Geniewahn: Hitler und die Kunst - Birgit Schwarz - E-Book

Geniewahn: Hitler und die Kunst E-Book

Birgit Schwarz

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Beschreibung

Das Buch "Geniewahn. Hitler und die Kunst", das nun in der dritten Auflage erscheint, ist ein Standardwerk zu Adolf Hitlers Kunstverständnis und Selbstkonzept als Künstlergenie und Künstlerpolitiker. Die Autorin folgt diesem Selbstkonzept anhand von Gemälden aus dem Besitz des Diktators, der seine Laufbahn als Maler begann, nach der Ablehnung durch die Wiener Kunstakademie ein Selbstverständnis als verkanntes Künstlergenie ausbildete und dieses nach dem Ersten Weltkrieg zur Grundlage seines gesellschaftlichen und politischen Aufstieges machte. Nach 1929 stattete der politische Aufsteiger seine Münchner Wohnung, nach 1933 der "Führer" und Reichskanzler seine diversen Residenzen mit teils berühmten Gemälden aus, darunter etwa die Toteninsel von Arnold Böcklin (Nationalgalerie Berlin). Das Buch zeigt, welche zentrale Rolle Gemälde und das Sammeln von Gemälden für die Selbstinszenierung und Herrschaftspraxis Hitlers als Künstlerpolitiker und Genieprätendenten spielten.

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Birgit Schwarz

Geniewahn: Hitler und die Kunst

3., durchgesehene Auflage

BÖHLAU

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage © 2009 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar

2. Auflage © 2011 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar

© 2024 by Böhlau, Zeltgasse 1, 1080 Vienna, Austria, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, und V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Coverfoto: Arnold Böcklin, Die Toteninsel, 1883

© Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, Fotograf: Andreas Kilger

Umschlaggestaltung: Michael Haderer, WienEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

3., durchgesehene Auflage

ISBN 978-3-205-22097-8

Schöpfertum und Genialität, Ewigkeitswert und Geheimnis – Begriffe, deren unkontrollierte (und augenblicklich schwer kontrollierbare) Anwendung zur Verarbeitung des Tatsachenmaterials in faschistischem Sinn führt.

Walter Benjamin, 1936 (Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Vorwort)

Inhalt

Vorwort

IProlog: Hitlers italienische Reise

IIHitlers Lieblingsmaler

Hitler, der Deutsch-Römer

Kampf der Zentauren

Manipulationen und Verharmlosungen

Speers Grützner und Hitlers Grützner

IIIHitlers kunsthistorische Lektüre

Malerbiographien als Lebensmodell

Die Kunst für Alle

Hitlers Vasari: Friedrich Pecht

IVGeniewerdung in Wien

Hitlers Schopenhauer

Der verkannte Künstler

Berufung zum Architekten

Architekturzeichner Hitler

VGenie-Refugium München

Eine Kunststadt als Rettungsort

Schacks Gemäldegalerie

Hitlers Karrieretraum

Genie-Vorbild Schinkel

VIDer Hitler-Mythos – ein Geniemythos

Ein Künstler trommelt

Genievorstellungen

Unter Münchner Kunstfreunden

Heinrich Hoffmanns Einfluss

Hitlers Nationalgalerie

Anfänge eines Gemäldesammlers

VIIImageprobleme

Das Braune Haus und der Alte Fritz

Hitlers Häuschen auf dem Obersalzberg

Aquarelle und politische Schöpferkraft

VIIIGemälde im Reichskanzlerpalais

Imitatio Friderici

Hitlers Tafelrunde

Leihgaben aus Berliner Museen

Gescheiterter Versuch einer NS-Kunst

Feuerbachs Gastmahl des Plato für den Festsaal

Bilderkäufe für die Dienstwohnung

Böcklins Toteninsel

IXDer Berghof als Ort der Kunst

Der Hüter des Tals

Lieblingsgemälde in der Großen Halle

Politische Sujets in den Fluren

Eine Inspirationsquelle für den Krieg

XIdeologisierung der Alten Meister

Schacks Bilder im Führerbau

Gerdy Troosts klassische Landschaften

Opferideologie in der Hitler-Suite

Leihgaben aus Wien für die Neue Reichskanzlei

XINS-Kunstpolitik und Genie

Hitlers Kunsttempel

In Erwartung des arischen Genies

Enttäuschung und »Entartete Kunst«

Dilemma eines Geniewahns

Fördermaßnahmen

Hitler und die Berliner Nationalgalerie

XIIHitler plant eine Gemäldegalerie

Stiftungspläne für Linz

Schlüsselerlebnis Uffizien

Hans Posse

Hitler besucht die Dresdner Gemäldegalerie

XIIIKurator Hitler

Hitler erfindet den NS-Kunstraub

Streit um die Rothschild-Sammlungen

Ein Grundstock für Linz

Ankäufe des »Führers« für sein Museum

XIVHommage an einen Kunstfreund

Geschenke zum 50. Geburtstag

Meisterwerke der Malerei A.H.

XVKunstsammeln in Zeiten des Krieges

Hitlers Galerie in Fotoalben

Das »Führermuseum« in der Schack-Galerie

Der Alte Fritz als Sammlervorbild

Propaganda für einen Museumsstifter

Kunst dem Volk

Genie-Inszenierungen

XVIEin Kunstfreund im totalen Krieg

Hitlers letzter Besuch in Linz

»Führerauftrag Monumentalmalerei«

In Sorge um die Kunstsammlungen

XVIIFinale

Mit Friedrich im Bunker

Das Linz-Modell

Bilder überleben

Anhang

Danksagung

Abkürzungen

Anmerkungen

Literatur- und Quellenverzeichnis

Verzeichnis der Bildquellen

Personenregister

Abbildungsnachweis

Die Autorin

Vorwort zur 3. Auflage

Mein Buch Geniewahn. Hitler und die Kunst hat, indem es Hitlers Selbstverständnis als Künstlergenie in den Fokus nahm, Bewegungen in die NS-Forschung gebracht. Das Buch richtet sich aus einer kunsthistorischen Position heraus gegen zwei geläufige Stereotype der zeitgeschichtlichen NS-Forschung: Hitler sei aufgrund seiner schwachen künstlerischen Leistungen und der Abweisung durch die Wiener Kunstakademie ein gescheiterter Künstler; sein späterer Herrschaftsanspruch als „Führer“, der auf seinem Anspruch als Künstlergenie basierte, sei ein Konstrukt der NS-Propaganda. Mit diesen Stereotypen geht eine Trivialisierung und Verharmlosung des Geniekonzepts einher, wesenhafte negative Aspekte wie dessen Amoralität werden ausgeblendet. Dagegen setze ich das von Arthur Schopenhauer entwickelte und während Hitlers Jugend allgegenwärtige Konzept des „verkannten“ Künstlergenies, wonach Scheitern, Unverständnis und Ablehnung notwendige Geniekriterien sind.

Seit Geniewahn 2009 in 1. und 2011 in 2. Auflage erschienen ist, haben zahlreiche zeitgeschichtliche und kunsthistorische Publikationen Ergebnisse meiner Untersuchung aufgegriffen. Vor allem die Hitlerbiographien von Volker Ullrichs (2013 und 2018), Peter Longerich und Wolfram Pyta (beide 2015) nehmen die Persönlichkeit des Diktators und damit auch sein Selbstverständnis als Künstler und Genie ernst. Sie widersprechen damit dem seit Joachim Fests Hitlerbiographie vorherrschenden Theorem von der „Unperson“ Hitlers und der damit verbundenen Un-Authentizität von Hitlers Genieprätendenz. Pytas gewichtige Studie nimmt Hitler als „Künstler-Politiker“ und „Künstler-Feldherr“ in den Blick und macht die Interdependenzen von Kunst und Politik als ein wesentliches Merkmal seiner Herrschaft aus.

In der NS-Kunstraub-Forschung ist das Theorem weiterhin wirksam. Doch Hitler hielt im NS-Kunstraub die Zügel fest in der Hand und zwar mit Hilfe eines flexiblen bürokratischen Instruments, des „Führervorbehalts“, mit dem er sich den Erstzugriff auf beschlagnahmtes Kunstgut sicherte. Ich habe dem „Führervorbehalt“ 2014 eine eigenständige Abhandlung gewidmet (Auf Befehl des Führers). Zugleich ließ der Diktator den involvierten Institutionen und Personen erstaunlich viel Eigeninitiative, wie mein Buch Sonderauftrag Ostmark von 2018 zeigt. Gerade der NS-Kunstraub erweist sich damit als ein hervorragendes Studienfeld für das Teile-und-herrsche-Prinzip nationalsozialistischer Herrschaftspraxis.

Birgit Schwarz

Wien, im März 2024

Vorwort

Der Geniegedanke steht im Mittelpunkt von Hitlers Vorstellungswelt, er ist omnipräsent in seinen Reden, Schriften und Äußerungen, bildet den Kern seiner Weltanschauung und seines Herrschaftssystems. Im Mittelpunkt von Hitlers Interessen stand die längste Zeit seines Lebens die Kunst, insbesondere die Malerei. Jeder weiß, dass er als junger Mann Maler werden wollte. Weniger bekannt ist, dass er eine hochrangige Gemäldesammlung besaß und seinen Lebensabend als Kunstfreund inmitten einer Gemäldegalerie verbringen wollte. Die letzte Verfügung, die er wenige Stunden vor seinem Selbstmord traf, galt der Zukunft der von ihm gesammelten Bilder. Die Autorin setzt voraus, dass es zwischen diesen beiden Tatsachen, dem Genieglauben und der Kunstliebe, einen Zusammenhang gibt und geht dem nach.

»Genie« ist ein historisches Konzept des 18. Jahrhunderts, das in den Jahrzehnten um 1900, als Hitler seine Weltanschauung entwickelte, zu unglaublicher Virulenz gelangte und alle Bereiche des Denkens erfasste. Es handelt sich um die Lehre von der göttlichen Inspiration des Künstlers, die diesem einen priviligierten Offenbarungsanspruch zuerkennt. Nach der Genielehre Immanuel Kants und Arthur Schopenhauers, der Hitler wie viele andere anhing, kann nur ein Künstler ein Genie sein. Damit waren Künstlertum und Genieglaube wie in einem System kommunizierender Röhren miteinander verbunden.

In diesem Zusammenhang erhält Hitlers frühe Biographie, die eine Künstlerbiographie ist und von der Forschung als eine solche immer unterschätzt wurde, erhebliche Bedeutung. In ihrem Mittelpunkt steht die zweimalige Ablehnung von der Akademie in Wien. Die Erzählung davon in Mein Kampf wird falsch gedeutet, wenn man sie als Bericht eines Scheiterns liest. Der angehende Maler verstand sich nicht als gescheitert, sondern als »verkannt«. Einem Topos der zeitgenössischen Künstlerliteratur gemäß war Verkanntsein und insbesondere eine Ablehnung durch die Akademie aber ein wesentliches Kriterium für Genialität.

Dass Hitler die Genievorstellung über das Konzept des verkannten Genies verinnerlichte, war folgenreich: Denn dadurch hat sein Genie ständig mit Widerständen zu kämpfen, es braucht den Kampf und die Katastrophe, um sich zu beweisen, und nicht nur einen Widerpart, sondern einen tödlichen Feind. Damit waren optimale Voraussetzungen geschaffen, das Selbstverständnis als Genie nach dem Ersten Weltkrieg in den politischen Bereich zu übertragen, der durch die hoch gespannte Hoffnung auf einen Führer und Retter, auf ein politisches Genie bestimmt war. Die Sehnsüchte und Hoffnungen breiter Schichten konnten sich deshalb so außerordentlich erfolgreich mit Hitlers Person verbinden, weil sie auf ein ausgeprägtes Geniebewusstsein trafen. Und da sich die Genie-Idee schon längst mit nationalistischen und rassistischen Inhalten aufgeladen hatte, gelang es Hitler problemlos, sein Feindbild vom »geniefeindlichen« Akademiker auf die »geniefeindlichen« Juden und auf den angeblich genievernichtenden jüdischen Bolschewismus zu übertragen. Mit einer radikalisierten rassistischen und antisemitischen Genielehre begründete Hitler sowohl die Herrschaft des Ariers als auch seine mörderische Judenpolitik.

Da der Hitler-Mythos ein Geniemythos war, musste der Diktator sein »Genie« ständig und in steigendem Maße durch Belege seines Künstlertums legitimieren. Die Propaganda wurde nicht müde, ihn als Künstler und Genie zu feiern. Mit dem politischen Aufstieg verlagerte Hitler sein künstlerisches Selbstverständnis verstärkt auf die Rolle des genialen Kunstmäzens, Bauherrn und Gemäldesammlers in der Nachfolge Ludwigs I. von Bayern und vor allem Friedrichs II. von Preußen. Die Kunstbesessenheit des Dritten Reiches hat hier ihre Wurzeln. In diesem Zusammenhang spielten Gemälde eine wichtige Rolle, denn sie galten innerhalb der bildenden Kunst als das eigentliche Medium des Genies. Hitlers Selbstkonzeption als Genie wurde durch seine Sammlungsaktivitäten und Kunstbetrachtungen wesentlich gestützt. In den Bildern, die er erwarb, sah er Produkte verkannter Genies, als deren Retter er sich fühlte, vergleichbar seinem Vorbild Adolf Friedrich Graf von Schack, der in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in München als Mäzen zeitgenössischer Maler gewirkt hatte.

Das Gemäldesammeln, das Ende der zwanziger Jahre klein in der Münchner Privatwohnung begonnen hatte, führte Hitler nach 1933 mit zunehmender Dynamik für die Staats- und Parteibauten weiter – für das Reichskanzlerpalais in Berlin, den Berghof auf dem Obersalzberg, den Führerbau in München und die Neue Reichskanzlei in Berlin. Es gipfelte nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 in den Aktivitäten für das in seiner Heimatstadt, dem oberösterreichischen Linz, geplante »Führermuseum« und einem gewaltigen Museumsprogramm, das die Herrschaft des Ariers kulturell legitimieren sollte. Damit verbunden war ein gezielter Zugriff auf jüdische Kunstsammlungen. Denn nach Hitlers fataler Überzeugung zerstörten die Juden nicht nur die lebenswichtige Kulturgrundlage des deutschen Volkes durch die »schlechte« moderne Kunst, sondern entzogen ihm auch alle »gute« wahre Kunst, die für Hitler immer Kunst der Genies war, um die Regeneration der schöpferischen Energien des deutschen Volkes zu verhindern. Höchstpersönlich erfand er den nationalsozialistischen Kunstraub, d.h. einen staatlichen Raub von Kunstwerken nicht primär wegen ihres Vermögenswertes, sondern um ihres Kunstwertes willen, d.h. der Genie-generierenden Kraft, die Hitler ihnen zuschrieb.

Als die Kriegslage katastrophal wurde und der Mythos vom »Führer« als einem auch militärischen Genie erodierte, wurde die Selbstbestätigung als Gemäldesammler immer wichtiger. Deshalb verfolgte Hitler seine Sammlungsinteressen auch unter den Bedingungen des totalen Krieges konsequent und mit Nachdruck, kümmerte sich – während der Bombenkrieg Deutschland in Schutt und Asche sinken ließ – persönlich um die Luftschutzmaßnahmen für seine Kunstwerke und verbot im April 1945 deren Zerstörung. Bezüglich seiner Kunstsammlungen gab es keinen »Nerobefehl«, vielmehr legte Hitler in seinem persönlichen Testament der Nachwelt die Realisierung seiner Galerie ans Herz.

Nach dem Krieg und im Schock über die katastrophalen Folgen der Verirrung wurde der Geniebegriff aus der Hitlerforschung weitgehend ausgeschlossen. Der Widerwille gegen den penetranten NS-Geniekult, vom »Führer«, der die Geschichte allein bestimmt habe, war mehr als verständlich. Dennoch wirkt die Genievorstellung weiter in der Umdeutung Hitlers zum Wahnsinnigen oder gar leibhaftigen Teufel, ein Antagonismus, der aus der Genielehre vertraut ist. So urteilte der für die folgenden Ausführungen wichtige Kunstschriftsteller Friedrich Pecht über die Einschätzung Franz von Lenbachs, eines auch von Hitler hoch geschätzten Malers, das Münchner Publikum habe diesen erst verkannt, dann aber erkannt, dass Lenbach »auf jeden Fall ein Genie, am Ende gar der Teufel« sei. Pecht antizipierte hier das Muster der Hitler-Rezeption.

Ohne den Geniebegriff, der im Zentrum von Hitlers Selbstverständnis, Machtvorstellung und Weltbild steht, bleibt das »Rätsel Hitler« letztlich unerklärbar. Das vorliegende Buch plädiert dafür, ihn deshalb kritisch auf das Phänomen Hitler anzuwenden, und zwar in seiner ganzen Bedeutungsbreite. Es geht darum, dass wir uns von der üblich gewordenen Trivialisierung des Begriffs lösen, der heute als Synonym für große Künstler verwendet wird. Der historischen Genielehre waren die negativen Aspekte des Genies, seine wesenhafte Amoralität, immer präsent. Joseph Goebbels, der Propagandist von Hitlers angeblicher Genialität, stellte in seinem autobiographischen Roman Michael ganz lapidar fest: »Genies verbrauchen Menschen. Das ist nun mal so.«

Die kritisch befragte Genievorstellung im umfassenden Sinne hilft fundamentale Probleme der Hitlerforschung zu lösen. Sie kann den Widerstreit des strukturalistischen mit dem personalen Geschichtsmodell zu einer Synthese führen. Gemeint ist die Kontroverse darüber, wer die Geschichte bestimmt, der Einzelne oder die Gesellschaft. Zwar gehört der Anspruch, allein geschichtsbestimmend zu sein, zur Ideologie des Genies. De facto aber braucht der Genieprätendent stets den Anderen, die Gesellschaft, die Masse als Kontrastfolie, um sich abzuheben und sich in seiner Sonderrolle bestätigen zu lassen. Zudem existiert das Genie nur als Konzept und kann daher erst in gesellschaftlicher Übereinkunft geschichtswirksam werden. Das Genie ist, wie der Literaturwissenschaftler Jochen Schmidt in seinem Standardwerk über die Geschichte des Geniegedankens dargelegt hat, ganz wesentlich das Produkt einer Verehrergemeinde.

In seinen Anmerkungen zu Hitler schrieb Sebastian Haffner: »Man kann suchen, solange man will, man findet in der Geschichte nichts Vergleichbares. […] Niemals erweist sich derselbe Mann als scheinbar hoffnungsloser Stümper, dann ebenso lange Zeit als scheinbar genialer Könner und dann wiederum, dieses Mal nicht nur scheinbar, hoffnungsloser Stümper. Das will erklärt sein.« Tatsächlich gleitet Hitler aus der Rolle des verkannten in die des erkannten Genies, um dann wieder in den Zustand des Verkanntseins zurückzukehren – ein nach der Genielehre quasi natürlicher Prozess.

Prolog: Hitlers italienische Reise

Im Mai 1938 war Hitler auf Staatsbesuch in Italien und zum ersten Mal in seinem Leben in den Kunststädten Rom, Neapel und Florenz.Gastgeber Mussolini habe ihm »auch das Italien der erhebenden Kultur und der schönen Künste gezeigt«, resümierte NSDAP-Reichspressechef Otto Dietrich. Das war eher untertrieben. Hitler hatte ungewöhnlich viele Museen, vor allem Gemäldegalerien besucht. Lediglich der erste Besuch der Mostra Augustea della Romanità, eine Ausstellung zum 2000. Geburtstag des Kaisers Augustus, der als Vorgänger des italienischen Faschismus herhalten musste, war davon politisches Pflichtprogramm.1 Nicht jedoch die verschiedenen Galerien, die zu sehen offenbar ein persönlicher Wunsch Hitlers war. Mussolini jedenfalls hatte für Malerei wenig übrig. Und da er von seinem Besuch in München im Herbst zuvor Hitlers Kunst-Faible kannte, hatte er ihm wohlweislich einen persönlichen Fremdenführer an die Seite gegeben, den Archäologen und Kunsthistoriker Ranuccio Bianchi Bandinelli (1900–1975), nach dem Krieg einer der bedeutendsten italienischen Geisteswissenschaftler.

Bianchi Bandinelli, der 1944 der kommunistischen Partei Italiens beitreten sollte, gab in seinem 1948 erschienenen Diario di un borghese Rechenschaft über seine Funktion als Begleiter des deutschen Diktators. Der Pisaner Professor, der für das deutsche Regime so wenig Sympathie aufbrachte wie für das italienische, hatte sich dem Auftrag zu entziehen versucht. Doch in der Auffassung des Ministeriums war er der geeignete Mann – nicht nur wegen seiner fachlichen Voraussetzungen; eher noch weil er als Sohn einer deutschen Mutter hervorragend Deutsch sprach und mit der deutschen Kultur eng vertraut war.

Mit der ganzen Überheblichkeit eines aus Sieneser Adel stammenden Gelehrten ging Bianchi Bandinelli an die Aufgabe heran, fehlte doch seiner Überzeugung nach Politikern per se jegliches Sensorium für Kunst. Umso mehr war er verwundert, aus dem Gefolge Hitlers wiederholt die Behauptung zu hören: »Unser Führer ist ein großer Künstler«, jene Propagandaformel, die Goebbels den Deutschen schon seit Jahren einzuhämmern versuchte. Bianchi Bandinelli war skeptisch. Unwillkürlich musste er an die Verbannung der Avantgarde aus den deutschen Museen und an die erste Große Deutsche Kunstausstellung1937 in München denken, die er offenbar besucht hatte, kam ihm doch das dort ausgestellte und nicht im Katalog abgebildete Aktgemälde Terpsichore von Adolf Ziegler in den Sinn, von dem er wusste, dass Hitler es angekauft hatte. Wenn dieser sterile Frauenakt den Kunstgeschmack des »Führers« repräsentierte, wovon auszugehen war, dann war von dessen angeblichem Künstlertum wenig zu erwarten.

Was sich am 7. Mai in Rom im Thermenmuseum zwischen den Kunstwerken der Antike abspielte, bestätigte alle Vorurteile, ja übertraf seine schlimmsten Erwartungen: Führer und Duce versuchten einander durch großsprecherische, klischeehafte Kommentare zu übertreffen und Bianchi Bandinelli fand sich unversehens in der schwierigen Situation wieder, die gereizten Differenzen ausgleichen zu müssen. Anschließend begab sich der Tross in die Galleria Borghese mit den Meisterwerken aus Renaissance und Barock. Dort verbarg der genervte Mussolini sein Desinteresse nicht länger und setzte sich mit seinem Gefolge ab. Hitler, den der ständig zum Weitergehen drängende Mussolini in seinem Kunstgenuss gestört hatte, entspannte sich.2 Überrascht bemerkte Bianchi Bandinelli, dass die Gemälde ihn berührten: »Viele Male äußerte sich seine Bewunderung in einer Art Röcheln aus der Tiefe seiner Kehle; oder in einer zögerlichen Beobachtung oder Frage in seinem dialektgefärbten Deutsch. Dann aber, wenn ihn eine Sache besonders getroffen hatte, wurde er lebhaft, als sei ein elektrischer Kontakt hergestellt, und er wendete sich an sein Gefolge: ›Sehen Sie, meine Herren …‹ Den Blick immer im Ungewissen, flossen die Worte nun leicht, und der Dialekt milderte sich. Wer ihm so nahe kam, konnte in ihm den Sentimentalen, den Romantiker, auch den Fanatiker entdecken.«

Bianchi Bandinelli entnahm den Reaktionen Hitlers echte Ambition für die Malerei. Er habe sich von den barocken Gemälden Guido Renis, Guercinos, der Carracci begeistern lassen, mehr noch als von den Werken eines Botticelli und Carpaccio, die stilistisch sehr viel besser zu dem Aktgemälde Zieglers passten. Die »Primitiven«, also die gotischen Meister des 13. und 14. Jahrhunderts, seien ihm allerdings fremd gewesen. Bianchi Bandinelli führte auch aus, von welchen Aspekten Hitler angetan war und brachte einen erstaunlichen Kriterienkatalog zusammen: Er habe den Bildgegenstand, das technische Vermögen der Maler, die Lebendigkeit der Farben und den psychologischen Ausdruck bewundert, also alles das, was Nichtfachleute an der Malerei so bewunderten. Nach dem Urteil des elitären Kenners waren das zwar die falschen Kriterien, die in seinem Sinne richtigen wären wohl Stil- und Zuschreibungsfragen gewesen. Gleichwohl ist seine Beurteilung gönnerhaft positiv: »Niente di male in ciò« – »Woran nichts Schlechtes ist.«

Beim Verlassen der Galerie erklärte Hitler: »Wenn ich noch Privatmann wär, würd ich wochenlang hier bleiben. Manchmal tut’s mir leid, Politiker gworden su [sic!] sein.« Bianchi Bandinelli zitierte ihn auf Deutsch und fuhr dann auf Italienisch fort: »Und er spann die Vorstellung weiter, einmal nach Italien zurückzukehren, vielleicht eines Tages, wenn in Deutschland alles in Ordnung gebracht sein würde, und ein Häuschen in der Umgebung von Rom zu beziehen und inkognito die Museen zu besuchen.« Er war nun überzeugt davon, »dass dieser Mann eines Morgens hätte aufstehen können und sagen: ›Es reicht, ich habe mich getäuscht, ich bin nicht mehr der Führer‹.«

Jahre später sollte Hitler erzählen, er habe sich gewünscht, wie ein unbekannter Maler in Italien bzw. Neapel (die Überlieferung ist hier unklar) herumstreichen zu können: »Stattdessen: hier Gruppen, dort Gruppen, der Duce dazu, der nicht mehr als drei Bilder sehen kann; so sah ich [in Neapel am 5. Mai] überhaupt nichts an Gemälden.«3 Freilich sollte er für diese erzwungene Zurückhaltung am 9. Mai reichlich entschädigt werden. Am letzten Tag der italienischen Reise machte der Führer-Sonderzug auf dem Weg in den Norden Station in Florenz, Geburtsort der Renaissance und Sehnsuchtsort deutscher Künstler.4 Wiederholt sollte Hitler später beteuern, dass er diesen Tag besonders genossen habe. Hier war er dem Zeremoniell entronnen, das ihm in Rom so missfallen hatte, und konnte sich »ganz dem Kunstgenuß und der Schönheit der Stadt« hingeben.5 Nach dem Empfang durch Mussolini am Bahnhof führte eine Rundfahrt durch herausgeputzte und flaggengeschmückte Straßen auf den Piazzale Michelangelo mit der berühmten Aussichtsterrasse (Abb. 1). Von hier aus schweift der Blick über die Dächer und Kuppeln der Stadt bis hin zu den Hügeln von Fiesole. Lange verweilte der »Führer« vor dem spektakulären Panorama und murmelte wieder undeutliche Töne der Bewunderung. Dann brach es unvermittelt aus ihm heraus: »Endlich; endlich verstehe ich Böcklin und Feuerbach!« Er identifizierte sich mit zwei deutschen Malern, die lange Jahre in Italien, unter anderem in Florenz gelebt und ihre Malerei an der Antike und der Renaissancemalerei orientiert hatten, den sogenannten Deutsch-Römern Anselm Feuerbach und Arnold Böcklin.

Abb. 1: Hitler und Mussolini auf dem Piazzale Michelangelo in Florenz, 9. Mai 1938

Anschließend wurde Bianchi Bandinelli Zeuge des Vorgangs, wie sich Hitlers Kunstleidenschaft direkt und höchst emotional mit seinen ideologischen Vorstellungen verknüpfte: »Und wenn man denkt: Wenn der Bolschewismus gekommen wäre, wäre heute all dies zerstört wie in Spanien. Die Toskana, das kulturell reichste Land der Welt!« Und weiter mit kreischender Stimme: »Ich werde es nie dulden, dass in Deutschland jemand wieder solche Gedanken hat. Man muss das gleich mit aller Gewalt vernichten. Mussolini hat sich hier einen großen Verdienst an der Menschheit erworben!« Zwanghaft mit der Kunst verbunden waren bei Hitler Gedanken, sie sei gefährdet durch den Bolschewismus und das internationale Judentum. Er spielte sich mit Vorliebe als ihr Retter auf: »Hätte in Deutschland der Nationalsozialismus nicht in letzter Stunde gesiegt und den jüdischen Weltfeind zu Boden geworfen, dann würde entsprechend der vom Judentum beabsichtigten Entwertung unseres Volkes […] auch die Entwertung, weil Entfremdung unserer Kunst planmäßig fortgeschritten sein«, sollte er bald darauf in seiner Rede auf der Kulturtagung des Parteitages der NSDAP in Nürnberg verkünden.6

Nach diesem Auftritt fuhr der Konvoi in die Innenstadt, wo sich nach der Gedenkstätte für die gefallenen Faschisten in der Krypta von Santa Croce der Besuch zweier Galerien anschloss. Der Direktor des deutschen Kunsthistorischen Instituts in Florenz, Friedrich Kriegbaum, führte durch den Palazzo Pitti; durch den Vasari-Korridor ging es dann über den Arno in die weltberühmte Galerie der Uffizien (vgl. Abb. 89). Hitler, der erstaunlich viel Zeit auf die Betrachtung eines einzigen Bildes verwenden konnte, verbrachte geschlagene vier Stunden dort. Vor einem Tizian verweilte er so lange, dass Kriegbaum einen Moment lang befürchtete, Mussolini könne versucht sein, ihm das Werk zu schenken. Für den Duce wurde der Galeriebesuch wieder zur Qual; voller Überdruss soll er gestöhnt haben: »Tutti questi quadri!« (»All diese Gemälde!«)7 Und als ob es noch nicht genug gewesen sei, besuchte man anschließend noch eine Ausstellung antiker Waffen im Palazzo Vecchio und empfing 150 italienische Künstler. Erst dann trat man auf den Balkon, um sich von den versammelten Massen huldigen zu lassen. Zum Abschluss seines Staatsbesuchs ließ Hitler verlautbaren, er habe diese Reise nicht nur als Staatsmann, sondern auch als Künstler erlebt.8

Bianchi Bandinellis Beobachtungen legen den Schluss nahe: Der Mann, der für den Holocaust verantwortlich war und Europa in einen verbrecherischen und verheerenden Krieg stürzte, besaß ein Sensorium für Malerei, und zwar durchaus für deren spezifische künstlerische Qualitäten. Das haben auch zahlreiche Personen aus Hitlers engster Umgebung beobachtet. Doch anders als diese Zeugen aus dem Dunstkreis des Diktators war der Italiener ein vergleichsweise neutraler, fachlich kompetenter, auch psychologisch außerordentlich einfühlsamer Beobachter, zudem ein hervorragender Literat. Er behauptete die Authentizität von Hitlers Leidenschaft für die Malerei.

Für Hitler war die Kunst nicht nur Mittel der Propaganda, offenbar gab sie ihm auch persönlich etwas, das sogar seinem Arzt Hans Karl von Hasselbach, dem kritischsten und in seinen Aussagen verlässlichsten unter Hitlers Ärzten, erwähnenswert erschien: »Hitler war gefesselt von den Bildern, die ihm gehörten, und sprach oft über sie. Kunst war die Batterie, die seiner Psyche neue Energie verschaffte.«9 Das Entwerfen von Architektur und Möbeln, Kunstbetrachtung, Mäzenatentum und Kunstsammeln behaupteten künstlerisches Schöpfertum und waren damit unentbehrliche Instrumente der Suggestion und Selbstsuggestion, ein großes Genie zu sein.

Aber noch etwas anderes hat Bianchi Bandinelli zum Ausdruck gebracht: Kunst hatte auf Hitler keine Wirkung im Sinne einer Veredelung, in seiner Fähigkeit zum Kunstgenuss formte sich keine Humanität, wie idealistische Kunstphilosophie es lehrte und lehrt. Hitler definierte sich als Schüler des Philosophen Arthur Schopenhauer, der die Kunst nicht in den Dienst der moralischen Vervollkommnung des Menschen gestellt sehen will.10 Er setzte Kunstliebe als Katalysator für seinen Hass ein und – wie wir noch sehen werden – als Motor für eine verbrecherische Politik. »Kunst ist eine zum Fanatismus verpflichtende Mission«, hatte er in seiner ersten Kulturrede auf dem Nürnberger Parteitag 1933 behauptet.11 Und auf einer Bronzetafel über dem Eingang des Hauses der Deutschen Kunst konnte man es als Motto lesen:

»Die Kunst ist eine erhebende und zum Fanatismus verpflichtete Mission.«

Hitlers Lieblingsmaler

HITLER, DER DEUTSCH-RÖMER

»Endlich; endlich verstehe ich Böcklin und Feuerbach«, ist ein Schlüsselsatz für Hitlers Kunstverständnis. Hitler, der sich von der NS-Propaganda als größter deutscher Künstler feiern ließ, inszenierte auf der Aussichtsterrasse oberhalb von Florenz sein italienisches Bildungserlebnis. Er präsentierte sich als wahrer Deutsch-Römer, wie er es später noch häufiger getan hat, sogar während des Krieges: »Wenn der schreckliche Krieg endlich zu Ende ist, will ich in den Albaner Bergen zeichnen und malen wie viele deutsche Künstler vor mir«, überlieferte Henriette von Schirach, die Tochter seines Freundes und Fotografen Heinrich Hoffmann.12 Da Böcklin und Feuerbach als deutsche Malergenies galten und gemäß der Genielehre, deren Anhänger Hitler war, sich nur ein Genie in ein anderes versetzen kann, behauptete er damit zugleich seine eigene Genialität.

Mit diesem Ausruf stellte er einen Bezug zu Mussolinis Staatsbesuch in München im September zuvor her. Zu diesem Anlass hatte Hitler seine dortige Residenz eingeweiht, den Führerbau, und ihn mit Gemälden des 19. Jahrhunderts aus der Schack-Galerie schmücken lassen, darunter Hauptwerke Böcklins und Feuerbachs. Sie sollten dem italienischen Gast in der Stadt, die auch als die nördlichste Italiens gerühmt wurde, die immerwährende Liebe der Deutschen zu Italien, seiner Kunst und Kultur demonstrieren und der politischen Achse Berlin-Rom eine persönliche Beglaubigung und eine kulturelle Legitimation verschaffen.

Hitler verehrte Böcklin und Feuerbach schon seit langem. Als er in den zwanziger Jahren den Plan für eine deutsche Nationalgalerie skizzierte, wies er beiden Malern Haupträume zu (siehe Abb. 21 und S. 103ff.). Vor allem nannte er mehrere Hauptwerke sein Eigen, darunter eine Version der Nanna von Feuerbach und eine Fassung der Toteninsel von Böcklin. Böcklin hatte zuletzt in S. Domenico bei Fiesole gelebt und liegt dort auch begraben, einem Ort an den Hängen des Apennins, der vom Piazzale Michelangelo aus zu sehen ist. Er hatte die griechische und römische Mythologie als Bildthema wiederbelebt und seine Landschaften mit Panen, Nereiden und Zentauren bevölkert. Mit ihm sei der Bund vollbracht, habe sich Germanisches und Griechisches (und damit meinte er auch Italienisches) vereinigt, hatte der Heidelberger Ordinarius für Kunstgeschichte, Henry Thode, 1905 verkündet.13 Thode, als Renaissanceforscher profiliert, hatte ebenfalls Jahre in Florenz verbracht und dort dem Kreis Böcklins angehört. Seit er mit Daniela von Bülow verheiratet war, der Stieftochter Richard Wagners, setzte er sich unter dem Einfluss seiner Schwiegermutter Cosima für die deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts ein. Beeinflusst wurde er dabei von seinem Schwager Houston Stewart Chamberlain und dessen rassistischer Kulturgeschichte Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, die auch großen Einfluss auf Hitlers Denken ausübte.

Chamberlains Buch schildert die abendländische Geschichte als einen Kampf der Rassen. Die arische Rasse, insbesondere die Germanen, galten Chamberlain als das einzig kulturschöpfende Volk, dem Griechen und Römer in Wesensart und rassischer Herkunft eng verwandt waren. Das Gedeihen der griechischen und römischen Kultur sei vor allem dem Einfluss »nordischer Stämme« zu danken. Germanen, dem rauhen Klima ihrer Heimat entflohen, hätten in den sonnigen Gefilden Italiens und Griechenlands ihre kulturschöpferischen Fähigkeiten entwickelt und die dortigen Kulturen befruchtet. Auch für Hitler gehörten Griechen, Italiener und Germanen einer arischen Grundrasse an, weswegen, so führte er aus, »der Funke der hellenischen Kunst im Augenblick der Berührung mit spätnordischen Menschen« sofort auf diese übergesprungen sei.14

Die behauptete Rasseverwandtschaft löste für Hitler das Problem, dass er selbst dem arisch-nordischen Rasseideal des blonden, hochgewachsenen Germanen ganz und gar nicht entsprach. Offiziell war dies ein Tabu-Thema, intern erklärte er, ein »mediterraner Mensch« zu sein, der wie Iphigenie das Land der Griechen mit der Seele suche.15 Er ordnete sich also den »Chamberlainschen« in den Süden ausgewanderten Germanen zu, die schon Hochkulturen hervorgebracht hätten, als ihre im Norden verbliebenen Brüder, wie er verschiedentlich etwas verächtlich bemerkte, noch in Höhlen gehaust hätten. »In derselben Zeit«, notierte Henry Picker seine Ausführungen im Führerhauptquartier vom 7. Juli 1942, »in der unsere Vorfahren die Steintröge und Tonkrüge hergestellt hätten, von denen unsere Vorzeitforscher so viel Aufhebens machten, sei in Griechenland eine Akropolis gebaut worden.«16

KAMPF DER ZENTAUREN

Die Aufenthalte der deutschen Künstler im Süden hatten oft auch den Charakter der Flucht vor den engen und politisch problematischen Verhältnissen im Vaterland angenommen und waren daher mit dem Verdacht unpatriotischer Gesinnung behaftet. Feuerbachs Biograph Friedrich Pecht urteilte: »Alles deutsche Wesen war dem Egoismus dieser vornehmen Natur früh antipathisch, da ihr selber gerade das fehlte, was jene Schwerfälligkeit allein erträglich macht: das Gemüt.«17 Die Nationalgalerie in Berlin hatte ihr erstes Böcklin-Werk, Die Gefilde der Seeligen, 1878 nur gegen erhebliche Widerstände erwerben können. Im preußischen Abgeordnetenhaus wurden die »Nuditäten und Pseudoantike« des Malers gegeißelt und zur »Pflege deutschen Geistes und deutschen Wesens« aufgerufen.18

Doch in den achtziger Jahren war die öffentliche Meinung umgeschlagen, vor allem der Deutsch-Schweizer Böcklin galt nun als Verkörperung eines wahrhaft deutschen Künstlers. 1895 resümierte der Kunsthistoriker Richard Muther: »Auch Arnold Böcklin hatte wie Feuerbach Jahrzehnte lang unter dem Unverstand der Masse zu leiden. Wo ein Werk von ihm auftauchte, wurde es mit Hohn überschüttet, mit den törichtsten Witzen verfolgt. […] heute besteht wohl bei Niemandem mehr ein Zweifel, dass in Böcklin der größte Genius des 19. Jahrhunderts zu verehren ist.«19 Seine zuvor kritisierte Schaffensweise, die angeblichen koloristischen Brutalitäten und schreienden Farben, wurden nun als Negation des Impressionismus gedeutet, der Maler als Überwinder der französischen Vorherrschaft in der Kunst gefeiert. Böcklin war zum Heros einer neuen deutschen Kunst mutiert. Nach seinem Tod 1901 kannte die nationalchauvinistische Vereinnahmung dann kaum noch Grenzen. Fritz von Ostini sprach ihm 1904 in seiner Böcklin-Monographie, die in der populären, gut bebilderten Reihe der Knackfuß-Künstlermonographien erschien, ein »urgermanisches Wesen« und seinen Werken »der tiefste persönliche Gehalt von allen Bildern des Jahrhunderts« zu.

Die antifranzösische und nationalchauvinistische Stoßrichtung des Böcklin-Kultes rief den entschiedenen Widerspruch des bekannten Kunstschriftstellers und Kunstkritikers Julius Meier-Graefe hervor, der den Impressionismus in seiner 1904 erschienenen dreibändigen Entwicklungsgeschichte der Modernen Kunst als logische Konsequenz der europäischen Malereigeschichte gefeiert hatte. 1905 legte er seine Kampfschrift Der Fall Böcklin und die Lehre von den Einheiten vor, in der er die »Gedankenkunst« des Künstlers als anachronistisch und die grassierende Böcklin-Begeisterung als Ausdruck eines kulturellen Niedergangs Deutschlands wertete. Das Pamphlet rief den entschiedenen Widerspruch Henry Thodes hervor, zumal Meier-Graefe sich im Titel ausdrücklich auf Nietzsches Schrift Der Fall Wagner von 1888 bezogen hatte.20 In einer Vorlesungsreihe über neudeutsche Malerei, die Thode in diesem Sommer an der Universität Heidelberg hielt, bestimmte er die deutsche Kunst als Gedankenkunst, ihre charakteristische Eigenschaft sei die Idee und deren Umsetzung in der künstlerischen Phantasie. Beim Impressionismus handle es sich hingegen um bloße Sensation, um Sinnlichkeit unter Ausschluss der Phantasie und damit um eine unkünstlerische Richtung, die undeutsch, ja antideutsch sei.21 Dieser Stil habe keine Zukunft, sei genau betrachtet schon tot. Und er endete: »Die Kunst ist krank. Schauen wir ihrer Gesundung entgegen!«22 Thodes Vorlesungen wurden noch im selben Jahr unter dem Titel Böcklin und Thoma publiziert.

Der öffentliche Skandal, der auf Thodes Thesen entbrannte und der in einem Lesebrief-Duell des Impressionisten Max Liebermann mit dem Heidelberger Kunsthistoriker in der Frankfurter Zeitung gipfelte, ist als Böcklin-Streit in die Kunstgeschichte eingegangen. Zwar hatte der Kampf um Böcklin, so ein Buchtitel von 1906, damit seinen Zenit überschritten, aber das Ende noch lange nicht erreicht. Ludwig Justi, Direktor der Nationalgalerie in Berlin, klagte noch 1920, leider sähen immer noch viele »in der Liebe zu Italien eine Art Landesverrat«.23

Der Böcklin-Streit schwelte sogar in der NSDAP-Spitze weiter. Ein besonders scharfer Kritiker des Malers war Alfred Rosenberg, einer der führenden Rasse-Ideologen und Kulturpolitiker der Partei. Mit Hitler teilte er sein Selbstverständnis als verhinderter Maler. In Reval geboren, dem heutigen Tallinn, hatte er ursprünglich Malerei studieren wollen, sich in seiner Jugendzeit im »Abzeichnen Alt-Revals« geübt und fleißig kopiert, »um Hand und Auge zu üben.« Wie Hitler hatte er sich dann jedoch der Architektur zugewandt, im Unterschied zu diesem indes ein Architekturstudium absolviert. Doch sein ganzes Leben, so der Chefideologe der NSDAP, habe ihn »ein stilles Bedauern beschlichen, nicht ganz bei der Malerei geblieben zu sein«.24

Rosenbergs Einfluss auf Hitler war in den frühen zwanziger Jahren stark, als beide zum engsten Kreis um Dietrich Eckart gehörten. Hitler stimmte mit Rosenbergs Grundgedanken, vor allem mit dessen rassistischem Geschichtsbild, überein und hat dessen Antibolschewismus übernommen. Die biographischen Parallelen und künstlerischen Interessen bildeten die persönliche Basis ihrer Verbindung und ihrer gemeinsamen ideologischen Überzeugungen. Beide teilten eine tiefe Abneigung gegen die avantgardistische Moderne. In seinem Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts widmete sich Rosenberg ausführlich dem Wesen der germanischen Kunst, er selbst bezeichnete diesen Teil seines Werkes als den entscheidenden. Es habe ihn geschmerzt, wie wenig beachtet worden sei, »daß hier ein Versuch einer neuen Philosophie der Kunst gewagt worden war«.25 Man habe nur den kämpfenden Politiker beurteilt und nicht einen Menschen, der von der »Kunst des Auges« aus an das Leben herangetreten sei, bedauerte er nach dem Krieg, bevor er 1946 als Kriegsverbrecher in Nürnberg hingerichtet wurde.

Im Mythus übte Rosenberg massive Kritik an den populären Bildmotiven Böcklins: »Die Toteninsel heute noch an die Wand zu hängen, ist innere Unmöglichkeit geworden. Das Spiel der Nymphen in den Wellen drängt uns einen Stoff auf, den wir einfach nicht mehr vertragen können. Die Frauen mit griechisch-blauen Gewändern unter den Pappeln am dunklen Fluß; die durchs Feld schreitende Flora; die Harfenspielerin auf grüner Erde, das alles sind Dinge, die für uns einen künstlerischen Widersinn bedeuten und Böcklins starke Ursprünglichkeit, wie sie in anderen Werken ewig hervorbricht, immer wieder verfälschen.«26 Die Arbeiten am Manuskript hatte Rosenberg Mitte der zwanziger Jahre abgeschlossen, das Buch war jedoch erst 1930 erschienen. Damals hatte Hitler gerade begonnen, für seine Münchner Wohnung Kunst zu sammeln – seine erste Erwerbung soll eine Böcklin-Zeichnung gewesen sein.27 Im engeren Kreis distanzierte er sich verschiedentlich von Rosenbergs Buch.28 Wie wenig er mit dessen Urteil übereinstimmte, demonstrierten die Böcklin-Gemälde in seiner Privatwohnung und im Berghof. Und dass es ihm keineswegs zur inneren Unmöglichkeit geworden war, die Toteninsel an die Wand zu hängen, demonstrierte er ab 1936 im Empfangssaal des Reichskanzlerpalais (vgl. S. 152ff.).

Der Streit um Böcklin ging auch in diesem Fall über Geschmacksfragen weit hinaus: Rosenberg wollte in seiner Schrift, die auf Chamberlains Grundlagen des 19. Jahrhunderts aufbaute, dessen Persönlichkeitsbegriff überwinden und eine neue »Religion des Blutes«, eine neue Metaphysik der Rasse begründen. Für Hitler baute der Nationalsozialismus indes »auf der schöpferischen Kraft und Fähigkeit der einzelnen Person« auf. Ein Grunddissens lag also in der von Rosenberg angestrebten Überwindung der Persönlichkeit im Typus und der Abschaffung des individuellen Genies. Denn für Hitler war das Endziel arischen Kunstschaffens der große Einzelne, das geniale Individuum. In seiner ersten Kulturrede auf dem Parteitag in Nürnberg 1933 führte er aus, nicht jeder, der zu einer schöpferischen Rasse gehöre, sei ein schöpferischer Künstler, aber nur aus einer schöpferischen Rasse werde sich das Genie erheben, das »die Mensch gewordene komprimierte Fähigkeit seines Volkes« sei. In seiner Kulturrede von 1937 bezeichnete er es dann sogar als großen Irrtum, »zu glauben, daß die Genies jemals zu Zehntausenden vom Himmel fallen könnten«.29

Rosenbergs Einfluss auf die Kunstpolitik des Dritten Reiches ging seit Mitte der dreißiger Jahre rapide zurück. Dann jedoch fand er noch einmal als Malereifachmann, als Kenner europäischer Kunstgalerien Verwendung; er hatte 1914 Paris besucht und den Louvre kennengelernt, in Petersburg und Moskau gelebt und die dortigen Museen studiert, er kannte die Galerien in Dresden, Berlin und München und die Besuche hatten ihn, nach eigener Aussage, tief geprägt. Und genau das war der Grund, weshalb Hitler ihn 1940 zu seinem größten Kunsträuber machte. Als Leiter des »Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg« (ERR) trug er eifrig und effizient jüdische Kunstsammlungen und jüdisches Kulturgut in den besetzten Ländern zusammen. Von Anfang an unterlagen die beschlagnahmten Kunstwerke jedoch der persönlichen Verfügung Hitlers, der sie den Museen der Ostgebiete des Großdeutschen Reiches zuzuteilen beabsichtigte. Die Sachverwaltung für das Verteilungsprojekt lag bei Hitlers Sonderbeauftragten für Kunstfragen, Hans Posse.30 Unentwegt verteidigte der Sonderstab Bildende Kunst des ERR in den folgenden Jahren seine Beute gegen die Zuständigkeit des Sonderauftrags. 1943 wurden die Daten und Fotos der Gemälde dennoch in die Dresdner Zentralkartei des Sonderauftrags aufgenommen, 1944, als ein sicheres Bergungsdepot im Salzbergwerk von Altaussee gefunden war, auch die Objekte, bis dato in bayerischen Schlössern deponiert, dorthin abtransportiert.31 Wie weit die symbolische und gedankliche Verfügung Hitlers bereits ging, zeigt die Beobachtung Speers, dass dieser Fotoalben mit den ERR-Gemälden, die Rosenberg ihm zu seinem Geburtstag am 20. April 1943 überreicht hatte, häufig studierte und die Gemälde »persönlich auf die von ihm bevorzugten Galerien von Linz sowie von Königsberg, Breslau und anderen Oststädten« verteilte.32

In den NS-internen Böcklin-Streit war auch Joseph Goebbels verwickelt, Rosenbergs ständiger Gegenspieler im Kampf um die Lufthoheit über die Kunst und ein entschiedener Gegner von dessen völkischem Kunstkonzept. Gleichwohl teilte er mit ihm die Abscheu vor Böcklin. 1929 notierte er über einen Besuch in der Berliner Nationalgalerie: »Ich sah Menzel – herrlich! – Böcklin, Feuerbach, Cornelius – für uns Heutige fast unerträglich. Die Maler malen nur Farben, aber keinen Duft, keine Atmosphäre. Wir denken doch heute ganz anders. […] So eine Bildersammlung aus dem 19. Jahrhundert kommt einem vor wie eine Totenkammer.«33

Wie im Fall von Hitler und Rosenberg hatte Goebbels seine Selbstkonzeption als Künstler, obwohl er Germanistik studiert hatte und schriftstellerisch dilettierte, stark mit der Malerei verbunden. Er verehrte Julius Meier-Graefe, 1923 hatte er sich von einem Vortrag des Kunstschriftstellers über van Gogh mitreißen lassen.34 Im selben Jahr verfasste er seinen autobiographischen Roman Michael Voormann. Ein Menschenschicksal in Tagebuchblättern, der 1929 in überarbeiteter Form unter dem Titel Michael beim nationalsozialistischen Eher-Verlag erschien. Hier legte er seinem Alter Ego, dem schriftstellernden Studenten und van Gogh-Verehrer Michael, die Worte in den Mund: »Wir Heutigen sind alle Expressionisten. Menschen, die von innen heraus die Welt draußen gestalten wollen.«35 Später ließ er in seiner Berliner Wohnung Aquarelle von Emil Nolde hängen, Leihgaben der Nationalgalerie. Als Hitler zur Besichtigung kam und dies missbilligte, entfernte er sie sofort.36

Am 30. Oktober 1935, seinem 38. Geburtstag, notierte Goebbels voller Ergebenheit in sein Tagebuch: »Mittags kommt der Führer. Er schenkt mir einen wunderbaren Spitzweg. Ich bin tief beglückt. Er ist so gut zu mir.«37 Hitler, der ein passionierter Sammler der Gemälde Carl Spitzwegs war, scheint Goebbels mit dessen Werken geradezu überschüttet zu haben. Zum fünften Hochzeitstag im Dezember 1936 folgte jedenfalls ein Ewiger Hochzeiter des Malers.38 Die Entgegennahme dieser Geschenke aus der Hand des »Führers« muss so etwas wie ein ästhetischer Unterwerfungsritus gewesen sein. Denn noch hatte Goebbels dem Expressionismus nicht abgeschworen: Bis 1937 soll sich die expressionistische Plastik Mann im Sturm von Ernst Barlach in seinem Arbeitszimmer befunden haben. Erst im Zusammenhang mit der Aktion »Entartete Kunst« habe er sie entfernt, berichtete jedenfalls Heinrich Hoffmann.39

Zweifellos stand Rosenberg Hitlers Kunstgeschmack näher als Goebbels. Doch Goebbels war ein Anhänger des individuellen Genies. Schon während seines Studiums hatte er die Vorstellung vom Künstler als verkanntem Genie verinnerlicht, sei es über sein Leitbild Vincent van Gogh, sei es über Richard Wagner, dessen Selbstbiographie Mein Leben er 1924 folgendermaßen kommentierte: »So ein Buch soll jeder junge Künstler, der an der Welt verzweifeln möchte, jedes Jahr lesen müssen.«40 Später stellte er den Geniegedanken ins Zentrum seiner Hitler-Panegyrik.41 Goebbels musste also nur der Moderne abschwören (was er 1937 mit der »Entarteten Kunst«-Aktion radikal tat) und seinen Genie-Kanon Hitlers Vorstellungen anpassen. Und so ist Böcklin 1939 für ihn dann doch zum Genie geworden: Ein Glücksfall habe Hitler die Möglichkeit eröffnet, dessen Gemälde Kentaurenkampf zu erwerben, schrieb er in einem Artikel über den Kunstfreund Hitler anlässlich dessen 50. Geburtstags und fuhr dann fort: »… und dann sehen wir ihn, lange und unbeweglich, voll Rührung und Demut gegenüber der Größe wahren Künstlertums vor diesem malerischen Wurf eines Genies sitzen.«42

Abb. 2: Arnold Böcklin, Zentaurenkampf, 1878, ehem. Gemäldesammlung Hitlers [verschollen]

Der Zentaurenkampf (Abb. 2) war das spektakulärste Böcklin-Werk, das Hitler besaß.Anfänglich hing es in der Münchner Wohnung, später im Berghof. Böcklin hat mehrere Fassungen des Bildthemas gemalt; Hitler besaß mit der dritten aus dem Jahr 1878 die bekannteste, die Fritz von Ostini in seiner Monographie als »die tollste Kampfszene von allen dreien« abbildete. Das Gemälde ist verschollen, aber dass es sich in Hitlers Besitz befunden hat, belegt ein Fotoalbum von 1939, das Hauptwerke aus dessen Gemäldesammlung dokumentiert und mit einem kurzen Text kommentiert: Meisterwerke der Malerei A.H. Neue Meister (vgl. S. 260ff.).43

Wie wir heute wissen, war Böcklin auf das Thema in Zusammenhang mit dem Deutsch-Französischen Krieg verfallen: »Da alle Welt voll Kampf sei«, hatte er mit bezeichnender Ironie bemerkt, »müsse er auch wohl ein paar ›raufende Knoten‹ malen«.44 Seine raufenden Knoten sind zwei Zentaurenpaare, die auf einer Bergkuppe in barbarischem Kampf aufeinandergetroffen sind. Es handelt sich unübersehbar um Angehörige zweier Völker, »germanische« und »romanische« Zentauren also, denn die einen sind blond und hellhäutig, die anderen schwarzhaarig und dunkel. Der Kampf, mit großem Pathos vor quellenden Wolken inszeniert, ist ein gefährlicher, ja tödlicher. Ein Zentaur ist im Begriff, einen mächtigen Felsbrocken auf die Ringenden zu schleudern, und es ist letztlich nicht auszumachen, ob er damit Freund oder Feind den Schädel zertrümmern wird. Mit größter Brutalität reißt der dunkelhaarige Zentaur am unteren Bildrand am hellen Schopf seines Gegners und beißt ihn in den Arm. Das brutale Geschehen gleitet mit der Grimasse des hilflos am Boden Liegenden ins Lächerliche ab. Böcklin machte klar, dass dieser Kampf mit Heldentum nichts zu tun hat.

Vielmehr ist der Kampf eine Urgewalt, bar aller zivilisatorischen Errungenschaften, ein brutales und sinnloses Sich-Totschlagen. Dass Hitler um Böcklins Bezug auf den Deutsch-Französischen Krieg wusste und des Malers ironische Kritik daran aus dem Bild herausgelesen hat, ist unwahrscheinlich. Eher schon dürfte er im Gemälde den ewigen naturgegebenen Kampf versinnbildlicht gesehen haben, der die Grundlage seiner Weltanschauung und Geschichtsphilosophie bildete! Das legt auch der Text zum Zentaurenkampf in seinem Sammlungsalbum nah, der auf der Grundlage der Ostinischen Monographie verfasst wurde und die Komposition als »von unerhörter Wucht und Wildheit, eine Verkörperung des Rasens entfesselter Elementargewalten« beschreibt. Das Verständnis Hitlers dürfte dem nahegekommen sein.

Hitler dürfte den Zentaurenkampf im Sinne der Willenslehre von Arthur Schopenhauer gedeutet habe, als blinde Macht, getrieben von Egoismus und Bosheit, welche nach der pessimistischen Auffassung des Philosophen die Menschen quält. Der »unaufhörliche Vertilgungskrieg der Individuen« zeige, so Schopenhauer, dass der Wille zum Leben sich streng genommen nicht im einzelnen Individuum, sondern in der Gattung bewahre.45 Hitler verstand sich als Schüler des Philosophen, freilich unter programmatischer Ausblendung wesentlicher Elemente von dessen Denken, vor allem seiner Mitleidsethik. Immer wieder insistierte er darauf, dass man kein Mitleid haben dürfe »mit Leuten, denen das Schicksal bestimmt habe, zugrunde zu gehen« (vgl. dazu S. 51ff.).46

MANIPULATIONEN UND VERHARMLOSUNGEN

Böcklin war ohne Zweifel ein besonderer Favorit Hitlers. Dennoch fehlt er im Kanon der Lieblingskünstler, wie ihn Joachim Fest in seiner wirkmächtigen Hitler-Biographie von 1973 festgelegt hat, welche das Bild vom Kunstgeschmack des Diktators grundlegend geprägt hat: »Der kühle klassizistische Prunk auf der einen und die pompöse Dekadenz auf der anderen Seite, Anselm v. Feuerbach beispielsweise und Hans Makart, waren die bevorzugten Orientierungspunkte seines Kunstsinns […] Daneben bewunderte er vor allem die italienische Renaissance sowie die Kunst des Frühbarock […] Bezeichnenderweise liebte er überdies allerlei sentimentale Genremalerei in der Art der weinseligen Mönche und fetten Kellermeister Eduard Grützners.«47

Wie kam es, dass mit Böcklin gerade jener Maler unter den Lieblingen Hitlers fehlt, dessen Werk am stärksten nationalistisch, ja rassistisch gedeutet worden war? Fests Gewährsmann für Hitlers Kunstgeschmack war dessen ehemaliger Architekt und Rüstungsminister Albert Speer; Fest hatte ihm nach der Haftentlassung 1966 bei der Niederschrift des Rechtfertigungswerks Erinnerungen geholfen, in dem Speer ausführlich seiner Verwunderung über Hitlers Vorliebe für die angeblich »harmlose« Genremalerei Ausdruck gab. Damit stand er auch keineswegs allein. Viele Personen aus dem Umfeld des Diktators haben einen Widerspruch gesehen zwischen dem zum Gigantismus neigenden »Führer« und seiner angeblich »privaten« Vorliebe für die Genrebildchen, zwischen dem bekennenden Antialkoholiker und den zechenden Mönchen Eduard von Grützners, zwischen dem Bauherrn riesiger Monumentalbauten und Carl Spitzwegs romantischen Fachwerkhäusern und verwinkelten Altstadtgassen.»Daß der Führer, der sonst Überdimensionen in Architektur und Bildhauerei liebte, seine Agenten herumjagte, um Spitzwegs zu jedem Preis kaufen zu lassen, war eines seiner Geheimnisse; jedenfalls war Spitzweg, der die Kleinbürger in solch zärtlicher Ironie gemalt hatte, sein Abgott«, bemerkte etwa Friedelind Wagner (vgl. Abb. 3).48

Wie wir inzwischen wissen, hat Speer in seinen Erinnerungen durch »Verschweigen, Doppelzüngigkeit, Halbwahrheiten und Lügen« (Heinrich Breloer) historische Fakten zu seinen Gunsten verschleiert und verfälscht. Auch das von ihm gezeichnete Bild von Hitlers Kunstgeschmack ist manipulativ einseitig. Wie ein Akt ästhetischen Widerstands kommt etwa seine Behauptung daher, er habe sich nicht davon abbringen lassen, frühe romantische Landschaften von Carl Rottmann, Ernst Fries oder Wilhelm Kobell zu sammeln.49 Die Formulierung suggeriert, Hitler habe ihn davon abhalten wollen. Speers Vorliebe entsprang indes keiner geschmacklichen Opposition zu Hitler, sondern einer heimatlichen Verbundenheit mit den aus der Kurpfalz stammenden Malern. Hitlers Architekt und späterer Rüstungsminister war 1905 in Mannheim zur Welt gekommen, 1918 mit seiner Familie nach Heidelberg umgezogen, hatte inzwischen jedoch wieder Wohnsitz und Büro in seiner Geburtsstadt. Die Malerfamilie Kobell stammte ebenfalls aus Mannheim, die Brüder Ernst, Bernhard und Wilhelm Fries kamen aus Heidelberg und die Rottmanns aus Handschuhsheim, heute ein Stadtteil von Heidelberg. Sie waren den Kurpfälzer Wittelsbachern gefolgt, die 1778 ihre Residenz nach München verlegt hatten.

Abb. 3: Carl Spitzweg, Einsiedler, ehem. Gemäldesammlung Hitlers [verschollen]

Hitler schätzte die Maler ebenfalls und besaß zahlreiche ihrer Werke. Und Speer wusste sehr genau um dessen Vorliebe. Zu Weihnachten 1933 machte er ihm nämlich ein Gemälde von Carl Rottmann zum Geschenk. Nach Speer handelte es sich dabei um »eine Vorstudie zu dem großen Landschaftsbild von Kap Sunion, das später als Freskogemälde für den Münchener Hofgarten ausgeführt wurde«.50 Das Geschenk führt mitten hinein in die Münchner Kunstgeschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zu dem von Hitler verehrten Bayernkönig Ludwig I., der sich selbst als Künstler verstanden, als Kronprinz einige Jahre in Rom verbracht und dort einen Künstlerkreis um sich geschart hatte, dem auch Rottmann angehörte. 1828/29 reiste der Maler im Auftrag des Königs ein zweites Mal nach Italien, um Studien zu einem Zyklus »historischer« Landschaften anzufertigen. Die Italienansichten wurden 1830 bis 1833 al fresco in den westlichen Hofgartenarkaden ausgeführt. Da die Fresken der Witterung nicht standhielten und innerhalb weniger Jahre verblassten, wurde Carl Rottmanns jüngerer Bruder Leopold beauftragt, den Zyklus zu restaurieren. Zudem fertigte er Ölkopien, die Hitler 1940 erwerben sollte.51 Der Diktator schätzte Rottmanns Italien-Zyklus so sehr, dass er ihn »in den neuen Arkaden« innerhalb der Neugestaltung Münchens »in Stiftmosaik« anbringen, ergo in einer Technik duplizieren lassen wollte, welche Ewigkeitswert beansprucht.52

Auf Geheiß Ludwigs I. schuf Rottmann 1838 bis 1850 eine zweite Serie von griechischen Landschaften für die Hofgartenarkaden, diesmal in Wachs-Harzmalerei bzw. Harz-Ölmalerei auf großen Putztafeln. Wegen der ungeheuren Wertschätzung, die man seinen heroischen Landschaften inzwischen entgegenbrachte, wurde der Griechenland-Zyklus dann jedoch in der 1853 eröffneten Neuen Pinakothek präsentiert, in einem eigens dafür bestimmten Saal mit indirektem Licht, welche die pathetische Lichtregie der Gemälde noch effektvoll steigerte.53 Diese Inszenierung hat Hitler tief beeindruckt, er fand die Farben und Beleuchtungseffekte der Malereien »ganz toll« und reihte sich damit in eine lange Reihe von Bewunderern wie etwa Friedrich Pecht und Anselm Feuerbach ein, die beide eine zentrale Rolle in seiner Kunstauffassung spielten.54

Der junge und ehrgeizige Speer, der sein Vorexamen an der Technischen Hochschule München abgelegt hatte, gab mit dem Geschenk seiner Hoffnung Ausdruck, eine ähnlich zentrale Rolle in der Architektur des Dritten Reiches zu spielen wie Carl Rottmann in der Münchner Malerei unter Ludwig I. Oder, um das Modell auf die Architektur zu übertragen, wie der Klassizist Karl von Fischer, Planer der Brienner Straße und des Karolinenplatzes sowie Schöpfer des Hoftheaters, der ebenfalls gebürtiger Mannheimer war. Übertragen auf die Reichshauptstadt Berlin, wo Speer sein Studium der Architektur abgeschlossen hatte, bedeutete das: Er wollte eine Rolle spielen wie Karl Friedrich Schinkel, der Stararchitekt des preußischen Klassizismus!

Beauftragt, die Um- und Renovierungsarbeiten in der alten Reichskanzlei an der Wilhelmstraße in Berlin zu beaufsichtigen, schmeichelte sich Speer so bei Hitler ein. Der Beschenkte habe sich freundlich interessiert gezeigt und das Bild im oberen Geschoß der Treppenhalle seiner Alpenresidenz auf dem Obersalzberg hängen lassen. Bald darauf sollte er den Jungarchitekten mit dem Umbau des modernen, Ende der zwanziger Jahre von Eduard Jost Siedler errichteten Erweiterungsbaus der alten Reichskanzlei an der Voßstraße beauftragen. Und als »der erste Baumeister des Führers« Paul Ludwig Troost Anfang 1934 überraschend starb, machte Hitler Speer zu dessen Nachfolger.

Die Gründe für Speers Manipulationen liegen auf der Hand, nämlich sich geschmacklich von seinem Auftraggeber abzusetzen. Deshalb behauptete er auch, Hitler habe das späte 19. Jahrhundert für eine der größten Kulturepochen der Menschheit gehalten und sich immer wieder zum schwülstigen Neobarock hingezogen gefühlt, »wie ihn auch Wilhelm II. durch seinen Hofbaumeister Ihne pflegen ließ«.55 An der Pariser Oper habe ihm vor allem deren Überladenheit gefallen. Diesen angeblichen Vorlieben in der Architektur entsprachen in der Malerei am besten die neobarocken Monumentalgemälde des österreichischen Malers Hans Makart, den Speer deshalb zu Hitlers Lieblingsmaler erklärte.56 Dabei hatte er Werner Maser gegenüber schon 1966 zugegeben, was Hitler vorschwebte, habe ungefähr der Kunstwelt kurz vor dem Ersten Weltkrieg entsprochen.57

Tatsächlich hatte Hitler das Neobarock Wilhelms II. wiederholt als geschmacklos verdammt.58 Und seine Bewunderung für die Pariser Oper galt dem Baukörper, die Ausführung geißelte er hingegen als »ordinär«, die Innenausstattung als »überladen und geschmacklos«.59 Er teilte durchaus die gängigen kulturpessimistischen Vorbehalte gegen die Gründerzeit, den Verlust einer einheitlichen Ordnung, die Zersplitterung aller geistigen Kräfte und den Verlust der Sinn generierenden Symbole und Mythen. »So großartig und bezwingend die historischen Ereignisse einst waren, die 1870/71 zur Neugründung des Deutschen Reiches führten, so unbefriedigend blieb das Ergebnis dieses geschichtlichen Prozesses in kultureller Hinsicht«, kritisierte er in seiner Eröffnungsrede der Großen Deutschen Kunstausstellung 1939.60 Aus dem Zusammenwirken der verschiedenen Künste habe sich kein geschlossenes, markantes Bild ergeben, das Jahrhundert sei zu großem Stil unfähig gewesen.

Es gibt eine alternative Liste der Lieblingsmaler Hitlers von Henry Picker, Protokollant der Tischgespräche im Führerhauptquartier, der über den Fest’schen Kanon hinaus noch Rudolf von Alt, Caspar David Friedrich, Ferdinand Georg Waldmüller, Moritz von Schwind, Adolph von Menzel, Carl Spitzweg, Franz von Defregger, Carl Blechen, Carl Rottmann, Heinrich von Zügel, Heinrich Bürkel, Wilhelm Leibl, Carl Theodor von Piloty und Arnold Böcklin anführt.61 Der Vergleich macht eines deutlich: Speer unterschlug die Maler der ersten Jahrhunderthälfte und insbesondere die Romantiker. Aus diesem Grund ließ er wohl auch Böcklin unerwähnt, den »antikisierenden Romantiker« (Friedrich Pecht) der zweiten Jahrhunderthälfte, von dem er selbst eine frühe italienische Landschaft besaß.62 Gerade die Romantiker hat Hitler als die »schönsten Vertreter« einer wahrhaft deutschen Kunst geschätzt: »Der Führer ist ein großer Verehrer der romantischen Landschaftsmalerei und schätzt besonders Caspar David Friedrich«, stellte etwa Goebbels fest.63

Speers Absicht war es, Hitler geschmacklich möglichst weit vom Klassizismus und der Romantik abzurücken, um den Neoklassizismus und die Schinkel-Tradition für sich zu reklamieren. Darauf erhob nämlich auch Hitler für sich und Paul Ludwig Troost Anspruch. In Speers Augen war Hitler jedoch kein wahrer Klassizist, er habe am Klassizismus nur das Monumentale geliebt und mit der preußischen Architektur im Grunde genommen nichts anfangen können. Der »zweite Schinkel« wollte vielmehr er werden; er war der Meinung, dass dieser Titel ihm und niemand anderem zustehe, immerhin war er 1937 durch Führererlass zum Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt ernannt worden und hatte also mit 31 Jahren eine ähnliche Position inne wie sein Vorbild Schinkel; dieses Image galt es nun in den Memoiren zu sichern und zu festigen.64

Einerseits wollte Speer mit dem Verweis auf Makart, der viele Monumentalgemälde geschaffen hat, Hitlers Gigantismus und Ringstraßen-Faible belegen; andererseits bezeichnete er Hitlers Kunstauffassung dann wieder als »betulich« und betonte dessen Vorliebe für die Genremalerei. Damit nahm er eine Spaltung vor zwischen dem verbrecherischen Politiker mit einem Hang zum Monumentalkunstwerk und dem Privatmann mit einem Faible für harmlose Genrebilder. So behauptete er dann doch noch die Unschuld des Ästhetischen, und zwar mit exkulpierender Tendenz hinsichtlich seiner eigenen Verbrechen. Doch diese Unschuld gibt es nicht: Zum einen war die Genremalerei nicht so harmlos, wie Speer und mit ihm Joachim Fest und das Nachkriegspublikum sie sahen. Speer ging von einem verkürzten, gleichwohl gängigen Verständnis der Genremalerei aus.Diese trägt nämlich durchaus gesellschaftliche Probleme vor, nur nehmen wir sie nicht mehr auf Anhieb wahr, weil sie uns ferngerückt sind.65 Das Genre fokussiert dabei auf die Gefühlsreaktionen des Betrachters und federt negative durch humoristische Details oder eine humoristische Grundeinstellung ab. Humor ist aber nie harmlos.

Zum anderen gibt es das Ästhetische nur in der Rezeption, in der Wahrnehmung und Deutung durch den Betrachter. Und der hieß in diesem Falle Hitler und dessen Kunstgeschmack war weder harmlos noch im landläufigen Sinne privat, immerhin hat er ihn zur Richtlinie der NS-Kulturpolitik erhoben. Sich diesem Geschmack unterzuordnen oder zu widersetzen war, wie wir am Beispiel Rosenbergs und Goebbels gesehen haben, gleichbedeutend mit Machtgewinn oder Machtverlust.66

SPEERS GRÜTZNER UND HITLERS GRÜTZNER

Die Behauptung von der Harmlosigkeit der Genremalerei klammert vor allem deren nationalistische Rezeptionsgeschichte aus.67 Schauen wir uns diese am Beispiel des Münchner Genremalers Eduard Grützner an, den Speer in den Mittelpunkt seiner Kritik rückte. Grützner war unbestreitbar einer von Hitlers Lieblingsmalern, sozusagen eine Jugendliebe und zu jenen Zeiten jedenfalls populär. 1913, als Hitler in die bayerische Hauptstadt kam, war der Maler eine angesehene Persönlichkeit, Werke waren in der Neuen Pinakothek ausgestellt. 1916 erschien die Monographie von Richard Braungart, im selben Jahr wurde Grützner geadelt. Der Maler George Grosz, nur vier Jahre jünger als Hitler und einer der von diesem so abgrundtief verhassten Dadaisten, war in seiner Jugend ebenfalls ein glühender Grützner-Verehrer, der sich nach eigenem Bekenntnis nicht hatte sattsehen können an dessen Mönchs- und Trinkszenen.68

Abb. 4: Eduard von Grützner, Zwei Mönche im Keller bei der Weinprobe, 1870, ehem. Gemäldesammlung Hitlers [Standort unbekannt]

Auch der Fotograf Heinrich Hoffmann, den Hitler 1921 kennenlernte, besaß Gemälde Grützners; Hitler war von ihnen fasziniert. Er habe erzählt, dass er in Wien im Schaufenster einer Kunsthandlung einmal das Bildnis eines alten Klosterbruders gesehen habe, ähnlich den Hoffmann’schen. Nicht sattsehen habe er sich können vor Begeisterung. »Etwas schüchtern betrat ich den Laden und erkundigte mich nach dem Preis. Er war für meine damaligen Verhältnisse märchenhaft hoch, unerschwinglich! Ob ich es wohl einmal im Leben so weit bringen werde, mir einen Grützner kaufen zu können?, dachte ich«. Er sollte es so weit bringen, im Kunstinventar des Führerbaus sind allein 48 aufgeführt. Grützner nahm dennoch nicht die zentrale Rolle in Hitlers Kunstsammlung ein, die Speer ihm zuwies (vgl. S. 249f.). Mit Verwunderung hatte Speer selbst feststellen müssen, dass es im Berghof kein Werk des Malers gab.69

Der Grund, sich auf Grützner zu konzentrieren, ist durchsichtig: Die Genremalerei des späten 19. Jahrhunderts, die zu ihrer Zeit äußerst populär gewesen und als modern und zeitgenössisch empfunden worden war, hatte ihre kunsthistorische Relevanz eingebüßt und war aus den öffentlichen Sammlungen wie auch der deutschen Malereigeschichte weitgehend verschwunden. »Vergessene Bilder« betitelte Doris Edler ihre Abhandlung über den ungeheuren Bruch in der Wertschätzung, der zu einer »Eliminierung der Genremalerei aus der Kunstgeschichte geführt« habe.70 Immerhin waren Grützners humoristische Kloster-Szenen (vgl. Abb. 4) in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg noch in tausendfacher Reproduktion als »Kaufhausbilder« und damit als Kitsch präsent. Mit Absicht wählte Speer nicht Spitzweg, dem die Favoritenrolle viel eher zugestanden hätte, denn dieser hat nie das Wohlgefallen des Publikums verloren.

Eine Anekdote schien Speer besonders geeignet, Hitler jeglichen Kunstverstand in Abrede zu stellen. Als Heinrich Hoffmann ihm ein Grützner-Gemälde für 5000 Mark angeboten habe, soll er geäußert haben: »Wissen Sie Hoffmann, das ist geschenkt! Sehen Sie einmal diese Einzelheiten an! Grützner ist bei weitem unterschätzt! […] Er ist eben noch nicht entdeckt. Rembrandt hat auch viele Jahrzehnte nach seinem Tod nichts gegolten. Da wurden seine Bilder fast verschenkt. Glauben Sie mir, dieser Grützner wird einmal so viel wert sein wie ein Rembrandt. Rembrandt hätte das auch nicht besser malen können.«71 Der nach Speer exorbitante Preis entsprach im Übrigen dem gängigen Preisniveau für Werke des Malers.72

Der Rembrandt-Vergleich war kunsthistorisch gerechtfertigt, denn Grützner nahm mit der derben, feisten Gestalt seiner Protagonisten, der Präsenz des Leibes durch die Modellierung, der Jähheit der Bewegungen, der Überspitzung des physiognomischen Ausdrucks tatsächlich Bezug auf Rembrandts Frühwerk bzw. davon beeinflusste Maler wie Gerrit Dou, David Teniers oder Adriaen van Ostade. Deren Themen – Saufgelage, Wirtschafts- und Küchenszenen – übertrug er auf Mönche und Kleriker seiner Zeit und schuf so moderne Sittenbilder von den »Schwächen des Pfaffenthums«, wie dies der Münchner Kunstschriftsteller und Kritiker Friedrich Pecht formuliert hat.

Natürlich bleibt die kunsthistorische Überbewertung bizarr. Doch so sehr man geneigt ist, diese als Hitlers Erfindung und Beleg seines künstlerischen Unverständnisses zu nehmen, so wenig ist sie originell. Hitler hat sie von dem erwähnten Friedrich Pecht (1814–1903) übernommen, einem der wichtigsten deutschen Kunstschriftsteller der zweiten Jahrhunderthälfte; für die Münchner Kunstgeschichte war er sicherlich der Einflussreichste.73 Er beanspruchte für sich das Verdienst, alle jungen Talente der Münchner Schule als erster dem Publikum vorgeführt zu haben.74

Bereits Georg Wilhelm Friedrich Hegel hatte in seiner Vorlesung über die Ästhetik zur Rehabilitation der Genremalerei angesetzt und eine breite Nachfolge in der Kunstgeschichte gefunden.75 Freilich hatte der Philosoph die Meinung vertreten, die zeitgenössische Genremalerei reiche an die holländische des 17. Jahrhunderts nicht heran. Wohl in Reaktion darauf hat Pecht durchgängig das Primat der deutschen Genremalerei vor dem niederländischen Sittenbild behauptet. So etwa in seiner wirkmächtigen Geschichte der Münchener Kunst im 19. Jahrhundert: »Vergleicht man aber eines der Grütznerschen Bilder mit denen der ihnen am nächsten stehenden holländischen Schule, so ist der Vorteil unbedingt auf Seiten der Deutschen. Denn während sich selbst ein Ostade oder Brouwer mit einem halben Dutzend Typen begnügen, die ewig wiederkehren, bringt dieser eine solche Fülle von ihren besonderen Stand, ihre Gemütsart und ihr ganzes Wesen aufs schärfste ausprägenden Charakteren, dass alle Holländer arm daneben erscheinen.«76

Der deutschnational gesonnene Kritiker war der Überzeugung, die Genremalerei sei der spezifische Ausdrucksträger des deutschen Nationalcharakters. Denn sie schildere das »deutsche Volksleben in einer Ausführlichkeit und Originalität, einer Schönheit und Tiefe der Empfindung, wie wir sie bei keiner andern Nation auch nur entfernt finden.«77 Und so benutzte er synonym den Begriff Volksschilderung. Die Geschichts- bzw. Historienmalerei habe sich vom wirklichen Leben entfernt, für eine »gesunde und normale« Entwicklung der Kunst sei es jedoch nötig, dass sich diese um die Bedürfnisse des Volkes kümmere, wie dies die Volksschilderung tue. Da deren Bildinhalte auf der Alltagserfahrung des Betrachters basierten und daher unmittelbar und ohne klassische Bildung verständlich waren, galt die Genremalerei ihrem Wesen nach als »Kunst fürs Volk«.78

Abb. 5: Eduard von Grützner, Falstaff auf der Flucht (Der Überfall im Hohlwege, Heinrich IV, I. Teil, II,2) 1870, ehem. Gemäldesammlung Hitlers [Standort unbekannt]

Als Maler der »weinseligen Mönche und fetten Kellermeister« (Joachim Fest) ist Grützner also unzureichend charakterisiert. Hauptfigur seines Schaffens ist Shakespeares komische Dramenfigur John Falstaff, ein wohlbeleibter Ritter, Schlemmer, Feigling und Prahlhans. Hitler besaß drei Falstaff-Historien: In der Theatergarderobe, Falstaff in der Schenke und Überfall im Hohlweg (Abb. 5).79 Die ausgeprägten Physiognomien und übertriebenen Posen, welche die Genremaler zur Verdeutlichung ihrer Erzählung brauchten, überhaupt das Theatermäßige und Effekthascherische, das an der Genremalerei heftig gerügt wurde, war in Falle der Falstaff-Darstellungen sozusagen thematisch gerechtfertigt.

In der von Hitler hergestellten Verbindung Grützners mit Rembrandt dürfte sich zudem der Einfluss eines der wirkmächtigsten kulturhistorischen Bestseller der Jahrhundertwende niederschlagen, Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher. In dem 1890 erschienenen überaus erfolgreichen Werk, das bis in die dreißiger Jahre 55 Auflagen erlebte, bestimmte Langbehn Rembrandt und Shakespeare, die als germanische Genies der reinen Subjektivität und Individualität galten, als Prototypen des deutschen Künstlers.80 Grützner hatte sich in besonderem Maße ihrer Führerschaft anvertraut und Szenen aus Shakespeares Dramen im Stil des jungen Rembrandts gemalt. Dass Hitler den Bestseller gelesen hat, ist eher wahrscheinlich als nicht; jedenfalls lässt sich eine Spur des Langbehn-Kultes in seiner Gemäldesammlung nachweisen: Der Schriftsteller wurde von zwei Malern gemalt, die Hitler schätzte, nämlich Hans Thoma und Wilhelm Leibl; das Leibl’sche Porträt befand sich in Hitlers Besitz, möglicherweise in seiner Münchner Wohnung.81

Hitlers kunsthistorische Lektüre

MALERBIOGRAPHIEN ALS LEBENSMODELL

Es kann kaum Zweifel daran bestehen, dass Malerbiographien zu den frühesten Leseerfahrungen Hitlers gehörten. Schon als Kind hatte er beschlossen, Maler zu werden – gegen den Widerstand des Vaters, der freilich starb, als der Sohn 13 Jahre alt war. Der nachgiebigen Mutter gegenüber konnte er seinen Willen durchsetzen. Im Oktober 1907 bewarb er sich um Aufnahme in die Malklasse der Akademie der bildenden Künste in Wien. Er wurde abgelehnt, hielt aber weiterhin an seinem Ziel fest; zwei Bewerbungen waren möglich. Im Dezember 1907 starb dann die Mutter, Hitler war nun Vollwaise. Damals von dem benachbarten Postbeamten Presemayer befragt, was er werden wolle, gab er zur Antwort, er wolle ein großer Künstler werden. Als der Nachbar zu bedenken gab, dazu fehlten ihm die nötigen finanziellen Mittel und persönlichen Beziehungen, erwiderte er: »Makart und Rubens haben sich auch aus ärmlichen Verhältnissen hochgearbeitet.«82