Gated - Sie sind überall - Amy Christine Parker - E-Book

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Amy Christine Parker

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Beschreibung

Es gibt kein Entkommen! Die Gemeinschaft von Mandrodage Meadows ist offiziell aufgelöst, die ehemaligen Mitglieder leben in Freiheit und Pioneer, ihr hochgefährlicher Führer, wartet hinter Gittern auf seinen Prozess. Lyla glaubt, das Böse sei besiegt. Doch während sie versucht, sich in Codys Familie einzuleben und einen normalen Teenageralltag zu führen, lenkt Pioneer aus dem Gefängnis heraus unbemerkt weiter die Geschicke der Gemeinschaft. Er und seine Jünger haben nur ein Ziel: Sie wollen Lyla wieder zu einer der ihren machen; koste es, was es wolle …

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Seitenzahl: 443

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Amy Christine Parker

Gated

Sie sind überall

Roman

Aus dem amerikanischen Englischvon Bettina Münch

Deutscher Taschenbuch Verlag

Für Jay, auf ewig

Ein guter Hirte

legt sich nicht schlafen,

solange sich eines seiner Schafe

auf Abwegen befindet.

Pioneer, Gemeindeführer

1

Es ist einen Monat her, seit die Welt untergehen sollte. Eigentlich könnte man meinen, ich würde nicht mehr jeden Morgen voller Panik aufwachen, weil mir der Alarm der Gemeinde in den Ohren schrillt und ich so schnell atme, dass ich so gut wie keinen Sauerstoff mehr aufnehme.

Aber es ist so.

Vielleicht liegt es daran, dass ich tief im Innern nach wie vor nicht glauben kann, dass die Apokalypse nicht doch noch irgendwo hinter dem Horizont lauert. Schließlich haben mich meine Familie und unser Anführer Pioneer von morgens bis abends davor gewarnt, seit ich fünf Jahre alt war. Wie soll ich plötzlich den Schalter umlegen und glauben, es sei alles eine Lüge gewesen?

Ich wische das Kondenswasser vom Badezimmerspiegel und starre auf das, was im Wischstreifen von mir zu sehen ist. Ich habe geduscht, bis ich ruhiger atmen konnte und nicht mehr am ganzen Leib zitterte. Doch innerlich bebe ich immer noch vor einer Anspannung, die sich nicht besänftigen lässt – nicht mit hundert Duschbädern. Dass sich dieses Badezimmer nach wie vor fremd anfühlt, die Wohnung, in der ich lebe, nicht mein Zuhause ist und die Leute, mit denen ich hier zusammenwohne, kaum mehr als Fremde sind, macht die Sache nicht besser.

»Lyla, wir haben nicht viel Zeit. Mein Dad ist schon weg«, sagt Cody draußen vor der Tür mit gedämpfter Stimme.

Ich beginne mich rasch abzutrocknen. Codys Vater ist der Sheriff, der Mann, der in Mandrodage Meadows, die Siedlung meiner Gemeinde, eingedrungen ist, unmittelbar bevor Pioneer uns unter Tage eingeschlossen hat, um dort auf den Weltuntergang zu warten. Heute wird Pioneer vom Krankenhaus ins Bezirksgefängnis überstellt, und Cody und ich werden dabei zusehen.

»Komme gleich.« Ich lege den Mund ganz nahe an den Türspalt, damit ich nicht laut sprechen muss. Codys Mutter und Schwester schlafen noch. Wenn sie aufwachen, bevor wir aus dem Haus sind, werden wir nicht hingehen dürfen. Ich könnte es ihnen nicht verübeln, uns davon abzuhalten. Keiner von uns weiß, wie ich reagieren werde, wenn ich Pioneer das erste Mal wiedersehe, seit ich ihn angeschossen habe. Nicht einmal ich selbst.

»Im Ernst, Lyla, beeil dich«, sagt Cody und klopft nachdrücklich an die Tür.

»Okay!«

Ich ziehe eine von Codys Jeans an und sein weitestes Sweatshirt. Als ich mein Haar zu einem Knoten drehe und es unter einer Baseballkappe verstecke, schaue ich ein letztes Mal in den Spiegel und suche in meinem Gesicht nach einem Anflug von Unerschrockenheit, doch es ist blass vor Angst.

Kann ich das wirklich durchziehen?

Ich probiere ein jungentypisches, lässiges Schlurfen. Wenn Cody mir noch einen falschen Bart verpasst hat und ich meinen allzu kurvigen Körper verstecke, werde ich mit etwas Glück als Junge glaubwürdig genug wirken, um Pioneer, den Sheriff und wem wir sonst noch über den Weg laufen werden, hereinzulegen. Niemand außer Cody soll wissen, dass ich dort bin. Andernfalls weiß ich nicht, ob ich Pioneer begegnen kann.

Eilig verlasse ich das Badezimmer. Cody sieht mich an und lächelt. Und ich muss die Augen abwenden, weil ich auch so schon entnervt genug bin. Ich kann mich nicht mit dem Tumult befassen, der in meinem Bauch einsetzt, sobald er mich so anschaut.

»Nicht schlecht. Du siehst zwar noch nicht aus wie ein Kerl, aber das kriegen wir schon hin.« Er nimmt meine Hand und führt mich die Treppe hinab in den Keller. Auf Zehenspitzen schleichen wir bis in die hinterste Ecke, wo Cody seine Monstermodelle und Make-up-Ausstattung aufbewahrt. Er zieht einen metallenen Hocker heran und ich lasse mich darauf nieder. Meine Hände landen in meinem Schoß und ich fahre mit den Daumen über meine Jeans. Ich atme ein und aus.

»Bereit?« Cody hat leuchtende Augen vor Eifer. Ich habe ihm gerade eine Möglichkeit eröffnet, seiner liebsten Beschäftigung nachzugehen. Ich bin sein persönliches Special-Effects-Projekt an diesem Morgen. Ach, wem will ich etwas vormachen? Ich bin in vielerlei Hinsicht sein persönliches Projekt. Ihm scheint es nichts auszumachen, aber mich stört es immer mehr. Wer hat schon Lust, ständig der kaputteste Mensch im Raum zu sein? Deshalb fahre ich heute zum Krankenhaus. Um anzufangen, die Schäden zu beheben, die Pioneer mir zugefügt hat. Ihn wiederzusehen, ist der erste Schritt.

»Ja«, sage ich. Ich sehe zu, wie er etwas in die Hand nimmt, das wie ein Schlauch aus dunkelbraunen Haaren aussieht, und es auseinanderrollt. Er hält ihn mir ans Gesicht und vergleicht ihn mit meiner echten Haarfarbe.

»Kommt ungefähr hin«, sagt er mehr zu sich selbst als zu mir. Dann schneidet er vom Schlauch einige Zentimeter ab und fächert die Haare zwischen den Fingern auf, ehe er sie neben mich auf den Tisch legt. Ich schaue auf den Wolfman-Kopf hinab, an dem er gearbeitet hat, und auf die abgetrennten Gliedmaßen dahinter. Sie wirken so realistisch, dass die meisten Menschen wahrscheinlich vom bloßen Anblick angewidert wären, aber ich nicht. Wenn man erst einmal echtes Blut gesehen hat, wirkt das unechte Zeug einfach nicht mehr so glaubwürdig, egal, wie gut es ist.

Cody beugt sich vor und nimmt die Fernbedienung vom Tisch. »Es geht schneller, wenn du dir irgendwas ansiehst«, sagt er, während er den Fernseher einschaltet und mir die Fernbedienung in die Hand drückt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich keine Sorgen macht, ich könnte mich langweilen. Er will mich nur von Pioneer ablenken. Das Problem dabei ist, dass ich das einfach nicht schaffe, seit ich Mandrodage Meadows verlassen habe. Sobald ich die Augen schließe, ist Pioneer da. Ich bin wieder im Stall und durchlebe die Sekunden, nachdem ich auf ihn geschossen habe, sehe, wie sich das Blut auf seinem schmuddeligen weißen T-Shirt ausbreitet. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, den metallenen Geruch seines Bluts riechen zu können. Und das Blut von Marie, meiner besten Freundin. Pioneer hat ihr die Kehle durchgeschnitten, damit sie an einem besseren Ort bei den Brüdern sein kann. Gegen diese Erinnerungen kommt keine Fernsehshow an. Trotzdem zappe ich durch die Sender.

Plötzlich, als hätten meine Gedanken ihn heraufbeschworen, ist Pioneers Gesicht auf dem Bildschirm. Mein Herz gefriert zu einem Eisklumpen. Er sieht mir direkt in die Augen. Ich stelle den Ton lauter.

»Alan Cross, der sich jetzt Pioneer nennt, hat die letzten zehn Jahre mit seinen Anhängern in völliger Isolation auf einem apokalyptischen Gelände gelebt.«

Cody reißt mir die Fernbedienung vom Schoß – ich muss sie fallen gelassen haben, auch wenn ich mich nicht daran erinnern kann. »Das ist genug von –«

»Nein, warte! Ich … muss das sehen«, sage ich, obwohl ein Teil von mir sich lieber Augen und Ohren zuhalten würde. Wenn ich es nicht ertrage, Pioneer im Fernsehen zu sehen, wie kann ich dann erwarten, es bei einer persönlichen Begegnung zu können?

Pioneers Gesicht verblasst und eine neue Aufnahme, diesmal vom Krankenhaus, wird eingeblendet. Auf dem Fußweg direkt vor dem Eingang sind meine Freunde versammelt. Sie sitzen dicht zusammengedrängt auf den Knien und strecken die Hände zum Himmel – alle in genau der gleichen Haltung. Sie lächeln in die Kamera. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern … es ist unheimlich, wie glücklich sie wirken. Mein Magen rebelliert und ich muss schlucken, um nicht zu würgen.

»… seine Anhänger erklären, dass sie sich bis zu Pioneers Entlassung weiter vor dem Krankenhaus versammeln werden.«

Julies Gesicht füllt den Bildschirm aus. Sie grinst breit in die Kamera. »Er lebt! Pioneer hätte sterben müssen, aber er ist nicht gestorben.« Sie schaut zu Mr Brown hinüber, der in der Nähe steht und sie anstrahlt.

Der Mann mit dem Mikrofon deutet auf ihre Sitzhaltung. »Sie knien alle. Warum?«

Julie stößt ein schrilles, gackerndes Lachen aus, das nicht annähernd so klingt wie das, was sie von sich gibt, wenn sie etwas wirklich lustig findet. Ich hasse dieses Lachen. »Wir knien, um Pioneer unseren Gehorsam und unseren erstarkten Glauben zu zeigen.«

Der Interviewer hatte Mühe, ernst zu bleiben.

Julie schaut ihn an und ihr Mund zuckt. Ihr Lächeln wird zu einem höhnischen Grinsen. »Sie werden noch an diesen Moment zurückdenken, als Sie sich geweigert haben, das Wunder seines Überlebens anzuerkennen. Wenn der letzte Tag dieser Welt anbricht, werden Sie sich nicht mehr über uns lustig machen. Sie werden wissen, dass er recht hatte – und Sie werden sterben.«

»Komplett durchgeknallt, die Irre.« Mit wütendem Kopfschütteln tupft Cody mir Haare ans Kinn. Ich schaue ihn nicht an, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Ich habe auch einmal an Pioneer geglaubt … macht mich das auch zu einer Irren? Ich beiße mir auf die Lippe und versuche mich auf den Fernseher zu konzentrieren, um nicht loszuheulen.

»… mithilfe aufgenommener Predigten, die Pioneer in den letzten Jahren gehalten hat, haben sie begonnen, ihre Botschaft auf YouTube publik zu machen.«

Filmmaterial, das Pioneer vor unserem alten Klubhaus zeigt, wird eingeblendet. Mir stockt der Atem. Im Hintergrund kann ich mich selbst sehen. Dieses Mädchen lächelt Pioneer an, als er auf es zugeht und die Hand ausstreckt. Ich sehe, wie es die Wange in seine Handfläche schmiegt. Es schnürt mir das Herz ab. Ohne es zu wollen, vermisst ein Teil von mir dieses Mädchen und ihren Glauben. Seit ich die Gemeinde verlassen habe, war ich mir über nichts und niemanden mehr sicher. Ich habe einen sauren Geschmack im Mund und schaue zu Cody auf. Hat er mein altes Ich auch entdeckt?

»Das Ende ist nah, nicht?« Ich sehe meine Eltern, meine Freunde und mein früheres Ich nicken und klatschen.

Cody stößt ein entrüstetes Schnaufen aus und ich lange über den Tisch, um auf den Ausschaltknopf der Fernbedienung zu drücken, wobei ich mir Barthaare aufs T-Shirt schmiere. Dann sinke ich wieder auf den Hocker und nehme den Kopf in die Hände. Ich weiß nicht, was schlimmer ist, die Tatsache, dass mein früheres Ich zusammen mit allen anderen genickt hat … oder die Tatsache, dass mein gegenwärtiges Ich immer noch den unerklärlichen Drang hat, das Gleiche zu tun. Es fühlt sich an, als habe sich mein Hirn zweigeteilt und mein früheres und mein gegenwärtiges Ich seien sich noch nicht einig, wer das Sagen hat. Vielleicht ist es ein Fehler, heute Pioneer zu begegnen. Vielleicht wird es die Waagschale zugunsten meines früheren Ichs ausschlagen lassen. Ich fange wieder an zu zittern, kann es einfach nicht verhindern. Meine Nerven gehen mit mir durch.

»Weißt du, wir müssen das nicht tun. Ich kann auch allein hingehen und dir hinterher alles erzählen.« Cody schaut mir prüfend ins Gesicht, berührt mit den Fingerspitzen meine Wangen. Sie sind warm. Fast reflexartig schrecke ich zurück. Es liegt nicht daran, dass ich nicht von ihm berührt werden will. Pioneer hat uns pausenlos eingeschärft, uns von Außenstehenden fernzuhalten, und mein Körper weiß immer noch nicht, wie er sich ihm dauerhaft widersetzen soll. Wahrscheinlich bedeutet es, dass mein früheres Ich nach wie vor die Oberhand hat. Am liebsten würde ich auf irgendetwas einschlagen.

Falls mein Zurückweichen Cody etwas ausgemacht hat, lässt er es sich nicht anmerken. Stattdessen nimmt er weitere Haare und macht sich daran, meinen Bart aufzufüllen.

Ich weiß nicht, ob ich mich entschuldigen oder einfach übergehen soll, was gerade geschehen ist. Nach kurzem Schweigen entscheide ich mich für Letzteres. »Ich muss ihn sehen. Sicher sein …« Ich spreche den Satz nicht zu Ende. Es würde einfach nur merkwürdig klingen. Nachdem ich zweimal auf ihn geschossen und – praktisch mitten ins Herz – getroffen habe, war ich sicher, dass er sterben würde. Aber das ist nicht geschehen – selbst nach vielen Komplikationen nicht. Anscheinend schaffe ich es nicht, die Frage zu verdrängen, ob er nicht doch das ist, was er zu sein behauptet. Wie hätte er das alles sonst überleben können? Wenn es mir nicht gelingt, Pioneer einfach nur als normalen Menschen zu sehen, statt als eine Art Messias, werde ich den Teil von mir, der immer noch an ihn glauben will, nie loswerden.

Cody tupft die letzten Bartreste an ihren Platz. Dann tritt er zurück und begutachtet mein Gesicht. »Nicht schlecht.«

Er dreht mich an den Schultern um und gibt mir einen Spiegel. Ich gefalle mir überhaupt nicht. Auf seltsame Art und Weise sehe ich aus wie eine jüngere Version meines Vaters. Ich habe noch nie etwas von ihm in meinem Gesicht entdeckt.

Dad.

Die meiste Zeit vermisse ich meine Eltern nicht, weil ich mich bemühe, nicht an sie zu denken. Ich brauche den Abstand zu ihnen, um mir über bestimmte Dinge klar zu werden, aber dann geschieht so etwas wie das hier und ich spüre, wie sich in meiner Brust ein Loch auftut und sich mein Magen zusammenzieht. Ich lege den Spiegel fort. Für heute Morgen habe ich mich genug angestarrt.

Cody macht sich daran, sich selbst Hautkleber aufs Kinn zu tupfen. Er arbeitet jetzt schneller. Wir haben zwei Stunden Zeit einkalkuliert, bevor wir gehen müssen, doch allmählich wird es knapp. Pioneers Verlegung soll in weniger als einer Stunde stattfinden. Ich sehe zu, wie Cody sich einen Satz hellerer Haare ans Kinn drückt. Sein Bart ist länger – wilder als der, den er mir verpasst hat. Zehn Minuten später ist er fertig.

Cody geht zu einer Liege hinüber und streift sich ein dickes Sweatshirt über, ehe er sich die Kappe mit Mel’s Trucking Company aufsetzt, die er aus dem Secondhandladen mitgebracht hat. Er schnappt sich zwei tarnfarbene Parkas, die wir anziehen, während wir durch die Seitentür nach hinten in den Garten schlüpfen.

Los geht’s.

Cody lotst mich zu seinem Auto, das neben dem Briefkasten am Straßenrand parkt. Beim Einsteigen gibt die rostige Fahrertür ein lautes Knarzen von sich, das in den Bäumen neben dem Haus einige Vögel aufschreckt und uns zusammenzucken lässt. Es fühlt sich an, als würden uns das Haus, die Bäume und sogar die Vögel beobachten, um zu sehen, ob ich die Sache wirklich durchziehe. Ehe ich es mir anders überlegen kann, setze ich mich auf den Beifahrersitz und Cody löst die Parksperre und lässt den Wagen den kleinen Hügel bis zum Ende der Straße hinunterrollen, ehe er noch einmal stehen bleibt, um ihn anzulassen.

Es ist kurz vor sechs Uhr morgens. Die Straßen sind fast menschenleer, was die Stadt verlassen wirken lässt. Ich zittere jetzt so erbärmlich, dass auch Cody es bemerkt. Seine Augen wandern immer wieder zwischen der Straße und mir hin und her. Mit jeder Minute, die vergeht, fällt es mir schwerer, ihn nicht zu bitten umzudrehen.

Schließlich drosselt Cody die Geschwindigkeit und biegt in die Straße zum Krankenhaus ein. Ich kann den Parkplatz erkennen und den größten Teil des Gebäudes, das vor uns aufragt. Wohin ich auch schaue, stehen Fernsehwagen und Menschen. Der Plan des Sheriffs, Pioneers Verlegung unauffällig abzuwickeln, ist fehlgeschlagen. Wie es aussieht, ist ein Gutteil der Stadt auf dem Weg zu dem breiten Streifen aus Fußweg und Rasen, der sich vor dem Seiteneingang des Krankenhauses erstreckt. Die Gemeinde ist immer noch dort. Ich kann Mr Brown vom Beifahrersitz aus sehen.

»Sie werden nicht wissen, dass du es bist, Lyla. Im Grunde ist es fast besser, dass so viele Leute da sind.« Cody parkt den Wagen ein und nimmt mich in den Arm.

Ich bin stocksteif. Wie erstarrt.

Codys Mund ist an meinem Ohr. »Du brauchst das nicht zu tun.«

Ich will, dass er aufhört, davon zu reden. Ich muss es tun. Ich winde mich aus seinen Armen und öffne die Wagentür. Der Wind fährt herein und brennt mir in den Augen.

»Los, komm«, sage ich. Wir steigen aus und gehen auf das Krankenhaus zu. Die Menge vibriert förmlich vor Geplapper und gespannter Erregung. Ich kann das Knistern, das in der Luft liegt, spüren.

In wenigen Minuten werden die meisten dieser Menschen zum ersten Mal einen Blick auf jemanden werfen, den sie für ein Monster in Menschengestalt halten. Davon sind sie hundertprozentig überzeugt.

Das will ich jetzt auch sein.

Ich bin ein Wunder. Ich bin der Messias.

Wie könnt ihr noch etwas anderes glauben,

nachdem ihr Zeuge dessen geworden seid,

was ich überlebt habe?

Pioneer, Gemeindeführer

2

Meine Eltern sind da.

Ich versuche nicht zurückzuschrecken, als ich sie entdecke, und vergesse für einen Sekundenbruchteil, dass ich verkleidet bin. Ich lege die Arme um mich – eine alles andere als männliche Haltung. Während unserer Therapiesitzungen habe ich sie jede Woche getroffen; es sollte mich nicht erschrecken, sie heute hier zu sehen. Allerdings war bei unseren Treffen der Rest der Gemeinde nicht dabei, daher hatte ich dummerweise gehofft, sie würden anfangen, ihre Zugehörigkeit zu überdenken. Ich hatte nicht damit gerechnet, sie ebenfalls auf den Knien vorzufinden.

Als ich die Gemeinde das letzte Mal getroffen habe, waren wir nach Mandrodage Meadows zurückgekehrt, hatten um das Silo herumgestanden und dem Sonnenuntergang zugesehen, am Tag, der eigentlich der letzte sein sollte. Die Therapeutin meiner Familie, Mrs Rosen, meinte, ich brauche eine Pause von ihnen – und sie bräuchten eine Pause von mir –, während wir alle zu begreifen versuchten, was Pioneer mit uns gemacht hatte. Deshalb wohne ich jetzt bei Cody und seiner Familie. Es ist zwar nur vorübergehend, aber ich bin dankbar, dass sie mich überhaupt aufgenommen haben. Mrs Rosen hatte recht – ich brauche Abstand von der Gemeinde. Mein Kopf fühlt sich klarer an ohne sie. Ich wünschte nur, meine Eltern wären der Gemeinde ebenfalls eine Weile ferngeblieben.

Ich starre meine Mutter an. Sie kniet direkt hinter einer Reihe Deputies. Ihr Gesicht ist auf die Eingangstür des Krankenhauses gerichtet, aus der Pioneer herauskommen wird. Selbst wenn ich nicht verkleidet wäre, bezweifle ich, dass sie mich bemerken würde. Ihre ganze Aufmerksamkeit gilt Pioneer.

Immer noch.

Unglaublich.

Neben meiner Mom wirkt mein Dad fast ein wenig verloren. In ihrer Miene liegt eine Gewissheit, die ihm fehlt, auch wenn er ebenfalls die Augen auf die Eingangstür gerichtet hat. Hinter den beiden sehe ich meinen Versprochenen, Will, und meine alten Freunde Brian, Heather und Julie. Wills Blick gleitet ohne zu stocken über mich hinweg. Ich atme aus, als hätte ich die ganze Zeit über die Luft angehalten. Wenn mein bester Freund – der Junge, den ich eigentlich heiraten sollte – nicht erkennt, dass ich es bin, dann wird es auch sonst niemand tun. Brian starrt zornig in meine Richtung und mein Herz verkrampft sich ein wenig, doch dann wird mir klar, dass sein Blick nicht nur mir gilt. Er hat von uns allen am meisten verloren. Marie, seine Versprochene, im Silo und seinen Vater draußen, bei der Verteidigung der Mauer um unsere Siedlung. Brian macht nicht Pioneer für ihren Tod verantwortlich, sondern mich und den Sheriff und alle anderen Außenstehenden, die an der Polizeiaktion beteiligt waren.

Jetzt richtet er die Augen auf die Leute, die vor ihm stehen. Ich folge seinem Blick zu der Gruppe, die er vor sich hat. Die Leute haben die Hände vor den Mund gelegt und können das höhnische Grinsen, mit dem sie ihn und die anderen anstarren, kaum verbergen. Ich sehe, wie Brian von den Knien hochkommt und den Brustkorb bläht. Ich dränge mich nach vorn, um besser sehen zu können. Er sagt etwas und der Deputy, der ihm am nächsten steht, dreht sich um und schüttelt den Kopf. Die Grinser fangen an zu lachen und ich sehe einen weiteren Deputy herankommen, der die Gruppe flankiert. Brian reckt das Kinn und seine Augen werden noch schmaler. Er war schon immer ein Hitzkopf, aber jetzt sieht er aus, als würde er gleich explodieren. Was ist, wenn er durchdreht und irgendetwas anstellt? Wenn ihn der Deputy aus dem Verkehr ziehen muss, wird der Rest der Gemeinde Brian beistehen. Das könnte schnell eskalieren. Ich räuspere mich und will etwas rufen, doch dann weiß ich nicht, wen ich warnen soll, den Deputy, die Grinser oder Brian.

Ehe ich auch nur einen Ton von mir geben kann, tritt ein etwas älterer Mann hinter Brian und legt ihm die Hand auf die Schulter. Brian weist ihn nicht ab, obwohl er nicht zur Gemeinde gehört. Ich sehe mir den Mann genauer an. Er scheint Brian und die anderen zu kennen. Keiner von ihnen stört sich daran, dass er bei ihnen steht. Ich verstehe das nicht. Sie haben alle Außenstehenden, so gut es ging, gemieden, selbst die Therapeuten. Wer ist das?

Der Mann trägt Tarnhosen und eine dicke, schwarze Jacke. Seine Haare sind kurz geschoren. Alles an ihm strahlt für mich etwas Militärisches aus. Gehört er zu den Deputies? Doch dann fällt mir auf, wie er sie anschaut, mit abwehrbereiter Haltung, als rechne er ebenfalls damit, dass sie Brian angreifen. Er mag die Deputies ebenso wenig.

Cody folgt meinem Blick, starrt den Kerl neben Brian an und die fünf oder sechs anderen, die jetzt, ebenfalls mit Tarnklamotten, neben ihm stehen. »Diese Freedom Rangers sehen ganz schön heftig aus, was?«

Ich nicke. Auf jeden Fall wirken sie deutlich rabiater, als ich sie mir vorgestellt habe.

Der Sheriff hatte diese Miliztruppe mehrere Male erwähnt und dabei jedes Mal ausgesehen, als hätte er auf etwas Bitteres gebissen. Sie bezeichnen sich als Bürgerrechtsgruppe, aber der Sheriff meinte, die meisten von ihnen seien »nichts als ein Haufen Möchtegern-Cowboys«, mit einer Vorliebe für Waffen und dafür, ihre eigenen Regeln aufzustellen. Ich bin mir nicht sicher, ob er recht hat. Ich habe auch gehört, dass sie, nachdem die Polizeiaktion gegen unsere Siedlung im ganzen Land für Schlagzeilen gesorgt hatte, nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Laptops ausgerüstet dort aufgetaucht waren. Die ersten Tage hatten sie damit verbracht, für die Gemeinde eine Webseite und einen Blog einzurichten, auf denen sie die Menschen aufriefen, zu spenden, soviel sie konnten, um den Leuten wieder auf die Beine zu helfen. Innerhalb der ersten vier Wochen, nachdem die Aktion durch die Medien gegangen war, gelang es ihnen, genug Geld aufzutreiben, um am Rand der Stadt ein großes Stück Farmland zu pachten und dort einige gebrauchte Wohnwagen aufzustellen, in denen alle unterkamen; sie heuerten einen Anwalt an, der helfen sollte, Brian, Julie, Will und die anderen aus den Pflegefamilien zu holen, in die sie der Staat verfrachtet hatte, und sammelten etwas Geld für Pioneers Verteidigung.

Es überrascht mich, dass Pioneer und die anderen sich von Außenstehenden unterstützen lassen. Man hatte uns immer gelehrt, Außenstehende um jeden Preis zu meiden. Und jetzt stehen meine Freunde und meine Familie mit einigen von ihnen Seite an Seite.

»Ich frage mich, wie deine, äh, Gruppe damit klarkommt, dass sie draußen mit ihnen auf dem Grundstück kampieren … wo es doch Außenstehende sind und überhaupt.« Die Augen vor der aufgehenden Sonne zusammengekniffen, mustert Cody die Männer. Es ist seltsam, wie sehr seine Gedanken meine eigenen widerspiegeln.

Im Gegensatz zu allen anderen Außenstehenden, denen ich begegnet bin, hat Cody kein einziges Mal das Wort »Sekte« benutzt, um die Gemeinde zu beschreiben. Ich habe ihm nie gesagt, dass ich den Begriff nicht mag, dass es mir die Kehle abschnürt, wenn ich ihn ausspreche, aber er scheint es trotzdem zu ahnen. Ich könnte ihn jedes Mal küssen, wenn ich merke, dass er auf seine Wortwahl achtet. Er schafft es nicht immer – so wie vorhin, als er Julie eine Irre nannte, aber er versucht es und das genügt. Ich lehne mich an ihn, doch dann fällt mir meine männliche Verkleidung wieder ein und ich begnüge mich mit einem Lächeln, auch wenn ich nicht sicher bin, dass er es durch den Bart erkennen kann.

Ich schaue mir die Ranger noch einmal genauer an. Wenn ich diese Woche meine Eltern besuchen fahre, werde ich sie aus nächster Nähe sehen. Mrs Rosen hat unsere nächste Sitzung in ihrem neuen »Heim« angesetzt, um herauszufinden, ob ich mich dort wohlfühlen kann. Ihr Ziel ist, dass ich noch vor dem Sommer wieder bei meinen Eltern einziehe. Nachdem die Ranger den Anwalt angeheuert hatten und der Pflegekinderdienst feststellte, dass Pioneer die einzige akute Bedrohung für sie darstellt, wurden Will und die anderen Kinder der Gemeinde ihren Eltern sofort zurückgegeben. Ich bin die Einzige, die nicht zurückkehren wollte. Das will ich immer noch nicht.

Ich trete von einem Fuß auf den anderen. Cody schaut auf die Uhr. »Sie sind spät dran. Wahrscheinlich wegen des Menschenauflaufs«, sagt er. Ich hauche mir auf die kalten Finger und nicke.

Zwischen der Gemeinde und der Stelle, an der Cody und ich stehen, befindet sich eine Schar Presseleute. Bis jetzt sind die meisten von ihnen herumspaziert, haben telefoniert und Kaffee aus Styroporbechern getrunken, doch mit einem Mal geraten sie in Bewegung. Die Reporter hieven sich Kameras auf die Schultern.

Die Deputies heben die Hände. »Bleiben Sie hinter der Absperrung!«, rufen sie fast gleichzeitig.

Hinter den Reportern heult die Sirene eines Krankenwagens auf, der am Bürgersteig anhält. Pioneer muss direkt an den Presseleuten und uns vorbei, um zu ihm zu gelangen. Es wird fast nahe genug sein, dass ich die Hand ausstrecken und ihn berühren könnte, wenn ich es wollte. Ich bekomme Herzklopfen und beiße die Zähne zusammen, damit sie nicht klappern. Man wird ihn jeden Moment herausbringen.

Gegenüber stehen meine Freunde und Familie zusammen und stimmen den Sprechgesang an, den wir vor jeder Mahlzeit und jeder Zusammenkunft in Mandrodage Meadows gesungen haben.

Die Brüder werden uns retten.

Pioneer lenkt und beschützt uns.

Auf sie allein wollen wir bauen,

bei allem, was wir tun,

allem, was wir sagen,

allem, was wir glauben.

Ihre Gesichter sind dem Krankenhauseingang zugewandt, genau wie meins, merke ich. Und wie sie formen meine Lippen die Worte. Cody starrt mich an. Ich habe, ohne es zu merken, mitgesungen. Ich senke das Kinn und vergewissere mich, dass mich niemand sonst gesehen hat, aber alle Augen sind auf die Gemeinde gerichtet. Einige Leute schütteln den Kopf und lassen viel Platz zwischen sich und der Gemeinde, als hätten sie Angst, sich anzustecken und ebenfalls in den Singsang einzustimmen; andere lachen. Irgendwo in der Nähe höre ich, wie sich zwei Frauen unterhalten.

»Die sind unzurechnungsfähig. Hab ich es dir nicht gesagt? Und wir sollen unseren Kinder erlauben, sich dem auszusetzen?« Die eine gibt einen empörten Laut von sich. »Die kommen nicht mal in die Nähe meiner Jungen, wenn ich es verhindern kann.«

Ich drehe mich um, um zu sehen, wer dort spricht. Es ist eine Frau in einem braunen Steppmantel, mit einem eng um den Hals geschlungenen weißen Schal. Ihr Gesicht ist rot vor Kälte, Wut oder Luftmangel oder allem zusammen. Die Frau neben ihr nickt geistesabwesend, den Blick immer noch starr auf die Gemeinde gerichtet. Sie wirkt zu Tode erschrocken.

Ich verziehe das Gesicht. Alle Kinder der Gemeinde – ich inbegriffen – werden ab morgen die Schule der Außenstehenden, die Culver Creek Highschool, besuchen. Ich hatte mich bereits gefragt, warum man uns nicht schon früher dazu gezwungen hat. Ich glaube, jetzt weiß ich es. Die Außenstehenden mögen uns auch nicht. Interessant.

Sobald die Gemeindemitglieder bei der letzten Zeile angelangt sind, fangen sie von vorn an. Die Presseleute richten die Kameras auf sie und mehrere Reporter sprechen mit gedämpfter Stimme in ihre Mikrofone, sodass ich sie nicht richtig verstehen kann. Als der Sprechgesang das dritte Mal wiederholt wird, ist die Luft geladen wie vor einem schlimmen Gewitter.

Die Krankenhaustüren gleiten auf und Codys Dad, Sheriff Crowley, kommt heraus, flankiert von fünf Deputies. Sie bleiben einen Moment im Eingang stehen und betrachten die Menge. Schließlich traben zwei von ihnen los, um sich zu jenen zu gesellen, die die Presseleute und alle anderen in Schach halten. Die Menge drängt ihnen entgegen. Die Freedom Rangers fangen an zu rufen.

»Keine grundlosen Polizeiaktionen!«

»Waffenbesitz ist amerikanisches Recht, Polizeibrutalität ist es nicht!«

Sie scheinen ihre eigenen Sprechgesänge zu haben.

»Irre – die ganze Bande«, sagt Cody leise. »Dad hat das Feuer nicht eröffnet, das waren die sogenannten Opfer.«

Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Ein Teil von mir hat immer noch diesen reflexartigen Drang, meine Gemeinde zu verteidigen. Wir wollten niemandem wehtun. Wir haben nur versucht, uns zu verteidigen. Doch dann denke ich an unser Schießtraining, an die Männer, die, bevor wir ins Silo gingen, alle unsere Tiere getötet haben – auch mein Pferd Indy –, an Pioneer, der mich im Silo in die Zelle gesperrt und Marie ermordet hat, und ich wünschte, sie wären früher bei uns eingedrungen. Wie lange wird es dauern, bis ich mir das nicht mehr vor Augen halten muss? Wie lange wird es dauern, bis ich frei bin?

Am Eingang des Krankenhauses tut sich etwas. Hinter den Scheiben kann ich die Silhouetten einer Gruppe von Leuten ausmachen.

Es ist so weit.

Die Türen gleiten abermals auseinander und eine Reihe von Deputies kommt heraus. Der Sheriff lässt sie an sich vorübergehen und reiht sich dann hinter ihnen ein. Als sie näher kommen, kann ich einen ersten Blick auf Pioneer werfen. Er sitzt in einem Rollstuhl. Sein grau meliertes Haar ist innerhalb kürzester Zeit fast völlig weiß geworden. Er ist dünner als früher, fast skelettartig mager. Es müsste ihn zerbrechlich wirken lassen, stattdessen wirkt er finster. Seine Augen scheinen Funken zu sprühen vor dem Kontrast seiner grauen Haut, die sich so straff über Gesicht und Hals spannt, dass es ihm einen übermäßig wachsamen Ausdruck verleiht. Er lächelt, als er Will und die anderen erblickt.

Ich mustere Pioneers Brust. Die Verbände sind unter den Decken, die um ihn geschlungen sind, nicht zu sehen. Ich wünschte, sie wären es. Ich habe ihn zweimal getroffen. In die Brust. Aus nächster Nähe. Die Kugeln haben sein Herz nur um Millimeter verpasst. Er müsste tot sein. Er hätte sterben müssen, noch bevor er im Krankenhaus ankam. Alle Ärzte und Schwestern hatten das gesagt. Sie hatten es nicht offen aussprechen und als Wunder bezeichnen wollen, aber ich glaube, manchmal fragten auch sie sich, ob es das nicht war. Ich will die Wunde sehen, sie mit dem Finger berühren, die zusammengezogene Haut und die Stiche spüren. Ich muss mich davon überzeugen, dass er ebenso menschlich ist wie ich. Also versuche ich mir die Wunden vorzustellen und den gewandartigen Effekt der Decken auszublenden, die ihn genauso aussehen lassen, wie ein Prophet aussehen sollte.

»Pioneer!«, rufen die Journalisten im Chor. Ich wünschte, sie würden ihn nicht auch so nennen.

Pioneer schaut direkt in die Kameras. Er lächelte sanft, fast schüchtern. Mit einem Nicken faltet er die Hände im Schoß, als gebe er ihnen sein Einverständnis, ihm Fragen zu stellen. Seine Hände sind gefesselt. Das war mir zuerst nicht aufgefallen. Pioneer befingert die Metallbänder um seine Handgelenke.

Ich sehe, wie Codys Dad Pioneers Rollstuhl möglichst schnell voranzubringen versucht. Einer der Reifen ist irgendwo hängen geblieben und sie müssen den Stuhl ein wenig kippen, um ihn vorwärtszubewegen. Ich kann dem Sheriff ansehen, dass er diese Verlegung schnell hinter sich bringen will.

»Pioneer!«, ruft eine Frau in einem langen schwarzen Mantel hinter den Reihen der Kameraleute und Deputies. »Ihr Stichtag für den Weltuntergang ist seit über einem Monat abgelaufen. Was ist passiert?« In der Menge setzen Gelächter und spöttisches Grinsen ein.

Pioneers Lächeln gerät nur eine Winzigkeit ins Stocken. Die Veränderung ist so minimal, dass ich mir nicht sicher bin, ob sie sonst noch jemand bemerkt hat. Er starrt die Frau an, bis es ihr – oder auch anderen – unangenehm wird, ehe er das Wort ergreift. »Genau das, was passieren sollte.«

Das ist nicht die Antwort, mit der die Leute gerechnet haben, denke ich, denn plötzlich ist es still.

»Das Ende hat begonnen. Der Verrat durch eine von uns, der Überfall, die Todesfälle, die folgten, all das war Teil des Plans der Brüder.« Pioneer kichert ein wenig, als könne er ihre Dummheit nicht fassen. »Meiner Familie steht eine Zeit strenger Verfolgung bevor und mich werden sie in ihr Gefängnis werfen. Sie haben uns alle für verrückt erklärt.« Er dreht sich um und schaut meine Eltern und die anderen an. »Damit sie die Wahrheit unter ihren Lügen begraben können. Sie versuchen mich euch wegzunehmen, weil sie glauben, euch damit zu schwächen. Sie denken, dann wärt ihr leichter zu verderben. Die Brüder lassen das geschehen. Sie wollen sehen, wie ihr euch verhaltet. Aber ich sehe, dass ihr immer noch glaubt. Ich bin praktisch von den Toten wiederauferstanden, nicht wahr? Ich bin ein Wunder des Glaubens.«

Der Sheriff will ihn weiterschieben, doch Pioneer stemmt beide Füße auf den Boden und stoppt den Rollstuhl. »Bewahrt euren Glauben an mich, meine Familie! Haltet an der Wahrheit fest. Lasst euch nicht von ihnen täuschen wie unsere Kleine Eule.«

Der Sheriff und zwei Deputies weisen Pioneer wütend zurecht und brüllen ihn an, er solle die Füße hochnehmen. Die Gemeinde drängt auf die Deputies zu, die sich bemühen, sie und Pioneer auf Abstand zu halten. Sie können sich behaupten, wenn auch nur knapp. Die meisten Gemeindemitglieder weinen und strecken die Arme nach Pioneer aus. Ich sehe mehr als einen Deputy zu seiner Waffe greifen.

Cody legt mir die Hand auf den Rücken. Um uns herum beginnen die Menschen nach links zu drängen, in Pioneers Richtung, um ihn sich genauer anzusehen. Irgendwo hinter mir ertönt der laute Protest einer Frau: »He! Hört auf zu drängeln. Bleibt zurück!«

»Hört nicht auf die Lügen, die über mich erzählt werden, Brüder und Schwestern! Bleibt stark in eurem Glauben. Stützt euch gegenseitig.« Dann lehnt sich Pioneer im Rollstuhl zurück, als sei er derjenige, der entschieden habe, dass es an der Zeit sei weiterzufahren.

Ich bin jetzt näher an ihm dran und werde gegen den vor mir stehenden Deputy gepresst, mein Kinn ragt knapp über seinen ausgestreckten Arm. Ich wollte nicht so dicht heran, aber die Leute hinter mir schieben mich immer weiter nach vorn. Wieder brüllt sie der Deputy an zurückzutreten.

Ohne jede Vorwarnung fährt Pioneers Kopf zu mir herum. Er starrt mir direkt in die Augen und ich vergesse zu atmen. Ich kann mich nicht bewegen. Die ganze Welt verschwindet, es gibt nur noch sein Gesicht, seine Augen, die mich anstarren.

»Kleine Eule«, sagt er.

Oh, bitte nicht.

»Machen Sie den Weg frei. Auf der Stelle!«, brüllt der Sheriff, ohne zu ahnen, was sich zwischen mir und Pioneer abspielt. Ich beiße mir auf die Lippe und versuchte dem Arm des Deputy zu entkommen, einen Weg zu finden, wieder in die Masse einzutauchen, ehe Pioneer irgendetwas unternehmen kann.

»Ich sehe dich, Lyla Hamilton! Glaubst du, ich würde dich nicht wiedererkennen? Ich erkenne dich überall, Kind«, ruft Pioneer und ich erstarre. »Ich vergebe dir, was du mir angetan hast. Du wirst deinen Fehler bald erkennen und ich werde dich wieder in die Arme schließen. Du gehörst mir, Kleine Eule. Es ist nicht zu spät, mich um Vergebung zu bitten. Deine Familie gibt dich nicht auf. Ich gebe dich nicht auf. Wir lieben dich und Liebe gibt niemals auf.« Sein Rollstuhl bewegt sich jetzt wieder vorwärts, aber er hat sich leicht zur Seite gewandt, damit er mich weiter ansehen kann.

Die Kameraleute schwenken die Geräte über die Menge in dem Versuch, mich ausfindig zu machen. Bis jetzt ist es dem Sheriff gelungen, meinen Namen aus der Presse herauszuhalten. Ich schaue zu ihm hinüber. Blass vor Wut und mit fest zusammengepresstem Mund sucht er ebenfalls die Menge ab.

Es war ein Fehler. Ich muss verschwinden. Sofort.

Pioneer streckt die Arme nach mir aus und öffnet die gefesselten Hände. Er krümmt die Finger und winkt mich zu sich, das Versprechen der Vergebung im strahlenden Gesicht.

Die Blicke der Leute um mich herum folgen seinen ausgestreckten Armen und fallen auf mich.

»Ist sie das? Das Mädchen, das ihn angeschossen hat?«

»Das ist gar kein Junge.«

»Er hat ›Kleine Eule‹ gesagt. So hat er sie doch genannt, oder?«

Die Leute murmeln rings um mich herum.

Vielleicht wäre ich nicht erkannt worden, nachdem Pioneer mich angesprochen hat, hätte ich nicht irgendwann zwischen dem Moment, in dem er meinen Namen rief, und seiner Rede angefangen zu wimmern.

»Lyla …«, ruft jemand über den Weg. Ich schaue nicht hinüber zu meiner Familie und meinen Freunden, aber ich kann ihre Blicke spüren.

Der Sheriff wirft einen grimmigen Blick in meine Richtung, ehe er Pioneer weiterschiebt und auf die Fahrzeugkolonne zueilt, die darauf wartet, Pioneer ins Gefängnis zu eskortieren. Die Menge um mich herum rückt immer dichter heran. Ich lehne mich an Cody, um nicht umzufallen, der mich am Ellbogen packt und vor sich zieht, sodass er zwischen mir und einem Großteil der Menge steht. Ich sehe, wie einige Kameramänner und Reporter versuchen, sich von den Rändern zu mir durchzukämpfen. Der Deputy vor mir legt den Kopf in den Nacken und lauscht einer Stimme, die aus dem schwarzen Ding kommt, das an seiner Schulter befestigt ist. Er ergreift meine Hand. »Hier entlang. Schnell!«

Er zieht mich auf den Weg, auf dem sich gerade noch Pioneer befunden hat. Wir eilen im Laufschritt zum Krankenhaus. Cody folgt uns. Ich höre, wie hinter mir mein Name gerufen wird, wie eine Anklage kommen die Rufe aus allen Richtungen.

Glaubt an mich und lebt.

Wer es nicht tut,

ist mit Sicherheit verloren und

zum Tode verdammt.

Pioneer, Gemeindeführer

3

Sobald wir sicher im Krankenhaus sind, nimmt Cody mich in den Arm. Ich vergrabe das Gesicht an seiner Brust. Erst als mehrere Leute mit erstaunten Gesichtern an uns vorübergehen und einer von ihnen uns den gereckten Daumen zeigt, fällt mir ein, dass ich immer noch wie ein Kerl aussehe. Ich trete einen Schritt zurück und ziehe mir den Bart vom Kinn. Cody wird knallrot, als er mir hilft.

»Was habt ihr euch nur dabei gedacht?«, fragt der Deputy, der uns hergebracht hat, an Cody gewandt. Er atmet schwer.

»Lass es gut sein, Chad«, erwidert Cody, doch er sieht ebenfalls mitgenommen aus.

»Tja, dein Dad wird an die Decke gehen.« Chad schüttelt den Kopf. Er stemmt die Hände in die Hüften und geht zur Eingangstür, um einen Blick auf die Menge draußen zu werfen. Das Fahrzeug, das Pioneer zum Gefängnis bringen sollte, ist fort. Es muss abgefahren sein, als wir ins Krankenhaus gestürmt sind. Allerdings scheint sich die Menschenmenge überhaupt nicht verlaufen zu wollen. Es ist, als warteten sie auf etwas. Dann begreife ich. Sie wollen sehen, ob ich wieder herauskomme. Will oder meine Eltern kann ich nicht entdecken, aber ich spüre, dass sie mich suchen, dass sie das Gebäude beobachten.

Die Eingangstür gleitet auf und lässt einen weiteren Deputy herein. Gesang dringt mit ihm durch die Tür. Es ist eine kindliche Melodie, die Lagerfeuerfröhlichkeit verströmt, doch mich macht sie schaudern. Alle verstummen gleichzeitig und hören zu.

Komm zurück in die Herde, zurück in die Herde.

Dein Leib muss schon bald entseelt in die Erde.

Das Ende ist nah, er ruft die Schafe zu sich,

Eine andere Weide hast du hier nicht.

Komm zurück in die Herde, zurück in die Herde.

Dein Leib muss schon bald entseelt in die Erde.

Ich kenne das Lied nicht, aber ich weiß, dass sie es für mich singen. Dieser Text. Er scheint zu besagen, dass ich jetzt ebenso verdammt bin wie Cody und die anderen, weil ich außerhalb der Gemeinde stehe, aber ein Teil von mir fragt sich, ob er nicht noch etwas anderes bedeutet, etwas noch Dunkleres. Die Deputies schauen sich an und dann mich.

Endlich schließt sich die Tür, aber nicht, ehe ich gehört habe, wie das Lied von Neuem beginnt. Ich fange an, am ganzen Leib zu zittern. Ich laufe fort von der Tür und lasse mich am anderen Ende des Flurs an der Wand hinabgleiten, bis ich zusammengekauert auf dem Boden sitze. Mir schwirrt der Kopf. Pioneers Worte – »Du gehörst mir, Kleine Eule« – vermischen sich mit dem Text des Liedes – »bald muss dein Leib entseelt in die Erde«, bis ich an nichts anderes mehr denken kann. Ich hatte gerade angefangen, mich besser zu fühlen. Der Aufenthalt in Codys Haus, weg von meinen Eltern, Pioneer und den anderen, hatte mich fälschlicherweise glauben lassen, ich sei gestärkt und würde endlich anfangen, die Dinge zu begreifen. Doch das Einzige, was ich jetzt begreife, ist, dass weder Pioneer noch die Gemeinde mit mir fertig sind.

Cody setzt sich neben mich. »Bist du okay?«

»Nicht wirklich«, sage ich, lege den Kopf auf die Knie und die Arme um die Schienbeine. Ich tappe mit den Füßen auf den Linoleumboden und versuche mich auf das gedämpfte Geräusch meiner Schuhe zu konzentrieren. »Ich dachte, wenn ich ihn sehe … ich … ach, was spielt es für eine Rolle, was ich gedacht habe? Es war blöd. Es wäre klüger gewesen, ihn nicht wiederzusehen. Nie mehr.«

»Nein, es wäre klüger gewesen, ihn vom anderen Ende des Parkplatzes mit einem Fernglas und Ohrstöpseln zu beobachten.« Cody atmete aus. »Ich hätte dich nicht herbringen dürfen. Das ist alles meine Schuld.« Er zupft sich selbst ein wenig Bart ab und rollte ihn zwischen den Fingern zusammen.

»Also schön, Steve wird euch nach Hause fahren.« Chad geht neben mir in die Hocke. »Er parkt drüben vor der Notaufnahme. Zwei von uns sind auf dem Weg dorthin postiert, also ist die Luft rein. Wir bringen dich sicher hier raus, Lyla.« Er sieht mich mitfühlend an. Ich würde am liebsten losheulen.

»Was ist mit meinem Wagen?«, fragt Cody.

Chad lacht so laut, dass ich zusammenfahre. »Dein Vater hat gesagt, du wirst ihn eine Weile nicht brauchen.«

Wir werden bestraft. Mein Magen schlägt einen Purzelbaum.

»Es tut mir leid. Ich hätte dich nicht darum bitten sollen«, sage ich.

Cody steht auf und hält mir die Hand hin. »Es war mein Angebot, weißt du noch?« Er lächelt, doch es liegt eine Spur Anspannung in seinem Gesicht. Ich kann nicht sagen, ob es Wut oder Furcht ist. Was wird sein Vater mit uns machen, wenn wir nach Hause kommen? Ich weiß, was meine Eltern und Pioneer tun würden … zumindest habe ich eine ziemlich klare Vorstellung.

Ich fasse mir in den Nacken, ertaste die unregelmäßige Narbe an meinem Haaransatz. »Ich werde deinem Dad sagen, dass es meine Idee war.«

Cody lacht leise. »Das kauft er dir niemals ab. Dafür kennt er mich zu gut.«

Wir gehen zusammen durch die Krankenhausflure. Jedes Mal, wenn eine Tür aufgleitet oder ich hinter uns auf dem Linoleumboden Schuhe klacken höre, schrecke ich zusammen. Nach allem, was sich gerade abgespielt hat, rechne ich ständig damit, dass Pioneer irgendwo auftaucht, um mich zu holen. Obwohl es verrückt ist werde ich das Gefühl nicht los, dass er mich immer noch sehen kann. Als wir die letzte Doppeltür erreichen, habe ich feuchte Hände und Herzklopfen.

»Seid ihr beiden aber … hübsch«, begrüßt uns ein älterer Mann in Uniform und mit einem gewaltigen Bauch, sobald wir in die Kälte hinaustreten. Der Parkplatz ist voller Autos, aber nirgendwo sind Menschen. Wahrscheinlich sind sie alle im Wartezimmer der Notaufnahme und mit ihren eigenen Nöten beschäftigt. Es ist schwer zu glauben, dass sich außer Pioneers Verlegung an diesem Morgen noch andere Dinge abgespielt haben. Es fühlt sich an, als hätte das Leben für alle stehen bleiben müssen – vielleicht, weil mein Leben es getan hatte.

»Halt die Klappe, Steve.« Cody hilft mir in den Fond des Einsatzwagens und schaut dann Steve an. Ich sehe, wie sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln verziehen. »Äh, du hast Schokolade auf der Hose, Mann.«

Steve wird rot und schaut auf seine Hose: Gleich links neben der Tasche ist ein brauner Fleck. Ich sehe eine blauweiße Einwickelfolie aus der Hosentasche lugen, die er schnell mit der Hand zerknüllt.

»Milky Ways vor sieben Uhr morgens? Ob das für deine Ernährung das Richtige ist?«, sagt Cody, als er zu mir in den Wagen steigt.

Steve knallt wortlos die Tür zu und geht um den Wagen herum. Ich höre, wie er dabei vor sich hin murmelt. Auf halbem Weg um den Wagen gerät er ins Stolpern und wäre fast gefallen. Ein Wortschwall, den ich niemals hätte von mir geben dürfen, ergießt sich aus seinem Mund. Cody schaut mich an und wir beginnen schallend zu lachen. Dass ich nach allem, was sich heute Morgen abgespielt hat, noch lachen kann, überrascht mich und ich muss noch lauter lachen. Als Steve die Tür öffnet, versuchen wir uns zu beruhigen, doch es geht einfach nicht. Ohne sich umzudrehen oder uns auch nur zur Kenntnis zu nehmen, startet Steve den Wagen und fährt mit quietschenden Reifen an, was uns nur noch mehr anfeuert.

Ich werde schneller wieder ernst als Cody. Je näher wir seinem Haus kommen, desto bedrohlicher erscheint mir die Aussicht auf unsere Strafe und darauf, wie sie wohl aussehen wird. Meine Hände zucken. Ich schaue Cody an und rechne damit, dass er ebenfalls besorgt aussieht, doch das tut er nicht. Er hat den Arm über die Rückenlehne der Sitzbank gelegt und die Augen geschlossen.

Schläft er?

Wie kann er schlafen, wenn er weiß, dass sein Vater wütend auf ihn ist? Ich kann es nicht begreifen. Derartig ungehorsam zu sein, hätte in Mandrodage Meadows eine schwere Bestrafung zur Folge – von der Sorte, die Narben hinterlässt. Wieder taste ich nach der gekräuselten Haut in meinem Nacken. Ich muss es wissen.

Als der Wagen langsamer wird und in Codys Einfahrt biegt, muss ich ihn anstupsen, damit er aufwacht. Er reibt sich die Augen und grinst mich an. Am liebsten würde ich ihn schütteln. Wie kann er das alles nur so auf die leichte Schulter nehmen?

Steve wuchtet sich aus dem Auto und reißt Codys Tür auf. Als wir aussteigen, sagt Cody zu ihm: »Im Ernst, Steve, lass die Finger von Schokolade. Du weißt, dass Meg ausflippen würde, wenn sie es wüsste.« Er klopft ihm direkt über dem Herzen auf die Brust. »Okay, Großer?« Steve wirft ihm einen bösen Blick zu, doch um seine Mundwinkel zuckt es, als müsse er wider Willen lächeln.

»Ach ja? Na, du solltest besser aufhören, den Ritter zu spielen«, sagt er, als wir an ihm vorübergehen. »Das würde dir auch einigen Ärger ersparen.« Er wirft mir einen vielsagenden Blick zu und ich spüre, wie ich rot werde.

Ich gehe zur Haustür, zögere aber, als ich davorstehe. Ich weiß nie, ob ich einfach eintreten oder lieber anklopfen soll.

»Mach sie auf«, sagt Cody von hinten. Ich ziehe die Fliegengittertür auf, die nie abgeschlossen ist.

»He, du zitterst ja.« Cody tritt einen Schritt vor und fängt die Tür mit dem Rücken auf, sodass wir beide aneinandergedrängt werden. »Hast du Angst?«

»Du … wir sind in Schwierigkeiten. Deine Eltern …« Ich schlucke und versuche mir die Worte genau zurechtzulegen, mit denen ich ihn fragen will, was seine Eltern unter Strafe verstehen. Ich habe weder ihm noch dem Sheriff erzählt, wie unsere Strafen zu Hause aussahen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es tun soll. Ich weiß, dass der Sheriff Will und die anderen wieder aus der Gemeinde holen könnte, wenn ich es täte. Die Außenstehenden würden unsere Strafen grausam finden. Nicht, dass ich nicht der gleichen Meinung wäre, aber ich weiß, dass es sich für meine Freunde noch grausamer anfühlen würde, von ihren Familien getrennt zu werden. »Hm, was glaubst du, wie wütend sie sind, auf einer Skala von eins bis zehn?«, frage ich.

Codys Augen weiten sich, dann wirft er mir diesen Blick zu, den ich absolut hasse. Es ist der Blick, der mir sagt, dass er mich bemitleidet. Ich wende mich ab, um ihn nicht sehen zu müssen.

»Meine Eltern werden sauer sein, aber sie werden dir nichts tun. Im schlimmsten Fall brüllt mein Vater ein bisschen herum und Mom ist ›enttäuscht‹. Wahrscheinlich kriege ich eine Extraarbeit aufgebrummt und muss eine Weile ohne Auto auskommen. Aber dir passiert gar nichts. Dich werden sie überhaupt nicht bestrafen. Wirklich.«

Ich bin erleichtert, aber es geht mir nicht besser, was keinen Sinn ergibt. Ich habe Angst, bestraft zu werden, und bin enttäuscht, wenn ich nicht ebenso behandelt werde wie Cody? Was soll das? Vielleicht liegt es daran, dass meine Sonderbehandlung meinen Projektstatus betont. Ich bin nicht Teil der Familie. Ich gehöre nicht dazu. Nicht richtig.

Cody holt seinen Schlüssel heraus, um die Haustür aufzuschließen, und lächelt mir ein letztes Mal zu, ehe er uns einlässt. Wir laufen seiner Mutter praktisch in die Arme. Sie hat das Telefon am Ohr. Ihr Gesicht ist noch verquollen vom Schlaf und ihre Haare stehen an einer Seite ab. Kopfschüttelnd sieht sie erst Cody an, dann mich. »Kommt rein.«

Cody und ich gehen in die Küche. Wir setzen uns an den Tisch und warten darauf, dass seine Mutter uns folgt. Sie telefoniert noch ein oder zwei Minuten, ehe sie hereinkommt, sich gegen die Anrichte lehnt und sich die Schläfen massiert. »Habt ihr beiden die geringste Vorstellung davon, wie dämlich es war, heute Morgen dorthin zu gehen?« Sie schaut mich an und ihr Blick wird trotz ihrer Verärgerung ein wenig weicher.

Cody nimmt sich eine Banane aus der Obstschüssel, die mitten auf dem Tisch steht. Er dreht sie in den Händen, schält sie aber nicht. »Ich weiß, es tut mir leid.«

»Die ganze Presse und Libby Dickerson mit ihrer Elterngruppe. Ganz zu schweigen von Lylas Leuten. Ihr könnt froh sein, dass es kein Handgemenge gab. Ihr hättet verletzt werden können. Dein Vater hatte da draußen auch so genug Sorgen. Es war wirklich nicht der Tag, um so eine Nummer abzuziehen.« Sie redet hauptsächlich mit Cody.

Cody seufzt und schält endlich seine Banane, die er sich mit einem Bissen halb in den Mund schiebt. Ich sehe ihm beim Kauen zu. Ich glaube nicht, dass er weiß, was er sagen soll.

»Es tut mir leid. Es war meine Idee. Ich musste es einfach … mit eigenen Augen sehen …« Ich verstumme. Sie würde es nie verstehen. Für sie ist Pioneer nicht einmal Pioneer. Er ist Alan Cross, bloß ein Mann mit einem Vorstrafenregister und kein Messias.

»Ob du es glaubst oder nicht, Lyla, aber ich verstehe das.« Codys Mutter kommt herüber, um sich zu uns zu setzen, und legt mir die Hand auf den Arm. »Aber selbst im günstigsten Fall hätte der heutige Tag für dich nichts abgeschlossen. So etwas braucht Zeit. Du musst Geduld haben. Irgendwann ist es so weit, Liebes. Du bist so ein starkes Mädchen. Du kommst darüber hinweg, da habe ich keinen Zweifel.« Ihr Lächeln ist so warm, so … mütterlich, dass es wehtut. Meine eigene Mutter hätte nie so reagiert. Niemals.

Ich könnte heulen, aber ich beiße die Zähne zusammen und halte es zurück. Wenn ich damit anfange, nimmt sie mich in den Arm und streicht mir übers Haar, und das würde alles noch viel schlimmer machen. Meine Familie wird nie wie Codys Familie sein. Obwohl ich dankbar bin, dass ich in den letzten beiden Monaten so tun durfte, als gehörte ich dazu, ist es nicht so. Irgendwann wird man mich meinen eigenen Eltern zurückgeben. Ich kann es mir nicht leisten, mich daran zu gewöhnen, so behandelt zu werden.

»Also gut, hört zu. Lyla hatte einen anstrengenden Morgen, deshalb will ich nicht länger auf der Sache herumreiten« – sie verstummt, um uns streng anzusehen –, »einstweilen. Aber ihr schleicht mir nicht wieder einfach so aus dem Haus, verstanden? Wenn ich das Gefühl habe, dass ich euch nicht mehr vertrauen kann, muss ich diese Übereinkunft überdenken.« Sie legt die Karten zwar nicht offen auf den Tisch und sagt, dass sie meinen Aufenthalt bei ihnen meint, doch das macht keinen Unterschied. Ich verstehe es auch so.

»Das war’s dann also?«, fragt Cody hoffnungsvoll.

Sie lacht laut auf. »Äh, nein. Dein Dad wird dir ein paar Einsätze auf der Wache aufhalsen und ich rekrutiere euch beide als Aushilfen beim Winterfest. Ich brauche noch Leute, die an der Eislaufbahn helfen.«

Codys Mutter organisiert in der Stadt eine riesige Wohltätigkeitsveranstaltung, bei der Geld für die Polizei- und die Feuerwache gesammelt wird. Seit ich hier eingezogen bin, ist sie damit beschäftigt. Bisher hat Cody ihre Andeutungen, dass wir doch aushelfen könnten, überhört. Er hat nicht einmal zugelassen, dass ich mich freiwillig melde. Ich begreife nur nicht ganz, was daran eine Strafe sein soll. Seit ich davon gehört habe, bin ich ganz wild darauf, zum diesem Fest zu gehen. Es hört sich an wie etwas aus einem Film. Ich sehe immer wieder riesige Stofftiere als Losgewinne und Jahrmarktspiele vor mir. Ein- oder zweimal habe ich mir sogar ausgemalt, wie Cody und ich mit einem Riesenrad fahren und genau an der Spitze stecken bleiben, wie Fern und Henry in Schweinchen Wilbur und seine Freunde – bis mir einfiel, dass es fast Weihnachten und für solche Dinge viel zu kalt sein würde.

Cody stöhnt laut auf. »Das kann nicht dein Ernst sein.« Er sieht mich an. »Dann müssen wir den ganzen Tag eklige Kinderfüße in Schlittschuhe stecken.«

Ich pruste los. Ich kann nicht anders. Cody hat einen Horror vor Füßen. Der Knabe kann eine Schüssel mit unechter Kotze anrühren, aber Fußzehen erträgt er nicht. Eigentlich soll er nicht wissen, dass ich das weiß. Seine Schwester hat es mir am ersten Abend verraten, an dem ich bei ihnen war. Cody sieht mich an, dann wendet er das Gesicht zur Decke und brüllt: »Taylor! Du bist echt zum Kotzen.«

»Guten Morgen, kleiner Bruder, du auch. Schlechte Laune, oder was?«, ruft sie die Treppe herunter. Taylor hält sich streng an die Devise: »Zeig dich nie anders als top gestylt.« Sie kommt immer erst herunter, wenn sie für den Tag perfekt hergerichtet ist.

»Du kommst noch leicht davon, mein Sohn. Ich möchte nicht noch einmal aufwachen und feststellen, dass du verschwunden bist, verstanden? Ich habe jetzt schon zu viele graue Haare«, sagt seine Mutter, als sie aufsteht. Sie gibt ihm im Weggehen einen leichten Klaps auf Rücken. »Jetzt sorge dafür, dass Lyla ein Frühstück bekommt. Ich glaube, es ist noch Eierauflauf im Kühlschrank … falls dein Vater ihn nicht restlos aufgegessen hat.« Sie geht durch den Flur zur Treppe.

Cody lächelt mich an. »Siehst du? Kein Grund, Angst zu haben.«

Hier vielleicht nicht, aber wenn ich an die Ereignisse des heutigen Morgens denke, beschleicht mich das Gefühl, dass dies der einzige Ort ist, für den das gilt.

Außenseiter haben nichts anderes zu bieten

als Schikanen und Enttäuschung.

Welcher vernünftige Mensch

würde das wollen?

Julie Sturdges, Gemeindemitglied

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