Gerechtigkeit über Grenzen - Onora O'Neill - E-Book

Gerechtigkeit über Grenzen E-Book

Onora O'Neill

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Beschreibung

Onora O’Neill zählt zu den wichtigsten Stimmen der politischen Philosophie und Ethik unserer Zeit. Der kantischen Tradition eng verbunden, sucht sie in ihrem Buch sowohl Gerechtigkeits- als auch Tugendprinzipien zu begründen. Beide nehmen ihren Ausgang beim Handelnden und seinen Pflichten. Gerechtigkeit verlangt die Verhinderung jeglicher Verletzung von Personen, Tugend verbietet Gleichgültigkeit angesichts fremder Not. In einer globalisierten Welt sind alle Akteure nicht mehr nur auf lokaler und lebensweltlicher, sondern auch auf globaler Ebene verpflichtet. Daraus folgt, dass die Bekämpfung von Armut, Machtmissbrauch und Unterdrückung in allen Teilen der Welt nicht nur ein Akt der Güte, sondern vielmehr moralische Pflicht ist.

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Onora O’Neill zählt zu den wichtigsten Stimmen der politischen Philosophie unserer Zeit. Der Kantischen Tradition eng verbunden, sucht sie in ihrem Buch sowohl Gerechtigkeits- als auch Tugendprinzipien zu begründen. Beide nehmen ihren Ausgang beim Handelnden und seinen Pflichten. Gerechtigkeit verlangt die Verhinderung jeglicher Verletzung von Personen, Tugend verbietet Gleichgültigkeit angesichts fremder Not.

In der globalisierten Welt sind alle Akteure nicht mehr nur auf lokaler, sondern auch auf globaler Ebene in der Pflicht. Daraus folgt, dass die Bekämpfung von Armut, Machtmissbrauch und Unterdrückung in allen Teilen der Welt kein Akt der Güte, sondern vielmehr moralische Pflicht ist.

Onora O’Neill wurde 1941 in Nordirland geboren. Sie ist emeritierte Professorin für Philosophie an der Universität Cambridge und als Baroness O’Neill of Bengarve Mitglied des britischen Oberhauses. 2017 wurde sie mit dem Holberg-Preis ausgezeichnet.

Titel der englischen Originalausgabe:

Justice Across Boundaries. Whose Obligations?

© Onora O’Neill 2016

Die Übersetzung erfolgte in Abstimmung mit Cambridge University Press.

Copyright der deutschen Ausgabe © Claudius Verlag, München 2019

www.claudius.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München

Layout: Mario Moths

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2019

ISBN 978-3-532-60048-1

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Dank

Einführung

Teil I Grenzüberschreitender Hunger

1Rettungsboot Erde

2Rechte, Pflichten und der Hunger in der Welt

3Recht auf Entschädigung

Teil II Grenzüberschreitende Rechtfertigungen

4Gerechtigkeit und Grenzen

5Ethische Überlegungen und ideologischer Pluralismus

6Begrenzte und kosmopolitische Gerechtigkeit

7Pluralismus, Positivismus und die Rechtfertigung der Menschenrechte

Teil III Grenzüberschreitendes Handeln

8Von Edmund Burke bis zu den Menschenrechten im 21. Jahrhundert

9Von einer staatsorientierten zu einer globalen Konzeption der Gerechtigkeit

10Globale Gerechtigkeit: Pflichten in der globalisierten Welt

11Akteure der Gerechtigkeit

12Die dunkle Seite der Menschenrechte

Teil IV Grenzüberschreitende Gesundheit

13Gesundheitswesen oder Medizinethik: über Grenzen hinaus gedacht

14Erweiterung der Bioethik: Medizinethik, öffentliche Gesundheit und globale Gesundheit

Anmerkungen

Namensregister

Dank

Ich bin vielen Freunden, Kollegen und Studenten unendlich dankbar, aber auch meinen Lesern in aller Welt, die mein Nachdenken über Gerechtigkeit und ihre Grenzen in den letzten Jahrzehnten kommentiert und dadurch vertieft haben.

Einführung

Gute Zäune, gute Nachbarn?

In seinem einfachen und doch tiefgründigen Gedicht Mending Wall erzählt uns Robert Frost von einem fiktiven Gespräch, das er mit einem seiner Nachbarn in Neu-England führt. Es geht um die Reparatur der verfallenen Trockenmauer, die ihre beiden Farmen trennt. Farmen, auf denen kein Vieh mehr gehalten wird:

There where it is we do not need the wall:

He is all pine and I am apple orchard.

My apple trees will never get across

And eat the cones under his pines, I tell him.

An diesem Platz bedarf es keiner Mauer:

nur Kiefern er, und ich nur Apfelhain.

Mein Apfelwald wird nie hinübersteigen

Und seine Kiefernzapfen fressen.1

Sein wortkarger Nachbar ist davon nicht überzeugt:

He only says, ‚Good fences make good neighbours.’

Er sagt nur: „Gute Zäune, gute Nachbarn.“

Woraufhin Frost Fragen aufwirft, die für die Diskussion über Gerechtigkeit in einer zunehmend globalisierten Welt bestimmend sind:

Spring is the mischief in me, and I wonder

If I could put a notion in his head:

‚Why do they make good neigbours? Isn’t it

Where there are cows? But here there are no cows.

Before I built a wall I’d ask to know

What I was walling in or walling out,

And to whom I was like to give offence.

Something there is that doesn’t love a wall,

That wants it down.’

Der Frühling weckt den Schalk in mir, vielleicht

setz ich ihm heut mal einen Floh ins Ohr.

„Warum sind Zäune gut für Nachbarn? Gilt das

nicht bloß, wo Kühe sind? Die seh ich nicht.

Bevor ich eine Mauer baue, frag

ich mich, was mauere ich ein, was aus,

und wen ich etwa damit kränke.

Da ist etwas, das mag die Mauern nicht,

das will sie brechen.

Sind Mauern und Zäune, Grenzen und Begrenzungen wirklich notwendig für gute Beziehungen und Gerechtigkeit? Oder zementieren sie nicht vielmehr die Ungerechtigkeit und schreiben sie fort? Was kann denn Unrechtmäßiges geschehen, wenn man sie nicht beibehält? Lässt sich dieses „Einmauern und Ausmauern“, das die Grenze zieht und fixiert, tatsächlich rechtfertigen? Sollte „der Schalk“, der Frost in Versuchung führt, eher abgelehnt oder eher begrüßt werden? Seit unvordenklicher Zeit wurden Mauern gebaut und ausgebessert, um etwas ein- oder auszuschließen: Stadtmauern, Festungsmauern, Gartenzäune und Weidezäune. Die Chinesische Mauer, der Hadrianswall, die Berliner Mauer, die Mauern um die Townships der Apartheid und die West Bank Barrier (die Mauer um das Westjordanland, wo die Ein- und Ausgegrenzten sich nicht einmal über den Namen einig sind). Alle nur zu dem einen Zweck, nämlich „ein- und auszumauern“. Aber wann und wie hat die Ausgrenzung, die sie konkret vornehmen, eine gerechtere bzw. eine ungerechtere Welt zur Folge?

Begrenzungen und Grenzen

Wir leben in einer Welt mit unzähligen Strukturen, die „ein- und ausmauern“, in einer Welt mit unzähligen Grenzen und ebenso unzähligen Grenzüberschreitungen. Die Linienziehungen, die wir als Grenzen bezeichnen, trennen gewöhnlich zwischen Staaten oder anderen Hoheitsbereichen. Meist handelt es sich dabei um eindeutig markierte Grenzverläufe. Andere Grenzen sind weniger greifbar. Dazu gehören die Grenzen innerhalb von Gesellschaften, Kulturen, Öko- und Wirtschaftssystemen.

Wer diese wohldefinierten Grenzverläufe kontrolliert, versucht möglicherweise, deren Überschreitung zu regulieren: Betroffen sind davon Menschen (vor allem Fremde), Güter, Handel und Dienstleistungen, Geld und Waffen, ja selbst Ideen und Information. Üblicherweise besteht die Kontrolle in einer Überprüfung, wer und was über die Grenze darf bzw. wer und was festgehalten und am Überschreiten gehindert wird (mitunter mit durchwachsenem Erfolg). Daher ist es eine ganz wesentliche Aufgabe der politischen Philosophie, Überlegungen anzustellen, ob und wie die verschiedenen Formen von Grenzen und die Ein-bzw. Ausgrenzungen, die sie konkretisieren, gerechtfertigt werden können. Und ob bzw. wie der Rückgriff auf weniger scharf definierte Begrenzungen – nationaler und kultureller, religiöser und ideologischer Natur – zur Rechtfertigung von Staatsgrenzen herangezogen werden kann. Viele Gerechtigkeitstheorien gehen davon aus, dass ihre Prinzipien universell sind, doch damit bleibt die Reichweite der Gerechtigkeit unberücksichtigt: Prinzipien können durchaus universell sein und doch einen genau begrenzten Zweck verfolgen.

Es ist daher nicht überraschend, dass die Frage der Staatsgrenzen wie auch anderer Grenzen für die Diskussionen über Gerechtigkeit tiefgehende und interessante Probleme aufwirft. Grenzen können dazu benutzt werden, um Gerechtigkeit – in je unterschiedlicher Auffassung – sicherzustellen, zu ändern, auszuhöhlen oder gar gänzlich zu beseitigen. Und das hat gewöhnlich nichts damit zu tun, dass ihr Verlauf strittig ist. Die tieferen Probleme haben weniger mit dem Verlauf von Grenzen zu tun als mit ihrer Konfiguration, also damit, welche Art von Handlungen sie erlauben oder unterbinden, und mit der Rechtfertigung des Ein- und Ausschlusssystems, das sie etablieren. Jede Rechtfertigung wirft Fragen auf, doch die Rechtfertigung von Ein- und Ausschlussverfahren zieht besonders schwierige Fragen nach sich: Müssen Argumente, die die Reichweite der Gerechtigkeit untermauern sollen, sowohl für die Inkludierten als auch für Exkludierten gelten? Ist es von Bedeutung, wenn Grenzziehungen für „Außenseiter“2 nicht plausibel sind?

Ambitionierte Versionen eines moralischen Kosmopolitentums fordern, dass Staatsgrenzen durchlässiger sein sollten, offen für mehr Menschen und auch für mehr Aktivitäten. Manche malen das Bild einer stärker institutionalisierten kosmopolitischen Zukunft, in der Unterschiede nicht mehr als Rechtfertigung für Ein- oder Ausgrenzung gelten, also einer Welt weitreichender kosmopolitischer Institutionen. Doch die meisten dieser enthusiastischen Weltbürger sind gleich weniger begeistert, wenn plötzlich die Rede von einem monolithischen Weltstaat ist. Und auch sie sind sich wohl nicht sicher, ob durchlässigere Grenzen mehr oder weniger Stabilität, mehr oder weniger Sicherheit und Gerechtigkeit schaffen würden.

Weniger ehrgeizige und scheinbar bescheidenere, realistischere Theorien globaler Gerechtigkeit gehen ganz im Gegenteil davon aus, dass zumindest einige der Grenzlinien, die durch Staatsgrenzen vorgezeichnet sind, sowie der Ein- und Ausschlussmechanismen, die sie ins Werk setzen, der Gerechtigkeit dienlich sind. Das alte Sprichwort von den guten Zäunen, die gute Nachbarschaft bedeuten, steht für ein vorsichtiges Anti-Kosmopolitentum, das manche Ausgrenzungen als hilfreich, ja notwendig erachtet, wenn Gerechtigkeit verwirklicht und bewahrt werden soll. Dabei geht es um moralischen Kosmopolitismus und um institutionellen Anti-Kosmopolitismus, die für die philosophischen und praxisorientierten Debatten über Gerechtigkeit in einer globalisierten Welt Bedeutung erlangt haben. In diesem Buch will ich diesen Ansätzen nachgehen mit der Hoffnung, etwas zu den vorgebrachten Argumenten beizutragen, das diese Debatte entscheidend bereichern kann.3

Teil I: Grenzüberschreitender Hunger

Mit hohen Erwartungen beschloss ich Mitte der 1970er-Jahre, dass die Konzentration auf die Rechte Hungernder einen sinnvollen Ansatz darstellte, um in einer Welt, in der einige Menschen unter extremen und doch vermeidbaren Entbehrungen litten, zumindest einige der grundlegenden Prinzipien der Gerechtigkeit herauszuarbeiten. In der Nachkriegswelt entwickelte sich die Berufung auf Rechtsansprüche – häufig, aber keineswegs immer auf die Menschenrechtskonvention von 1948 zurückgreifend – zum wichtigsten Teil des ethischen Vokabulars. Da es zu jener Zeit nur wenige philosophische Untersuchungen solcher Rechte gab, glaubte ich, dass hier gute Fortschritte zu erzielen seien.

Ständig gab es Berichte über Hungersnöte und extreme Armut in vielen Teilen der Welt, zum Beispiel in Biafra, in Kambodscha und Äthiopien. (Nur wenige Menschen wussten Bescheid über die dramatische Hungersnot in China zwischen 1958 und 1962). Über das Bevölkerungswachstum, das nicht in den Griff zu bekommen war. Und über die Auswirkungen der Ölkrise von 1973 auf die Ärmsten der Armen. Trotz der landwirtschaftlichen Revolution gab es kaum Anzeichen für eine Bewältigung der demografischen Probleme, keine Anzeichen für ein mögliches Ende des Kalten Krieges oder für ein zu begrüßendes Wirtschaftswachstum in bestimmten (nicht allen) armen Ländern. Oder für die allenthalben aufkeimenden Aktivitäten über alle Grenzen hinweg, die nicht nur vielen Menschen deutlich mehr Wohlstand brachten, sondern auch die Korruption gnadenlos ansteigen ließen und eine neue und rastlose Klasse von Superreichen hervorbrachten. All diese tiefgreifenden Veränderungen lagen noch in weiter Ferne: Tatsächlich wurden einige davon nur möglich aufgrund einer veränderten Effektivität und Wirksamkeit von Grenzkontrollen, die mit dem Ende des Kalten Kriegs einhergingen und mit der Ausweitung verschiedenster Formen ökonomischer Liberalisierung.

Wenig überraschend war hingegen, dass der Großteil der ethischen Überlegungen zum Thema „Armut“ und „Entwicklung“, bevor diese Veränderungen eintraten, sich um die extremen Fälle von Hunger und Hungersnot drehten. Der meistakzeptierte ethische Ansatz war ein utilitaristischer, die meistdiskutierte Darstellung Peter Singers Hunger, Wohlstand und Moral.4 Ich bewunderte sein Werk, fand aber, dass der utilitaristische Ansatz auf ungewöhnlichen Annahmen beruhte, die die erforderliche ethische Überhöhung nicht leisten konnten. Ich wollte mehr mit weniger erreichen und hoffte, dass die Berufung auf Rechte einen ökonomischeren und plausibleren Ausgangspunkt bieten könnte, um ethische Fragen rund um Hunger und Hungersnöte zu lösen. Die ersten drei Kapitel der hier vorliegenden Sammlung beginnen also mit Überlegungen zum Thema „Rechte“. Aber sie zeigen auch auf, wo die Probleme bei diesem Grundgedanken liegen und nennen Gründe dafür, dass es sinnvoll sein könnte, Rechte in einen breiteren Bezugsrahmen zu stellen, bei dem die Grundbegriffe „Pflicht“ und „Akteurschaft“ von entscheidender Bedeutung sind. In diesen Aufsätzen und den meisten, die auf sie folgen, setzte ich auf traditionelle Vorstellungen von Rechten – Naturrecht, moralisches Recht oder Grundrechte –, statt nur und spezifisch auf Menschenrechte. In einigen der späteren Kapitel aber wende ich mich der Rechtfertigung und den praktischen Implikationen der Menschenrechte zu, wie sie in der Menschenrechtskonvention von 1948 dargelegt werden.5

In Kapitel 1, „Rettungsboot Erde“ versuchte ich zu zeigen, dass wir sowohl auf utilitaristische wie auf konsequentialistische Annahmen verzichten können. Stattdessen argumentiere ich, dass man auch mit dem Rechtebegriff an sich zu soliden Schlussfolgerungen kommen kann. Ganz bewusst hingegen habe ich mich nicht auf das verführerisch umfassende und doch amorphe „Recht auf Leben“6 eingelassen, das in so vielen ethischen Debatten angeführt wird, vor allem, soweit es die Bioethik betrifft. Ich hoffte, dass ein bescheidenerer und allgemein akzeptierter Grundgedanke, demzufolge jeder (zumindest!) das Recht hat, nicht unrechtmäßig getötet zu werden, weniger Fragen aufwerfen und mir erlauben würde zu zeigen, dass eine Tätigkeit Rechte verletzt, wenn ihre weiteren Auswirkungen zu mehr Toten führen. „Rettungsboot Erde“ hat vermutlich mehr Leser gefunden als jeder andere Aufsatz, den ich je veröffentlicht habe. Man hat mich überzeugt, ihn hier unverändert in die Sammlung aufzunehmen, obwohl ich recht bald zu der enttäuschenden Schlussfolgerung kam, dass das schlichte Recht, nicht ungerechtfertigt getötet zu werden, kein ausreichendes ethisches Fundament für ein Gedankengebäude bot, das sich mit den ethischen Fragen rund um Hunger und Hungersnöte auseinandersetzte, von einer umfassenderen Sicht auf globale Gerechtigkeit ganz zu schweigen. Die Gründe, die mich zu dieser Schlussfolgerung führten, werden in den anderen Aufsätzen dieser Sammlung dargelegt.

Obwohl ich überzeugt bin, dass utilitaristische Argumente nicht ausreichen, um als Leitfaden für das Handeln zu dienen, gelangte ich zu der Auffassung, dass die Berufung auf Rechte durchaus genug Biss hat, wenn man sie um Argumente erweitert, die klar zeigen, wer etwas tun soll und was. Rechte ließen sich nur dann verwirklichen, wenn die Pflichten des Gegenparts von handlungsfähigen Akteuren übernommen werden. Der zweite Aufsatz, „Rechte, Pflichten und der Hunger in der Welt“, entstand sozusagen als „Manifest“ für diesen Gedankengang, der dort klar und eindeutig entwickelt wird. In den 1980er-Jahren entwickelte ich diesen Ansatz in einigen Aufsätzen und einem Buch weiter.7

Das dritte Kapitel im ersten Teil, „Recht auf Entschädigung“, setzt sich mit einem anderen, dauerhaft populären rechte-basierten Ansatz auseinander. Recht auf Entschädigung heißt, dass man jenen, deren Handeln Hunger und Hungersnöte verursacht hat, die Verpflichtung zuschreibt, Maßnahmen zur Abhilfe zu entwickeln. Der eindeutige Vorteil an diesem Gedanken ist, dass er nicht im Unklaren lässt, wer die Pflichten des Gegenparts übernehmen soll. Ich habe diesen Ansatz mit einigem Bedauern aufgegeben, weil ich zu der Schlussfolgerung gelangte, dass auch er keinen überzeugenden Weg bietet, auf Hunger und Elend in fernen Ländern zu reagieren, weshalb er vom eigentlichen Problem eher ablenkt. Das Recht auf Entschädigung ist dort relevant, wo Hunger und Armut nachweislich auf Fehlverhalten von klar identifizierbaren Akteuren zurückgehen. Es ist zwar durchaus richtig, dass es große historische Ungerechtigkeiten gegeben hat. Doch es ist meist auch höchst ungewiss, wessen ungerechtes Handeln zu wessen aktueller Armut beigetragen hat. Außerdem haben Hunger und Armut in der Gegenwart meist vielfältige Ursachen und sind selten handlungsfähigen Akteuren zuzuschreiben, von denen man Wiedergutmachung einfordern könnte. Die Berufung auf das Recht auf Entschädigung richtet sich an handlungsfähige Akteure, die die Verpflichtung zur Wiedergutmachung tatsächlich auch erfüllen können. Doch hier lässt sich nur selten klar auf einen Verursacher deuten. Daraus schloss ich, dass nur eine klare Ausrichtung auf konkrete Handlungen und Pflichten einen überzeugenden Ansatz für eine umfassende Theorie der Pflichten der Gerechtigkeit bieten kann.

Teil II: Grenzüberschreitende Rechtfertigungen

Schon zu Beginn der 1980er-Jahre wurde mein Verständnis von globaler Armut verändert durch Amartya Sens wunderbaren Aufsatz: Poverty and Famines.8 Sobald ich ganz begriffen hatte, inwieweit Hunger und Not sowohl von institutionellen Strukturen als auch vom alltäglichen wirtschaftlichen Handeln beeinflusst wurden, schien die Idee, dass das Recht auf Entschädigung einen wesentlichen Beitrag zur globalen Gerechtigkeit leisten könnte, wenig überzeugend, obwohl sie bis heute beliebt ist. Von diesem Zeitpunkt an versuchte ich es mit einem streng nach vorne gerichteten und praktischen Blick auf eine gerechte Reaktion auf Hunger und Elend. Ein praxisorientierter Ansatz kann nicht davon ausgehen, dass Schuldige jederzeit identifiziert und zur Wiedergutmachung des von ihnen angerichteten Schadens herangezogen werden können. Doch wenn Gerechtigkeit sichergestellt werden soll, ist es nötig, die Pflichten handlungsfähiger Akteure des Wandels genau zu benennen.

Die Kapitel in Teil II beschäftigen sich mit Fragen, die sich ergeben, wenn Rechtfertigung über Grenzen reichen soll. Die politische Philosophie des Westens wurde geprägt von der Vorstellung, dass Gerechtigkeit etwas ist, was sich auf einzelne Gemeinschaften, Städte oder Staaten bezieht und daher begrenzt werden kann, vielleicht sogar muss. Obwohl Versionen und Elemente eines ius gentium bzw. Formen internationaler Justiz und Rechte schon seit der Antike bekannt sind, galten sie im Allgemeinen als anwendbar nur auf Gerechtigkeitsfragen zwischen klar begrenzten Gemeinschaften, Städten oder Staaten bzw. auf die Art und Weise, wie diese begrenzten Gemeinschaften, Städte oder Staaten mit Außenseitern umgehen. Bis vor kurzem jedenfalls haben nur wenige die institutionellen und praktischen Implikationen durchdacht, die sich ergeben, wenn man diese Begrenzung aufgibt zugunsten institutionalisierter Formen eines Weltbürgertums.

Argumente für solch ein kosmopolitisches Gerechtigkeitssystem über Grenzen hinweg drehen sich nicht nur darum, dass man die Reichweite der Gerechtigkeit ausdehnen sollte, wie es zum Beispiel geschieht, wenn ein Staat sein Territorium vergrößert oder Konzessionen erwirbt. Meist geht es vielmehr darum, dass man Grenzen auf eine spezifische Weise durchlässiger macht – und daher auf andere spezifische Weise weniger effektiv. Interessanterweise beziehen sich viele der politischen Argumente für durchlässigere Grenzen selbst heute, in den Zeiten der Globalisierung, auf staatliche Interessen: Der freie Handel steigert den nationalen (d. h. staatlichen) Wohlstand. Der freie Austausch von Ideen stärkt das gegenseitige Verständnis der Nationen und damit die nationale Sicherheit. Dürfen sich (manche) Personen frei zwischen den Staaten bewegen, trägt dies ebenfalls zum nationalen Wohlstand bei. Solche Argumente waren meiner Ansicht nach nicht ausreichend, um eine vollständigere Öffnung der Grenzen zu rechtfertigen, da diese ja das Konzept nationaler und staatlicher Interessen an sich, auf das solche Argumente sich stützen, auflösen oder unterminieren würden. Also ging ich etwas vorsichtiger zu Werk.

Kapitel 4, „Gerechtigkeit und Grenzen“, nimmt die Frage auf, ob der Anspruch auf universelle Gültigkeit der Gerechtigkeitsprinzipien genug Substanz bietet, um zu zeigen, dass Letztere sich tatsächlich über alle Grenzen hinweg erstrecken sollten. Meine Schlussfolgerung war, dass auch dieser Ansatz wenig überzeugend war, denn universelle Form und universelle Reichweite sind zwei verschiedene Dinge. Die Tatsache, dass die Prinzipien der Gerechtigkeit formal universell sind, liefert keine Aussagen über ihre Reichweite oder über die Vorzüge bzw. Mängel der verschiedenen Formen von institutionalisiertem Kosmopolitismus. In Kapitel 5, „Ethische Überlegungen und ideologischer Pluralismus“, setze ich mich mit Problemen auseinander, die entstehen, wenn sich die Glaubensformen und intellektuellen Fähigkeiten jener Menschen unterscheiden, die von den verschiedensten Grenzen getrennt werden, was zur Folge hätte, dass sie Dingen und abweichenden Meinungen, die den anderen jenseits der Grenze völlig vertraut sind, nicht folgen können oder sich von ihnen nicht durch vernünftige Argumente überzeugen lassen. Kapitel 6, „Begrenzte und kosmopolitische Gerechtigkeit“, spinnt diese Überlegungen fort und vergleicht kommunitaristische Rechtfertigungen, die innerhalb gewisser Grenzen (oder „Sphären“) offensichtlich funktionieren, weshalb man diese auch als Grenzen der Gerechtigkeit betrachten müsse, mit den „semi-kosmopolitischen“ Positionen, die auf die Vorstellung der menschlichen Vernunft abzielen, wie sie John Rawls und viele andere vorgetragen haben.

Das letzte Kapitel in Teil II, „Pluralismus, Positivismus und die Rechtfertigung der Menschenrechte“, untersucht die Möglichkeit der Rechtfertigung der Menschenrechte, wie sie in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg erklärt und weitgehend akzeptiert wurden. Die Menschenrechte sind ja nur eine Version der Idee, dass menschliche Wesen Rechte haben: eine einzigartig erfolgreiche und wirkmächtige Version, die jedoch nicht erhaben ist über philosophische Reflexion, Kritik oder (wenn möglich) Rechtfertigung. Eine Reihe herausragender politischer Philosophen haben umfassende Arbeit im Hinblick auf die Rechtfertigung der Menschenrechte geleistet, vor allem nach der Jahrtausendwende. Doch ein viel zu großer Teil dieser Diskussion bzw. der Verteidigung der Menschenrechte wird immer noch von einer Autoritätsperspektive aus geführt (und akzeptiert). Die Übereinkunft der Staaten, der internationalen Gemeinschaft, der Wohlmeinenden, wird häufig als ausreichend betrachtet, selbst von jenen, die eine autoritative Argumentation in vielen anderen Kontexten ablehnen würden. Hier versuche ich einen Weg aufzuzeigen, die aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte abgeleiteten Rechte zu verteidigen, ohne kontroverse metaphysische oder theoretische Forderungen zu stellen.

Teil III: Grenzüberschreitendes Handeln

Die Kapitel in Teil III wenden sich von den Argumenten für bestimmte Rechte ab und hin zu den Vorbedingungen für die Achtung und Verwirklichung von Rechten. Die Unbestimmtheit von Rechten – wie die Unbestimmtheit anderer ethischer Prinzipien – ist ganz wesentlich, wenn personelle und institutionelle Akteure unter den verschiedensten Umständen den Pflichten der Gerechtigkeit gehorchen sollen. Viele der Probleme, die entstehen, weil die Rechte angeblich „zu abstrakt“ sind, spiegeln nichts anderes wider als unhaltbare Ansichten zur Abstraktion und dazu, wie eine Beachtung solcher Rechte aussehen könnte. In diesen Kapiteln geht es um eine Reihe von Überlegungen, die von Bedeutung sind, wenn Rechte respektiert und verwirklicht werden sollen. Dazu gehört die notwendige Zuordnung der Pflichten des Gegenparts, die Fähigkeiten (Handlungsmöglichkeiten) der Akteure, auf die diese Zuordnung entfällt, und die Umstände, unter denen diese tätig werden können. Und auch hier beschäftigt sich das letzte Kapitel mit Fragen der Durchsetzung von Menschenrechten.

Kapitel 8, „Von Edmund Burke zu Menschenrechten im 21. Jahrhundert“, setzt sich mit Edmund Burkes klassischer Kritik an der Abstraktion auseinander. Es geht davon aus, dass Burkes Denken auf die Möglichkeit der Institutionalisierung abstrakter Rechte weder abzielt noch sie unterminiert, sondern vielmehr erst möglich macht, dass sie unter den verschiedensten Umständen verwirklicht werden. Für Burke war Abstraktion weder vermeidbar noch fatal, sondern unverzichtbar, aber eben nicht ausreichend.

Kapitel 9, „Von einer staatsorientierten bis zu einer globalen Konzeption von Gerechtigkeit“, tritt dafür ein, dass die praktischen Aufgaben der Umsetzung und Sicherung der Gerechtigkeit nicht an bestimmten Grenzen festgemacht werden sollten, sondern sich vielmehr auf die Handlungsmöglichkeiten (Fähigkeiten) der personellen und institutionellen Akteure konzentrieren sollten, die diese Gerechtigkeitsgrundsätze beachten und verwirklichen müssen. Im Besonderen muss ein praxisorientierter Ansatz des Nachdenkens über Rechte die speziellen Fähigkeiten und die Verschiedenheit nicht-staatlicher Akteure berücksichtigen, die keineswegs immer auf ein bestimmtes Territorium festgelegt sind und deren Aktivitäten häufig über Staats- und andere Grenzen hinwegreichen. Kapitel 10, „Globale Gerechtigkeit: Pflichten in der globalisierten Welt“, nimmt sich des Themas an, dass Rechte nicht ernst genommen werden können, wenn sie nicht in einer realistischen Konzeption der Fähigkeiten und Schwächen jener personellen und institutionellen Akteure verankert sind, die sie beachten sollen. Dabei ist besonderes Augenmerk auf die höchst variable Natur von Grenzen und Begrenzungen zu legen und auf die spezifischen Formen des Ein- und Ausschlusses, die sie etablieren.

Kapitel 11, „Akteure der Gerechtigkeit“, beschäftigt sich mit der versteckten Staatsorientierung vieler Theorien im Hinblick auf die praktischen Implikationen von Rechten und sondiert Möglichkeiten, wie ein breiteres Spektrum nicht-staatlicher Akteure ebenfalls zur Gerechtigkeit beitragen kann.

Das letzte Kapitel in diesem Teil widmet sich, genau wie in Teil II, speziell den Menschenrechten. In Kapitel 12, „Die dunkle Seite der Menschenrechte“, wird untersucht, wie die Tatsache, dass die Pflicht zur Einhaltung der Menschenrechte in erster Linie Staaten zugewiesen wurde, die Debatte über deren Verwirklichung geprägt hat und welche Probleme entstehen, wenn man die Menschenrechte zu eng an staatliche Akteure bindet. Es ist nicht klar, wie weit die Reichweite der Gerechtigkeit ausgedehnt werden kann, wenn die Verpflichtungen, Rechte zu respektieren und zu realisieren, in erster Linie anti-kosmopolitischen Institutionen überantwortet werden.

Teil IV: Grenzüberschreitende Gesundheit

Die Aufsätze im letzten Teil präsentieren Überlegungen zu bestimmten Fragen im Zusammenhang mit Gesundheit und Gerechtigkeit in einer globalisierten Welt. Gesundheit ist einer von mehreren Bereichen (das Klima und der technologische Wandel sind die anderen), in denen die Rolle von Staatsgrenzen bei der Festlegung der Reichweite der Gerechtigkeit besonders problematisch sein kann. Meiner Ansicht nach hat ein großer Teil der Arbeiten über Bioethik diese Realität zu wenig berücksichtigt. Gewöhnlich liegt das gerade nicht daran, dass diese sich offen nur an staatliche Akteure wenden würden (diese Prämisse bleibt häufig implizit), sondern an der Tatsache, dass sie auf einen individualistischen Ansatz setzen, der zwar für die klinische Ethik angemessen sein mag, für die Ethik der globalen Gesundheit aber keine Anwendung finden kann, weil diese von gravierender Ungleichheit in den Staaten der Welt geprägt ist.

Kapitel 13, „Gesundheitswesen oder Medizinethik: über Grenzen hinaus gedacht“, untersucht, was es uns kostet, dass die zeitgenössische Medizinethik sich ausschließlich auf die Arzt-Patient-Beziehung konzentriert, auf Aufklärungsgespräche und Einwilligungserklärungen und auf die gerechte Verteilung von gesundheitlichen Leistungen auf Einzelpersonen. Diese Perspektive verdrängt Themen, die die öffentliche Gesundheit betreffen bzw. die Gesundheit ärmerer Gesellschaften und andere wichtige globale Gesundheitsfragen, vollkommen aus dem Blickfeld. Eine angemessene Bioethik des Gesundheitswesens muss in der politischen Philosophie verankert sein, nicht nur in der Ethik. Und sie muss einen realistischen Blick dafür entwickeln, wie staatliche und nicht-staatliche Akteure die öffentliche Gesundheit stärken können. Dementsprechend kann weder die individuelle Autonomie noch eine Patienteneinwilligung nach Aufklärung ein sicheres Fundament für die Ethik der Gesundheit bieten.

Kapitel 14, „Erweiterung der Bioethik: Medizinethik, öffentliche Gesundheit und globale Gesundheit“, untersucht, ob Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens wirklich „globale öffentliche Güter“ sind, an denen jeder ein Interesse hat. Dort wird argumentiert, dass viele Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens, auch solche, die auf bestimmte Gruppen abzielen, positive externe Effekte haben können. Trotzdem sind sie keine genuin globalen Güter.

* * *

Die hier vorgelegten Aufsätze kritisieren bestimmte Auffassungen von den Menschenrechten, doch sie gehen davon aus, dass diese Rechte für die Gerechtigkeit von entscheidender Bedeutung sind. Dabei kritisiere ich vor allem jene Konzeptionen von Menschenrechten, die sich über die Akteure, denen die Gerechtigkeit überantwortet wird, nicht weiter auslassen bzw. über deren spezifische Pflichten. Konzeptionen, die all diese Pflichten ungeprüft den Staaten anlasten. In meinen Augen nehmen wir die Rechteperspektive nicht ernst genug, wenn wir nicht zeigen, wer genau was für wen tun soll. Und die Pflichten, die wir ausschließlich dem Staat zuweisen, sind typischerweise solche zweiter Ordnung, zu deren Umsetzung es andere personelle oder institutionelle Akteure braucht. Mir ist nur zu klar, dass die vielen Kollegen, Studenten und Zuhörer, denen ich diese Gedanken vorgetragen habe, meines Refrains mittlerweile vielleicht überdrüssig sind, aber ich bleibe in dieser Hinsicht unbußfertig.

Teil I
GRENZÜBERSCHREITENDER HUNGER
1
Rettungsboot Erde9

Wenn in einigermaßen naher Zukunft viele Millionen Menschen verhungern werden, kann man den Überlebenden dann die Schuld an deren Tod geben? Gibt es etwas, was die Menschen heute bzw. von heute an tun müssten, wenn sie vermeiden wollen, für nicht zu rechtfertigende Todesfälle in den künftigen Hungerjahren verantwortlich gemacht zu werden? Meine Argumentation geht von der Annahme aus, dass jeder Mensch das Recht hat, nicht ungerechtfertigt getötet zu werden, und erhebt daran anschließend den Anspruch, dass wir die Pflicht haben, Hungertode ganz zu verhindern oder hinauszuschieben. Ein Nebeneffekt dieses Anspruchs ist es, dass wir durchaus Verantwortung tragen, zumindest für einige dieser Todesfälle, falls wir untätig bleiben.

Gerechtfertigtes Töten

Ich gehe von der Annahme aus, dass Menschen ein Recht haben, nicht getötet zu werden, und folglich auch die Pflicht, nicht zu töten. Über weitere Rechte, die Menschen unter Umständen haben, sollen hier keine Aussagen getroffen werden. Insbesondere setze ich nicht voraus, dass Menschen gegen andere, die ihren Tod verhindern könnten, das Recht haben, dass man sie nicht sterben lässt, bzw. die Pflicht, den Tod anderer Menschen zu verhindern, wann immer sie dies leisten könnten. Doch ich werde auch nicht annehmen, dass der Mensch dieses Recht nicht hat.

Selbst wenn Menschen nur dieses eine Recht besitzen, nicht getötet zu werden, kann dieses Recht unter bestimmten Umständen gerechtfertigterweise außer Kraft gesetzt werden. Nicht jede Tötung ist ungerechtfertigt. Ich werde mich insbesondere mit zwei Situationen auseinandersetzen, in denen das Recht, nicht getötet zu werden, mit vollem Recht außer Kraft gesetzt wird. Es sind dies erstens der Fall eines unvermeidbaren Todes, zweitens der der Notwehr.

Zu solch unvermeidbaren Todesfällen kommt es in Situationen, in denen das Handeln eines Menschen den Tod eines oder mehrerer anderer Menschen bewirkt, dies aber nicht verhindern kann. Solche Todesfälle geschehen zum Beispiel, wenn der, der den Tod eines anderen verursacht, sich zum Zeitpunkt seiner Entscheidung zu handeln, wie er gehandelt hat, einiger wichtiger Umstände nicht bewusst ist. Wenn B einen Zug lenkt, A auf den Gleisen herumstolpert und von B nicht oder zu spät erkannt wird, sodass B den Zug nicht mehr stoppen kann, dann tötet B Person A. Aber B hätte nicht verhindern können, A zu töten, hatte er sich doch für das Fahren des Zugs entschieden. Eine andere Form unvermeidbarer Tötung stellt sich dar, wenn B vermeiden kann, entweder A zu töten oder C, aber nicht beide. Ist B zum Beispiel Träger ein hoch ansteckenden und unweigerlich zum Tode führenden Krankheit, dann könnte er in eine Lage geraten, in der er einer Begegnung mit A oder C nicht aus dem Weg gehen kann. Er müsste also A oder C töten und sich entscheiden, wen er trifft. In diesem Fall hängt die Unvermeidbarkeit von B’s Tötungshandlung nicht von einer früheren Entscheidung B’s ab. Die Fälle unvermeidlicher Tötung, mit denen ich mich hier beschäftigen möchte, gehören zu der letzteren Kategorie. Und ich werde darlegen, dass in solchen Fällen B gerechtfertigt tötet, wenn bestimmte weitere Bedingungen erfüllt sind.

Eine Tötung mag ebenso gerechtfertigt sein, wenn sie zur Selbstverteidigung geschieht. Ich werde hier nicht darlegen, dass Menschen ein Recht auf Selbstverteidigung haben, das unabhängig ist von ihrem Recht, nicht getötet zu werden. Vielmehr gehe ich davon aus, dass das Recht auf Selbstverteidigung mit der geringstmöglichen Wirkung als logische Folge aus dem Recht entsteht, nicht getötet zu werden. Daher ist das Konzept der Selbstverteidigung, auf das ich mich hier stütze, in gewisser Weise anders und enger gefasst als andere Interpretationen dieses Rechts. Ich werde ebenfalls belegen, dass, wenn A das Recht hat, sich gegen B zu verteidigen, eventuellen Dritten die Pflicht zufällt, A’s Recht ebenfalls zu verteidigen. Wenn wir das Recht, nicht getötet zu werden, mit all seinen logischen Folgen ernst nehmen, dann müssen wir auch für das Recht anderer, nicht getötet zu werden, eintreten.

Das Recht auf Selbstverteidigung, das sich als logische Konsequenz aus dem Recht ableitet, nicht getötet zu werden, verleiht einem auch das Recht, aktiv zu werden, um die Tötung anderer zu verhindern. Habe ich das Recht, nicht getötet zu werden, dann habe ich auch das Recht, andere daran zu hindern, mein Leben zu gefährden. Das Recht, dabei deren Leben zu gefährden, habe ich nur, wenn dies der einzige Weg ist, die Gefahr für mein Leben abzuwenden. Daraus, dass ein anderer das Recht besitzt, nicht getötet zu werden, folgt gleichfalls, dass ich, soweit möglich, aktiv werden sollte, um andere daran zu hindern, sein Leben in Gefahr zu bringen. Deren Leben darf ich dabei jedoch nur gefährden, wenn dies die einzige Möglichkeit ist, sein Leben zu retten. Die Pflicht, andere zu verteidigen, ist keine allgemeine Verpflichtung, sich für das menschliche Wohl einzusetzen, sondern eine sehr begrenzte Pflicht, das Recht anderer, nicht getötet zu werden, zu sichern.

Das Recht auf Selbstverteidigung ist also recht begrenzt gedacht. Es verleiht niemandem das Recht, gegen andere vorzugehen, die uns schaden oder höchstwahrscheinlich schaden werden, wenn dieser Schaden unser Leben nicht gefährdet. (In bestimmten Fällen allerdings ist dieses Recht nicht immer so klar. Das Leben des Ladenbesitzers, der, von einem Räuber mit einer Spielzeugpistole in Schach gehalten, sich mit einem Schuss aus einer echten Pistole verteidigte, war nicht in Gefahr. Doch er hatte vernünftige Gründe anzunehmen, dass er in Gefahr schwebte.) Und es umfasst wirklich nur die geringstmögliche Vorbeugung gegenüber demjenigen, der unser Leben bedroht. Wenn B dem A mit einer Waffe hinterherjagt und A sich retten könnte, indem er entweder hinter einer schusssicheren Tür Schutz sucht oder B erschießt, dann hätte A kein Recht, auf B zu schießen, wenn alle Menschen das Recht hätten, nicht getötet zu werden und einer Tötung ihrerseits mit der geringstmöglichen Wirkung vorzubeugen. (Auch hier sind solche Fälle häufig nicht so einfach zu klären – A weiß ja unter Umständen nicht, dass die Tür schusssicher ist oder er denkt schlicht nicht an die Tür oder glaubt vielleicht, dass ein Schuss auf B eine sicherere Maßnahme wäre.) Das Recht auf eine dem Angriff entsprechende (verhältnismäßige) Selbstverteidigung, welches A’s Schuss auf B rechtfertigen würde, selbst wenn klar ist, dass das Verschwinden hinter der Tür ausgereicht hätte, um B’s Leben zu bewahren, geht meiner Ansicht nach nicht aus dem Recht hervor, nicht getötet zu werden. Möglicherweise ließe sich das Recht auf eine solche verhältnismäßige Gewaltanwendung rechtfertigen, indem man den Anspruch erhebt, dass ein Aggressor bestimmte Rechte einfach verliert, doch ich werde mich zu diesem Thema nicht äußern.

In gewisser Hinsicht ist das eng gefasste Recht auf Selbstverteidigung, das als logische Konsequenz aus dem Recht, nicht getötet zu werden, hervorgeht, weitreichender als einige andere Auslegungen dieses Rechts. Denn es gibt uns das Recht zu handeln gegen all jene, die unser Leben in Gefahr bringen, unabhängig von der Tatsache, ob sie dies bewusst oder absichtlich tun. A’s Recht, nicht getötet zu werden, berechtigt ihn, sich nicht nur gegen Aggressoren zu wehren, sondern auch gegen „ungewollte Bedrohungen“10, die Leben gefährden, ohne von einem Aggressor auszugehen. Wenn B versehentlich oder unbeabsichtigt möglicherweise A’s Tod verursacht, dann hat A, wenn er das Recht hat, nicht getötet zu werden, ebenfalls ein Recht zu tun, was immer nötig ist, um B davon abzuhalten, solange dieses Tun nicht B’s Recht verletzt, ungerechtfertigt getötet zu werden. Wenn B eine hochgradig ansteckende und unweigerlich zum Tod führende Krankheit hat und sich A nähert, dann darf A versuchen, B davon abzuhalten, selbst wenn B nichts über die Gefahr weiß, die er mit sich trägt. Wenn alle anderen Mittel fehlschlagen, dürfte A den B zur Selbstverteidigung sogar töten, obwohl B kein Aggressor war.

Nehmen wir zwei verschiedene Sachverhalte: 1) ein gut ausgerüstetes Rettungsboot; 2) ein unzureichend ausgestattetes Rettungsboot. Natürlich mag es auch Fälle geben, in denen die Überlebenden eines Schiffbruches nicht sicher sein können, was nun auf sie zutrifft, aber davon sehen wir hier der Einfachheit halber ab. Auf einem gut ausgestatteten Rettungsboot können alle überleben, bis Rettung eintrifft. In diesem Falle wäre keine Tötung als unvermeidlich zu rechtfertigen. Wenn jemand trotzdem getötet wird, dann könnte dies nur mit Notwehr gerechtfertigt werden, und auch nur in bestimmten Situationen. Betrachten wir einmal die folgenden Beispiele:

1A) Auf einem gut ausgerüsteten Rettungsboot mit sechs Personen droht A, die Süßwasservorräte über Bord zu werfen, ohne die einige oder alle Insassen nicht bis zur Rettung durchhalten würden. A ist entweder feindselig oder verrückt. B versucht, mit A zu reden, aber als dies fehlschlägt, erschießt er ihn. B kann sich auf sein Recht und das der anderen Bootsinsassen auf Selbstverteidigung berufen, um A’s Tod zu rechtfertigen. „Er oder wir“, mag er anführen. „Er hätte uns alle in eine Situation gebracht, in der wir nicht ausreichend ausgestattet gewesen wären, um zu überleben.“ Dies könnte er sowohl anführen, wenn A voller Absicht die anderen bedroht hätte, als auch, wenn er sich der Folgen seiner Tat nicht bewusst gewesen wäre.

1B) Auf einem gut ausgestatteten Rettungsboot mit sechs Personen beschließen B, C, D, E und F, dem A nichts mehr zu essen zu geben, woraufhin dieser stirbt. In diesem Fall können die Übrigen sich nicht auf ihr Recht zur Selbstverteidigung berufen – denn es hätten ja schließlich alle überleben können. Sie können auch nicht anführen, dass sie A schließlich nur verhungern ließen („Wir haben ja nichts getan!“) – denn A wäre anders nicht gestorben. Hier geht es auch nicht um einen Verstoß gegen das problematische Recht, nicht am Sterben gehindert zu werden, sondern um einen Verstoß gegen das Recht, nicht getötet zu werden. Dieser Verstoß kann nicht durch Verweis auf die Unvermeidbarkeit dieses Todes oder das Recht auf Selbstverteidigung gerechtfertigt werden.

Auf einem nicht ausreichend ausgerüsteten Rettungsboot können nicht alle überleben, bis Rettung naht. Einige Todesfälle sind also unvermeidbar, aber manchmal ist einfach nicht klar, wer betroffen sein wird.

Hier einige Beispiele:

2A) Sechs Personen haben sich auf ein Rettungsboot mit spärlicher Ausrüstung retten können. A ist sehr krank und braucht besonders viel Wasser, das ohnehin schon knapp ist. Die anderen entscheiden, dass sie ihm überhaupt kein Wasser geben, und A stirbt an Wassermangel. Wenn A etwas zu trinken bekommt, überleben nicht alle Personen. Andererseits ist klar, dass A getötet wurde und sein Tod nichts mit Sterbenlassen zu tun hat. Hätte er Wasser bekommen, hätte er vielleicht sogar überlebt. Einige Tode wären unvermeidbar gewesen, aber der von A war es nicht. Ihn zum Opfer zu machen heißt, sich dafür rechtfertigen zu müssen.

2B) Auf einem schlecht ausgestatteten Rettungsboot mit sechs Personen ist nur so viel Wasser vorhanden, dass vier Menschen überleben können. (Vielleicht ist die Entsalzungsmaschine nur für vier Personen ausgelegt?) Wer aber soll kein Wasser bekommen? Nehmen wir einmal an, zwei Menschen werden, entweder durch das Los oder durch eine andere Methode, bestimmt, kein Wasser zu bekommen und sterben deshalb. Die anderen können sich nicht darauf berufen, dass sie die beiden schließlich nur haben sterben lassen – denn auch die beiden könnten zu den Überlebenden gehören. Niemand hatte mehr Anspruch aufs Überleben als der andere, aber da nun mal nicht alle überleben konnten, wurden die Toten gerechtfertigterweise getötet, wenn die Methode der Wahl fair war. (Was eine solche Wahl fair erscheinen lassen würde, darüber gäbe es allerdings noch einiges zu sagen.)

2C) Wir befinden uns in derselben Situation wie unter 2B, doch die beiden, die kein Wasser erhalten sollen, bitten darum, sofort erschossen zu werden, um ihnen die Qual des Verdurstens zu ersparen. Auch hier können die Überlebenden nicht behaupten, sie hätten die beiden nicht getötet, sondern sich maximal darauf berufen, dass die Tötungshandlung gerechtfertigt war. Ob dies der Fall ist, hängt nicht davon ab, ob die beiden Opfer nun erschossen wurden oder verdursten mussten, sondern einzig davon, dass einige Tode unvermeidbar waren und das Verfahren zur Auswahl der Opfer fair war.

2D) Wir haben wieder dieselbe Situation wie in 2B, doch die beiden, die kein Wasser erhalten sollen, rebellieren. Die anderen erschießen sie und behalten so die Kontrolle über das Wasser. In diesem Fall ist klar, dass die beiden Opfer aktiv getötet wurden, aber auch hier ist die Tötung unter Umständen gerechtfertigt. Ob die Überlebenden nun mit Recht getötet wurden, hängt weder von der Tötungsart noch von der verweigerten Zusammenarbeit der Opfer ab, obwohl man davon ausgehen kann, dass diese Zusammenarbeit für die Frage, ob der Auswahlprozess fair war, unter Umständen von Bedeutung ist.

Solche Rettungsboot-Situationen sind im wirklichen Leben selten. Wir werden selten vor die Wahl gestellt, durch unsere Entscheidung, wie magere Rationen zu verteilen sind, zu töten oder getötet zu werden. Und doch ist diese Situation ganz real, was die Lage der menschlichen Rasse auf diesem Planeten angeht. Die heutzutage so häufig begegnende Metapher vom „Raumschiff Erde“ lässt uns eher an Drama, weniger an Gefahr denken. Wenn wir unsere Situation aber nüchtern betrachten, wäre ein anderes Bild vielleicht angemessener: das vom „Rettungsboot Erde“.

Vermutlich erhebt sich durchaus Widerspruch gegen die Vorstellung vom „Rettungsboot Erde“. Ein Rettungsboot ist klein, alle an Bord haben denselben Anspruch darauf, dort zu sitzen und ihren rechtmäßigen Anteil an den Vorräten zu erhalten. Die Erde hingegen ist groß, und es mögen zwar alle das Recht haben, sie zu bewohnen, doch manche haben zusätzlich noch Eigentumsrechte, die ihnen bestimmte Möglichkeiten zum Konsum geben, die andere Erdbewohner nicht haben. Die hungernden Millionen sind weit, weit entfernt und haben kein Recht auf das, was reiche Menschen oder Nationen besitzen, auch wenn es sie vor dem Tod bewahren könnte. Wenn sie sterben, wird es heißen, das sei höchstens ein Verstoß gegen ihr Recht, dass man sie nicht sterben lässt. Und dieses Recht habe ich ausdrücklich nicht angenommen und nicht etabliert.

Ich denke, für frühere Zeiten hätte man dies vernünftigerweise behaupten können. Die Armut und der daraus folgende Tod von Menschen in fernen Ländern waren etwas, was die Reichen möglicherweise hätten beeinflussen können, wobei sie jedoch (häufig) untätig geblieben waren. Daher haben sie das Recht der weit entfernt Lebenden, nicht getötet zu werden, nicht verletzt. Doch die ökonomische und technologische Vernetztheit von heute verändert diese Situation.11 Manchmal wird der Tod verursacht von Menschen oder Menschengruppen in fernen, üblicherweise reichen Nationen. Manchmal verletzen diese Menschen oder Menschengruppen nicht nur das mutmaßliche Recht des Menschen, dass man ihn nicht sterben lässt, sondern auch sein grundlegenderes Recht darauf, nicht getötet zu werden.

Verstöße gegen das Recht, nicht getötet zu werden, stellen wir uns meist so vor, wie sie in den Vereinigten Staaten von heute so häufig diskutiert werden: eine Konfrontation zwischen Einzelpersonen, bei denen einer direkt, gewaltsam und absichtlich den Tod des anderen verursacht. Doch wie die Rettungsboot-Situationen zeigen, gibt es auch andere Möglichkeiten, um uns gegenseitig umzubringen. Auf jeden Fall können wir unseren Blickwinkel nicht auf den typischen Raubüberfall- oder Mord-Kontext verengen. B verstößt auch gegen A’s Recht, nicht getötet zu werden, wenn:

a) B nicht allein handelt.

b) A’s Tod nicht sofort erfolgt.

c) es nicht sicher ist, ob A infolge von B’s Handlungen stirbt.

d) B den Tod von A gar nicht beabsichtigt hat.

Folgende Beispiele sollen diese Punkte veranschaulichen:

aa) A wird von einer Gang zusammengeschlagen, die aus B, C, D et cetera besteht. Keiner der Angreifer tötete A durch seine individuelle Tat, doch sein Recht, nicht getötet zu werden, wird von allen verletzt, die an der Prügelei teilgenommen haben.

bb) A wird langsam durch Verabreichung von kleinen täglichen Dosen Gift getötet. Die letzte Dosis war, wie die vorhergehenden, nicht für sich allein genommen tödlich. Doch die Person, die A vergiftet hat, hat A’s Recht, nicht getötet zu werden, trotzdem verletzt.

cc) B spielt Russisches Roulette mit A, C, D, E, F und G. Er feuert je einmal auf diese Personen und weiß, dass ein Schuss von sechs tödlich sein wird. Wenn A angeschossen wird und stirbt, hat B dessen Recht, nicht getötet zu werden, verletzt.

dd) Heinrich II. fragt, wer ihn von diesem lästigen Priester erlösen kann, und seine Anhänger töten Becket. Es ist klar, dass Heinrich Beckets Tod nicht beabsichtigt hat, wohl aber war er, wie er später zugeben sollte, teilweise dafür verantwortlich.

Diese Erläuterungen zum Recht, nicht getötet zu werden, sind für sich genommen nicht allzu kontrovers angelegt und ich würde annehmen, dass auch der Zusammenhang nicht strittig ist. Selbst wenn A’s Tod Resultat des Handelns mehrerer Personen ist und keine unmittelbare Folge dieses Handelns, ja noch nicht mal eine gesicherte Konsequenz, und selbst wenn dieser Tod von den Handelnden nicht beabsichtigt war, so mag dadurch A’s Recht, nicht getötet zu werden, verletzt werden.

Erste Klasse versus Zwischendeck auf dem Rettungsboot Erde

Stellen wir uns nun vor, auf einem Rettungsboot gäbe es ein besonderes Deck für die Erste-Klasse-Passagiere, und Wasser sowie Proviant für alle Passagiere wären auf diesem Deck untergebracht. Damit hätten wir ein klares, wenn auch grobes Modell der aktuellen Situation auf dem Rettungsboot Erde. Denn selbst wenn wir annehmen, dass genug da ist, um das Überleben aller zu sichern, so haben doch einige Passagiere die Kontrolle über die Mittel zum Überleben und so indirekt über das Überleben anderer. Manchmal führt das Ausüben dieser Kontrolle, selbst auf einem gut ausgerüsteten Rettungsboot, dazu, dass einige der Passagiere, denen es an dieser Kontrolle fehlt, Hunger leiden oder sterben. Auf einem schlecht ausgestatteten Rettungsboot müssen in jedem Fall einige Insassen sterben, und wie wir bereits gesehen haben, sind einige dieser Fälle als Tötung zu betrachten, wenn auch aus unter Umständen gerechtfertigten Gründen. Ähnliche Situationen können und werden sich auch auf dem Rettungsboot einstellen, soweit das nicht schon der Fall ist. Diesen Fragen sollten wir uns zuwenden und dabei sowohl die gegenwärtige Situation untersuchen, in der die Mittel für das Überleben aller angeblich ausreichen, wie auch die künftige Lage, für die man global mit einem nicht mehr ausreichend ausgestatteten Rettungsboot rechnet.

Situationen ohne Knappheit

Auf einem gut ausgerüsteten Rettungsboot ist jede Verteilung von Nahrung und Wasser, die einen Todesfall herbeiführt, als Tötung zu betrachten und nicht nur als ein Fall von „Sterbenlassen“. Denn die Handlungen jener, die die Nahrungsmittel- und Wasservorräte verteilen, sind Ursache eines Todes, der nicht eingetreten wäre, hätten diese Akteure entweder keinen ursächlichen Einfluss ausgeübt oder ganz anders gehandelt. Im Gegensatz dazu hätte man einen Menschen, den man im Wasser zurückgelassen hat, damit er ertrinkt, nur sterben lassen, denn sein Tod wäre (wenn alle übrigen Umstände gleich sind) ohne ursächliche Handlung dieser Akteure eingetreten, obwohl er hätte verhindert werden können, hätte man ihn aus dem Wasser gezogen.12 Der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen, wie er hier konstruiert wird, hängt nicht von irgendwelchen Prämissen in Bezug auf die anderen Rechte der Getöteten ab. Der Tod des geprellten Passagiers von Beispiel 1B hat seine Eigentumsrechte ebenso verletzt wie sein Recht, nicht getötet zu werden, aber der Grund dafür, dass sein Tod als Tötung einzustufen ist, ist darin zu suchen, inwiefern die Handlungen der anderen Personen ihn verursacht haben. Wenn wir davon ausgehen, dass ein blinder Passagier auf einem Rettungsboot keinen Anspruch auf Nahrung und Wasser hat und ihm beides verweigert wird, dann werden seine Eigentumsrechte dadurch nicht verletzt. Trotzdem wird er, wenn man obige Definitionen anwendet, getötet und nicht einfach nur sterben gelassen. Denn wenn die anderen Passagiere keinen ursächlichen Einfluss ausgeübt oder anders gehandelt hätten, wäre sein Tod nicht eingetreten. Ihre Handlungen – in diesem Fall: Nahrung nur an jene zu verteilen, die ein Anrecht darauf haben – haben den Tod des blinden Passagiers verursacht. Dieses Tun wäre nur dann gerechtfertigt, wenn Eigentumsrechte in manchen Fällen das Recht, nicht getötet zu werden, außer Kraft setzen würden.

Nun würde so mancher natürlich vorbringen, dass die Situation auf dem Rettungsboot Erde nicht analog zu der auf normalen Rettungsbooten ist, da es ja nicht selbstverständlich ist, dass wir alle einen Anspruch auf die Ressourcen der Erde haben, geschweige denn einen gleichwertigen Anspruch. Vielleicht sind einige von uns ja blinde Passagiere. Ich werde hier nicht den Ansatz verfolgen, dass wir alle einen Anspruch auf die planetaren Ressourcen haben, obwohl ich denke, es wäre plausibel, das anzunehmen. Ich gehe vielmehr davon aus, dass, selbst wenn Menschen ungleiche Eigentumsrechte besitzen und manche Menschen gar nichts haben, daraus nicht hervorgeht, dass B’s Ausübung seiner Eigentumsrechte A’s Recht, nicht getötet zu werden, außer Kraft setzen kann.13 Wo unser Tun zum Tod eines anderen Menschen führt, der nicht eingetreten wäre, hätten wir anders gehandelt oder keinen ursächlichen Einfluss ausgeübt, kann die Berufung auf unsere Eigentumsrechte nicht genügen, um uns vom Vorwurf der Tötung freizusprechen.

Es ist keineswegs weit hergeholt anzunehmen, dass gegenwärtige ökonomische Aktivitäten verschiedener Gruppierungen zum Tod anderer Menschen führen. Ich werde einige Beispiele für Aktivitäten anführen, die in diese Kategorie fallen, aber damit ist nur die Spitze des Eisbergs genannt. Keines dieser Beispiele hängt davon ab, dass wir die Existenz ungleicher Eigentumsrechte infrage stellen. Sie setzen nur voraus, dass diese Rechte das Recht, nicht getötet zu werden, nicht aufheben. Bei keinem der Beispiele ist es plausibel, die Tötung als Akt der Selbstverteidigung anzusehen.

Den ersten Fall könnte man mit Auslandsinvestitions-Fall überschreiben. Eine Gruppe von Investoren gründet ein Unternehmen, das im Ausland investiert – zum Beispiel in eine Plantage oder eine Mine. Das Unternehmen wird so geführt, dass ein Großteil der Gewinne ins Ursprungsland rückgeführt wird. Die Löhne für die Arbeiter im Ausland aber sind so gering, dass ihre Überlebenschancen sinken. Ihre Lebenserwartung ist also niedriger, als sie es wäre, hätte das Unternehmen nicht in diesem Land investiert. In solch einem Fall werden Investoren und Management nicht allein tätig, sind nicht unmittelbar für die Todesfälle verantwortlich und wissen auch nicht im Voraus, wer sterben wird. Vermutlich beabsichtigen sie die Tötung noch nicht einmal. Aber durch ihre Beteiligung an der Volkswirtschaft eines unterentwickelten Landes können sie nicht behaupten, dass sie ja „nichts tun“, wie es ein Unternehmen könnte, das dort nicht investiert. Ganz im Gegenteil, sie bestimmen ja über die Strategien, die den Lebensstandard der Arbeiter festlegen und damit auch deren Überlebenschancen. Wenn Menschen sterben, weil ein die lokale Wirtschaft beherrschendes Unternehmen oder eine Unternehmensgruppe entweder die Menschen zwingt, zu ihren Konditionen zu arbeiten, oder deren Chancen auf einen anderen Arbeitsplatz unterminiert, weil es die traditionellen ökonomischen Strukturen zerstört und dadurch einen niedrigen Lebensstandard verursacht, und wenn dieses Unternehmen oder diese Unternehmensgruppe auch höhere Löhne zahlen oder der Gegend überhaupt fernbleiben könnte, dann verletzen die Menschen, die derartige Strategien festlegen, das Recht anderer Menschen, nicht getötet zu werden. Auslandsinvestitionen hingegen, die den Lebensstandard heben, selbst wenn er dann immer noch auf einem katastrophal niedrigen Niveau verharrt, können nicht für Todesfälle verantwortlich gemacht werden, weil sie ja keine vermehrten Todesfälle verursachen, außer unter bestimmten Umständen, wie das folgende Beispiel zeigt.

Selbst wenn ein Unternehmen in einem unterentwickelten Land für höhere Löhne und Sozialleistungen sorgt und so die Lebenserwartung der Beschäftigten erhöht, dann kommt es häufig nur dann in die Gewinnzone, weil ihm Steuernachlässe gewährt werden. In diesem Fall wird das Unternehmen subventioniert durch das allgemeine Steueraufkommen eines Entwicklungslandes.14 Das Unternehmen trägt nichts zur Infrastruktur des Landes bei, zum Bau von Straßen, Häfen und Flughafen, obwohl es davon profitiert. Auf diese Weise haben sich in vielen unterentwickelten Volkswirtschaften durchaus entwickelte Enklaven gebildet, die ihren Standard auf Kosten der ärmeren Mehrheit erlangen. In solchen Fällen wirken die Strategien von Unternehmen und Regierung so zusammen, dass auf Kosten des Niedriglohnsektors ein Hochlohnsektor entsteht. In der Folge sterben vielleicht einige Menschen aus dem Niedriglohnsektor, die ihr Leben andernfalls nicht verloren hätten. Diese Menschen, wer auch immer sie sein mögen, werden getötet. Es geht also nicht um einen Fall von Sterbenlassen. Manche dieser Tötungen mögen sich rechtfertigen lassen – zum Beispiel, wenn ihre Zahl mehr als aufgewogen wird durch Leben, die der entwickelte Sektor zu retten vermag –, aber es handelt sich nichtsdestotrotz um Tötungen. Schließlich hätten die Opfer überleben können, wenn sie nicht durch die Transferzahlungen an den entwickelten Sektor ihre Lebensgrundlage verloren hätten. Allerdings gibt es in diesem Fall gewisse Unterschiede, was Management und Investoren angeht. Selbst wenn das Management sich für eine bestimmte Lohnhöhe und damit für entsprechende Überlebenschancen entscheidet, wissen die Investoren davon gewöhnlich nichts. Doch selbst in diesem Fall sind die Investoren für die Unternehmenspolitik verantwortlich. Sie üben diese Kontrolle meist nicht aus, doch das Gesetz gesteht sie ihnen zu. Sie entscheiden sich, ihr Geld in ein Unternehmen zu stecken, das Auslandsinvestitionen tätigt. Sie profitieren davon. Sie können – was andere nicht können – die Unternehmenspolitik grundlegend beeinflussen. Sicherlich macht sie das rechtlich gesehen nicht zu Mördern – sie haben ja nicht die Absicht, andere Menschen zu töten. Auch das Management des Unternehmens plant ja nicht, dass seine Politik zu Todesfällen führt. Doch selbst in diesem Fall, in dem Investoren und Management zusammenarbeiten und es zu solchen Ergebnissen kommt, verletzen die Akteure das Recht einiger Personen, nicht getötet zu werden. Dabei können sie diese Tötungen nicht als Selbstverteidigung oder unvermeidlich rechtfertigen.

Den zweiten Fall, bei dem selbst bei ausreichenden Lebensbedingungen die ökonomischen Aktivitäten bestimmter Leute zum Tod anderer Menschen führen, könnte man als Rohstoffpreis-Fall bezeichnen. Wenig entwickelte Länder sind häufig massiv abhängig vom Preisniveau einiger weniger Rohstoffe. Wenn also der Weltmarktpreis für Kaffee oder Zucker oder Kakao fällt, kann das für ganze Regionen den Ruin bedeuten, was natürlich auch zu vermehrten Todesfällen führt. Und das Abstürzen der Preise ist ja keineswegs in allen Fällen nicht von Menschen verursacht. Wo der Preisverfall auf das Handeln von Investoren, Rohstoff-Brokern und Regierungsbehörden zurückgeht, entscheiden sich diese Leute bzw. Institutionen für eine Politik, die einige Menschen töten wird. Auch hier kann man die Verantwortung nicht einem einzelnen Menschen zuschreiben. Sie ist nicht unmittelbar, denn der für die Tode Verantwortliche kann auch nicht vorhersehen, wer sterben wird. Vermutlich hat er nicht einmal die Absicht zu töten.

Da die meisten Länder heute wirtschaftlich hochgradig voneinander abhängig sind, können Todesfälle selbst durch den Anstieg von Preisen verursacht sein. So gehen Agrarwissenschaftler davon aus, dass die Hungersnöte in der afrikanischen Sahelzone und auf dem indischen Subkontinent Mitte der 1970er-Jahre auf klimatische Veränderungen und den Preisanstieg für Öl zurückzuführen sind, der wiederum Düngemittel, Weizen und andere Getreidesorten verteuerte.

Auch der Anstieg der Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel führt regelmäßig zu höheren Todesraten bei den Menschen, die weltweit die unterste Einkommensgruppe bilden. Sie verfügen nicht über genug Einkommen, um ihre Lebenshaltungskosten entsprechend anzupassen. Sie leben ja ohnehin schon nahe dem Existenzminimum.15

Natürlich werden nicht alle Menschen, die sterben, getötet. Menschen, die aufgrund der Dürre sterben, hat man sterben lassen. Und einige der Menschen, die sterben, weil ihr Acker zu wenig abwirft, da sie zu wenig Düngemittel hatten, sterben ebenfalls aus Gründen, die weit jenseits des Einflussbereiches von Menschen liegen. Aber wo der Anstieg der Ölpreise auf arabische Diplomatie zurückgeht bzw. auf Managemententscheidungen der Ölfirmen und nicht nur ein unerwarteter Gewinn ist, dort handelt es sich bei den Todesfällen um Tötungsdelikte. Einige dieser Todesfälle mögen sich vielleicht sogar rechtfertigen lassen (wenn sie zum Beispiel mehr als aufgewogen werden durch die Anzahl geretteter Leben in der industrialisierten arabischen Welt), Tötungsdelikte sind es trotzdem.

Selbst wo die Erde genügend Mittel zum Überleben hervorbringt, können Menschen getötet werden, weil andere Menschen Verteilungsentscheidungen treffen. Die Kausalketten, die zu dieser ungleichmäßigen Verteilung und damit zu den Todesfällen führen, sind mitunter unglaublich komplex. Wo sie mit einiger Klarheit auszumachen sind, sollten wir, wenn wir das Recht, nicht getötet zu werden, ernst nehmen und nicht nur versuchen, andere nicht zu töten, sondern auch Dritte an solchen Handlungen zu hindern, für politische Strategien eintreten, die diese Todesfälle verhindern. Zum Beispiel – und das sind nur einige Beispiele – könnten wir für bestimmte Hilfsprogramme eintreten, für andere nicht; wir könnten uns gegen bestimmte Auslandsinvestitionen zur Wehr setzen; wir sollten gegen Spekulation mit Grundnahrungsmitteln vorgehen und preisstützende Maßnahmen für bestimmte Rohstoffe festlegen (von denen von Armut betroffene Länder besonders abhängig sind).

Sind wir jedoch der Ansicht, dass wir nicht verpflichtet sind, die Rechte anderer durchzusetzen, dann lässt sich daraus keine allgemeine Schlussfolgerung ableiten, die uns verpflichten würde, eine bestimmte Wirtschaftspolitik zu unterstützen, die ungerechtfertigtes Töten verhindert. Vielleicht aber müssen wir trotzdem davon ausgehen, dass wir aktiv werden sollten, entweder, weil unser eigenes Leben von den wirtschaftlichen Aktivitäten anderer bedroht ist oder weil unser ökonomisches Handeln das Leben anderer gefährdet. Nur wenn wir sicher wüssten, dass wir nicht teilhaben an Handlungen, die ungerechtfertigte Tode nach sich ziehen, dürfen wir annehmen, dass wir nicht verpflichtet sind, Maßnahmen zu unterstützen, die diese Todesfälle verhindern könnten. Die kausalen Verflechtungen in der modernen Wirtschaft sind so vielschichtig, dass nur Menschen, die wirtschaftlich völlig isoliert sind und autark leben, wissen können, dass sie nicht Teil eines solchen Systems sind. Menschen, die glauben, dass sie in solche todbringenden Aktivitäten verstrickt sind, haben einige derselben Pflichten, wie sie jenen eigen sind, die glauben, es sei ihre Pflicht, das Recht anderer auf Nicht-Getötetwerden durchzusetzen.

Situationen der Knappheit

Der letzte Abschnitt zeigte, dass, selbst wenn ausreichend Mittel vorhanden sind, Menschen manchmal dadurch getötet werden, dass andere die Mittel zum Überleben ungleichmäßig verteilen. Auf lange Sicht aber sind jene Situationen wichtiger, die sich wirklich mit dem Rettungsboot-Szenario vergleichen lassen: Situationen, in denen die Ressourcen knapp werden. Wir stehen vor Umständen, in denen nicht jeder Mensch, der geboren wird, auch mit einer normalen Lebenserwartung rechnen kann. Und wir können davon ausgehen, dass sich diese Spanne verkürzen wird. Wann solch eine ernsthafte Verknappung eintreten könnte, ist Gegenstand von Debatten, aber selbst die optimistischen Propheten sehen sie nur wenige Jahrzehnte entfernt.16 Wie schnell diese Situation eintritt, hängt von verschiedenen Faktoren ab, zum Beispiel der technologischen Innovation, dem menschlichen Erfindergeist, vor allem im Bereich Landwirtschaft und Bevölkerungskontrolle, und dem Erfolg von Programmen zur Geburtenkontrolle.

Solche Vorhersagen scheinen uns von der Mittäterschaft am Hungertod zu entlasten. Wenn der Hunger unvermeidlich ist, dann müssen wir uns vielleicht entscheiden, wer gerettet werden soll, doch der Tod jener, die wir weder retten werden noch retten können, stellt keine Tötung dar, für die wir Verantwortung tragen. Diese Todesfälle wären auch eingetreten, wenn wir keinerlei ursächliche Einflüsse ausgeübt hätten. Die Entscheidungen, die hier zu treffen sind, mögen entsetzlich schwierig sein, doch wir können uns zumindest damit trösten, dass wir den Hunger weder verursacht noch dazu beigetragen haben.

Doch diese tröstliche Sicht auf den Hunger vernachlässigt die Tatsache, dass solche Vorhersagen von bestimmten Annahmen darüber abhängen, was die Menschen in der Zeit vor dem Auftreten einer Hungersnot tun. Der Hunger nämlich ist nur dann unvermeidlich, falls die Menschen ihre Fortpflanzung nicht kontrollieren, ihr Konsumverhalten nicht ändern und Umweltverschmutzung und die daraus folgende ökologische Katastrophe nicht verhindern. Es ist die Politik der Gegenwart, die die Hungersnöte verursacht, verzögert oder ganz vermeidet. Wenn es also zu einer Hungersnot kommt, sind die damit zusammenhängenden Todesfälle Konsequenz von früher getroffenen Entscheidungen. Nur wenn wir keinen Anteil an Systemen oder Aktivitäten haben, die zu Hungersnöten führen, können wir davon ausgehen, dass wir entscheiden, wen wir retten, und nicht, wen wir töten, sobald sich eine Hungersnot eintritt. In einer wirtschaftlich eng vernetzten Welt gibt es nur wenige Menschen, die Hunger als Naturkatastrophe verstehen dürfen, vor der sie gnädigerweise einige Menschen bewahren, für deren Eintreten sie jedoch keinerlei Verantwortung tragen. Wir können nicht stoisch bestimmte Hungertode als unvermeidlich betrachten, wenn wir zum Eintreten und zum Ausmaß der Hungersnot beigetragen haben.

Tragen wir Verantwortung für das Auftreten des Hungers, dann ist jede Entscheidung über die Verteilung des Hungersnot-Risikos eine Entscheidung darüber, wen wir töten. Selbst die Entscheidung, die Selektion der Natur zu überlassen, ist als Strategie in der Hungersnot eine Entscheidung darüber, wen wir töten – denn mit einer anderen Strategie hätten vielleicht andere Menschen überlebt, mit einer anderen Strategie vor dem Auftreten des Hungers hätte es vielleicht gar keine Hungersnot gegeben oder sie wäre weniger gravierend ausgefallen. Die Entscheidung für eine bestimmte Politik während der Hungersnot mag sich rechtfertigen lassen durch Verweis darauf, dass sich ohnehin nicht mehr viel machen lässt, weil die Situation ist, wie sie eben ist, und dass es nun mal Tote geben wird. So ähnlich wie auf einem schlecht ausgestatteten Rettungsboot. Aber selbst in diesem Fall ist die Entscheidung für eine bestimmte Verfahrensweise während der Hungersnot keine Entscheidung für die Rettung bestimmter, aber nicht aller Personen vor einer unvermeidlichen Katastrophe.

Natürlich können Einzelpersonen keine individuellen Strategien gegen den Hunger entwickeln. Maßnahmen in Zeiten des Hungers und davor werden von Regierungen und möglicherweise auch von Nichtregierungs-Organisationen individuell und kollektiv entschieden. Es kann sich sogar als politisch unmöglich herausstellen, weltweit eine kohärente Strategie für Zeiten des Hungers und davor festzulegen. Wenn dem so ist, müssen wir uns für kleinteilige und bruchstückhafte Lösungen entscheiden. Aber jeder Mensch, der in der Position ist, solche Maßnahmen, sei es nun global oder lokal, zu unterstützen oder abzulehnen, muss entscheiden, welche Maßnahme er für gut befindet und welche nicht. Selbst bei Einzelpersonen kommen Tatenlosigkeit und Gleichgültigkeit häufig Entscheidungen gleich – Entscheidungen, die Maßnahmen gegen den Hunger während und vor der Hungersnot zu unterstützen oder den Status quo fortzuschreiben, ob dies nun durch aktive Teilhabe oder passives Geschehenlassen passiert. Es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten für den Bürger, solche politischen Maßnahmen zu beeinflussen. Zum Beispiel, indem sie sich für oder gegen Entwicklungshilfe und Auslandsinvestitionen einsetzen, indem sie sich Organisationen oder Gruppierungen wie Zero Population Growth anschließen oder nicht, indem sie Technologien nutzen, die die Umwelt bewahren, und einen entsprechenden Lebensstil pflegen. Wir haben also ganz individuell jeder die Pflicht, das Töten zu verhindern. Denn selbst wenn wir

a) die Hungertoten nicht im Alleingang getötet haben,

b) die Hungertoten nicht unmittelbar getötet haben,

c) nicht wissen, welche Menschen in der Folge der von uns unterstützten Maßnahmen gegen den Hunger und zur Vorbeugung einer Hungersnot sterben werden (außer natürlich, wir vertreten eine Art Völkermord durch Hunger),

d) nicht beabsichtigen, dass jemand vor Hunger stirbt,

töten wir und lassen die anderen nicht einfach nur sterben. Denn als Resultat unseres Handelns im Einklang mit anderen werden Menschen sterben, die hätten überleben können, hätten wir anders gehandelt und nicht ursächlich Einfluss genommen.

Politik in Zeiten des Hungers und davor

Es gibt verschiedene Prinzipien, auf die sich eine Politik gegen den Hunger gründen ließe. Einige davon möchte ich hier aufführen mit dem Ziel, das Spektrum möglicher Entscheidungen aufzuzeigen, also in der Absicht, eine Rechtfertigung dafür zu geben, dass man bestimmte Menschen auswählt, die man überleben lässt. Ganz allgemein könnte man dafür eintreten, jene Maßnahmen zu realisieren, die zu den wenigsten Todesfällen führen würden. Man könnte zum Beispiel den Gesichtspunkt der natürlichen Selektion heranziehen, vergleichbar mit der Gewährung medizinischer Hilfe in Situationen hohen Bedarfs. Dann wäre das Kriterium, ob jemand Hilfe erhält, eine hohe Überlebenschance, während bei niedrigen Überlebenschancen Hilfe versagt wird – das hieße, dass man die schlechtesten Risiken sich selbst überlässt. (Diese Entscheidung würde unserem Fall 2A entsprechen, bei dem man den kranken Mann als Opfer auswählt.) Doch die Strategie der wenigsten Todesfälle ist unbestimmt, wenn man keinen Zeitrahmen festlegt. Denn Maßnahmen, die kurzfristig das Überleben von mehr Menschen sichern – wie vorbeugende medizinische Maßnahmen und Sicherung des Existenzminimums –, könnten das Bevölkerungswachstum vergrößern und daher zu einer noch schlimmeren Katastrophe führen.