Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
„Alle, wirklich alle Frauen können betroffen sein. Und alle, wirklich alle Männer können Täter sein.“ Die Rechtsanwältin Christina Clemm zeigt, wie allgegenwärtig die Gewalt gegen Frauen ist, und was wir verändern müssen – politisch wie privat.
Lisa M. trifft Mirko im Studium. Sie verlieben sich, streiten kaum. Dann wird sie schwanger, sie ziehen zu seiner Mutter, haben bald drei Kinder. Eine Familie wie im Bilderbuch, wäre da nicht seine Wut. Anfangs muss Lisa die Hämatome noch verstecken, mit der Zeit wird er zielsicherer. Sie versucht zu fliehen, doch vergeblich.
Christina Clemm ist Strafverteidigerin, sie hat hunderte Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt vertreten. Und sie ist wütend – weil in Deutschland jeden dritten Tag eine Frau von ihrem (Ex-)Partner umgebracht wird. Weil Frauen beim Arzt, in der Arbeit und auf offener Straße Gewalt erleben und niemand etwas dagegen tut. Warum nicht? Ist es Unkenntnis, Hilflosigkeit, Desinteresse? Oder liegt dem Ganzen ein tief verwurzelter Frauenhass zugrunde? Christina Clemm führt uns durch die Spirale patriarchaler Gewalt und zeigt, was getan werden muss.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 312
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
»Alle, wirklich alle Frauen können betroffen sein. Und alle, wirklich alle Männer können Täter sein.« Die Rechtsanwältin Christina Clemm zeigt, wie allgegenwärtig die Gewalt gegen Frauen ist, und was wir verändern müssen — politisch wie privat.Lisa M. trifft Mirko im Studium. Sie verlieben sich, streiten kaum. Dann wird sie schwanger, sie ziehen zu seiner Mutter, haben bald drei Kinder. Eine Familie wie im Bilderbuch, wäre da nicht seine Wut. Anfangs muss Lisa die Hämatome noch verstecken, mit der Zeit wird er zielsicherer. Sie versucht zu fliehen, doch vergeblich.Christina Clemm ist Strafverteidigerin, sie hat hunderte Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt vertreten. Und sie ist wütend — weil in Deutschland jeden dritten Tag eine Frau von ihrem (Ex-)Partner umgebracht wird. Weil Frauen beim Arzt, in der Arbeit und auf offener Straße Gewalt erleben und niemand etwas dagegen tut. Warum nicht? Ist es Unkenntnis, Hilflosigkeit, Desinteresse? Oder liegt dem Ganzen ein tief verwurzelter Frauenhass zugrunde? Christina Clemm führt uns durch die Spirale patriarchaler Gewalt und zeigt, was getan werden muss.
Christina Clemm
Gegen Frauenhass
Hanser Berlin
»Ich sage euch, was Freiheit für mich bedeutet:
Ohne Angst zu leben.«
Nina Simone
All jenen, die sich täglich dem Hass entgegenstellen.
Zu Hause, auf der Straße, im Verborgenen oder im Rampenlicht.
Unter der Bezeichnung »Frauen« verstehe ich Frauen nicht im zweigeschlechtlichen Sinn, sondern alle weiblich gelesenen Personen. Ich schließe cis Frauen, trans Frauen, inter und sich selbst als non-binär verstehende Personen ein. Unter der Bezeichnung »Männer« verstehe ich cis Männer. Trans Männer haben in ihrem Leben meist einschlägige Erfahrungen mit patriarchalem Hass gemacht.
Die in diesem Text enthaltenen Zitate stammen aus meiner aktivistischen und beruflichen Praxis. Um meine Schweigepflicht zu wahren und die Identität meiner Mandant*innen zu schützen, sind sie biografisch und namentlich so verändert, dass sie nicht wiederzuerkennen sind.
Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 116.016
Würden wir am Ende eines Jahres eine Schweigeminute für jede in Deutschland von ihrem (Ex-)Partner ermordete Frau halten, schwiegen wir über zwei Stunden. Gedächten wir aller Frauen, die einen Tötungsversuch überlebt haben, wären es sechs Stunden. Und würden wir für jede frauenverachtende Tat, jede erlittene Körperverletzung, Bedrohung, Beleidigung, Herabwürdigung, sexuelle Nötigung und Belästigung den Mund halten, könnten wir das Reden langfristig einstellen. Aber Schweigen hilft nicht.
Ich bin seit mehr als fünfundzwanzig Jahren Rechtsanwältin in Berlin. Seitdem vertrete ich Verletzte von sexualisierter, geschlechtsbezogener und rassistisch motivierter Gewalt. Ich vertrete Angehörige von Tötungsdelikten und Überlebende von oft massiven körperlichen, psychischen und sexualisierten Angriffen. Ich bin auch Strafverteidigerin. Ich kenne also beide Seiten, und die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien wie die Unschuldsvermutung oder den Zweifelsgrundsatz halte ich für unabdingbar. Gewaltbetroffene Menschen vertrete ich, wenn es um strafrechtliche Verurteilungen oder zivilrechtliche Widergutmachungen geht, oder wenn sie in Familiengerichten um Sorgerecht und Umgang für ihre Kinder streiten müssen. Seit Langem beschäftige ich mich mit der Verschränkung verschiedener Gewaltformen.
In diesem Buch soll vor allem der unbändige Hass auf Frauen im Zentrum stehen — wie er wirkt, wen er trifft, welche Formen er annimmt und weshalb nicht ernsthaft etwas gegen ihn getan wird. Ich erlebe diesen Hass alltäglich in meinen Verfahren, höre von meinen Mandant*innen, was sie erleben mussten, lese, sehe und beobachte die misogynen Strukturen in unserer Gesellschaft. Unser Rechtssystem ist nicht in der Lage, das Problem zu lösen, die Politik ist unwillig. Und der Hass selbst so allgegenwärtig und alltäglich, dass sogar die unermüdlichsten Feminist*innen ihn allein nicht werden abschaffen können. Die Bekämpfung von Frauenhass ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die wir alle gemeinsam anstreben müssen, wenn sie erfolgreich sein soll.
Ich kann nicht mehr zählen, mit wie vielen Betroffenen geschlechtsbezogener Gewalt ich gesprochen habe. Aber ich kann versichern, dass jede einzelne Person sehr individuell mit den Ereignissen umgegangen ist und es kein Schema gibt, wie sich Betroffene verhalten. Opfer geschlechtsbezogener Gewalt berichten von Scham, Ekel, Schmerz, Verzweiflung, Selbsthass, Verunsicherung, Kraftlosigkeit, Trauer, Verwirrung, Angst und Panik. Auch von Wut. Wut darüber, dass sie niemand schützt, sie in die Opferrolle gezwängt wurden, dass ihr Leid nicht anerkannt wird. Wut über die Ungerechtigkeit, dass sich nichts ändert. Ich bin voller Respekt für meine Mandant*innen, die ich auf ihrem Weg ein Stück weit begleiten darf. Ich empfinde Hochachtung vor der Tatsache, dass sie überlebt haben, dass sie trotz allem, was sie erlebt haben, weiterhin den Mut haben, neue Lösungen zu suchen. Viele finden in ein glückliches, lustvolles Leben zurück und haben die oft jahrelangen Diskreditierungen und Bedrohungen überwunden. Sie alle sind und waren unmittelbar von Frauenhass betroffen.
Aber gibt es Frauenhass überhaupt? Und wenn ja, sind wir nicht ohnehin alle dagegen, mit Ausnahme der echten Mörder, Serienvergewaltiger und hypermaskulinen Machos, die verurteilt und weggesperrt gehören? Sind das nicht nur ein paar wenige, oft Fremde oder Ewiggestrige, die noch nicht verstanden haben, dass Gleichberechtigung selbstverständlich ist? Und ist ihr Beweggrund wirklich Hass, oder schlagen die Täter nicht vielmehr aus Verzweiflung, Überforderung, Abhängigkeiten oder Minderwertigkeitskomplexen zu, vergewaltigen aus sexuellem Trieb und töten aus Liebe? Wenn ich Frauenhass sage, dann meine ich nicht eine Emotion, die einen plötzlich und unerwartet überkommt, sondern eine emotionale Gewohnheit oder Geisteshaltung, die auf frauenfeindlichen Ressentiments gründet. Die Ressentiments sind systemisch und systematisch, der Hass ist strukturell, zielgerichtet und dem patriarchalen System nicht nur innewohnend, sondern für dieses stabilisierend. Man kann auch von patriarchalem Hass sprechen. Er kommt nicht aus dem Nichts: Frauenverachtung wird anerzogen, schon früh erprobt, sie wächst mit steten, immer wieder verbreiteten Annahmen und Taten und führt letztlich dazu, dass selbst vernichtende Handlungen legitimiert oder jedenfalls hingenommen werden. Er ist eingebettet in eine zutiefst sexistische Grundstimmung. »Der Hass hat immer einen spezifischen Kontext, in dem er sich erklärt und aus dem er entsteht«, schreibt die Autorin und Philosophin Carolin Emcke.1 Frauenhass ist so weit verbreitet und alltäglich, dass er kaum mehr wahrgenommen wird. Oft potenziert er sich in Kombination mit anderen Formen der Diskriminierung wie Rassimus, Ableismus, Klassimus, LSBTI*-Feindlichkeit und Antisemitismus. Es ist wichtig, die Gemeinsamkeiten der Unterdrückung anzuerkennen, denn gerade dort, wo bereits Vulnerabilität besteht, wirkt der Frauenhass besonders verheerend. Die Dichterin und Aktivistin Audre Lorde warnt in Sister Outsider: »Es stimmt, die Unterdrückung der Frau geschieht über alle Grenzen von Ethnie oder Race hinweg, was aber noch lange nicht heißt, dass sie blind wäre für Unterschiedlichkeit. Das Reservoir unserer ursprünglichen Macht kennt ebenfalls keine Grenzen, doch sich mit dem einen zu beschäftigen und das andere zu verschweigen, verdreht unsere Gemeinsamkeiten ebenso wie unsere Unterschiedlichkeit. Denn dann wartet jenseits der Sisterhood wieder nur der Rassismus.«2
Frauenhass betrifft alle Frauen — einige mehr als andere, aber unberührt bleibt keine. Ich will dazu beitragen, den in unserer Gesellschaft wütenden Frauenhass zu bekämpfen. Dafür ist es unumgänglich, genau hinzusehen, immer wieder, um zu verstehen, dass er kein individuelles Problem einzelner Verwirrter ist, sondern strukturell angelegt und gefördert wird. Wir weiblich gelesenen Personen müssen uns mit diesem Hass auseinandersetzen, wir müssen uns schützen und Sorge tragen, unversehrt zu bleiben. Dabei hätten wir wirklich Besseres zu tun.
Wenn ich mir eine Frau vorstelle, die, wie so viele Männer es in warmen Sommernächten tun, allein durch leere Straßen schlendert, in Shorts und mit nacktem Oberkörper, das Wegbier in der Hand, dann ist mein erster Gedanke, ob sie wohl unversehrt an ihr Ziel gelangen wird. Nein, das stimmt nicht. Mein erster Gedanke ist, wann und auf welche Weise sie das erste Mal angegriffen werden wird. Bei Männern kommt mir dieser Gedanke nie. Jede*r kennt das, alle Eltern, jede Freund*in oder Kolleg*in hat sich schon um eine Frau gesorgt, hatte dieselben Bilder wie ich im Kopf. »Schreib mir, wenn du gut angekommen bist.« Warum wird Frauen dennoch so sehr misstraut, wenn sie von sexualisierter Gewalt berichten? Warum werden sie gefragt, weshalb sie den gewalttätigen Mann nicht früher verlassen haben, warum sie überhaupt nachts unterwegs waren? Warum gibt es keinen Aufschrei, wenn in der U-Bahn wieder eine Frau rassistisch und sexistisch beleidigt wird? Warum liegt der Fokus auf der Errichtung neuer Frauenschutzhäuser und Hilfsangebote für gewaltbetroffene Frauen statt darauf, endlich wirksame Maßnahmen zu entwickeln, um Täter von ihren Handlungen abzuhalten?
Im Folgenden schreibe ich nicht über die Täterperspektive, nicht über die Lebenswege derjenigen, die töten, schlagen, vergewaltigen. Mich interessiert nicht der verstehende Blick auf ihren individuellen Hass. Ich habe viele fadenscheinige Erklärungen von Tätern gehört, habe den Erläuterungen ihrer angeblichen Verzweiflung, ihren Rechtfertigungen, ihren Versuchen, den Frauen die Schuld zuzuschieben, schon zu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Was mich interessiert, ist nicht, warum sie es tun, sondern vielmehr, warum sie es nicht lassen. Und weshalb sie nicht daran gehindert werden.
Selbstverständlich hat sich etwas getan in den letzten zwanzig Jahren. Es gibt neue Gesetze, Anhörungen im Bundestag, ein wenig Presse, Beileids- und Betroffenheitsbekundungen —, aber im Kern ändert sich, was geschlechtsbezogene Gewalt anlangt, so gut wie nichts. Das Quälen, das Herabwürdigen, Einschüchtern, Verletzen, Bedrohen, Angstmachen, Vergewaltigen und Morden geht weiter, nimmt sogar zu. Die Statistik beweist das. Mitarbeiter*innen von Beratungsstellen, Anwält*innen, Betroffenenorganisationen, Autor*innen und Journalist*innen mahnen und klären auf, haben in vielen Jahren ihrer Arbeit große Expertise gewonnen und unterbreiten Vorschläge, was wirklich helfen könnte. Sie werden ab und an angehört, ihrem Rat gefolgt wird aber nicht. Die einzigen politischen Maßnahmen, die getroffen werden, sind ein paar neue Strafverschärfungen, kleine Verbesserungen im Prozessrecht hier, Änderungen im materiellen Recht da. Die Justiz weigert sich, das Problem zu verstehen, sich fortzubilden und etwas an den Strukturen zu ändern. Die Politik weigert sich, mehr Geld und Ideen in Prävention, Kampagnen, in Täterarbeit und Unterstützung der Betroffenen, in Kapazitäten zu investieren.
Ich möchte nicht, dass alle bestürzt sind angesichts der neusten Zahlen von geschlechtsbezogener Gewalt. Ich möchte, dass die Zahl der Femizide zurückgeht, bis es keine ermordeten und misshandelten Frauen, keine sexualisierte Gewalt mehr gibt. Ich möchte nicht mehr mit den vielen anderen anprangern müssen, dass es zu wenig Frauenberatungsstellen und Frauenhäuser gibt, ich möchte, dass diese grundsätzlich obsolet geworden sind, da die Täter mit ihrer Gewalt aufgehört haben. Damit das geschieht, muss man gewillt sein, das Problem zu identifizieren und sich ihm entschieden entgegenzustellen. Man muss solidarisch mit den Opfern und unsolidarisch mit den Tätern werden, Täterstrategien verstehen und bekämpfen und offenlegen, welche Strukturen die Gewalt bedingen oder fördern. Vor allem muss endlich das Bild von Männlichkeit revidiert werden. Denn in der Engstirnigkeit einer auf ein binäres Geschlechterverhältnis reduzierten patriarchalen Gesellschaft hat der Mann über der Frau zu stehen — eine Ordnung, die verteidigt werden muss, im Notfall bis zum Tod.
Schätzungsweise hat in Deutschland jede dritte Frau körperliche und/oder sexualisierte Gewalt in einer Partnerschaft erlebt. Circa 50 Prozent aller trans Personen haben im öffentlichen Raum Gewalt, meist sexualisierter Art, erlitten. Alle drei Minuten misshandelt ein (Ex-)Partner seine Frau, jeden Tag versucht ein Mann, seine (Ex-)Partnerin zu töten, an jedem zweiten bis dritten Tag gelingt es einem.3 Nur die wenigsten Frauen haben nie einen sexualisierten Übergriff erlebt. Das ist alles bekannt, veröffentlicht, immer und immer wieder erzählt. Aber das Wissen darum scheint nichts zu nutzen, bis die Nachbarin tot in ihrer Wohnung gefunden wird, die eigene Tochter vergewaltigt wurde.
Ich halte viele Vorträge vor großem Publikum — fast ausschließlich vor weiblich gelesenen Personen. Männer interessieren sich in der Regel nicht für das Thema Gewalt gegen Frauen. Den wohlwollenden Männern scheint es auszureichen, selbst nicht gewalttätig zu sein. Aber Frauenhass ist am Ende kein Frauen-, sondern ein Männerthema. Und ein Männerproblem. Warum beschäftigt es die Männer nicht, in so einer gewalttätigen Umgebung zu leben? Warum machen sie es nicht zu ihrem Anliegen, die Gewalt zu beenden? Weil sie von ihr profitieren?
Wer schweigt, stimmt zu.
Der gefährlichste Ort für eine Frau ist immer noch ihr eigenes Zuhause. Gefährlich ist es für sie aber auch, wenn sie feiern geht, wenn sie auf der Arbeit oder nachts allein unterwegs ist. Wenn sie politisch aktiv ist, sozial engagiert, sich mit einem Unbekannten über eine digitale Plattform trifft oder einem alten Bekannten aus der Schulzeit begegnet. Wenn sie sehr jung oder sehr alt ist, mit Beeinträchtigungen lebt oder ohne. Frauen, die auch rassistisch diskriminiert werden, die zusätzlich LSBTI*-Feindlichkeit erleben, besonders gefährlichen Tätigkeiten nachgehen wie Sexarbeit oder Begleitservice, Pflege- oder Putzdienste verrichten, müssen noch mehr darauf gefasst sein, von Männern misshandelt, ausgebeutet, vergewaltigt oder ermordet zu werden. Frauen sind gefährdet, wenn sie reich oder arm, alkoholisiert oder nüchtern sind. Wenn sie Kopftuch tragen, ein kurzes Kleid, eine Hose oder einen Sack. In Frieden und noch mehr in kriegerischen Auseinandersetzungen. Weltweit.
Das Leben von Lisa M., wie es im nächsten Kapitel beschrieben wird, ist frei erfunden. Lisa könnte auch Leyla heißen, Valentina, Olga, Kathy oder Hao. Sie könnte aus Hamburg kommen, aus Beirut, Oslo, Mexico City oder Palermo, in einer Stadt leben oder auf dem Land. Sie muss nicht als Frau geboren sein, aber als Frau gelesen werden. In Anlehnung an die durchschnittlich 135 jährlichen Frauenmorde in Deutschland zeigt ihr Fall exemplarisch die Mechanismen der Gewaltspirale. Denn obwohl sich die Lebensrealitäten betroffener Frauen oft erheblich unterscheiden, folgt patriarchale Gewalt den gleichen Mustern. Dem Femizid gehen zahllose andere Überschreitungen, Verletzungen und Erniedrigungen voraus, die in unserer patriarchalen Gesellschaft weder als alarmierend noch als sträflich bewertet werden. Der Fall von Lisa M. soll Schritt für Schritt veranschaulichen, wie unsere Gesellschaft, aber auch der deutsche Rechtstaat, Frauen im Stich lässt und an welchen Stellen sinnvoll gegen den Hass angekämpft werden kann und muss.
Ich schreibe in diesem Buch über den alltäglichen Frauenhass mit dem Ziel, einen Beitrag für eine andere, eine solidarische und freie Gesellschaft zu leisten. Es reicht mir nicht aus, als Anwältin täglich die Ungerechtigkeiten zu sehen, hin und wieder den Finger in die Wunde zu legen und für die ein oder andere Betroffene ein ordentliches Schmerzensgeld oder ein paar Jahre Sicherheit zu erlangen. In den Gerichtsverfahren hört kaum jemand zu, wenn meine Mandantinnen von dem erlebten Grauen berichten. Es gibt wenig Öffentlichkeit für diese Verfahren. Aber es muss erzählt werden, sonst bleibt es, wie es ist, und so, wie es ist, darf es nicht bleiben.
Die Meldung ihres Todes wird einen Tag nach der Tat in einigen lokalen Zeitungen aufgegriffen. Fürs Fernsehen ist die Geschichte nicht spektakulär genug, für die überregionale Presse ebenso wenig. Eine tote Frau, ein schnell gefasster Täter. Eine typische »Beziehungstat«.
Am zweiten Tag folgt eine kleine Reportage, Nachbar*innen, Kolleg*innen und entfernte Familienmitglieder äußern sich darin. Alle sind verwundert, niemand hat vorhergesehen, dass er dieses »Familiendrama« anrichten würde. Man fragt sich, ob es Eifersucht, Verzweiflung oder Rache war, die ihn bewogen hatte. Der dreifache Familienvater wird durchweg als ein freundlicher, sympathischer, vor allem aber ganz normaler Zeitgenosse, als guter Arbeitgeber, als wohlhabend und gesellig beschrieben. Niemand hat ihn je aggressiv erlebt, erst recht nicht seiner Familie gegenüber. Nicht einmal eine Kneipenschlägerei, Auffälligkeiten im Suff, auch nicht in seiner Jugend. Eine seiner Mitarbeiterinnen erzählt zaghaft, man habe gemunkelt, dass es nicht immer einfach in der Ehe gewesen sei. Auch, dass sie überrascht war, dass die Frau so plötzlich mit den Kindern weggegangen sei. Aber sie war eben auch schwierig, psychisch labil, lang nicht so beliebt wie er. Der Pressesprecher der Mordkommission teilt mit, dass man den mutmaßlichen Täter gefasst habe und keinerlei Gefahr für andere Personen bestehe.
Am dritten Tag schon interessiert Lisas Tod, jedenfalls öffentlich, niemanden mehr. Lisas Leben auch nicht.
Die Kinder kommen in eine Pflegestelle, die hektisch gesucht und gefunden wird. Zur Großmutter, die immer ein wichtiger Teil des Lebens der Kinder war und die sich sofort zur Aufnahme bereit erklärt, kommen sie zunächst nicht, in der Eile scheint dem Jugendamt die Konstellation zu schwierig. Immerhin ist sie die Mutter des mutmaßlichen Täters.
Dieser kommt in Untersuchungshaft.
Lisa M. kommt in Berlin zur Welt. Ihre Eltern heiraten, als sie fünfundzwanzig und zweiundzwanzig Jahre alt sind und das erste Kind unterwegs ist. Kein Wunschkind, aber auch kein Unglück. Sie freuen sich auf den Nachwuchs. Auch auf das zweite Baby, Johann, der acht Jahre später geboren wird. Lisa erinnert sich vage daran, wie die Eltern stritten. Ab und an sah sie an der Mutter Hämatome, einmal ein blaues Auge. In der Erinnerung bleibt nur ein dumpfes Gefühl von Verunsicherung, gesprochen haben sie nie darüber.
Lisa ist ein typisches Papa-Kind. Sie mag es, wenn sie allein mit ihm unterwegs ist, wenn er sie stolz als »meine kleine Prinzessin« vorstellt und sie mit beiden Armen in die Luft wirft. Er sagt immer, dass er sie beschützen werde, und das glaubt sie ihm, auch, dass sie einen Beschützer braucht.
Lisa liest viel und gern, spielt Volleyball und hat einige Freund*innen. Monika ist ihre beste Freundin, seit sie die erste Klasse besuchen. Wie die meisten Mädchen erlebt Lisa gelegentlich sexuelle Übergriffe, die sie nicht als solche benennt. Eine fremde Hand am Hintern in der U-Bahn, eine auf ihrer Brust bei der Hilfestellung im Sportunterricht, verrutschte Küsse von Onkeln, Blicke, Bemerkungen, Witze.
Schon als junges Mädchen lernt sie, nachts nicht allein nach Hause zu gehen, den Heimweg gut zu planen. Unvorstellbar, den Park nach Einbruch der Dämmerung zu durchqueren. Am liebsten trägt sie ihren drei Nummern zu großen Hoodie, setzt die Kapuze auf. Selbstverständlich geht sie nicht mit fremden Männern mit. Eine ihrer Schulkameradinnen soll mit vierzehn von einem Jungen aus der Stufe drüber vergewaltigt worden sein. Aber das bleibt ein Gerücht. Die Betroffene verlässt die Schule, der Junge nicht.
Irgendwann wehren sich die Mädchen in Lisas Klasse gegen die sexistischen Sprüche, die Alltag sind, und beschweren sich über den Mathelehrer, der bei der Rückgabe der Arbeiten einen Witz über Blondinen macht. Es sei nicht ernst gemeint gewesen, erklärt die Direktorin, die sich Frau Direktor nennt, kein Grund zur Aufregung. Auf dem Schulweg sieht Lisa einen Mann im Gebüsch stehen, und als er sie ruft, zeigt er auf seinen entblößten Penis. Sie schämt sich zu sehr, um es jemandem zu erzählen. Die Mutter geht mit ihr zur Frauenärztin, damit sie die Pille verschrieben bekommt und nicht ungewollt schwanger wird. Die Mutter sagt ihr auch, sie solle sich vorsehen, wenn sie einen Mann reize, dann könne er sich nicht mehr stoppen. Mach, was du willst, aber sei dir der Gefahr bewusst, rät sie ihr, und Lisa versteht. Als sich ihre beste Freundin Monika outet, ist Lisa erst bestürzt und dann stolz.
Ihren ersten Freund hat Lisa mit sechzehn. Er ist nett, jung und ebenfalls unerfahren. Mit siebzehn trennen sie sich, weil es nicht mehr spannend ist. Es folgen ein paar »Erlebnisse«, nie etwas Ernsthaftes. Zu Hause fühlt sich Lisa nicht besonders wohl, zu reglementierend der Vater, zu still die Mutter. Ihre Kindheit war trotzdem liebevoll, findet Lisa, ihre Jugend schön. Am Tag der letzten Abiturprüfung geht sie fort, reist einige Monate mit Monika durch die Welt und kehrt erst zurück, als ihr Studium in Jena beginnt. Den Studienort hat sie nicht zuletzt gewählt, um wegzukommen.
Lisa studiert Soziologie und Philosophie, auch wenn es für Medizin gereicht hätte, was ihre Eltern gern gesehen hätten. Erst arbeitet sie in einer Bar, aber die Betrunkenen nerven sie schnell. Der Chef findet, dass sie schon einstecken können muss und sich mal lockermachen soll. Sie ergattert einen Job als studentische Hilfskraft bei ihrem Lieblingsprofessor und genießt das studentische Leben.
In einer Kneipe lernt sie Mirko kennen. Er ist ein paar Jahre älter, hat vor dem Studium des Bauingenieurwesens schon ein paar Jobs gehabt. Sein Vater führt ein großes Bauunternehmen in Brandenburg, ob er dort einsteigen will, weiß er noch nicht.
Sie verlieben sich. Sie gehen gern gemeinsam aus, treffen ihre und seine Freund*innen, verbringen viel Zeit im Bett. Sie haben Spaß miteinander, obwohl sie erstaunlich wenig gemeinsame Interessen haben, vor allem teilen sie den Wunsch nach einer ernsthaften Beziehung. Mirko bewundert Lisas Belesenheit, ihre Schlagfertigkeit, ihren Witz, sie seinen Tatendrang, die Direktheit, seine Lebenslust.
Es dauert lang, bis sie das erste Mal streiten. Harmlos eigentlich, aber Lisa ist erschrocken, als sie ihn so aufbrausend erlebt. Er entschuldigt sich.
Die meisten ihrer Freund*innen mag Mirko nicht sonderlich, was er ihr zaghaft offenbart. Er langweilt sich zunehmend angesichts der »superintellektuellen« Themen und der Weltfremdheit der Philosoph*innen. Aber er begleitet sie trotzdem zu ihren Verabredungen, denn er mag es nicht, wenn sie ohne ihn ausgeht. Da hat er »eher klassische Vorstellungen«, wie er sagt, und Lisa liebt auch das an ihm. Abends im Bett macht er sich lustig über die Gespräche, und sie lacht mit. Mirko ist eifersüchtig. Das schmeichelt Lisa. Sie selbst kennt das Gefühl nicht und freut sich eher, wenn Mirko allein ausgeht. Das verletzt Mirko.
Erst wird Lisa bei den Treffen mit Freund*innen leiser, dann sagt sie immer öfter ab. Ein paar von ihnen melden sich noch eine Zeit lang bei ihr, laden sie immer wieder ein, irgendwann lassen sie es.
Als Mirko vorschlägt, dass sie ihre Standorte per Handy teilen, für den Notfall, ist Lisa kurz irritiert, dann aber gerührt wegen seiner Fürsorge. Er ist technisch viel versierter als sie, hilft ihr beim Einrichten ihres neuen Laptops mit den Passwörtern und anderen technischen Details.
Sie haben zwei befreundete Paare, mit denen sie sich regelmäßig treffen. Die Männer sind Freunde aus Mirkos Schulzeit, die Frauen harmlos, wie Mirko sagt, sie stören ihn nicht. Bei diesen Treffen macht sich Mirko manchmal über Lisa lustig. Dass sie mal eine »richtige Emanze« gewesen sei, aber so ungeschickt bei alltäglichen Dingen, dass man nicht wisse, wie sie eigentlich ohne ihn klar kommen würde. »Schlau, aber praktisch eine Katastrophe, typisch Frau«. Ein anderes Mal scherzt er, dass sie es übertreibe mit der Eigenständigkeit, und dabei tätschelt er ihren Oberschenkel, bis sie ihr Bein wegzieht. Ihr ist es unangenehm, er findet es albern. Lisa ärgert sich darüber, wie er sie vor seinen Freunden bevormundet, und streitet mit ihm.
Nach und nach kommt mehr Kritik hinzu. Wie sie sich anzieht, ihre Haare frisiert, was sie kocht, weshalb sie neben dem Studium arbeitet, wie viel sie liest. Auch ihre Stimme stört ihn, ihre Ausdrucksweise, die Art, zu gehen und zu laut zu lachen. Er würde sich freuen, wenn sie mehr Sport triebe und weniger mit ihm stritte. Lisa denkt über Trennung nach und sucht die Schuld bei sich.
Als sie ihm erzählt, dass ihr Professor ihr eine Promotion in Aussicht gestellt hat, rastet er das erste Mal richtig aus. Er beschimpft sie, schubst sie durch ihre Wohnung, und als sie stürzt, spuckt er auf sie und geht.
Noch in derselben Nacht stellt er einen riesigen Strauß Rosen vor ihrer Tür ab. Als sie ihn reinlässt, bereut er aufrichtig und ist zutiefst bestürzt über sich selbst.
Lisa erzählt Monika von Mirkos »Aussetzern«, sie telefonieren stundenlang. Monika rät ihr dringend, sich zu trennen, und bietet ihr an, erst einmal zu ihr nach Berlin zu kommen. Sie spricht auch über Beratungsstellen, über Gewalt gegen Frauen, aber Lisa weiß das alles schon.
Sie will über Monikas Angebot nachdenken und bespricht sich mit Mirko. Der ist entsetzt über ihre Denunziation, wie er es nennt, und sagt ihr, dass sie ihn auch gleich anzeigen könne. Sie sollten sich trennen, wenn es kein Vertrauen zwischen ihnen gebe.
Monika ist besorgt, als sie in den nächsten Wochen nur ein paar belanglose, beschwichtigende Nachrichten von Lisa erhält und diese ihre Anrufe nicht mehr entgegennimmt.
Ein paar Monate später stellt Lisa fest, dass sie schwanger ist. Nicht ohne zu zögern, berichtet sie Mirko davon. Sie weiß nicht, ob sie es austragen soll, zweifelt, ob sie überhaupt in der Lage sind, ein Kind großzuziehen. Mirko ist begeistert und steckt sie an mit seiner Sorglosigkeit. Er will sie gleich heiraten, mit ihr zusammenziehen und hebt sie in den Himmel. »Alles wird gut«, sagt er immer wieder, »auch Philosophinnen dürfen sich fortpflanzen!«
Also laden sie die Freund*innen und die beiden Familien zu ihrer Hochzeit ein, die anders, studentisch, improvisiert und vor allem lustig werden soll. Es wird ein schönes Fest.
Als Lisa im sechsten Monat schwanger ist, erleidet Mirkos Vater einen Herzinfarkt und stirbt. Mirko ist zutiefst getroffen. Die Mutter drängt ihn, den väterlichen Betrieb zu übernehmen, jedenfalls vorübergehend, schon aus Verpflichtung gegenüber den Angestellten. Lisas Bedenken werden hintangestellt. Es ist Zeit, Verantwortung zu übernehmen, sagt Mirko. Also ziehen sie in Mirkos Elternhaus nach Brandenburg, Lisa gibt ihren Lehrstuhljob auf, ist finanziell jetzt vollständig abhängig.
Mirko ist häufig gestresst und überfordert, damit erklärt er sein zunehmend aggressives Verhalten Lisa gegenüber. Sie hat Verständnis. Einmal schlägt er sie mit voller Wucht in den Bauch, weil das Essen nicht fertig ist, als er nach Hause kommt. Er fährt sie später, tränenüberströmt und panisch vor Angst, in die Notaufnahme, da sie zu bluten angefangen hat. Dort erzählen sie von einem unglücklichen Sturz auf der Treppe. Stunden später können sie beruhigt heimfahren, dem Kind geht es gut. Diesmal entschuldigt sich Mirko nicht, er gibt ihr die Schuld: »Ein wenig Liebe, Zuneigung und Fürsorge würden mir guttun.«
Als Kolja geboren wird, ist Lisa erschöpft und Mirko der glücklichste Mensch auf der Welt. Kolja ist ein Schreikind, hat im ersten Jahr Neurodermitis und ist eigentlich nur ruhig, wenn er an Lisas Brust hängt. Immer häufiger schläft Mirko bei seiner Mutter, wo er besser zur Ruhe kommt als zu Hause. Das braucht er, um den Betrieb beisammenzuhalten.
Aus den Plänen, während der Elternzeit an ihrer Masterarbeit zu arbeiten, wird nichts. Seit Kolja weniger schreit, unterstützt Lisa Mirko bei der Buchhaltung und anderen Verwaltungsarbeiten. Das hat die Mutter früher auch getan.
Mirko wünscht sich eine sportliche, gut gelaunte Frau. Lisa wünscht sich ein eigenes Haus, etwas Entfernung von der Schwiegermutter und Urlaub mit ihrer kleinen Familie.
Mirko geht abends immer häufiger mit seinen Kumpels aus. Manchmal erzählt er seinen Freunden dann von den Schwierigkeiten mit Lisa, dass sie psychische Probleme habe, depressiv sei, sich gehen lasse, sich hysterisch verhalte. Auch seiner Mutter berichtet er davon. Er trinkt oft und viel und hasst es, wenn Lisa ihn kritisiert. Kolja schläft immer noch im Ehebett, Lisa will das so.
Mit Monika telefoniert Lisa noch ab und an, erzählt ihr aber nie von den Konflikten mit Mirko. Sie weiß, wie Monika reagieren würde. Selten nur fährt sie mit dem Kleinen zu ihren Eltern, die sich über den Enkel und das gute Leben von Lisa freuen.
Zwölf Angestellte haben sie und Mirko mittlerweile, und alle schätzen das nette Klima im Betrieb. Mit drei Frauen freundet sich Lisa ein wenig an. Nie zu eng, über Probleme sprechen sie nicht. Immerhin ist sie die Frau vom Chef.
Als Kolja mit drei Jahren endlich in die Kita kommt, ist Lisa mit Maya schwanger. Ihr Professor fragt nach, wann sie den Master abschließen will, und rät, dies rasch vor der Geburt des nächsten Kindes zu tun. Es fehle nicht viel.
Bei einem aufwendig vorbereiteten Essen mit Mirko erzählt Lisa ihm von dem Gespräch. Er gerät außer sich, bricht ihr einen Arm und schlägt so oft auf ihren Hinterkopf, dass sie denkt, ihr Schädel sei gebrochen. Im Krankenhaus berichtet sie, sie sei unglücklich gestürzt und auf dem Arm gelandet. Der Kopf wird nicht untersucht, vor allem bei Wetterumschwüngen leidet sie seitdem unter Kopfschmerzen. Migräne, sagt sie, wenn sie nicht bei der Arbeit erscheinen kann und die Schwiegermutter bitten muss, sich um die Kinder zu kümmern. Die weiß um die psychische Labilität der Schwiegertochter und zeigt sich verständnisvoll.
Lisa sieht ein, dass Job und Kinder Mirko unter Druck setzen und dass es Wichtigeres gibt als ihren Universitätsabschluss. Seine Kritik und Gemeinheiten sind zum Alltag geworden, Lisa hat sich daran gewöhnt und gibt sich an vielem selbst die Schuld. Sie bemüht sich, ihm möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, kocht, putzt und macht sich zurecht, bevor er nach Hause kommt.
Also sagt sie dem Professor ab.
Früher verstanden sie und Mirko sich im Bett immer gut. Aber seit den Kindern und dem ewigen Schlafmangel empfindet Lisa selten Lust. Wenn sie mal wieder heftig gestritten haben, spürt sie körperliche Abneigung ihm gegenüber. Aber gerade dann will Mirko sie, will sich versöhnen und zeigen, wie sehr er sie liebt. »Durch Sex geht das am besten«, sagt er. So folgen auf die Schläge immer häufiger sexuelle Nötigungen. Lisa entwickelt Schlafprobleme und Panikattacken.
Wenn Lisa hin und wieder zaghaft versucht, mit Mirko zu sprechen, sagt er, dass er sie nie schlecht behandelt habe und ihre Geschichten ihrer kranken Fantasie entsprängen.
Wenn sie ihn kritisiert, fordert er sie auf, ihn zu verlassen. Das würde sicher beiden guttun und es wäre wahrscheinlich auch für die Kinder besser, etwas Abstand zu dieser psychisch labilen Frau zu haben.
Aber Lisa verlässt ihn nicht, sie hat Angst, sie könnte mit dem Mann auch die Kinder verlieren, denn zu ihnen ist er ja immer gut.
Mirko ist mittlerweile im örtlichen Jagdverein Vorsitzender, wie es sein Vater war, und Lisa leitet den Elternverein der Grundschule. Sie geht Mirko so gut es geht aus dem Weg, duldet seine Affären und ist froh, wenn er anderweitig beschäftigt ist. Den Schein wahren sie gemeinsam.
Als sie eines Abends spät von einer Sitzung mit dem neuen Lehrer der Schule nach Hause kommt, tritt ihr Mirko mit voller Wucht in den Rücken. Während sie stürzt, brüllt er sie an und tritt ihr mehrfach gegen den Kopf. Nur gegen den Hinterkopf, er hat im Laufe der Jahre zu zielen gelernt. Nichts ist zu sehen am nächsten Morgen, und er lacht, als sie ihn um ein Kühlpad bittet.
Ein paar Tage später, als die Kinder schon schlafen und Mirko angetrunken heimkommt, will er Sex. Aber Lisa ist müde, erkältet und hat Kopfschmerzen. An den Haaren zieht er sie durch das Wohnzimmer und würgt sie, bis sie ohnmächtig wird. Als sie erwacht, ist Mirko verschwunden, und Maya kuschelt sich an sie.
In diesem Moment versteht Lisa, was sie schon lange weiß: Er wird sie eines Tages töten.
Sie packt panisch ein paar Dinge für sich und die Kinder und fährt los. Erst zu Monika, die aber verreist ist, dann zu einer Frauenberatungsstelle. Dort werden sie an ein Frauenhaus vermittelt, wo sie vorübergehend Unterschlupf finden. Sie teilen sich als Familie ein Zimmer, so sieht es das Finanzierungsmodell vor. Erst ist es aufregend für alle, dann streiten die Kinder zunehmend, vermissen den Papa, den Hund und die Freund*innen. Auch die Oma.
Rasch soll es den ersten Termin beim Familiengericht geben, den Mirko veranlasst hat, um die Kinder zu sehen und zu sich zu holen. Der Anwalt, den Lisa beauftragt, rät ihr, zumindest dem begleiteten Umgang zuzustimmen. Die Gerichte sähen es nicht gern, wenn sie sich nicht kooperativ zeige.
Er rät ihr auch, Mirko anzuzeigen, für all die Misshandlungen der letzten Jahre. Auch ohne Attest und Beweise könne ein Strafverfahren zu einer Verurteilung führen. Es würde zwar schwierig werden, aber unversucht sollte sie es nicht lassen, es sähe besser aus, wenn es eine Strafanzeige gäbe. Aber Lisa wagt keine Strafanzeige, denkt, dass man ihr sowieso nicht glauben wird, und möchte Mirko keine Steine in den Weg legen, er soll der angesehene Bürger bleiben, der er ist.
Im Jugendamt gibt die Mitarbeiterin Lisa zu bedenken, dass es schwer werden könne, die zwei Kinder allein großzuziehen, vor allem bei ihrer psychischen Verfassung. Das Wechselmodell würde sie entlasten und ihr etwas Zeit für sich und für eine ordentliche Berufsausbildung verschaffen.
»Wir nehmen die Gewalt, von der Sie berichten, sehr ernst«, wird ihr von vielen Seiten versichert, aber das habe ja letztlich nichts mit den Kindern zu tun, die ihren Vater ganz offensichtlich lieben und brauchen.
Also stimmt Lisa allem zu und vertraut dem, was die Fachleute sagen. Mirko bestreitet die Gewalt offiziell, ihr gegenüber aber beteuert er Besserung. Entgegen dem Rat der Frauenhausmitarbeiterinnen hat sie ihr Handy nicht weggeschmissen und den Kontakt zu ihm gehalten. Er besucht eine Selbsthilfegruppe, wie er sagt, und bereut. Zweimal treffen sie sich heimlich, dann packt Lisa die Sachen und kehrt mit den Kindern nach Hause zurück.
Im Betrieb heißt es, sie habe spontan mit den Kindern die todkranke Oma besucht. Lisa gefällt die Ausrede. Niemand fragt genauer nach, auch nicht die Schwiegermutter, die weiß, dass es keine kranke Oma gibt. Sie freut sich, dass Lisa und vor allem die Kinder wieder da sind. Mirko ist aufmerksam und liebevoll, die Kinder sind glücklich.
Es dauert drei Monate, bis er wieder zuschlägt. Und zwei weitere, bis sie erneut bewusstlos wird. Neu ist, dass er sie mit dem Tode bedroht, sollte sie ihn wieder verlassen.
Manchmal nimmt sie ihn heimlich auf, wenn er seinen Fantasien über mögliche Tötungsarten freien Lauf lässt, wenn er sie anschreit und beleidigt.
Im Frauenhaus hat sie verstanden, dass er sie überwacht. Jede Nachricht und jede E-Mail, die sie schreibt, jeden Schritt und jede Fahrt, die sie unternimmt. Er hat eine Tracking-App auf ihrem Smartphone installiert, ihm würde auffallen, wenn sie etwas unternähme. Sie findet sich damit ab.
Bis er sie wieder misshandelt, Kolja aufwacht, sie zu schützen versucht und Mirko in seiner Wut auch Kolja schlägt.
Sie weiß, dass Mirko in einigen Wochen für drei Tage auf Dienstreise sein wird. Ihre Flucht plant sie minutiös. In ihrer Verzweiflung hat Lisa Kontakt mit dem Lehrer aufgenommen, der ihr vor seinem Wegzug nach Bremen seine Nummer gab. Als er ihr damals seine Hilfe anbot, hatte sie lächelnd abgelehnt, aber nun ist er der Einzige, dessen Adresse Mirko nicht kennt. Mit ihm telefoniert sie von dem Prepaidhandy, das sie sich heimlich besorgt hat. Kaum sitzt Mirko im Flieger, packt Lisa die allerwichtigsten Unterlagen zusammen, leitet Tonaufnahmen und ein paar Fotos der letzten Verletzungen an den Lehrer weiter und bestellt ein Taxi. Sie lässt ihr Handy zurück, neben einer Notiz an Mirko. Darin steht, dass sie diesmal Beweise habe und dass er sie in Ruhe lassen solle, sonst werde sie ihn anzeigen. Sie brauche Zeit, um nachzudenken. Sie fährt mit dem Taxi zur Schule und sammelt die Kinder ein. Seit Monaten hat sie heimlich Geld beiseitegeschafft und einen Frauenhausplatz in Bremen arrangiert.
Als sie im Frauenhaus eingecheckt haben, bricht Lisa zusammen und kann tagelang nicht aufhören zu weinen. Sie hat Flashbacks und Panikattacken. Die Mitarbeiterinnen begleiten sie, überlegen mehrfach, sie in eine Kriseneinrichtung zu bringen. Aber sie schafft es, auch weil die Kinder sich bereitwillig von den Erzieherinnen betreuen lassen und offensichtlich verstehen, weshalb sie gehen mussten. Rasch wird eine Anwältin gefunden.
Die Anwältin meldet sich beim Jugendamt, gemeinsam warten sie auf gerichtliche Anträge von Mirko. Der Aufenthaltsort kann erst einmal geheim gehalten werden, aber Lisa kommt nicht in ein Hochrisikoprogramm, wie es die Mitarbeiterinnen des Frauenhauses für notwendig erachten. Zu wenig Beweise, heißt es, bisher sei nichts wirklich Gravierendes passiert. Es reicht auch nicht für einen Hausdurchsuchungsbeschluss, obwohl so die Tracking-App gefunden werden könnte. Die Delikte sind, so sagt es der betreuende Polizeibeamte mit Bedauern, einfach nicht schwer genug.
Mirko stellt keine Anträge. Seine Mutter ist besorgt über seinen Zustand, seine Wut, sie bittet ihn, Ruhe zu bewahren. Aber sie sucht keine Hilfe, erzählt niemandem von ihrer Sorge. Auch kein anderer, der bemerkt, dass Lisa und die Kinder plötzlich verschwunden sind, fragt nach. Über das Jugendamt findet Mirko heraus, wer die Anwältin von Lisa ist, und kommuniziert über seinen Anwalt mit ihr. Freundlich, aber bestimmt, dass er die Kinder sehen will und eine einverständliche Lösung sucht. Es geht auch um Unterhalt, den Mirko zu zahlen verspricht. Er behauptet, dass er die Trennung akzeptiere, aber sich sorge, da Lisa psychisch auffällig sei und die Kinder nicht gut versorgen könne. Immer wieder spricht er beim Jugendamt vor und erzählt, dass seine Mutter Lisa in der Vergangenheit im Alltag unterstützen musste, weil sie sich zu krank und schwach fühlte.
Aufgrund der Anschrift der Anwältin ahnt er, dass Lisa in Bremen lebt. Durch einen Zufall erfährt er, dass dies auch auf den Grundschullehrer zutrifft. 129 Grundschulen gibt es in Bremen, es dauert fünf Wochen, bis Mirko das erste Mal aus der Ferne seine Kinder sieht.
Im Prozess wird er sagen, es habe ihm das Herz gebrochen, sie dort zu sehen. Er sei besorgt gewesen angesichts der Möglichkeit, erneut mit falschen Vorwürfen konfrontiert zu werden. Lisa sei sehr krank gewesen, habe sich selbst verletzt, immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen, er habe nie, niemals die Hand gegen sie erhoben. Er habe ihr eine Therapie empfohlen und ihr mit Trennung gedroht, wenn sie nicht etwas unternähme. Seine Mutter könne dies bezeugen. Und ja, er sei auch wütend gewesen, dass sie ihm alles nehmen wollte, wofür er so hart gearbeitet habe. Dass sie eine Affäre gehabt habe mit dem Lehrer, der später nach Bremen gegangen sei, das habe ihn schon verletzt.
Als er sie dann in Bremen auf der Straße traf, wollte er nur mit ihr reden, sich aussöhnen, er liebte sie ja immer noch über alles. Aber sie sei feindselig gewesen, erschreckend aggressiv. Seit Tagen habe er kaum geschlafen, zu viel getrunken und auch Aufputschmittel genommen, um sich wach zu halten. Er wollte sich versöhnen, aber sie lachte ihn aus. Sie habe hysterisch herumgeschrien und plötzlich ein Messer gezogen. Dies habe er ihr entwunden und zugestochen, immer wieder und wieder, nicht mehr bei Sinnen, ganz außer sich. Sie habe noch gelebt, als er wegrannte.
Lisa wurde durch sieben Messerstiche in Rücken, Seite und in den Hals getötet. Unmittelbar tödlich war der Stich in den Hals, der die Hauptschlagader verletzte. Es erinnere an einen bewährten Jagdstich, sagt der Gerichtsmediziner in der Verhandlung, aber das könne Zufall sein. In Mirkos Blut befindet sich zum Tatzeitpunkt eine Mischung von 1,5 Promille Alkohol und Amphetamine.
In der Verhandlung berichten Freund*innen, Bekannte, Kolleg*innen und Mirkos Mutter von Lisas schwieriger psychischer Verfassung und Mirkos Verzweiflung, von ihr und den Kindern verlassen worden zu sein. »Er hat sich immer für die Familie aufgeopfert«, sagt seine Mutter und ist selbst am Boden zerstört. Auch der Lehrer und Monika werden gehört. Sie erzählen, dass Lisa immer wieder von Misshandlungen gesprochen habe, dass sie sich in den letzten Jahren sehr verändert hatte. Sie bringen die paar vorhandenen Fotos von Lisas Verletzungen mit, die heimlichen Aufnahmen von Drohungen und Beleidigungen.