thomas.« In den Augen meiner Mutter schimmern Tränen. »Die Leute da draußen sind Monster. Sie sind böse. Jeder Einzelne von ihnen. Sie gehören vom Erdboden getilgt und haben unser Mitleid nicht verdient. Die Brüder haben uns seit Jahren beobachtet. Sie kennen die Motive der Außenstehenden. Wir sind die Auserwählten, diejenigen, die wahre Rechtschaffenheit und Barmherzigkeit bewiesen haben. Uns ist es bestimmt zu überleben, nicht ihnen. Und wenn sie vor dem Ende hierherkommen – oder nachdem die Katastrophen eingesetzt haben  –, dürfen wir kein Mitleid mit ihnen haben. Niemals. Wir würden sonst nur helfen, das Böse am Leben zu erhalten, und all das, alles, was wir hier aufgebaut haben, wäre umsonst.« Sie hat angefangen zu zittern. Ich sehe, wie sie zu Pioneers Bild hinüberschaut. Sie streckt die Hand aus und streicht mit den gleichen unsicheren Bewegungen über den Bilderrahmen, mit denen sie auch über Karens Schuhe reibt. Wenn Pioneer uns wirklich durch dieses Bild beobachten kann, empfindet sie das wahrscheinlich als beruhigend.

Ich starre auf meinen Teller. Tränen vernebeln mir die Sicht und verwandeln alles in ein abstraktes Gemälde. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist, okay? Ich will ja tun, was getan werden muss, das könnt ihr mir glauben … aber ich, ach, ich weiß auch nicht. Ich erstarre dann einfach.«

Ohne die Hand meines Vaters loszulassen, legt Mom mir ihre zweite Hand auf die Schulter und Dad tut das Gleiche auf der anderen Seite. Jetzt sind wir alle miteinander verbunden.

»Es ist nicht falsch, sich zu verteidigen, Liebes. Falsch wäre es, nicht zu kämpfen, um diejenigen, die du liebst, am Leben zu erhalten«, sagt Mom.

Sie haben natürlich recht. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ihnen etwas zustoßen würde, ihnen oder Will oder Marie. Ich war selbstsüchtig und, schlimmer noch, dumm. Ich muss mich bessern.

»Von jetzt an schieße ich richtig.« Ich spreche die Worte aus wie einen Schwur  – vor ihnen und vor mir selbst. Ich bin kein kleines Kind mehr. Ich kann nicht einfach ausblenden, was geschieht. Es ist Zeit, erwachsen zu werden.

Wer sich selbst immer wieder in Gefahr bringt,

ist ein Narr.

Wir müssen tun, was notwendig ist, um zu überleben

und die zu schützen, die wir lieben.

Pioneer, Gemeindeführer

4

Wir haben Karen nie gefunden. Wie viele, viele andere New Yorker in jenem Herbst beerdigten wir einen leeren Sarg und versuchten uns einzureden, eine Beerdigung ohne Leichnam sei etwas genauso Endgültiges. Als es vorbei war, konnte meine Mutter nicht nach Hause zurück, an den Ort, an dem es nichts gab als Erinnerungen an das, was wir verloren hatten. Die Stadt begann sich wie ein fremdes Land anzufühlen, das nicht mehr das unsere war.

Wir verbrachten einige Monate in einer Mietwohnung, während meine Eltern sich darüber klar zu werden versuchten, was wir tun und wohin wir nun gehen sollten. Meine Mutter nahm mich von der Schule und versprach, mir das Alphabet selbst beizubringen, doch die meiste Zeit lag sie unter der Bettdecke und starrte aus dem Fenster, während ich den ganzen Tag allein durch die Wohnung wanderte. Ich malte ununterbrochen. Offenbar versuchte ich immer noch, die Dinge wieder ins Lot zu bringen.

Meine Mutter hatte ständig Angst – Angst, dass jemand mich mitnehmen würde, Angst vor weiteren terroristischen Angriffen. Mein Dad sprach nicht viel, aber das war auch nicht nötig. Seine Augen waren so leer, wie der Sarg es gewesen war. Wir waren oft allein. Schon vor Karens Verschwinden hatten meine Eltern nicht viele Freunde besessen. Und da meine Mutter in einem Pflegeheim aufgewachsen und mein Vater ein Einzelkind war, dessen Eltern schon vor meiner Geburt gestorben waren, gab es auch keine Großeltern oder Onkel und Tanten, die kommen und uns hätten trösten können.

Pioneer war der Einzige, der uns besuchte. Er kam immer wieder und versuchte, uns zu helfen, wo er nur konnte. Er schien zu glauben, unsere Probleme lösen zu können. Er sagte uns, dass wir nicht allein wären. Viele der Leute, die er kannte, hätten ebenfalls ständig Angst, sie wären es leid, in einer Welt zu leben, die sich anfühlte, als stünde sie am Rand der Zerstörung. Er erzählte uns, dass sie ihre Mittel zusammenwerfen würden, um das aufzubauen, was er »die Gemeinde im Westen« nannte, und damit einen eigenen Weg zu gehen, so wie es die Menschen vor langer Zeit getan hatten. Meinen Eltern gefiel die Vorstellung von endlos weitem Land und Himmel, einem Ort, wo man Probleme von Weitem auf sich zukommen sah und handeln konnte, bevor sie auf der Türschwelle standen. Pioneer meinte, als Bauingenieur könnte man meinen Dad beim Bau der Siedlung gut gebrauchen. Sicher sollte sie werden, so sicher, dass wir niemals wieder fortmüssten.

Mein Dad verließ die Stadt als Erster. Er zog fast augenblicklich mit Pioneer und einigen der anderen fort. Meine Mutter und ich blieben zurück, um das Haus, die Möbel und alles, was wir nicht im Flugzeug mitnehmen konnten, zu verkaufen. Wir begannen unser neues Leben mit so wenig wie möglich aus unserem alten, aber das machte mir nichts aus. Endlich verhielten meine Eltern sich wieder ein bisschen mehr wie sie selbst, zum ersten Mal seit mehr Monaten, als ich zählen konnte, spürte ich, dass für uns das Leben wieder anfing. Und das wünschte ich mir mehr, als ich es laut zu sagen wagte, ohne mich dafür schuldig zu fühlen, dass ich mir nach der Sache mit Karen überhaupt noch etwas wünschte.

Mandrodage Meadows hatte damals nicht die geringste Ähnlichkeit mit heute. Die Rohbauten dessen, was einmal unsere Wohnhäuser und das Klubhaus werden sollten, standen schon, aber im Großen und Ganzen war es nicht mehr als ein großes offenes Feld voller Wohnwagen und Zelte. Ich war begeistert. Es war ein einziges großes Abenteuer, wie etwas aus einem Buch.

Während meine Mutter unseren winzigen Wohnwagen einrichtete, unsere wenigen Sachen auspackte und die Betten machte, holte ich meinen Zeichenblock heraus und begann im großen Bogen um den Wohnwagen herumzugehen. Ich wollte nicht zusehen, wie sie Karens Schuhe neben der Eingangstür platzierte. Sie rief mir durch das Fenster zu, ich solle in der Nähe des Wagens bleiben, und das tat ich, auch wenn ich darauf brannte, auf Entdeckungsreise zu gehen. Also zeichnete ich stattdessen und versuchte meine ganze Rastlosigkeit und Aufregung auf Papier zu bannen.

»He, du bist das neue Mädchen!«, rief ein Junge, der etwa in meinem Alter zu sein schien, zwischen zwei in der Nähe stehenden Zelten. Er hatte Unmassen von Sommersprossen und seine Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab, aber er gefiel mir. Alles an ihm stimmte mich fröhlich. Er kam zu mir herübergetrabt.

»Ich bin Will.« Er hielt mir die Hand hin, damit ich sie schütteln konnte, eine seltsam formale Geste für ein Kind. Er schien sehr bemüht zu sein, mich nicht zu verschrecken, sodass ich mich fragte, wie viel er bereits über meine Familie wusste.

»Ich bin Lyla«, sagte ich leise.

Will nickte kurz und wir starrten uns einen Moment lang an, bevor er mich anlachte. »Willst du was spielen?«

Ich war ein bisschen schüchtern. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht viele Freunde besessen, sondern hauptsächlich mit Karen gespielt. Ich nickte und starrte zu Boden.

»Dann komm mit. Die anderen sind draußen am See und spielen Ball. Spielst du manchmal Baseball?«

Ich zuckte die Achseln. »Nein.«