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Ein wunderbar leichter Krimi aus dem Herzen des Elsass. Der Direktor des Stadtmuseums von Rouffach im Elsass ist tot, versenkt in einem idyllischen Weiher südlich von Colmar. Das ruft Ex-Commissaire Jean Paul Rapp auf den Plan, der das Ermitteln einfach nicht lassen kann. Ihn erwartet ein äußerst heikler Fall, denn das Mordopfer galt nicht nur als engagierter Museumsleiter, sondern auch als ausgesprochener Charmeur, der sich durch seine Affären zwar viele Freundinnen, aber kaum Freunde gemacht hat. Rapp entdeckt neben kleinen intimen Geheimnissen auch höchst brisante Spuren, die das gesamte Elsass in Aufruhr versetzen könnten.
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Seitenzahl: 374
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Suzanne Crayon – ein deutsches Autorenduo – kennt, liebt und bereist das Elsass seit mehr als drei Jahrzehnten. Sie wird von manchen Störchen im Elsass bereits klappernd begrüßt und könnte für »Grumbeerkiechle« mit einem Gläschen Pinot blanc glatt einen Mord begehen. 2019 erschien mit »Mord Elsässer Art« ihr erster gemeinsamer Roman.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2021 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: shutterstock.com/Georgios Tsichlis
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-707-1
Originalausgabe
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Wir haben alle jemanden,
dem unser Tod sehr gelegen käme.
Prélude
Schœnwiller, Dienstag, 12.Oktober, in der Abenddämmerung
Alain Kieffer hatte es nicht eilig.
Es dämmerte zwar schon, und das Licht an seinem alten Mercier-Rad hatte seit einigen Tagen einen Wackler. Aber er kannte die Strecke entlang der Lauch zwischen Rouffach und Colmar wie sein Weinregal. Außerdem befand er sich bereits auf dem Rückweg, in Höhe von Schœnwiller, nur noch einige Steinwürfe von Rouffach entfernt. Linker Hand floss die Lauch glucksend über flache breite Steine, hier und da auch über Äste, die vom letzten Herbststurm abgebrochen und in das Flussbett gewirbelt worden waren. Im Westen erhob sich über der elsässischen Ebene mit ihren Äckern und den um diese Jahreszeit bereits abgeernteten Gemüse- und Maisfeldern das Panorama, das Alain Kieffer so liebte: die blaugraue Gebirgslinie der Vogesen vor den tieforangeroten Sonnenstrahlen am dunkelnden Abendhimmel.
Er sog die noch warme Luft bis in die Lungenspitzen und genoss die kleinen Windböen, die zwischen den herbstbunten Bäumen und den dichten Büschen entlang des Flusslaufs sein Gesicht erfrischten. Besser als jedes Rasierwasser, dachte er.
Schließlich erreichte er den Ortsrand von Schœnwiller. Über die noch im rosa Abendlicht leuchtenden roten Dächer der alten Wohnhäuser hinweg zeigte der Torso des »Turms der Diebe« wie ein mahnender Finger in den Himmel. Und die Glocken von St. Michel schlugen dunkel zur drei Viertel vollen Stunde.
Auf einmal überkam ihn ein seltsam beklemmendes Gefühl, wie eine düstere Vorahnung, als er sich der Pont de Sainte-Croix näherte. Dabei war die Brücke blumengeschmückt wie der ganze Ort, der seinen Namen als Village fleuri wirklich verdient hatte. Doch jenseits der Brücke, wo man dem Flüsschen durch Wehr und Damm zwei Weiher abgeluchst hatte, wurde das Gelände durch hohe Buchen und die Weiden am Rand des Wassers beschattet. Eine zwielichtige Stelle in der Dämmerung. Jetzt wünschte er sich doch, das Licht an seinem Rad würde funktionieren.
Er überquerte die Rue Principale, die um diese Uhrzeit kaum noch befahren war. Die Pendler waren längst von der Arbeit zu ihren Familien zurückgekehrt, und den Spaziergängern war es bereits zu dunkel geworden. Kein Mensch war zu sehen, und außer dem Gezänk einiger Krähen und dem Pochen eines Baumspechts in der Nähe war auch kein Laut zu hören.
Ihn fröstelte ein wenig. Zeit, nach Hause zu kommen, dachte er, und sich noch einen Edelzwicker zu gönnen oder vielleicht sogar einen Crémant.
Der Radweg führte mitten durch das kräftig wie ein Gewürzladen duftende Dickicht aus hohen Gräsern, Sträuchern und Büschen in Höhe der beiden Weiher. Er war gezwungen, das Tempo stark zu verringern, um nicht über einen herabgefallenen Ast oder einen klobigen Stein zu stürzen.
Beinahe im selben Moment löste sich ein Schatten aus den Haselbüschen und kam mit erhobener Hand auf ihn zu, wie ein Verkehrspolizist, der ihn mit einer Kelle zum Stehen bringen wollte.
Doch der Schatten war kein Polizist, und was er in der erhobenen Faust hielt, war keine Kelle. Das begriff Alain Kieffer in der Sekunde, als der Gegenstand auf ihn niedersauste und seinen Kopf noch im Fallen an der Schläfe traf.
Schœnwiller, früh am nächsten Morgen
»De Gaulle! Hierher, de Gaulle!« Manon Lavalle versuchte maximale Verärgerung in ihre Stimme zu legen, während sie nach ihrer weißen Französischen Bulldogge rief. Zugleich musste sie Charles, die schwarze Bulldogge, mit der Hand an seinem Halsband daran hindern, seinem Bruder hinterherzurennen.
Im guten Glauben, dass de Gaulle nach ihren ermahnenden Worten heute einmal wie Charles brav bei Fuß gehen würde, hatte sie ihn unten am Weiher von der Leine gelassen – und fort war der Undankbare! Wie eine weiße Rakete schoss der Hund davon, zum Glück nicht in Richtung Rue Principale, auch wenn die Hauptstraße im Augenblick nicht sehr befahren war. Stattdessen bahnte sich de Gaulle mit unglaublichem Tempo seinen Weg durch das hohe Gras oberhalb des Wehrs, direkt auf die Wasserlinie zu.
»Was soll das nun wieder? De Gaulle, zum Donner!« Manon wurde wütend und leinte vorsorglich Charles wieder an, der unter ihrem Griff an seinem Halsband bereits angefangen hatte zu keuchen.
»Was gibt es da draußen im Wasser, das euch so wild macht?« Ihre beiden Lieblinge, nach dem Tod von Jean-Marie der Trost ihres Lebensabends, waren doch wohl kaum auf Fisch umgestiegen!
Sie hob den Blick und sah de Gaulle mit hochgradig wachsamer Haltung und zitterndem Hinterleib am Rand des Weihers stehen und aufs Wasser hinausstarren.
Was zum Teufel hatte er dort im Blick?
Das frühe Morgenlicht war noch zu schwach und grau für ihre Augen, also gab sie Charles etwas Leine und stapfte dem kräftigen schwarzen Kerl hinterher durch das noch feuchte Gras.
Sie erreichte de Gaulle und konnte ihn anleinen, ohne dass er sein übliches Spiel dabei aufführte, die frechen Hüpf- und Ausweichbewegungen, wenn sie sonst nach seinem Halsband fassen wollte. Er starrte weiter hinaus auf den Weiher und gab ein seltsames Winseln von sich, dem sich jetzt auch Charles anschloss.
Und nun sah sie es auch, am hinteren Rand des Weihers ragte etwas aus dem Wasser.
Sie richtete sich auf und versuchte es zu fixieren. Der Form nach konnte es sich um einen Fahrradlenker handeln. Jemand hatte anscheinend sein Rad in dem schönen stillen Gewässer entsorgt, das sie jeden Morgen, wenn das Wetter es erlaubte, mit ihren beiden Lieblingen besuchte.
Wer tat so etwas?
Diese Rücksichtslosigkeit irgendeines Ignoranten ärgerte sie kolossal.
Aber dass sich auch ihre Hunde darüber aufregten, fand sie denn doch erstaunlich.
So machte sie sich auf den Weg, entlang der Weiden und Haselbüsche den vorderen Weiher zu umrunden. Vielleicht gab es ja einen unbeabsichtigten Hinweis an dem Fahrrad, das auf den Übeltäter schließen ließ, der hier die Natur verschandelte. Womöglich hatte sie das Rad sogar schon einmal gesehen. Sie lebte lange genug in Schœnwiller, um sich zuzutrauen, zumindest ein altes Fahrrad wiederzuerkennen.
Es dauerte seine Zeit, ehe sie sich mit den an der Leine ziehenden Hunden durch das Gestrüpp und Gebüsch geschlagen hatte und die Stelle erreichte, an der das Fahrrad achtlos im dunklen Wasser lag.
Doch jetzt aus der Nähe erkannte sie auf einmal nicht nur das Lenkrad, das sich an den überhängenden, ins Wasser ragenden Ästen eines Haselnussstrauchs verfangen hatte, sondern auch eine bleiche Hand, die unmittelbar unter der Wasseroberfläche die Speichen des Vorderrads berührte, als wollte sie es reparieren.
Das war der Moment, als Manon Lavalle furchtbar schlecht wurde und ein Schwindel durch ihren Kopf rauschte wie noch nach keinem Weinfest in ihrem Leben. Sie wankte, doch Charles und de Gaulle zerrten an ihren Leinen, sodass wieder Blut in ihre Adern schoss.
Mechanisch zog sie ihr Handy, das neue mit den großen Tasten, aus der Seitentasche ihrer Wolljacke, um die Polizei zu alarmieren.
Es war sofort jemand dran. »Bitte, bleiben Sie, wo Sie sind, Madame!«, forderte der diensthabende Polizist. »Wir sind in wenigen Minuten bei Ihnen in Schœnwiller.«
EINS
Pfaffenhoffen, Mittwoch, 13.Oktober, gegen acht Uhr am Morgen
Als Jean Paul Rapp die Augen aufschlug, begriff er, dass es noch recht früh am Morgen sein musste. Er schlief in der oberen Etage seiner Maisonettewohnung, und durch das östliche Giebelfenster fiel grauweißes Licht. Um diese Jahreszeit geschah das nur, wenn der Himmel klar und die Sonne eben erst über die Hausdächer von Pfaffenhoffen geklettert war. Und wenn Rapp am Vorabend vergessen hatte, die Jalousien herunterzulassen.
Doch warum hatte er das vergessen?
Das Zwetschgenwasser war schuld daran, ein – zugegeben köstlicher – Quetsch d’Alsace, den ihm Irène Michelberger, seine Vermieterin, gestern geschenkt hatte.
Rapp wohnte schon seit Jahren im Maison Michelberger, und Irène Michelberger hatte manchmal so eine Art, ihn anzuschauen, die ihm verriet, dass sie sehr viel tiefer in seine Seele blicken konnte als die meisten Menschen. »Sie sehen mir ganz so aus, als könnten Sie ein gutes Zwetschgenwasser vertragen, mein Lieber«, hatte sie zu ihm gesagt und ihm eine Flasche in die Hand gedrückt. »Voilà. Nach einem Rezept meiner grand-mère. Sie hat jeden Tag ein Gläschen davon genommen. Fünfundneunzig ist sie geworden«, verriet sie Rapp noch mit einem Augenzwinkern.
Irène und Martin Michelberger vermieteten die Maisonette dauerhaft an Rapp. Darüber hinaus boten sie noch andere Räumlichkeiten des weitläufigen Maison Michelberger als gîtes rurales, ländliche Ferienwohnungen, an. In der Hauptsache waren sie jedoch Winzer, deren Weinberge sich in Sichtweite des Maisons, eines jahrhundertealten Fachwerkhauses, oberhalb von Pfaffenhoffen befanden.
Gestern am späten Abend, als Rapp vor Enttäuschung (über Sylvie) und Ärger (über ihren Schwager, diesen Thierry Printemps) kaum hatte einschlafen können, hatte er sich an Irène Michelbergers Geschenk erinnert. Und weil der Quetsch so köstlich war und seinen aufgewühlten Verstand angenehm benebelte, hatte er aufgehört zu zählen, wie viele Gläschen er schließlich davon intus hatte. Am Ende, es war bereits weit nach Mitternacht, war er froh gewesen, dass er den Weg von der Wohnküche ins Bad und von dort den schwierigen Aufstieg in die Dachetage, wo sein Bett stand, unfallfrei geschafft hatte.
Als ihm jetzt die grelle Sonne in die Augen stach, fiel ihm jedoch nicht nur der köstliche Schnaps, sondern auch seine trübe Stimmung von gestern wieder ein, die dafür verantwortlich gewesen war, dass er gewissermaßen das Maß verloren hatte.
Allein der Gedanke an Thierry Printemps regte ihn auf, einen aufgeblasenen Mittfünfziger, der vor einigen Monaten aus Paris gekommen war, um sich in Strasbourg niederzulassen. Und der seit einigen Wochen ständig bei Sylvie Printemps aufkreuzte, Rapps Nachbarin und seit sechs Jahren Witwe. Lange genug, wie Thierry Printemps anscheinend annahm, um es nun mit ihm, dem Bruder von Sylvies verstorbenem Mann, zu versuchen.
Seitdem schien Rapp bei Sylvie vollständig abgemeldet zu sein. Dabei waren sie sich in den letzten Monaten schon ein erfreuliches Stück nähergekommen, wenn auch noch nicht intim miteinander geworden.
Ein leichtes Brennen machte sich in seiner Kehle bemerkbar, und als er einen Schluck Wasser aus dem Glas auf dem Nachtschränkchen nahm, warf er einen Blick auf den hellblauen Teppich neben dem Bett. Darauf lag Honoré, sein altersschwacher Hund, ein Terriermix mit schwarzbraunen Flecken im weißen Fell, der ihn aus müden Augen ansah.
Lange Zeit hatte Honoré auf den Namen Balzac – oder gar de Balzac – gehört, doch inzwischen war er nicht nur halb blind, sondern auch so taub geworden, dass er nicht mehr zuverlässig reagierte, wenn Rapp ihn bei seinem »Adelsnamen« rief. Zum Glück hatte Rapp seinen Hund auch früher schon, besonders wenn er Grund hatte, ihn zu rügen, mit seinem vollständigen Namen, Honoré de Balzac, angesprochen. Wahlweise auch Monsieur Honoré oder einfach Honoré, sodass beiden, Herrn und Hund, die Umstellung auf den Vornamen Honoré – vielmehr: Honoréee, mit einem sehr gedehnten é-Laut am Ende – nicht schwergefallen war.
Üblicherweise genoss Honoré das Privileg, auf einer kleinen Decke am Fußende des Betts schlafen zu dürfen. Doch inzwischen schaffte er den Sprung hinauf nur noch mit Rapps Hilfe. Auch daran hatte Rapp am Vorabend, unter dem Einfluss des Zwetschgenschnapses, offenbar nicht mehr gedacht. So hatte Honoré die Nacht auf dem Teppich verbringen müssen.
Rapp zog sich seufzend die Decke über den Kopf. Erst eine gute Stunde später schaffte er den steilen Abstieg die gewundene eichene Treppe hinunter. Honoré stand ebenfalls ächzend auf und folgte ihm, noch ein wenig hüftsteif.
Nach der erfrischenden heißen Dusche im Bad – Rapp duschte niemals kalt, allein die Vorstellung ließ ihn erstarren – prüfte er seine Statur im großen Spiegel. Bon, mit Anfang sechzig war er zwar nicht mehr der Jüngste, aber seine Figur schien ihm immer noch gut in Form zu sein. Das machten die täglichen Spaziergänge mit Honoré und war vielleicht auch das Ergebnis seines hektischen Berufslebens gewesen; vor zwei Jahren erst war er als Leiter des Commissariats Colmar-Rouffach aus dem Dienst ausgeschieden.
Während er so vor dem Spiegel stand, war auf einmal der Ärger wieder da, den er gestern Nacht noch mit Hilfe des Zwetschgenwassers hinuntergespült hatte. Die Wut auf diesen gelackten Monsieur Printemps aus Paris oder Strasbourg oder woher auch immer er gerade auftauchte, kochte in ihm hoch.
In diesem Moment klingelte Gott sei Dank das Telefon. Rapp schlang sich sein feuchtes Handtuch um die Hüften und eilte durch den Flur in die Wohnküche, wo das Festnetzgerät auf der Konsole neben dem Sofa stand.
»Bonjour, Papa! Gut geschlafen?«
»Edgar! Schön, dass du anrufst.« Rapp warf einen Blick auf die Küchenuhr an der Wand gegenüber, kurz nach neun, und konterte die Frage seines Sohns lieber mit einer Gegenfrage. »Schon wieder munter?«
Edgar führte ein Restaurant in Paris, das »Petite Cigogne«, zusammen mit seinem Partner Julien. Normalerweise schlief sein Sohn um die Uhrzeit noch aus, da das Lokal erst nach Mitternacht schloss und es oft Stunden dauerte, ehe er ins Bett kam.
»Etwas passiert?« Rapp dachte spontan an etwas Unangenehmes, vielleicht sogar Schlimmes. Wahrscheinlich ein Reflex aus seiner Zeit als Polizist, Anrufe vor Dienstbeginn hatten meist nichts Gutes zu bedeuten.
Und schon im nächsten Augenblick fiel ihm Isabelle, seine Ex-Frau, ein.
»Ist etwas mit deiner Mutter, Edgar?«
»Nein, mit Maman ist alles okay, Papa.«
Rapp gab sich mit dieser pauschalen Antwort nicht zufrieden. »Wann hast du zuletzt von ihr gehört?« Er selbst hatte seit Monaten keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt. Zuletzt hatte sie ihn stets nur um Geld anpumpen wollen. Nicht für sich, Gott bewahre. Sondern, um ihrem »Neuen«, diesem halbseidenen Franck, finanziell aus der Bredouille zu helfen. Seit zwanzig Jahren waren Isabelle und Rapp nun schon geschieden, und seit fünf oder sechs Jahren lebte sie mit Franck zusammen, aber von allen Neuen, wie Rapp alle seine Nachfolger nannte, war Franck derjenige, der sie am meisten ausnutzte. Fand zumindest Rapp.
»Ich habe erst gestern mit Maman gesprochen, Papa, da war alles noch in Ordnung.«
»Und was wollte sie von dir, Edgar?«
»Nichts. Ich habe Maman angerufen.«
»Aha. Warum, wenn ich fragen darf? Wegen ihrer Geldprobleme, richtig? Kannst es mir ruhig sagen, wenn mal wieder Franck dahintersteckt, Edgar.«
»Nein, Papa. Mit Geld hatte das nichts zu tun. Und mit Franck schon gar nicht.«
»Womit dann?«
Rapp hörte Edgar aufstöhnen und ahnte, dass er wieder einmal nicht den richtigen Ton gegenüber seinem Sohn getroffen hatte. Aus einem Grund, den er selbst nicht begriff, konnte er sich immer noch nicht darüber freuen, dass Edgar nach wie vor eine gute Beziehung zu seiner Mutter hatte. Die er offensichtlich liebte wie eh und je. Trotz all ihrer Krisen, in die sie auch Edgar verwickelt hatte. Schon als er noch ein Kind war, hatte sie das getan.
»Weißt du, Papa, du fragst mich auf eine Art, als wäre ich ein Verdächtiger in einem Mordfall.« Edgars Stimme klang inzwischen sehr gereizt.
Rapp spürte, dass er sich zusammenreißen musste. »Pardon, Edgar. Ich wollte nicht indiskret sein.«
»Papa!« Er hörte Edgar in den Hörer schnaufen. »Das hat nichts mit Indiskretion zu tun.«
»Nicht?«
»Nein.«
Rapp merkte, wie sich Ratlosigkeit in ihm breitmachte. »Weswegen rufst du mich dann an?«
»Jedenfalls nicht wegen Maman.«
»Sondern?«
»Wegen einer Sache, die mich betrifft.«
»Bon.« Rapp war ganz Ohr. »Schieß los.«
Edgar ließ eine Pause entstehen.
»Junge?«
»Ich weiß nicht, Papa. Ich erzähle dir doch lieber ein andermal davon. Oder du fragst Maman.«
»Wieso Maman?«
»Sie hat zugehört. Statt mich wie du mit Fragen zu bombardieren. Die du dir auch noch selbst beantwortest. Also habe ich es ihr erzählt. – Entschuldige, Papa, ich muss jetzt die Sachen für heute Abend vorbereiten.«
»Edgar, verzeih mir, ich bin wohl ein wenig gereizt derzeit. Aber habe ich nicht auch ein Recht auf schlechte Laune?«
»Hast du, Papa. Aber nicht das Recht, sie an mir auszulassen. Oder an Maman.«
»Wie du meinst.«
»Salut, Papa.« Edgar wollte wohl schon auflegen, als er unerwartet nachschob: »Übrigens, eine Nachricht habe ich doch noch für dich. Sie wird dich interessieren, betrifft ja nicht mich.«
»Edgar, bitte lass das.«
»Ich habe vorhin ein bisschen die Schlagzeilen im Netz gepflügt. Auch im ›Courant Alsacien‹.«
»Aha. Bon.« Rapp wusste, dass sich Edgar seiner Heimatregion noch immer verbunden fühlte. Aber war das ein Wunder? Elsässer blieb man ein Leben lang. Ob man nun ein Weltbürger war wie Tomi Ungerer, der geniale Zeichner, oder ein genialer Elsässer Koch wie Edgar, der seit Jahren in Paris lebte.
»Alain Kieffer, du weißt schon, Papa, der Stadtmuseumsdirektor aus Rouffach«, fuhr Edgar etwas zögerlich fort.
»Ja?«
»Er wurde … alors, er wurde ermordet.«
Rapp zuckte vor Überraschung zusammen. »Kieffer?« Ein streitbarer Mann, dieser Museumsdirektor, der auch in der Öffentlichkeit das klare Wort nicht scheute, soweit Rapp informiert war. »Er wurde ermordet? Ganz sicher?«
»Man hat seine Leiche in einem Weiher gefunden. In Schœnwiller. Mit Schlagwunden am Kopf.«
Sieh mal an, das idyllische Schœnwiller, mitten in meinem alten Commissariat, dachte Rapp. Der Ort lag keine fünf Kilometer von Pfaffenhoffen entfernt.
»Interessant«, sagte er wie beiläufig und wagte noch einen Versuch, um seinen Schnitzer gegenüber Edgar zu korrigieren. »Willst du mir nicht doch noch sagen, weshalb du mich eigentlich angerufen hast, Edgar?«
»Nein, jetzt ist keine Zeit mehr. Ein andermal. Oder frag Maman. Salut, Papa.«
Diesmal legte Edgar wirklich auf, und Rapp hätte sich am liebsten in die Hand gebissen, mit der er frustriert noch eine Weile den Hörer festhielt.
In dem alten Schuppen vis-à-vis von Rapps Maisonettewohnung stand sein Peugeot. Wer ihn kannte, wusste, dass damit nicht etwa sein Auto, der Charleston 2 CV, ein Vintagemodell aus dem Hause Citroën, gemeint war, sondern sein beinahe ebenso altes, aber ebenfalls noch fahrtüchtiges Rad. Es war weiß, hatte Aluschutzbleche und fünf Gänge, die bei schlechtem Wetter beinahe so schwer zu aktivieren waren wie Rapps Wadenmuskeln. Den kirschroten Sattel hatte er abgeschraubt und durch ein steißbeinschonendes modernes Modell ersetzt, auf dessen Silikonpolstern er sich fühlte wie auf einem sanft schaukelnden Kamelrücken. Nur die krötenbraune Farbe des Sattels schien ihm nicht recht zu dem sonst schnittigen Eindruck zu passen, den das Rad im Ganzen machte.
Es war inzwischen um die Mittagszeit, das Karree des Maison Michelberger warf kaum Schatten in seinem Innenhof, das Wetter entwickelte sich prächtig, die Luft war lau. Dennoch faltete Rapp den Rest einer alten grauen Wolldecke zusammen und legte ihn in den Metallkorb, den er auf dem Gepäckträger mit einer ausreichenden Menge Plastikschnüre sicher befestigt hatte. Dann griff er nach Honoré, der geduldig auf das Ende der üblichen Vorbereitungen für das Radfahren gewartet hatte, und setzte ihn in den Korb.
Am Tor zur Rue Grand Cru begegnete ihm sein Vermieter Martin Michelberger. Er hatte, wie Rapp bemerkte, seinen Espace auf dem Trottoir vor dem Haus geparkt, statt ihn unter dem Carport an der Südseite des Hauses abzustellen, wo Rapps Charleston stand.
Überhaupt war Rapp überrascht, Michelberger um diese Zeit am Haus zu sehen. Musste er nicht oben im Weinberg sein?
»Bonjour, Monsieur Michelberger. Ça va? Was macht die Ernte?«
Michelbergers rosige Wangen flammten auf, er schien es eilig zu haben. Doch er war höflich wie immer.
»Bonjour, Monsieur Rapp. Merci. Der Jahrgang wird wunderbar, denke ich.« Seine Stirnfalte schien dieser Hoffnung jedoch zu widersprechen. Er blieb stehen und schien Rapp die ungestellte Frage quasi von der Stirn abzulesen. »Ich werde natürlich oben im Weinberg gebraucht, aber meine Frau hat mich angerufen, Sie entschuldigen mich …« Er brach unvermittelt ab und eilte weiter auf den Teil des Hauses zu, in dem die Michelbergers wohnten.
Rapp sah ihm besorgt hinterher. Es war hoffentlich nichts Ernstes mit Irène Michelberger. Rapp kam sie schon länger ungewöhnlich blass vor, sie war beinahe im gleichen Alter wie er, da kamen die Einschläge in Gestalt schlimmer Krankheiten gewöhnlich immer näher. In der Hoffnung, dass er sich täuschte, schob Rapp sein Rad hinter der Tordurchfahrt über die klobigen, jahrhundertealten Pflastersteine bis zur Rue Grand Cru und fuhr los.
Über die Rue de la Liberté erreichte er die Route nationale, die sich jenseits der Unterführung in zahlreiche namenlose Wege verzweigte. In der klaren, doch milden Mittagssonne radelte er, Honorés Schnauze in seinem Rücken spürend, in Richtung Osten. Hinter sich wusste er die sanft ansteigende grüne Silhouette der Weinberge, in denen die Winzer mit ihren Erntehelfern derzeit vermutlich Mittag hielten. Vor sich sah er das weitläufige fruchtbare Plateau der Rheinebene, über dem sich das Panorama des Schwarzwalds wie ein Bühnenbild aus uralter Zeit erhob.
Rapp wurde von einer Gruppe älterer Radfahrer auf E-Bikes überholt, und wie erwartet fing Honoré an, sich zu beschweren, indem er knurrte und sogar ein Bellen andeutete. Rapp lachte darüber und freute sich, dass sein Hund noch die alten Instinkte besaß. Schon als kleiner Kerl hatte es Honoré nicht leiden können, wenn Rapp es zugelassen hatte, dass sie von anderen Radfahrern überholt wurden.
Er erreichte Schœnwiller von Nordwesten her, über die Rue de la Gare, die einen Bahnhof versprach, den es schon seit Jahrzehnten nicht mehr gab.
Er spürte sogleich die besondere, gespannte Atmosphäre in dem kleinen Ort. An den Ecken sah er die Bewohner beieinanderstehen und mit ernsten Gesichtern reden. Manche von ihnen wendeten die Köpfe und beäugten ihn misstrauisch, als er an ihnen vorbeiradelte.
Das schlimmste Verbrechen, ein Mord, war in Schœnwiller geschehen. Diese dunkle Tatsache konnten nicht einmal die warmen, gelb- und rotbraun in der Sonne dösenden Sandsteinfassaden der alten Wohnhäuser oder die zahllosen fröhlich bunten Blumenkübel der Village fleuri verwischen, die so typisch waren für das Elsass.
An der Rue du Chateau bog er rechts in die Rue Principale ein. Der Verkehr war lebhaft, jedoch nicht ungewöhnlich für die Hauptstraße des Orts. Aber auch hier standen entlang der Straße weit häufiger als sonst die Leute eng zusammen. An ihren finsteren Mienen war abzulesen, dass sie über das Ungeheuerliche sprachen, das geschehen war: den Mord an Alain Kieffer, dem bekannten Chef des Rouffacher Stadtmuseums, der am Ortsrand ihres Schœnwiller tot aufgefunden worden war.
Gleich neben dem Brunnen auf dem Platz vor der Mairie sah Rapp einen weißen Einsatzwagen der Police nationale parken. Vermutlich ließen sich Stadtverwaltung und Bürgermeisteramt über den Stand der Dinge informieren. Hoffentlich übertreibt es Rimbout nicht mit den Sicherheitsmaßnahmen, dachte Rapp. Schon früher waren tagelange Zugangssperren für ein viel zu großes Areal die Spezialität seines ehemaligen Assistenten gewesen, der schließlich sein Nachfolger geworden war. Leider hatte Rimbout oftmals die eigentliche Polizeiarbeit aus dem Blick verloren: die genaue Recherche am Tatort, die Rekonstruktion des Tathergangs, die Erkundung möglicher Fluchtwege und damit potenzielle Spuren oder sogar Augenzeugen. Rimbouts Maßnahmen waren stets eine seltsame Mischung aus blindem Aktionismus und fataler Unterbelichtung gewesen, erinnerte sich Rapp.
Glücklicherweise trug er selbst keine Verantwortung mehr für die Ermittlungen. Er war heute aus rein privatem Interesse auf dem Weg zum Tatort, als alter Spürhund gewissermaßen, der nur mal an der Fährte schnuppern wollte. Bei dem Gedanken langte er mit der Hand hinter seinen Rücken und tätschelte Honoré den Kopf, als müsste er sich vergewissern, dass er unterwegs nicht etwa verloren gegangen war.
Auf dem Weg zum Ufer der Lauch, die auf östlicher Seite an Schœnwiller vorbeifloss, machte die Rue Principale noch einige Schlenker, ehe sie unvermittelt hinter der halb verfallenen Ruine eines großen Bauernhauses den Blick auf das leuchtend rote Brückengeländer der Pont de Sainte-Croix freigab. Die Brücke war reichlich mit Blumen geschmückt, und ihr farbenfroher Anblick stand in einem seltsamen Gegensatz zu der humorlosen Absperrung des gesamten Geländes am Ortsausgang von Schœnwiller. Die Hauptstraße und die anderen Wege und Gassen entlang der Lauch bis hin zu der nach Osten führenden Route de Sainte-Croix – alles war mit dem rot-weißen Flatterband der Polizei versperrt.
Rapp fuhr bis dicht vor die Absperrung und grüßte einen jungen Gendarmen, der mit gelangweiltem Gesichtsausdruck neben einem blauen Renault Twingo stand und rauchte. Die Gendarmerie, deren weißer Schriftzug die Seiten des Wagens kennzeichnete, übernahm im Département üblicherweise die Ordnungsaufgaben. Einen Steinwurf entfernt hatte die Spurensicherung neben einem weißen Peugeot-Transporter, dem Einsatzwagen, ihren Faltpavillon aufgebaut, in dem die Kollegen geschützt vor Wetter und neugierigen Blicken ihre Arbeit verrichten konnten.
Rapp überlegte kurz, ob er sich als ehemaliger Commissariats-Chef der Police nationale zu erkennen geben sollte, entschied sich dann aber dagegen. Der junge Mann würde vielleicht in Habachtstellung gehen, anstatt in Plauderlaune ein paar Details zu verraten.
So kraulte er vorerst nur Honoré den Hals und ließ seinen Blick über das Gelände hinter der Absperrung schweifen.
Ein Ort, zum Sterben schön.
Jenseits der Brücke schlängelte sich die Lauch schmal und anmutig an Schœnwiller vorbei und entschwand nach Norden hin dem Blick unter dem lockeren Bewuchs von Birken und Büschen an den Ufern. Diesseits der Pont de Sainte-Croix wurde das Flüsschen gestaut. Durch ein Wehr waren zwei längliche Weiher entstanden, umgeben von einer geradezu märchenhaft anmutenden Wiesen- und Flusslandschaft, die eher einem geheimnisvollen englischen Park glich als einem Flecken am Ufer der Lauch, mitten im Elsass.
Rapp hätte mit Genuss die frische, würzige Luft eingeatmet, wenn er sich nicht bewusst gemacht hätte, dass in der letzten Nacht an diesem idyllischen Ort der Museumsdirektor von Rouffach ermordet worden war.
Er wandte sich an den Gendarm, als dieser soeben seine Zigarette auf den Boden warf, sie achtlos im Gras verglimmen ließ und als Nächstes ein Handy aus der Brusttasche seiner blauen Uniformjacke zog.
»Pardon, Monsieur le Gendarme«, sprach Rapp ihn an. »Es ist wohl nicht möglich, dass ich meinen Hund hier ausführe, nein?«
Rapp deutete mit dem Kinn auf Honoré, der sich in seinem Korb aufgerichtet hatte und mit leicht zitternden Beinen darauf wartete, dass Rapp ihn hinaushob, um mit ihm spazieren zu gehen.
Der Gendarm musterte Rapp und Honoré ohne erkennbares Interesse. »Keine Chance, Monsieur«, antwortete er, während er mit flinkem Daumen gleichzeitig durch etwas auf seinem Smartphone scrollte. »Sie sehen ja, alles abgesperrt.«
»Bon. Aber ich will ja nur mit Honoré Gassi gehen.«
Er kassierte ein mitleidiges Lächeln. »Monsieur, Sie lesen wohl nicht die News im Netz, wie?«
»Bedaure. Ich lese Zeitung.« Sollte der Kollege ihn ruhig für einen alten Esel halten, das lockerte seine Zunge.
»Bon, Monsieur. Dann können Sie es noch nicht wissen.«
»Was denn?«
Der Gendarm senkte die Hand mit dem Smartphone und sah Rapp mit wichtiger Miene an. »Hier ist ein Mord geschehen. Gestern Abend.«
»Non!«
»Voilà.« Er schloss mit sichtbarer Genugtuung über Rapps scheinbare Überraschung die Augen und öffnete sie wieder wie in Zeitlupe. Mit einem Blick deutete er auf das Ende des vorderen Weihers. »Dort drüben im Wasser hat man das Opfer gefunden. Mit seinem Fahrrad.« Bedeutsam zog er eine Braue hoch und sah Rapp erwartungsvoll an. Er bettelte geradezu um die nächste Frage.
Rapp tat ihm den Gefallen. »Um wen handelt es sich denn bei dem Opfer?«
»Da es bereits im Netz steht – es ist der Chef des Rouffacher Stadtmuseums. André Kieffer.«
Alain, korrigierte Rapp im Stillen, Alain Kieffer. Aber das spielte im Augenblick keine Rolle. »Wer hat ihn gefunden, den armen Mann?«
»Eine … nun, eine Zeugin.«
»Hier aus dem Ort, nehme ich doch an?«
»Désolé, Monsieur, darüber darf ich keine Auskunft geben.«
Rapp schenkte ihm einen verständnisvollen Blick. Ließ aber nicht locker. »Die Frau war sicher ebenfalls mit dem Fahrrad unterwegs, wie?«
Erstaunter Blick. »Wie kommen Sie darauf, Monsieur?«
»Der Fahrradweg.« Rapp versuchte sich an einem naiven Gesichtsausdruck und deutete auf die Stelle hinten am Weiher, wo die Frau das Opfer gefunden haben musste. Der Radweg nach Rouffach führte beinahe direkt daran vorbei, allerdings war die Sicht an dieser Stelle durch Sträucher und Büsche stark behindert.
»Verstehe, worauf Sie hinauswollen, Monsieur«, sagte der Gendarm in einem jovialen Tonfall. »Aber nein, die Dame war nicht mit dem Rad, sondern zu Fuß mit ihren zwei Hunden unterwegs.« Er neigte sich Rapp vertraulich zu. »Wissen Sie, Monsieur, Sie dürfen sich nicht von dem ersten Eindruck täuschen lassen. Nur weil ein Radweg am Tatort vorbeiführt, heißt das noch nicht, dass der Tote ausschließlich von dort aus entdeckt werden konnte.«
Kein schlechter Gedanke, fand Rapp. Wäre gut, wenn die Polizei das bei ihren Ermittlungen berücksichtigen würde. »Aber dass auch sein Fahrrad im Wasser lag, deutet darauf hin, dass das Opfer zuvor auf genau diesem Radweg unterwegs gewesen ist. Meinen Sie nicht?«
Der junge Polizist stutzte, so weit hatte er an diesem Vormittag offenbar noch nicht gedacht.
Rapp nahm noch einmal das Gelände in den Blick: den sprudelnden Flusslauf der Lauch, die blumengeschmückte Brücke, die sattgrünen Wiesen, den zweigeteilten, busch- und baumbestandenen Weiher. Und den Radweg, der in Höhe des Damms zwischen dichten Haselbüschen und Sträuchern wie in einer grünen Röhre verschwand. Ein ebenso idyllischer wie unübersichtlicher Ort. Ideal, um unbemerkt jemandem aufzulauern, der in der Abenddämmerung auf der Strecke zwischen Colmar und Rouffach unterwegs war.
»Spricht eher nicht dafür«, spann er laut denkend den Faden weiter, »dass es sich um eine zufällige Begegnung handelte. Sondern um einen kaltblütig geplanten Mord.«
»Monsieur?« Der Gendarm hatte bereits wieder sein Smartphone in der Hand und sah Rapp fragend an.
»Nichts weiter«, winkte Rapp ab. »Au revoir, Gendarm.«
Er klopfte Honoré, der noch immer erwartungsvoll in seinem Fahrradkorb stand, entschuldigend auf den Kopf und lenkte sein Rad zurück in den Ort. Bis zu einer Gasse, die Gaesslegaertenweg hieß und, wie sich herausstellte, in einem kühnen Bogen zum linken Ufer der Lauch führte. Dort befreite er den Hund endlich aus seinem Korb und startete mit ihm den versprochenen Spaziergang.
Sie wanderten entlang der Lauch nach Norden, Richtung Colmar. Rechts sprudelte der Fluss über Stock und Stein, links kamen sie an sonnenbeschienenen alten Fachwerkhäusern vorbei. Als der Busch- und Baumbewuchs am Ufer ein wenig lichter wurde, wandte Rapp sich noch einmal um und bemerkte auf der anderen Flussseite einen weiteren Gendarm. Vor der romantischen Kulisse einer eingefallenen Scheune aus Elsässer Fachwerk, die quasi den Außenposten des abgesperrten Geländes markierte, forderte der Beamte die herannahenden Autofahrer zum Wenden auf.
Was für ein Aufwand, dachte Rapp. Noch dazu überflüssig. Die Leiche war geborgen, die Kriminaltechnik hatte sicher schon mit Akribie den ganzen Vormittag hindurch die Spuren im Umfeld des Tatorts gesichert. Doch Rimbout ließ darüber hinaus ein riesiges Areal absperren, das er nicht einmal mit Verstärkung aus Colmar und Strasbourg würde untersuchen können.
»Alors, nicht unser Bier, Honoré«, verkündete er und gab dem Hund mit einem Ruck der Leine zu verstehen, dass es nun weiterginge.
Zugleich fühlte er, dass dieser Fall, der Mord an einer in der Region so bekannten Persönlichkeit wie dem Museumsdirektor von Rouffach, die alten Lebensgeister in ihm weckte. Vielleicht konnten ihm ein paar eigene, private Ermittlungen auch dabei helfen, den Frust wegen Sylvie – vielmehr wegen ihres unsäglichen Schwagers – zu vergessen. Wenigstens für eine Weile.
Nach einer guten halben Stunde entlang des niedrigen, aber dennoch lebhaft sprudelnden Flusslaufs der Lauch war Honoré vollkommen erschöpft. Sein alter Hund weigerte sich, auch nur einen weiteren Schritt zu machen, und so war Rapp gezwungen, ihn die ganze Strecke zurückzutragen. Als er endlich sein Fahrrad im Gaesslegaertenweg erreichte, plagten ihn Schmerzen im Rücken, während Honoré in seinem Arm behaglich schnurrte wie eine Katze.
Rapp hielt sich zugute, dass es wenigstens noch nicht so weit war wie bei Madame Persistance, einer freundlichen alten Dame, der er gelegentlich auf seinen Spaziergängen in Pfaffenhoffen, zusammen mit ihrem weißen Pudel Cyrano, begegnete: Madame Persistance zwängte Cyrano bei jeder Gelegenheit in einen schwarzen Frack und fand nichts dabei, schlabbernde Zungenküsse mit ihrem Schatz auszutauschen.
Er setzte Honoré in seinen Korb, stieg aufs Rad und fuhr die gewundene Rue Principale zurück in Richtung Ortskern.
Schœnwiller, fiel ihm dabei auf, hatte einen ganz eigenen, um nicht zu sagen eigenwilligen Charme. Alte Fachwerkhäuser standen neben neuen Gebäuden mit spiegelnden Glasfassaden. Hinter halb blinden Schaufenstern vor langer Zeit geschlossener Läden verstaubten Lampen und Geschirr, während wenige Meter weiter futuristisch anmutende Schaufensterpuppen zum Kauf eleganter Pariser Mode einluden. Nicht einmal die Tatsache, dass beinahe jedes Haus mit Geranien- oder anderen Blumenampeln geschmückt war, konnte diese Gegensätze ganz verdecken.
Die Mairie, deren Vorplatz Rapp nun erreichte, war vielleicht das markanteste Beispiel für dieses Phänomen: Die linke Hälfte des Rathauses bestand aus einem jahrhundertealten Sandsteingebäude, dessen Sonnenuhr im milden mittäglichen Licht filigrane Linien auf die ockerfarbene Fassade warf. Die rechte Hälfte dagegen war ein raffinierter Neubau mit einer langen, holzgerahmten Glasfassade, die einem quasi den Weg zu St. Michel, der Kirche in der Mitte des Orts, wies.
Rapp bemerkte, dass der Dienstwagen der Polizei, der ihm schon zuvor aufgefallen war, noch immer neben dem mittelalterlichen Steinbrunnen auf dem Platz vor der Mairie parkte. Außerdem entdeckte er eine kleine Gruppe uniformierter Beamter, die vor einem weiteren Sandsteingebäude vis-à-vis dem Rathaus zusammenstand.
Er verlangsamte sein Tempo, das ohnehin nicht allzu hoch gewesen war, und suchte nach einem bekannten Gesicht. – Nein, er gestand sich ein, dass er nach dem einen bekannten Gesicht suchte. Und er musste in der Tat nicht lange Ausschau halten, um François Rimbout in der Gruppe zu entdecken.
Rimbouts schlaksige Gestalt überragte die beiden anderen um mindestens anderthalb Köpfe. Rapp erkannte als Nächstes Rimbouts Assistenten George Sulzer an seinem runden, gesunden Apfelgesicht. Neben ihm stand eine ihm unbekannte blonde Polizistin, die ihre Mütze unter die Achsel geklemmt hatte.
Rapp überlegte nicht lange, bog rechts auf den Platz ab und hielt auf die Gruppe zu.
Sulzer erkannte ihn als Erster und machte Rimbout, der mit dem Rücken zur Straße stand, durch eine wenig begeistert wirkende Kinnbewegung auf Rapp aufmerksam, ihren Chef aus früheren Tagen.
Rimbout wandte sich verwundert um. Doch anders als Rapp erwartete, hellte sich das Gesicht seines früheren Assistenten sichtlich auf, als er Rapp erkannte. Er signalisierte Sulzer, dass sie ihn für einen Moment entschuldigen sollten, und eilte auf Rapp zu. Während die unbekannte Kollegin Rapp mit seinem Hund im Korb kritisch musterte, stieg er vom Rad, um Rimbout zu begrüßen.
»Jean Paul!«
»Bonjour, François. Ça va?«
»Wie man’s nimmt.« Rimbout legte den Kopf ein wenig schief und lachte gezwungen. »Wir haben eine schlimme Mordsache hier in Schœnwiller.« Er wich Rapps Blick aus und streckte seine Hand nach Honoré aus, um ihn zu streicheln. »Aber ich nehme an, du bist nicht zufällig hier, Jean Paul, und weißt längst von der Sache, richtig?«
Rapp sah keinen Grund, das abzustreiten, und es war auch allzu offensichtlich. »Aber ja, ich habe davon erfahren. Du wirst es nicht glauben, Edgar hat mir heute früh davon am Telefon erzählt. Es ist ja schon im Internet zu lesen, was hier passiert ist. In Rouffach ist es sicher bereits Stadtgespräch.«
Rimbout wurde blass. Wahrscheinlich, dachte Rapp, geht ihm in diesem Moment erst auf, welche Wellen der Mord an dem Museumsdirektor schlägt – bis in die Hauptstadt und via Internet natürlich in alle Welt.
Rimbout sah ihm forschend ins Gesicht. »Und du warst schon am Tatort? Ich meine, du kommst aus der Richtung …«
»Alors, ertappt.« Rapp versuchte sich an einem Lächeln. »Habe mal einen Blick auf das Gelände geworfen, das du hast absperren lassen. Übrigens recht weiträumig, wie mir scheint.« Die Bemerkung konnte er sich einfach nicht verkneifen.
»Das hat einen bestimmten Grund.« Rimbout warf einen kurzen Blick über die Schulter, wo Sulzer und die Kollegin inzwischen zusammen rauchten und sich dabei lebhaft unterhielten. »Weißt du, Jean Paul, ich habe einen Anfangsverdacht, was das Mordmotiv betrifft.«
»Ah ja?«
»Ja. Alain Kieffer, das Mordopfer, er hatte einen bestimmten Ruf, wie du vielleicht weißt.«
Rapp zog die Brauen zusammen und versicherte Rimbout durchaus wahrheitsgemäß, dass er von Kieffers »Ruf« nicht die leiseste Ahnung habe. Eigentlich habe er von ihm immer nur im Zusammenhang mit seiner Arbeit als Direktor des Rouffacher Stadtmuseums gehört. »Ein für seine Sache engagierter Mann, wie mir schien. Aber das ist bloß, was ich in der Zeitung manchmal über ihn gelesen habe. Ich muss gestehen, dass ich das Stadtmuseum vor bald dreißig Jahren zuletzt besucht habe.« Mit Isabelle und Edgar zusammen. Kieffer war damals noch nicht der Leiter gewesen.
»Bei mir ist es viel schlimmer, ich war bisher kein einziges Mal im Stadtmuseum. Aber in meinem Fall ist das wohl zu entschuldigen. Ich komme schließlich aus Thann.« Rimbout rang sich ein schmales Lächeln ab.
Das erklärte allerdings nicht annähernd, fand Rapp, was das Mordmotiv, das Rimbout im Kopf herumspukte, mit dem Tatort zu tun hatte. »Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, worauf du hinauswillst, François.«
Und warum du mir überhaupt davon erzählen willst. Denn in der Vergangenheit hatte Rimbout es gar nicht gemocht, wenn Rapp sich sogar noch als Pensionär höchst ungebeten in die aktuelle Ermittlungsarbeit eingeschaltet hatte.
Rimbout sog die Luft scharf durch seine fleischige Nase ein. »Mein Verdacht, Jean Paul, geht mehr in eine private Richtung als Hintergrund für den Mord. Du musst wissen, dass Kieffer in dieser Hinsicht einiges nachgesagt wurde.«
»Und zwar?«
»Er soll ein Charmeur ersten Grades gewesen sein. Wenn man es positiv ausdrücken will.« Doch danach schien Rimbout nicht der Sinn zu stehen.
»Und wenn man es negativ ausdrücken will?«
Rimbout zog missbilligend eine Braue hoch. »Dann war er ein arger Schürzenjäger. Ein Frauenheld, der jedem Rock hinterherstieg.«
»Du vermutest also Eifersucht als Motiv?«
»Einen eifersüchtigen Ehemann, genau. Typische Beziehungstat.« Rimbout hob vielsagend die Brauen. »Ich habe auch schon zwei Kandidaten im Visier.«
Das geht aber schnell, dachte Rapp. »Und zwar wen?«
Rimbout berührte Rapp leicht am Arm und kam noch etwas näher. »Die Sache ist natürlich äußerst heikel, du verstehst. Und ich darf dir als Außenstehendem gegenüber keine Namen von Verdächtigen nennen.«
»Selbstverständlich.« Aber? Rapp sah ihn mit gesteigerter Neugier an.
»Jedoch … nun, ich hätte nichts dagegen, wenn wir uns so bald wie möglich einmal über den Fall unterhalten könnten. Unter vier Augen, meine ich. Nur um einmal deine Meinung zu hören. So ganz allgemein. Und im Besonderen natürlich zu den beiden Verdächtigen. Wir überprüfen derzeit noch ihre Alibis.« Rimbout suchte Rapps Augen und fixierte ihn hart. »Aber weißt du, einer der beiden hat sich schon verdächtig gemacht, ohne dass wir ihn vernommen haben.«
»Wie das?« Rimbout schafft es doch immer wieder, mich zu verwirren, dachte er.
Rimbout deutete mit dem Daumen über seine Schulter hinweg auf die Mairie im Hintergrund des Platzes. »Im Foyer hängt ein Bild, ein Gemälde. Es stammt von einem Maler aus Colmar. Mit dessen Frau soll Kieffer ganz offen ein Verhältnis gehabt haben.«
»Ganz offen? Das spricht gegen einen eifersüchtigen Ehemann.«
»Aber was dafür spricht, ist Folgendes.« Rimbout legte eine Pause ein wie ein schlechter Schauspieler, der effekthascherisch den Coup einer Szene vorbereitet. »Das Gemälde wurde von der Stadt Schœnwiller angekauft. Ein schönes Bild, durchaus. Es zeigt ein sehr hübsches Areal, wie jeder zugeben muss. Und zwar rund um die Brücke Pont de Sainte-Croix am Ortsausgang.«
»Du meinst …?«
»Den Tatort, touché! Das ganze schöne Gelände rechts und links der Brücke hat der Künstler gemalt. Absolut präzise, kein Detail ausgelassen, alles liebevoll ausgeführt, der Maler ist – wie nennt man das? – Naiver Künstler … also er macht Naive Malerei. Doch das Raffinierte daran: Das Zentrum des Bildes ist der schmale Damm zwischen vorderem und hinterem Weiher. Exakt die Stelle, an der Alain Kieffer heute in der Früh von Madame … nun, ihr Name spielt keine Rolle … wo Kieffer also gefunden wurde.«
Rapp zog skeptisch die Brauen zusammen. »Aber, François, der Mörder wäre nicht so dumm, seinen Tatort öffentlich auszuhängen. Meinst du nicht auch?«
»In diesem Fall bin ich mir da nicht so sicher, Jean Paul.« Rimbout versuchte sich an einem pfiffigen Gesichtsausdruck. »Künstler sind impulsive, eitle Menschen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Mörder sich auf eine scheußliche Tat etwas einbildet und der Öffentlichkeit versteckte Hinweise gibt. Die ihn dann am Ende überführen.«
»Hm.« Rapp war nach wie vor nicht überzeugt. Ein solcher Künstler wäre wohl weniger naiv als plump zu nennen, dachte er. »Und deshalb, wegen des Gemäldes in der Mairie, hast du das ganze Gelände bis hinaus zur Route …?«, wandte er vorsichtig ein.
»Absperren lassen? Nein.« Rimbouts Brust schwoll an vor Stolz. »Das gehört zu meiner Methode, wie du weißt. Die Erweiterung der Perspektive.«
Idiot, dachte Rapp und unterdrückte einen schweren Seufzer. »Ich bin beeindruckt, François.«
Rimbout winkte ab. »Merci, Jean Paul. Reine Routinearbeit.«
Rimbouts Bescheidenheit war schon immer sein größter Vorzug gewesen, fand Rapp. »Ich stehe dir selbstverständlich zur Verfügung, wenn ich dich irgendwie unterstützen kann.«
Rimbout lächelte dankbar, fuhr Honoré, der müde in seinem Korb kauerte, flüchtig über den Kopf und wandte sich zum Gehen. »Ich melde mich, Jean Paul!« In seiner typischen stocksteifen Haltung stakste er zurück zu den beiden anderen.
Rapp hätte Lust gehabt, sich das »verdächtige« Gemälde im Foyer der Mairie selbst einmal anzusehen. Aber die Sonnenuhr an der Sandsteinfassade des Gebäudes sagte ihm, dass es bereits nach eins war. Die Mairie hatte noch bis drei geschlossen.
Auf dem Rückweg nach Pfaffenhoffen wurde ihm klar, warum Rimbout in diesem Fall, ganz anders als sonst, sogar froh war, dass Rapp Interesse an den Ermittlungen zeigte. Jeder, der Rimbout kannte, wusste, dass ihn die Befragungen von Zeugen oder Verdächtigen zu sehr persönlichen oder gar intimen Themen in schweißtreibende Schwierigkeiten brachten. »Diese delikaten Dinge liegen mir nun mal nicht«, hatte er einmal Rapp gegenüber zugegeben. Wie wahr. Wenn es um Liebe, Ehe und Betrug ging, kannte Rimbout nur zwei Strategien: Entweder redete er an der heiklen Sache vorbei, oder er steuerte allzu direkt darauf zu. Wie oft hatte Rapp ihn früher darauf hingewiesen, dass man dabei subtil vorgehen, sich empathisch in die Beteiligten hineinversetzen müsse, um Erfolg zu haben.
Zwecklos, Rimbout hatte es in jedem einzelnen Fall vermasselt. Und er wusste das, kannte sein Manko durchaus. »Einfühlung …«, hatte er Rapp gegenüber einmal frustriert eingestanden, »… das will ja auch Marianne von mir. Ich verstehe einfach nicht, was sie meint!« Marianne war Rimbouts Frau.
Zu Hause angekommen, stellte Rapp sein Rad zurück in den Schuppen und trug Honoré hinauf in die Wohnung. Sie lag im ersten Stock, über verschiedenen Nutzräumen des Maison Michelberger im Parterre, und er musste mit der freien Hand das dicke geflochtene Hanfseil fassen, das als Geländer diente, um im Hausflur die Stufen der Wendeltreppe unfallfrei zu bewältigen. Die Treppe war steil, und die Stufen waren nicht nur hoch, sondern auch an den Kanten abgetreten.
In der Wohnung ließ sich Honoré ächzend in seinem Hundekorb nieder, als hätte er selbst die Stufen erklommen. Mit gelassenem Blick verfolgte er dann, was Herrchen tat.
Zum Frühstück trank Jean Paul Rapp seinen café grundsätzlich schwarz und ohne Zucker. Doch später am Tag, gegen Nachmittag oder Abend, genoss er ihn lieber au lait und mit einem Löffelchen Zucker. Dazu eine moricette mit etwas Butter oder Käse und ein Salatblatt zum Schlankbleiben, das reichte ihm als Zwischenmahlzeit.
Er klappte seinen Laptop auf und gab den Namen »Alain Kieffer« ein.
Die Nachrichtenseiten der regionalen wie der nationalen Boulevardpresse explodierten vor Berichten über den Mord an Kieffer oder, wie es gern hieß, »an dem bekannten und beliebten Stadtmuseumsdirektor aus Rouffach«. Offenbar die Formulierung einer Nachrichtenagentur, die nicht nur die lokale Presse, sondern auch die Webseiten der großen Blätter in Paris verwendete. Und allesamt schoben sie die Frage hinterher: »Ein Terroranschlag?«
Terror? Dafür gab es nicht den kleinsten Anhaltspunkt. Rapp spülte seinen Ärger über solchen Unsinn mit einem Schluck café hinunter und musste sich zwingen, den Rest der Meldungen wenigstens noch zu überfliegen. Ihm sprangen jedoch keine nennenswerten Details ins Auge, die über das hinausgingen, was er schon wusste.
Er beschmierte eine weitere moricette, die er zuvor auf dem Rückweg in Jeannettes Boulangerie gekauft hatte, noch einmal mit Butter, biss genussvoll ab und legte, während er kaute, den Zeitraum im Suchfenster vor das heutige Datum.
Was war über Alain Kieffer vor dessen Ermordung geschrieben worden? Als Museumsdirektor war Kieffer eine öffentliche Person. Wie hatte die Presse ihn bis dahin wahrgenommen oder besser: dargestellt?
Rapp pflügte sich in der folgenden Stunde chronologisch durch zahlreiche Berichte und erkannte eine Tendenz, je weiter er in der Zeit zurückging.
Die aktuellen Meldungen, in denen der Name Alain Kieffer auftauchte, hatten einen rein sachlichen, beinahe nur Ankündigungscharakter. Sie betrafen ausnahmslos das Rouffacher Stadtmuseum: neu hinzugefügte Inhalte der ständigen Ausstellung über die Geschichte und die Besonderheiten der Region, Sonderausstellungen zu weiteren Themen, mitunter auch nur kurzfristig geänderte Öffnungszeiten oder die »Anpassung der Ticketpreise«. Kieffer wurde mit kurzen Statements zu inhaltlichen Themen zitiert, hin und wieder hatte er auch kleine Interviews gegeben, Fotos von ihm zeigten einen elegant gekleideten Endvierziger mit vollem schwarzem Haar und intelligenten dunklen Augen.
Frühere Meldungen hatten demgegenüber einen ganz anderen Charakter. Insbesondere Berichte aus der Anfangszeit von Kieffer vor knapp zehn Jahren waren in Wirklichkeit äußerst kritische, teils sogar bissige Kommentare über seine Arbeit. Kieffer hatte etliche Neuerungen eingeführt, begnügte sich erklärtermaßen nicht mehr mit der Zurschaustellung alter Münzen, von Gemälden mit bäuerlichen Motiven oder traditioneller Elsässer Kleidung. Nach seinen eigenen Worten wollte er »aufklären und Zusammenhänge deutlich machen, die mit unserem alltäglichen Leben heute zu tun haben«.
Rapp bereute jetzt, das Stadtmuseum so schnöde vernachlässigt zu haben, denn er hatte keine Vorstellung, was genau Kieffer daraus gemacht hatte. Immerhin ließ sich den Presseberichten entnehmen, dass er versucht hatte, seine Themenausstellungen unter Einsatz multimedialer Mittel wie mobiler Audioinformationen, Videoinstallationen und mitunter sogar durch Auftritte, »Performances«, zeitgenössischer Elsässer Künstler umzusetzen.