Gertrud Ihne. Kurt und Trudy. Die Reise Leben. - Helmuth Santler - E-Book

Gertrud Ihne. Kurt und Trudy. Die Reise Leben. E-Book

Helmuth Santler

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Beschreibung

Sie kennen Gertrud Ihne nicht? So geht es fast allen. Doch nur weil jemand nicht prominent ist, heißt das noch lange nicht, dass er nichts zu sagen hat. Nach drei Weltreisen, Dutzenden Jobs und einem Leben voller unerschütterlichem Optimismus gibt es sogar sehr viel zu sagen. Erzählt wird die wahre Lebens- und Liebesgeschichte von Trudy aus Villach in Kärnten, die Anfang der 60er-Jahre ohne die geringsten Englischkenntnisse in die USA auswanderte und auf der Schiffsreise der Liebe ihres Lebens begegnete: Kurt, ein weltgewandter Deutschamerikaner, Ex-US-Marine und in der Raumfahrt-Zulieferindustrie tätig. Gemeinsam erfanden die beiden ihr abenteuerliches, extrem reiselustiges Leben mehrere Male neu: Ihre Liebe gab ihnen einen unverrückbaren Anker, dank dem die vielen Wendungen erst möglich wurden. Eine Romanbiografie im Gewand einer Autobiografie, eine berührende Liebesgeschichte, viel Erstaunliches, aber auch Alltag und Arbeitstrott – ein "ganzes" Leben als Buch. So einzigartig wie jeder neue Tag.

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Das ehemalige Hauptquartier der Holland-Amerika-Lijn (später Holland-America-Line) in Rotterdam ist heute ein Hotel.

Die vielleicht berühmtesten Hügel der Welt: die Twin Peaks von San Francisco. In Wahrheit weniger mysteriös als ein hübscher Naturpark mit ausgezeichnetem Stadtblick.

„Reines Glück überströmte mein Gesicht und das meines Geliebten, und wieder sanken wir in eine endlose Umarmung und küssten uns, bis wir in Flammen standen... oder vielleicht waren das auch die ersten Sonnenstrahlen des heranbrechenden Morgens, der die Lichter der Skyline von New York verlöschen ließ. Wir hatten die erste Nacht miteinander verbracht! An Deck der S.S. Maasdam. Sehr, sehr viele würden folgen. Daran gab es nicht den geringsten Zweifel.“

Das Paradies auf Erden: Bora-Bora und einige der vorgelagerten Mini-Inselchen genannt Motus.

Helmuth SantlerGertrud Ihne. Kurt & Trudy. Die Reise Leben.

Ein E-Book vom Textmaker

Juni 2011

www.textmaker.at

© Helmuth Santler, Gertrud Ihne

Titel: Helmuth Santler: Gertrud Ihne. Kurt und Trudy. Die Reise Leben.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.

Covergestaltung: www.leoladesign.net

© Fotos: Gertrud Ihne (Backcover), Gabriele Heidegger (Portrait des Autors), Erika69 (Wikipedia – Statue of Liberty; bearb.), Quistnix CC-BY-SA (Holland-America-Line), Makemake CC-BY-SA (Bora-Bora), Thomas Schoch CC-BY-SA (Uluru)

Satz: www.textmaker.at

E-Book erzeugt mit calibre 0.8.6

ISBN 978 385 391 2997 (Printversion)

Für Kurt

Eine biografische Reise

Inhalt

1.Kapitel: Wie alles begann2. Kapitel: Jahre in Villach3.Kapitel: Im Internat4. Kapitel: Erwachsen werden5. Kapitel: Ein neues Leben6. Kapitel: S. S. Maasdam7. Kapitel: New York City8. Kapitel: San Francisco, California9. Kapitel: Wurzeln schlagen10. Kapitel: Sündhaft schön11. Kapitel: Arbeitsschritte12. Kapitel: Auf nach Panama13. Kapitel: Multikulti im Großraumbüro14. Kapitel: Bedingungen15. Kapitel: Heimatgefühle und ein erster Streit16. Kapitel: Gunmen, Love, Peace & Happiness17. Kapitel: Honeymoon18. Kapitel: Across the Country19. Kapitel: Hello, (Lady) Liberty20. Kapitel: Die alte Welt21. Kapitel: Back and There Again22. Kapitel: Recross the Country23. Kapitel: Eine Menge Arbeit24. Kapitel: Sesshaft werden25. Kapitel: 25241 Campo Rojo, El Toro, California26. Kapitel: Goin’ North27. Kapitel: Besuch aus der Heimat28. Kapitel: Von Schulbänken und Schiffsbänken29. Kapitel: Reise um die Welt30. Kapitel: Rückkehr ins gelobte Land31. Kapitel: Besuch aus der Heimat II32. Kapitel: The Administrator33. Kapitel: Down Under in die 80er34. Kapitel: Viel Arbeit und ein Stück vom Paradies35. Kapitel: Weltreise nach Kärnten36. Kapitel: Feste, Freude, Fahnenfetzen37. Kapitel: Die Enterprise-Episode38. Kapitel: Eine Runde durch Europa39. Kapitel: Die Nomaden-Episode40. Kapitel: Kimberley Mobile Home Estates41. Kapitel: Das Ende der ReiseEpilog

1. Kapitel: Wie alles begann

„Warte, Brigitte!“ Meine Begleiterin auf der großen Reise, die gerade im Begriff war, die Schiffstreppe zu den Decks der S. .S. Maasdam zu betreten, drehte sich um und sah mich fragend an. „Was ist denn, Trudy?“

Ich blickte zurück und ließ den Sturm an Gefühlen, der in mir tobte, in meine Augen gelangen. Die wurden prompt feucht, aber das war mir völlig egal. Der Moment war tatsächlich gekommen! Genau in dieser Sekunde, einen Schritt vor dem Verlassen des europäischen Festlands, wurde mir zum ersten Mal wirklich bewusst, dass nichts mehr so sein würde, wie es einmal war. Mein Leben in der Form, wie ich es kannte, ging in diesem Augenblick zu Ende, und ich erinnerte mich …

*****

Meine Geschichte begann am 11. September 1942 in Villach in Kärnten. An diesem Tag, einem sonnigen Freitag, brachte mich meine Mutter, Aloisia Pöheim, kurz vor der Mittagsstunde in meinem Elternhaus zur Welt. Obwohl ich ein sonniges Wesen für meinen Lebensweg in die Wiege gelegt bekam, war die Geburt selbst für meine Mutter eine schwere Prüfung. Sie erlitt einen Blutsturz, und nur das beherzte Eingreifen einer Nachbarin bewahrte sie vor dem Schlimmsten. Die war glücklicherweise auf die Idee gekommen, die „Loisi“, wie meine Mutter von meinem Vater gerufen wurde, kurzerhand auf den Kopf zu stellen, um ein Verbluten zu verhindern. Dann kam auch schon mein Papa angerannt; ein anderer Nachbar hatte ihn von seinem Dienst als Heizer bei der Österreichischen Bundesbahn, die damals ein Teil der Deutschen Reichsbahn war, geholt. Viel konnte er aber natürlich auch nicht ausrichten. Zum Glück hatte dann endlich die Hebamme Erfolg und kam mit einem Arzt zurück, der die Sache in die Hand nahm, sodass sich alles zum Guten wendete.

Ich wusste nichts von der schwierigen Lage, in der sich die Welt befand, und von den Schmerzen, die ich meiner Mutter bereitet hatte. Schon am Tag meiner Geburt strahlten meine Augen frech und lebenslustig; so hat es mir zumindest mein Papa, der Schuhmachermeister Rupert „Pertl“ Pöheim, erzählt. Vielleicht hat sich auch nur sein Strahlen in mir gespiegelt, denn nach zwei Söhnen (Pertl jun. war damals 9, der kleine Willi 5 Jahre alt) hatte er sich sehnlichst ein Töchterchen gewünscht.

Wir lebten damals in einer kleinen Wohnung in Neulandskron bei Villach. Im Keller des Hauses hatte sich mein Vater seine Schuhmacherwerkstätte eingerichtet, aber die Not der Zeit hatte es Mitte der 1930er Jahre notwendig gemacht, diesen Beruf an den Nagel zu hängen. 1935 waren die Geldsorgen meiner Eltern so drückend geworden, dass es aussah, als müssten sie den Weihnachtsabend ohne Christbaum, ohne Weihnachtsessen und ohne ein Geschenk für den zweijährigen Rupert verbringen. Dann kam um die Mittagszeit ein Kunde, um seine Schulden zu bezahlen, und so marschierte die junge Familie in die Stadt und kaufte einen Weihnachtsbaum, ein Geschenk für den Kleinen und Fleisch für den Weihnachtsteller. Es wurde eines der schönsten Weihnachtsfeste, die meine Eltern je erleben durften; da niemand Geld hatte, kam es schon einem Wunder gleich, wenn überhaupt jemand seine Schuhe bezahlte, und dass dieses seltene Ereignis ausgerechnet im Augenblick der schlimmsten Not wenige Stunden vor dem Heiligen Abend eintraf, war nichts anderes als ein Gottesgeschenk.

Mit solch einzigartigen Geschenken konnte man freilich keine Familie ernähren. Arbeit hätte es mehr als genug gegeben, schließlich wurde gutes Schuhwerk zu allen Zeiten gebraucht, aber meinem Vater wurden nicht mehr als 3,5 kg Sohlenleder pro Monat zugestanden. Er hatte sich stets geweigert, sich irgendeiner Partei anzuschließen, und bezahlte jetzt die Rechnung für seinen Wunsch nach Unabhängigkeit. Mit Sohlenleder allein konnte er natürlich keine Schuhe herstellen und war daher gezwungen, sich als reiner Flickschuster zu betätigen. Das wäre an sich vielleicht noch gar nicht so schlimm gewesen: ein Paar neuer Schuhe kostete damals mehr als 30 Schilling, eine Summe, von der ein Mensch gut einen Monat leben konnte. Daher waren neue Schuhe ein Luxus, den sich so gut wie niemand leisten konnte, und die Reparaturen meines Vaters waren äußerst gefragt. Nur kam er mit dem wenigen Sohlenleder nie aus. Dennoch: Hätten die vielen Kunden bei Abholung gleich oder wenigstens irgendwann überhaupt ihre Schulden bezahlt, wäre die Rechnung vielleicht aufgegangen, aber so war es einfach nicht. Also schloss Rupert Pöheim eines Tages seine Werkstätte und verdingte sich fortan als Heizer bei der Bahn. Eine schwere Arbeit, der er 60, 70 Stunden in der Woche nachging, aber immerhin wurde er jetzt vom Staat bezahlt, und das Geld trudelte regelmäßig ein: etwa 100 Schilling im Monat reichten aus, um die mittlerweile vierköpfige Familie (1937 war mein Bruder Willi zur Welt gekommen) durchzubringen.

Bis zu meiner Geburt war aber alles noch viel schlimmer geworden. Mit dem Anschluss an das Deutsche Reich kam die Reichsmark und verdrängte den „Alpendollar“, wie der Schilling wegen seiner enormen Stabilität genannt wurde. Der Wechselkurs betrug 1,50 Schilling für eine Reichsmark, womit den frisch angeschlossenen Ostmärkern ein ziemlich schlechtes Geschäft aufgezwungen wurde. Das wenige Geld war mit einem Schlag noch weniger wert geworden.

Wenigstens ging mein Vater als Heizer einem kriegswichtigen Beruf nach – und hatte immer Zugang zu Kohle, was sich in den kälter und kälter werdenden Kriegswintern als wahrer Segen entpuppte. Auch gab es noch den Bauernhof meiner Großmutter mütterlicherseits in Feffernitz im Drautal, knapp 20 km nordwestlich von Villach.

Der wurde für meine Familie in den letzten Kriegsjahren sehr wichtig, nachdem sich 1943 folgende Szene abgespielt hatte: Mein Vater öffnet auf ein Klopfen hin die Tür. Draußen steht ein Parteigänger der NSDAP. „Rupert Pöheim, Lokomotivheizer bei der Deutschen Reichsbahn?“ fragt der. Mein Vater nickt und schaut den Mann misstrauisch an. „Ihr ältester Sohn ist dito ein Rupert Pöheim, geboren 1933?“ Mein Vater nickt erneut und sagt noch immer nichts. „Herr Pöheim, Ihr Sohn ist jetzt alt genug, um dem Deutschen Jungvolk in der Hitler-Jugend beizutreten. Ich habe Ihnen das notwendige Formular gleich mitgebracht. Bitte füllen Sie es aus und lassen Sie es von Ihrem Sohn unterschreiben. Wenn er hier ist, warte ich gerne ein paar Minuten.“

Mein Vater nimmt den braunen Zettel entgegen und starrt auf die „Eintrittserklärung“: „Hierdurch erkläre ich meinen Eintritt in die Hitler-Jugend. Ich bin deutscher Abstammung und verspreche durch eigenhändige Unterschrift, die Bewegung als aufrichtiger Deutscher entsprechend der nationalsozialistischen Weltanschauung …“ liest er und merkt erst, nachdem er aufgehört hat, dass er laut gelesen hat.

Er sieht dem Nazi fest in die Augen und reicht ihm den Zettel zurück. „Ich halte nichts davon“, sagt er, und der stramme Parteisoldat reißt völlig überrascht die Augen auf. „Ich habe meinen Sohn bisher auf meine eigene Weise erzogen und gedenke dies auch weiterhin zu tun.“

Der Blick des Mannes hat jede Spur von Freundlichkeit verloren. „Sie, Pöheim“, sagt er drohend, „werden sich noch wundern. Sie haben 24 Stunden Zeit, um zur Besinnung zu kommen. Andernfalls müssen Sie die Konsequenzen tragen.“ Damit macht er schneidig auf dem Absatz kehrt und stapft davon.

Mein Vater hat sich natürlich nichts anders überlegt; immerhin war es auch nicht verpflichtend gewesen, dem der Hitler-Jugend angegliederten Jungvolk der 10- bis 14-Jährigen beizutreten, anders als bei der eigentlichen Hitler-Jugend der 15- bis 18-Jährigen. Aber auch der Nazi hatte keine leeren Drohungen ausgesprochen: Statt meines Bruders geriet mein Vater selbst in die Fänge der Braunhemden. Bald nach dem Vorfall kam der Einberufungsbefehl, und am 1.1.1944 rückte Rupert Pöheim sen. in Lienz ein, von wo aus er an die Front in der Normandie geschickt wurde. Da half ihm auch nicht mehr, dass der Führer höchstpersönlich ihm einmal die Hand geschüttelt hatte. Hitler hatte damals den Zug, in dem mein Vater als Heizer gefahren war, am Semmering anhalten lassen. Dann war er zur Lok gegangen und hatte den beiden „Helden der Arbeit“, dem Lokführer und dem völlig verrußten Heizer, seine Aufwartung gemacht. Von propagandistisch wirksamen Auftritten verstand er wirklich etwas – und davon, wie man die Hand an den Puls des „gesunden deutschen Volkskörpers“ legte. Meinen Vater hat die Begegnung aber nicht von seiner Skepsis gegenüber allen Parteien und ganz besonders den Nazis befreit; wahrscheinlich ist es sein Glück gewesen, dass Hitler unter dem ganzen Dreck seinen Gesichtsausdruck nicht so richtig erkennen konnte.

So oder so, mit der Wende im Kriegsgeschehen 1943 und der sich immer deutlicher abzeichnenden Niederlage Hitlerdeutschlands wurde das Elend in den Krieg führenden Ländern, Deutschland samt der „Ostmark“, immer größer; die Versorgung brach zusammen, die Bombenangriffe auf die nationalsozialistischen Kernlande begannen, und der Führer in die Katastrophe mobilisierte die allerletzten Reserven. Mein Vater konnte meinem Bruder den vormilitärischen Drill bei der HJ ersparen, den Preis dafür hätte er wohl in jedem Fall zahlen müssen.

Meine Mutter beschloss, die Zeit ohne ihren Mann im Haus ihrer Familie zu verbringen – eben bei Oma Christine am Feffernitzer Bauernhof. Dort drängten sich zwar schon alle zusammen, aber in Zeiten der Not schaffte man alles – irgendwie. Von den 7 Kindern war ich das jüngste – ein zwei Jahre alter Sonnenschein, von allen geliebt und verhätschelt. Es war natürlich ein Segen, so jung zu sein – ich bekam von den Schrecknissen der Zeit einfach nichts mit und ließ mir nie die gute Laune verderben (das kam erst später, wenn ich beim „Mensch, ärgere dich nicht!“ verlor).

Der Hof blieb auch tatsächlich verschont; zwar gab es immer wieder Fliegeralarm, bei dem wir dann alle, auch die Nachbarn, in den eigens gebauten Luftschutzkeller flüchteten. Taghell sei die Nacht erleuchtet gewesen, und die Bomben hätten wie fliegende Christbäume ausgesehen, haben mir meine Brüder erzählt. Auch tagsüber fielen die Bomben, sogar Viehweiden wurden in die Luft gesprengt. Dabei ging es wohl um die Vernichtung der Lebensmittelversorgung, wenn sich mal wieder eine Kuh in Fleischfetzen verwandelte. Aber das waren immer die Kühe von jemand anderem; „mein“ Bauernhof, mit dem ich so viele glückliche Kindheitserinnerungen verbinde, blieb völlig heil. Und das, obwohl das ganze Drautal von dem Bombardement der alliierten Streitkräfte betroffen war.

So sehen zumindest meine ersten Erinnerungen aus oder das, was ich dafür halte – schließlich feierte ich in der schlimmsten Zeit gerade erst meinen 2. Geburtstag. Wahrscheinlich waren sämtliche Bomben, die im oberen Drautal niedergingen, einfach Irrläufer, denn im Zentrum der Angriffe stand natürlich Villach. Als strategisch immens wichtiger Verkehrs- und vor allem Eisenbahn-Knotenpunkt, an dem sich die Bahnverbindungen mit Wien, Deutschland, Italien und dem Balkan trafen, stand die Stadt ab 1944 unter Dauerbeschuss. In 39 Angriffswellen warfen die Alliierten über 40.000 Bomben auf Villach und beschädigten fast 90 Prozent der Gebäude. Große Teile der Innenstadt und der Bahnhofsgegend, an die 500 Häuser, wurden vollständig zerstört. In Österreich bekam nur Wr. Neustadt noch mehr Bombenlast ab.

So war es jedes Mal ein banger Moment, wenn meine Mutter nach Neulandskron fuhr, um in der Wohnung nach dem Rechten zu sehen. Die erste Zeit überstand das Haus aber alle Bombenangriffe unbeschädigt; zum Glück lag Neulandskron doch deutlich außerhalb des Stadtkerns. Ich, das Nesthäkchen, war bei diesen Villach-Fahrten immer dabei. Im Zug trafen wir oft auf Soldaten, und da meine letzte Erinnerung an meinen Vater die an einen Mann in Uniform war, vermutete ich erstmal in jedem Soldaten meinen schmerzlichst vermissten Papa. Ich sprach auch jeden Soldaten mit „Papa!?“ an; es sollte aber eine Weile dauern, bis endlich einer darauf so reagierte, wie ich es mir vorstellte: Die Kompanie meines Vaters war nach dem Verlust der Normandie nach Aachen verlegt worden, wo er eine schwere Kriegsverletzung am Bein davontrug. Man schickte ihn auf Heimaturlaub; meine Mutter war völlig zerrissen, ständig hatte sie um das Leben ihres Mannes gefürchtet, so viele waren von der Front nie mehr nach Hause gekommen. Jetzt stand er endlich, lebendig, vor ihr, war aber so schwer verletzt, dass er wohl nie mehr normal würde gehen können. Das alles kümmerte mich nicht, ich sah nur einen Mann in Uniform, also ließ ich wieder einmal mein halb fragendes, halb flehendes „Papa?!“ ertönen. Und dieses Mal kam der Mann auf mich zu, hob mich hoch und drückte mich an sich. „Ja, mein Mädchen“, sagte er. „Ich bin dein Papa. Ich bin wieder zu Hause. Jetzt wird alles gut.“

Er sollte recht behalten, obwohl der Familie noch einige Wochen in Angst und Jahre der schlimmsten Not bevorstanden. Denn noch war der Krieg nicht zu Ende, und ich hatte meinen Papa nur ein paar Wochen für mich. Er wurde noch einmal zu seiner Kompanie in Lienz geschickt. Dann aber, im Mai 1945, kapitulierten die Nazis endgültig und ergaben sich den Alliierten. Meine Familie hatte noch Glück gehabt – bis auf meinen Onkel Matthias, den Bruder meiner Mutter, waren alle aus dem Krieg zurückgekehrt. Eine Zeitlang täuschte uns die Freude über das Wiedersehen und das Ende von Angst, Gewalt und Tod über das grauenvolle Elend hinweg, in das die Nazis und wir uns selbst gestürzt hatten. Dann holte uns alle der Alltag wieder ein – und der bestand aus einer zertrümmerten Stadt, unzähligen Obdachlosen, Vermissten, Verletzten, Invaliden, Toten, geistig und seelisch Traumatisierten, zerrissenen Familien, zerstörten Hoffnungen, Verzweiflung, Kummer und Schmerz – und Lebensmittelkarten, deren magerer Erlös nicht reichte, um den nagenden Hunger zu vertreiben, der besonders die Städter und die Kinder furchtbar quälte. 1946, habe ich nachgelesen, erhielt der normale Bezieher 350 Gramm Brot zugeteilt – für 14 Tage. Einmal mehr hatten wir es besser, denn obwohl die schlimmste Not der unmittelbaren Nachkriegszeit die Regierung zwang, von den Bauern weiterhin die von den Nazis eingeführten, ausbeuterischen Abgabequoten zu erfüllen, weshalb auch die Angehörigen des „Nährstandes“ alles andere als im Überfluss lebten, half es natürlich ungemein, einen direkten Draht zu einer Landwirtschaft zu haben.

So kehrten wir also vergleichsweise guten Mutes zu fünft nach Neulandskron zurück; auch der Umstand, dass mein Vater kein Mitglied der NSDAP war, ließ uns jetzt hoffen. (Allerdings zählte er damit zur Minderheit: mehr als die Hälfte der Kärntner Bevölkerung war der NSDAP beigetreten, Kärnten war das österreichische Nazi-Land schlechthin. Noch vor dem Eintreffen der britischen Besatzungsarmee war in Kärnten wieder eine provisorische Landesregierung eingesetzt worden – bezeichnenderweise unter Führung von Hans Piesch, einem Sozialdemokraten mit NS-Parteibuch, der damit wohl den Grundstein für das Kärntenklischee mit dem Punschkrapferl1 legte. Immerhin: Er hielt sich nur wenig mehr als ein Jahr.)

Von weitem schien alles in Ordnung zu sein, und wir freuten uns sehr, zu den wenigen Glücklichen zu gehören, deren Häuser unbeschädigt geblieben waren. Feierlich reichte meine Mutter meinem Vater die Schlüssel; das Familienoberhaupt sollte uns in unser altes Leben geleiten. Er öffnete die Tür und wir Kinder stürmten begeistert hinein.

Mein Vater sah meiner Mutter liebevoll in die Augen. „Darf ich bitten, Frau Pöheim?“ fragte er lächelnd. „Aber gern, Herr Pöheim. Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.“ Die beiden traten über die Schwelle und blickten sich vorsichtig um, so als könnte doch noch jeden Augenblick ein Inferno über sie hereinbrechen. Dann erreichte Rupert sen. das Schlafzimmer – und erstarrte. „Loisi“, rief er über die Schulter meiner Mutter zu, „schaff sofort die Kinder wieder hinaus. Hier liegt ein Blindgänger. Der kann jeden Moment hochgehen.“ Eine der letzten Bomben des Kriegs hatte das Dach des Wohnhauses und die Decke des Pöheimschen Schlafzimmers durchschlagen, um dann sanft in einem vollen Wäschekorb zu landen. Schwarz, gedrungen und drohend lag sie nun darin – eine Fliegerbombe. „Die kann ich unmöglich alleine bewegen“, erklärte mein Vater. „So eine wiegt wahrscheinlich 100 kg oder mehr, außerdem ist der Zünder scharf und jede Unachtsamkeit …“ Es gab keinen Grund, den Satz zu Ende zu sprechen.

Ruckartig drehte er sich um; Loisi erschrak ein bisschen, weil sie noch nie zuvor das Soldatengesicht ihres Mannes gesehen hatte – und glücklicherweise auch nie wieder sehen würde. In diesem Moment aber funktioniert mein Vater ganz automatisch. Während meine Mutter meinen 12-jährigen Bruder Pertl davon abzubringen versuchte, ins Zimmer zu rennen und „Bombe zu schauen“, und dabei mich und Willi im Auge behielt, humpelte mein Vater aus der Wohnung, um die Bombenbergung in die Hand zu nehmen. Wahrscheinlich war das der einzige Moment in seinem Leben, in dem er seinem überstandenen Kriegseinsatz etwas Positives abgewinnen konnte; so wusste er zumindest im Prinzip, was zu tun war.

Nach dem Zusammenbruch der Wehrmacht, dem Einsetzen der provisorischen Landesregierung am 7. Mai 1945 und dem Eintreffen der Briten am 8. Mai waren zwar viele Zuständigkeiten unklar, aber für das absolut unaufschiebbare Problem der vielen Blindgänger hatte die seit dem 27. April amtierende, provisorische österreichische Staatsregierung sofort einen Entminungsdienst eingesetzt, der dem Innenministerium unterstellt war. An den wandte sich mein Vater jetzt. Es dauerte nur ein paar Stunden, bis die Männer vor Ort waren. Sämtliche Nachbarn mussten das Haus verlassen, dann wurde der Zünder von den Sprengstoffexperten fachgerecht entschärft. Der Rest stellte keine Gefahr mehr dar; mit Hilfe von Tragegurten schleppten vier Männer die Bombe aus dem Haus.

Danach begann die Zeit des Wiederaufbaus. Aus den Geschichtsbüchern ist bekannt, dass vor allem die beiden ersten Nachkriegsjahre eine furchtbare Zeit dauernder Entbehrung gewesen sind. Die Kinder litten am schlimmsten unter dem Mangel an einfach allem: es fehlte an Essen, vor allem an Brot und Mehl, Fett, Zucker und frischem Obst und Gemüse; es gab zu wenig Kleidung, zu wenig Schuhe, zu wenig Heizmaterial. Viele wurden zu Gastfamilien in die Schweiz gebracht, um wieder zu Kräften zu kommen. Erwachsene hatten es auch nicht leichter – sie mussten zu allem physischen Leid auch noch irgendwie mit dem bewusst erlebten Trauma des Krieges fertig werden. Das zerriss vielen die Seele, wenn sie überhaupt noch eine heile Seele hatten.

Zu den kranken Seelen gesellte sich jetzt auch noch ein ideologisches Dilemma: Obwohl die Alliierten das Ende des Krieges gebracht hatten, fühlten die Menschen sich von den Briten nicht befreit, sondern besetzt; die Fremden wurden als Bedrohung erlebt, sie verhinderten ein selbständiges Österreich. Das entsprach im Grunde auch den historischen Tatsachen: Die Alliierten hatten durch und durch nationalsozialistisches Kernland übernommen, nachdem sie den Feind besiegt hatten. Der Feind, die Nazis, konnte sich schwerlich „befreit“ fühlen, war er doch unleugbar „besiegt“ worden. Und die Kärntner Bevölkerung war ja mehrheitlich nationalsozialistisch, sogar mit Parteibuch, gewesen.

Auch wenn der Villacher Bürgermeister 1945 ein Englisch-Lehrbüchlein herausgab, das mit den Worten We are Austrians and wish to learn begann, hatte offenbar kaum jemand ein wirkliches Interesse daran, etwas zu lernen. Auf die Idee, die Nazis zu beschuldigen, kamen die wenigsten. Denn das hätte bei den bestehenden Verhältnissen ja nichts anderes bedeutet, als die eigene Schuld, die eigene Beteiligung am Naziterror anzuerkennen. Statt zu versuchen, für diese unfassbare Schande tätige Reue zu zeigen, sich in Demut zu üben und damit zu beginnen, das Land zu entnazifizieren, wurde als Erstes eines der vielen Kärntner NS-Parteimitglieder zum neuen Landeshauptmann. Der begann, wie ganz Österreich, eifrig damit, an der Opferthese zu arbeiten: Österreich sei, schuldlos, als erste Nation von den Nazis annektiert worden. Das gelang bis in höchste politische Ebenen nach außen hin ganz ausgezeichnet, und auch sehr viele Menschen wollten gerne daran glauben. Seelen aber lassen sich nicht (selbst) betrügen; sie wussten ganz genau, dass viele von ihnen Täter waren und sich nur deshalb als Opfer darstellten, um sich nicht der eigenen Schuld und Verantwortung stellen zu müssen. Die Angst davor, sich selbst zu betrachten, aus Furcht vor dem, was dabei sichtbar werden könnte, ist geradezu die alpenländische Erbsünde.

*****

Ich war im Besitz der Gnade der ausreichend spät Geborenen, um von den Kriegsgräueln bewusst nichts wahrgenommen zu haben, und auch meine ersten eigenen Erinnerungen sind die an eine heile Welt: Ich liege im Heu und sehe durch die Dachluke der Tenne den Wolken zu; ich sitze mit anderen Kindern auf dem Heuwagen, der von Schwarzl, unserem Pferd, zum Hof gezogen wird; ich erinnere mich an die friedliche Stimmung, wenn meine Lieben sich an lauen Sommerabenden unter der Linde einfanden, um den arbeitsreichen Tag ausklingen zu lassen, und an die Lieder, die dabei gesungen wurden.

Wir hatten es nicht schlecht getroffen: Wenn wir nicht ohnehin am Hof mit anpackten, kam uns unsere Großmutter immer wieder mit einem Rucksack beladen in der Stadt besuchen und versorgte uns mit Lebensmitteln. Mein Vater, der wegen seiner Beinverletzung nicht mehr als Heizer arbeiten konnte und daher auch seinen Traum, einmal als Lokführer fahren zu können, aufgeben musste, wurde dennoch von der nun wieder Österreichischen Bundesbahn beschäftigt – als Schuster. Mit Essen waren wir also vergleichsweise gut versorgt, und darauf, dass jeder von uns ein Paar ordentliche Schuhe hatte, schaute mein Vater. Als er wenig später die Führung und Verwaltung eines Kohlenlagers übertragen bekam, verdiente er zwar noch immer sehr wenig, aber dafür war er an der Quelle für Heizmaterial, das war in den beiden ersten Nachkriegswintern allemal wichtiger als bares Geld.

Die Entbehrungen in meinen frühen Jahren waren also nicht ganz so schrecklich wie bei vielen anderen; das änderte freilich nichts an dem Klima allgegenwärtiger Todesangst, in dem ich mindestens eineinhalb Jahre vor meinem dritten Geburtstag verbracht hatte. Die Angst verkörperte sich in Gestalt vom Schwarzl, der, wenn er nicht gerade gehorsam den Heuwagen zog oder seine mächtigen Flanken in das Pfluggeschirr legte, oft wie ein wildes Tier auf uns Kinder losging und mir einen ungeheuren Schrecken einjagte. Mir als 2-, 3-jährigem Zwergerl erschien das große Pferd wie ein galoppierender, stampfender schwarzer Berg, der unaufhaltsam auf mich zuraste und mich zu zermalmen drohte. Bis heute fürchte ich mich vor Pferden.

Dann gab es noch den Nachbarshund, der mich mehr als einmal am Hintern erwischte, weil ich es nicht lassen konnte, die verbotene Abkürzung über den Zaun zu nehmen. Klar hat er nie richtig zugebissen, aber mich hat das auch so jahrelang total eingeschüchtert. Vor Hunden habe ich aber keine Angst, ich würde es eher gehörigen Respekt nennen. Vielleicht liegt das daran, dass die Bedrohung durch den Nachbarshund ganz real war – und ich sie letztlich unbeschadet überstanden habe. Die Angst vorm Schwarzl fand hingegen in meinem Kopf statt – ich konnte mich ihr nie stellen und sie daher auch nie überwinden. Der Schwarzl war für mich wie der Tod: dunkel, unberechenbar, gigantisch groß, unbesiegbar und unvermeidlich. Und immer bereit, in jeder Sekunde zuzuschlagen. So klein ich auch gewesen sein mag: Diese Tatsache des Lebens hatte ich viel zu früh und viel zu brutal vor Augen geführt bekommen – mit jedem Bombenangriff, jeder Explosion, jeder zerrissenen Kuh auf der Weide, jedem Schutthaufen, zu dem so viele Häuser in Villach geworden waren. In diesem Sinn war mir ein wichtiger Teil meiner frühesten Kindheit geraubt worden: Kinder bis mindestens 6, 7 Jahren sind unsterblich. Sie wissen nichts vom Tod und brauchen auch nichts davon zu wissen. Sie sind unsterblich, weil sie sich so fühlen. Nicht bewusst oder reflektiert, aber auch keinesfalls durch Verdrängung der Tatsache, dass jedes menschliche Leben endet. Sie leben einfach, und das ist das Einzige, was es gibt. Ein Ende des Seins existiert in ihrer Welt nicht. Deshalb erfahren sie täglich die Ewigkeit, in deren Takt sie sind. Wenn nun aber ein kleines Kind ständig mit Tod und Zerstörung konfrontiert wird, kann nicht verhindert werden, dass dieses paradiesische Weltbild Sprünge bekommt. Und genau so ist es mir ergangen.

2. Kapitel: Jahre in Villach

Nur gut, dass ich ein so sonniges Gemüt hatte. Das und die friedliche Zeit, die nun folgte, heilten viele meiner Wunden, die der Krieg in meine kindliche Seele geschlagen hatte. Es gab enorm viel zu tun – für uns Kinder hieß das: Arbeit am Bauernhof. Wir machten alles, wir halfen beim „Heugen“, beim Heu machen, beim Brot backen, beim Getreide dreschen und beim Obst verarbeiten. Davon gab es jede Menge: verschiedene Apfelsorten, Birnen, Zwetschken, Weintrauben, Marillen und Kriecherl, wie man in Kärnten zu den Ringlotten sagt. Damals wurde natürlich alles verarbeitet, das Obst wurde getrocknet oder zu Kompott oder Marmelade verkocht. Wir Kinder bekamen den Süßmost zu trinken, die Erwachsenen hielten sich an den Most, außerdem wurde viel Schnaps gebrannt.

Furchtbar war das Schweineschlachten im Winter. Den Moment, in dem der Bauer dem Tier die Kehle aufschlitzte, sollten wir gar nicht mitbekommen, aber wir schauten durch eine Luke aus dem Haus zu. Die Säue wussten immer, was geschehen würde, denn sie quiekten und schrien in Todesangst bis zum Geht-nicht-mehr. Dann blitzte kurz eine Klinge auf, und an die Stelle der panischen Schweinelaute trat eine plötzliche merkwürdige Stille, nur für einen kurzen Moment, irgendwo zwischen Leben und Tod.

Gleich war es vorbei, und die totale Geschäftigkeit brach aus. Als erste war meine Großmutter da und fing das Blut, das aus der Schweinekehle schoss, in einem Eimer auf, für die Blutwurst. Nach dem Ausbluten wurden die Borsten entfernt – das machte man mit viel kochend heißem Wasser und Ketten, mit denen die tote Sau abgeschrubbt wurde. In der Mitte aufschlitzen, Gekröse und Innereien entfernen, zwei Schweinehälften zur Weiterverarbeitung aufhängen.

Auch wir Kinder waren mittlerweile wieder im Einsatz: Unsere Aufgabe war es, die Därme zu säubern. Dazu schabten wir sie mit eigenen Holzschabern ab und drehten sie von innen nach außen. Das war eine ziemlich grausliche Arbeit, aber wir wussten natürlich auch, wozu wir sie erledigten: Die Selchwürste, die meine Großmutter damit herstellte, waren die besten Selchwürste der Welt. Der Geruch der Selchkammer direkt bei der Küche liegt mir noch heute in der Nase. Wochenlang duftete es, bis dann irgendwann der Zeitpunkt gekommen war, an dem es ganz frische Selchwürste und natürlich unseren wunderbaren Speck zu essen gab.

Fließendes Wasser aus der Leitung kannten wir nicht; im Hof gab es einen Ziehbrunnen. Das Heraufpumpen des Wassers für den Haushalt und das Tränken der Kühe und des Pferdes gehörten auch zu den Kinderarbeiten. Die Milch der Kühe wurde natürlich ebenfalls restlos verwertet. Nur ein kleiner Teil wurde frisch verwendet oder verkauft; der Großteil wanderte in die Milchmaschine, die den Rahm abtrennte, aus dem wir dann die Butter trieben. Das geschah in einem Butterkübel, den man mit einer Kurbel bediente. Der Rahm wurde geschlagen, so wie man Schlagobers schlägt, nur wurde beim Buttern nicht alles gleichmäßig steif. Das Kurbeln wurde immer schwerer und schwerer, bis es fast nicht mehr zu schaffen war, und plötzlich wieder ganz leicht. Dann wusste man, die Butter ist fertig. Die Klumpen, die im Butterkübel in der Buttermilch schwammen, kneteten wir in Holzmodeln hinein, die die Form eines Edelweißes in die fertige Butter prägten. Die wurde in Butterpapier gewickelt und in die Speisekammer gebracht. Wir hatten mehr Butter, als wir brauchten, und konnten auch davon einen Teil verschenken oder verkaufen.

Die Buttermilch schmeckte uns ganz wunderbar, besonders wenn es alles frisch gab: Brot, Butter und Buttermilch. Manchmal blieb etwas übrig, das erhielten dann wie alle anderen Reste die Schweine. Ein großer Teil der Milch wurde in einer riesigen Schüssel stehen gelassen, bis sie nach ein paar Tagen sauer wurde, dann konnte man Topfen daraus herstellen. Der füllte z. B. unsere geliebten Kasnudeln oder diente, wenn er schon ziemlich reif war, als Grundlage für den Gelundenen Käse. Für diesen gekochten Käse wird Topfen in der Pfanne geröstet (was auf bayrisch „linden“ heißt), gesalzen und mit Kümmel gewürzt.

Meine liebste Arbeit am Bauernhof hatte mit den Hühnern zu tun. Eier holen war schon nett, aber wenn es darum ging, die frisch geschlüpften Küken vor den Katzen zu schützen, kam ich mir besonders wichtig und erwachsen vor. Nach und nach spielte sich alles wieder ein, und ich verlebte eine unbeschwerte Kindheit im Kreis meiner harmonischen Familie. Nur im Winter 1946 passierte etwas Schlechtes: Ich hatte Masern und hütete mit hohem Fieber das Bett. Meine Mutter musste mich kurz alleine lassen, um einkaufen zu gehen, ließ aber den Wohnungsschlüssel außen stecken, falls mich jemand besuchen würde. Tatsächlich kam eine Freundin vorbei, die Ulli, und verkündete: „Trudy, machen wir das Fenster auf, es schneit so schön.“ Und das taten wir dann. Begeistert stand ich in meinem Nachthemd, bloßfüßig, heftig fiebernd und nass geschwitzt, in der eiskalten Luft und schaute den Flocken zu, die es auf mich wehte. Meine Mutter ließ einen Schrei fahren, als sie mich so sah, und brachte alles in Windeseile wieder in Ordnung, aber es war schon zu spät – ich bekam eine Mittelohrentzündung, die nie mehr richtig ausheilen sollte. Obwohl meine Mutter mich jahrelang einmal in der Woche zu einem Arzt in Klagenfurt brachte, leide ich bis heute unter den Folgen.

Sonst war alles wunderbar. Neulandskron liegt am Südrand des Waldes am Kumitzbergl, das ist heute nicht anders als damals. Heute liegt der Vorort allerdings am Stadtrand von Villach, damals standen hier nur ein paar einfache Häuser ohne direkte Anbindung an irgendwas – ein kleines Nest für sich. Alle interessanten Wege führten durch den Wald: der zum Vassacher See im Nordwesten, in dem ich schwimmen lernte und unzählige herrliche Badetage verbrachte; der zum Gasthof Marinscheck im Osten, wohin uns mein Vater viele Sonntagvormittage hinführte, während die Mama zu Hause das Mittagessen vorbereitete; und der zu den herrlichen kleinen Seen im Südosten, dem Grünsee, dem Fleetsee, dem Ziegelteich und dem St. Magdalener See. Dorthin ging es allerdings zuerst ein Stück weit über freies Feld, bevor der Wald anfing. An diesem Weg ist die auffälligste Veränderung in den vergangenen 60 Jahren festzumachen: der Autoverkehr. Der war damals einfach nicht vorhanden. Heute bildet die B94 den „Rahmen“ von Neulandskron, die Umfahrungsstraße führt in einer großen Kurve um den ganzen „Spielplatz“ meiner Kindheit, den Wald im Norden und den Vassacher See im Nordwesten. Will man zum Grünsee im Südosten, muss man die hier vierspurige Bundesstraße überwinden. Hinter den St. Magdalener See in dieser Richtung wurde der Autobahnknoten Villach gebaut, die Kreuzung von Tauern- und Südautobahn. Dort hat gewissermaßen die vollständige Umkehrung stattgefunden: Während alles Land hier noch vor 60 Jahren den Menschen gehörte, ist es heute im Alleinbesitz des Autos. Und es geht um alles andere als wenig Fläche: Der Autobahnknoten verbraucht schätzungsweise viermal so viel Platz wie ganz Neulandskron. Der gesamte Lebensraum, den ich in meiner frühen Kindheit beanspruchte, war kleiner als die Fläche, die hier für die Kreuzung von zwei Straßen verbaut wurde.

Meine Welt war zu dieser Zeit auf vielfache Weise unschuldig – nicht nur, weil ich ein kleines Mädchen war. Der Druck des Menschen auf die Natur war nicht halb so groß wie heute. Die Vernichtungen des Zweiten Weltkriegs waren an „meinem“ Wald vor der Haustür mehr oder minder spurlos vorübergegangen – und an den wenigen Stellen, wo es anders war, wuchs buchstäblich Gras über die Sache. Ich hatte durch meine Zeit und die Mitarbeit am Bauernhof, die vielen Waldspaziergänge, bei denen uns unser Vater über jedes Kraut etwas zu sagen wusste, und einfach durch das ständige Draußen-Sein einen besonderen Bezug zur Natur erhalten. Ein schönes Geschenk, das ich damals natürlich nicht zu schätzen wusste – es war eben, wie es war. Ein einziges Abenteuer, die selbstverständlichste Sache der Welt. Aber ich glaube ganz bestimmt, dass diese Art der Freiheit erlebt zu haben viel dazu beigetragen hat, dass aus mir eine Weltenbummlerin geworden ist.

Was ich unter „Welt“ verstand, veränderte sich freilich im Lauf der Jahre. Von fernen Welten hatte ich schon gehört: In der Geschichte von Moby Dick etwa, die uns mein Vater oder mein Lieblingsonkel Hansl, der die alte Schuhmacherwerkstätte meines Vaters übernommen hatte und praktisch bei uns lebte, an Sonntagnachmittagen vorlasen. Im wirklichen Leben gab es das erste Abenteuer dieser Art im Sommer 1947: Da machte sich die ganze Familie auf die Weltreise nach Bregenz. Ich erinnere mich noch an den ewig langen Aufenthalt in Schwarzach St. Veit, wo wir bis nach Mitternacht auf den Anschlusszug warten mussten; so richtig scheint das Werkl „Bundesbahn“ noch nicht wieder gelaufen zu sein. Ich war jedenfalls inmitten von unzähligen anderen gestrandeten Reisenden im Wartesaal eingepfercht, hundemüde und grantig und weinerlich, und bekam deshalb von allen Seiten Süßigkeiten zugesteckt. Ein Herr aus der Schweiz verehrte mir nicht weniger als einen ganzen Riegel Ovomaltine! Damit erkaufte er sich ein seliges Kinderlachen und etliche Minuten beseligender Stille.

Irgendwann sind wir schließlich doch in den Bahnhof von Bregenz eingefahren. Mein Vater hat ein Zimmer organisiert, in dem wir alle fünf schliefen, und ich weiß noch, was ich dort fürs Leben gelernt habe: Reich ist, wer sich in der Früh zum gedeckten Tisch setzen kann und das Chaos hinterher mit keinem Blick zu würdigen braucht. Denn das waren wir jetzt, wie für meinen Bruder Willi und mich eindeutig feststand: REICH. Wir waren sogar so ungeheuer reich, dass es im Jahr darauf wieder für eine einwöchige Weltreise langte. Dieses Mal hieß das Ziel: Graz.

Im Herbst 1948 endete meine erste Kindheit – es wurde Zeit, die Schulbank zu drücken. Ich fiel gleich auf, weil ich wie ein Bub in der Krachledernen mit karierter Bluse daherkam. Ich wollte eben so aussehen wie meine Brüder. Der Schuldirektor fand das nett und mochte mich, daher ging ich gerne in die Vassacher Volksschule. Gesund war es auch: Jeden Tag 3 km hin und 3 km zurück, bei jedem Wetter. Den Schulweg legte ich immer mit zwei Freundinnen zurück, ununterbrochen „ratschend“, wie man in Kärnten zum Plaudern sagt. So verging der Weg wie im Flug, und wir mussten uns auch nicht vor älteren Kindern fürchten, schließlich waren wir ja zu dritt. Die Noten, die ich nach Hause brachte, waren gut und machten meine Eltern und meine Brüder recht stolz, das änderte sich auch in den beiden folgenden Jahren nicht.

Dafür änderte sich unsere Wohnsituation: 1948 hatte ein Mann unser Haus gekauft und war als neuer Hausbesitzer auch gleich eingezogen. Die Parteien waren ihm nicht recht, er wollte das ganze Gebäude für sich allein; so machte er es allen so ungemütlich wie nur möglich. Unser Balkon wurde abgerissen, und immer wieder legte der neue Hausbesitzer meinen Eltern nahe, sich doch eine neue Bleibe zu suchen. 1951 war es dann so weit: Obwohl Wohnungen Mangelware waren und meine Mutter sehr um ihren Garten fürchtete, der uns das halbe Jahr mit frischem Gemüse versorgte, machten sich meine Eltern auf die Suche nach einem neuen Zuhause. Jetzt erwies es sich als Segen, dass mein Vater bei der Bundesbahn arbeitete: Die sieben kleinen Häuser, die unter dem Namen Heinz-Erian-Siedlung bekannt waren,2 stammten noch aus Hitlers Zeiten. Der Diktator hatte sie als Arbeitersiedlung für den geplanten Autobahnbau vorgesehen. Aus dem 1.000-jährigen Reich war ebenso wenig etwas geworden wie aus der Autobahn, und die Bundesbahn hatte die ganze Siedlung übernommen und an ihre Belegschaft vermietet. Eins der Häuschen mit etwas Grund stand leer und wurde im Mai unser neues Domizil. Meine Mutter machte sich sofort daran, wieder einen Garten anzulegen. Wir Kinder waren begeistert: Die Siedlung lag praktisch im Wald und war eine kleine Welt für sich, in der alle im besten Einvernehmen waren. Lauter Bundesbahnbeamte lebten dort, und Nachbarschaftskontakte ergaben sich sofort, weil keine Zäune die Grundstücke voneinander trennten. Heute wäre so eine Siedlung vermutlich ein wenig wie ein Pensionistenwohnheim, aber damals sprudelte es nur so vor jungem Leben: Zu den sieben Familien gehörten nicht weniger als 33 Kinder!

Einer davon, der Werner Edlinger, verliebte sich auf Anhieb in mich und wurde zu meinem besten Spezi. Wir machten alles zusammen, und er war immer für mich da und half, wo er konnte. Arbeit gab es ja genug, auch für uns Kinder: Das Wasser mussten wir von einem Gemeinschaftsbrunnen holen, denn Wasserleitungen hatte man noch keine verlegt. Wir hatten Strom, aber weder Kühlschrank noch Waschmaschine und auch keinen Staubsauger; das Einzige, wofür der Strom gut war, war die Beleuchtung. Das Zentrum des Hauses bildete der Herd, der mit Holz oder Kohle beheizt wurde. Er wärmte im Winter die Küche, auf ihm wurde das Essen gekocht und so nebenbei im Wasserschiff das Warmwasser bereitet.

An Waschtagen lief alles genau nach Plan ab: Zuerst wurde die Wäsche in Zubern direkt am Herd so heiß wie es ging vorgewaschen. Dann kam die Waschrumpel (das Waschbrett) zum Einsatz, anschließend gab es einen Schwemmgang mit kaltem Wasser. Einen Wäschetrockner hatten wir bereits: eine Leine im Garten, Wind und Sonne erledigten den Rest. Wir selbst wuschen uns in der Waschschüssel und einmal die Woche in unserer metallenen Badewanne. Das Örtchen war natürlich ein Plumpsklo, der ganzen Siedlung fehlte ja noch der Anschluss an die Kanalisation.

Die ganze Familie machte sich mit Feuereifer an die Renovierungsarbeiten, Böden wurden geschliffen und gewachst, Wände, Türen und Stellagen gestrichen, Vorhänge genäht. Jeder machte, was er am besten konnte; ich bewies mich als begnadete Anstreicherin und durfte das Örtchen in ganz neuen Farben erstrahlen lassen.

Als Nächstes machte ich mich mit Farbe und Pinsel über eine kleine Holzhütte her, die im Garten stand, und daher fand das Einstandsgeschenk meiner Oma einen würdigen Platz vor: Sie brachte uns im Sommer 1951 ein Huhn mit neun Küken, ein besseres Geschenk hätte es nicht geben können. Das Huhn zog samt Anhang in die frisch gestrichene Hütte ein, und ich bin mir sicher, dass es dabei sehr zufrieden gackerte. Ich war jedenfalls mächtig stolz auf mein Werk und ganz entzückt von den Küken und der Aussicht, bald wieder Eier sammeln zu können. Unserer Hühnerschar erging es prächtig; bald hatten wir reichlich eigene Eier, und auch ein Sonntags-Backhuhn oder ein kräftiges Suppenhuhn konnten wir uns immer mal wieder erlauben.

Die ersten Monate besuchte ich weiter die Vassacher Volksschule, bis zum Abschluss der dritten Klasse. Im Herbst hatte ich dann eine große Umstellung zu bewältigen: Die Volksschule Sankt Andrä bedeutete einen ganz neuen Schulweg mit neuen Weggefährten, neuen Klassenkameraden und einem neuen Lehrer. Der Werner Edlinger ging auch dorthin, und das half mir sehr. Ich fand rasch Anschluss und neue Freunde und lebte mich schnell ein. Der neue Schulweg, der großteils durch den Wald führte, war viel schöner und kürzer als der alte. Jetzt verbrachten wir Kinder, wenn das überhaupt möglich war, noch mehr Zeit im Wald. Wir gingen durch ihn zur Schule, wir spielten an den Nachmittagen darin, und je älter wir wurden, desto mehr nützten wir ihn auch, um unseren Beitrag zu leisten: Wir sammelten Walderdbeeren und Pilze. Das war nicht schwer, außerdem hat der Werner mir immer am meisten geholfen. Wirklich schwierig war, die sonnenwarmen, süßen Erdbeeren nach Hause zu bringen und nicht gleich an Ort und Stelle zu verdrücken. Aber den Hunger hatten wir kennen gelernt, und daher wussten wir auch, wie wichtig es war, fleißig zu sammeln, um die Speisekammer zu füllen.

Für meine Mutter war das ein ganz normaler Teil der Haushaltsführung; was der Wald hergab, war bestmöglich auszunützen – und ihr Schwammerlgulasch gehört zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen. Zweimal im Jahr fuhren wir sogar eigens mit dem Zug zu ergiebigen Himbeer- bzw. Brombeerfratten (Fratten ist urkärntnerisch und bezeichnet eine Stelle, an der viel von einer Sorte wächst, jedenfalls wenn das irgendwie essbar ist). Das waren richtige organisierte Sammelaktionen, bei denen wir gerne halfen – die eine oder andere reife Beere landete immer in unseren Mündern und hielt uns bei Laune. Und im Geist konnten wir schon die Marmeladen, Kompotte, Strudel und Mehlspeisen vor uns sehen, die meine Mutter aus all den beerigen Köstlichkeiten zaubern würde.

Noch im selben Jahr ereignete sich der für mich erste Todesfall in meiner Familie: Mein Onkel Matthias, der Bruder meiner Mutter, war 1948 aus der russischen Kriegsgefangenschaft nach Hause gekommen. Doch hatten ihn der Krieg und die Gefangenschaft an Leib und Seele zu sehr verletzt – nur drei Jahre später erlag er seinen Krankheiten. Meine Mutter war sehr traurig; ich kannte diesen Onkel zu wenig, um echte Trauer zu empfinden. Er hinterließ seine Frau, meine Tante Loisi, und seinen kleinen Sohn, meinen Cousin Ferdinand.

Ab 1952 hatten wir regelmäßig Sommergäste: die Familie Wagner aus Wien. Herr Wagner liebte die Berge und genoss die Möglichkeit, für ein paar kostbare Tage im Jahr der Stadt zu entkommen. Roswitha, die Tochter der Wagners, schlief bei mir auf meiner Matratze und war mir eine liebe, kleine Freundin – sie war ein wenig jünger als ich. Im Jahr darauf bekam ich Gelegenheit, das Leben der Wiener Familie kennenzulernen – es ging für eine Woche zum Gegenbesuch in die Großstadt. Da wurde mir dann rasch klar, warum man hier nicht ständig sein konnte – Wien war zu der Zeit noch eine halbe Kriegsruine, überall Schutt und zerbombte Gebäude. Die Wagners wohnten in einem der unzähligen unansehnlichen Mietshäuser im vierten Stock in einer winzigen Wohnung in der Klosterneuburger Straße im 20. Bezirk – Zimmer, Küche, Kabinett. Das Wasser musste man sich vom Gang holen, wo auch die Toilette zu finden war; Bad gab es einfach gar keines.

Es war natürlich dennoch eine sehr aufregende Reise, die vielen Leute, Autos, Straßenbahnen … Wir machten aber kein Großstadtprogramm; Roswitha klapperte mit mir diverse Parks ab, wir ruderten einmal rund ums Gänsehäufl, besuchten im Prater einige Geschäfte und gingen im Donaukanal baden. Das wäre allerdings beinahe schief gegangen, weil ich gar keine Erfahrung mit dem Schwimmen in Strömungen hatte. Ich geriet in die Mitte des Kanals und wurde abgetrieben; ich kam einfach nicht auf die Idee, Richtung Ufer zu schwimmen, egal wie schnell oder wohin das Wasser floss, sondern versuchte immer nur den Kopf in der Luft zu behalten, bis mir fast die Kräfte versagten. Etliche Passanten am Ufer fuchtelten aufgeregt herum und schrien mir Anweisungen zu, aber in meiner kopflosen Panik konnte ich mit all dem nichts anfangen. Irgendwie habe ich es dann doch geschafft und mich keuchend an Land gezogen; vom Baden im Donaukanal hatte ich jedenfalls für mein Leben lang genug. Heutzutage ist das aber sowieso kein Thema mehr, kein Mensch badet mehr im Donaukanal.

Alles in allem hatte ich viel zu erzählen, und darauf freute ich mich auch schon sehr, als meine Wienwoche dem Ende zuging. Auf der Heimfahrt schaute ich kurz vor dem Semmering genau aus dem Fenster, denn bei der Hinfahrt war hier ein Mann über den Bahndamm gerannt – splitternackt! Mein erster nackter Mann, das war schon ziemlich interessant gewesen.

Einen Teil meiner Sommerferien verbrachte ich immer bei meinen Taufpaten, Onkel Willi und Tante Lisi, in Lansach im Drautal. Meine Tante half viel beim Nachbarsbauern aus, und das hieß auch für die Kinder tüchtig mit anpacken. Obwohl ich buchstäblich mein halbes Leben im Wald verbracht hatte, galt ich hier als Stadtkind und wurde von den Bauerskindern oft verspottet oder übertrieben wie eine Prinzessin behandelt. Ich hatte auch einen deutlich anderen Dialekt, und auch darüber machten sich die Kinder gerne lustig, aber das störte mich alles nicht – mir gefiel meine Sprache und deren breite Mundart nicht, die Arbeit war ich von klein auf gewohnt, und spätestens bei der zünftigen Jause nach der Plackerei waren wir uns immer alle einig: Die Mühe hatte sich gelohnt.

Meine Tante Lisi war recht streng mit mir, dadurch habe ich aber viel gelernt. Da ich mir mit dem Lesen etwas schwer tat, ließ sie mich jeden Tag vorlesen. An Hausarbeiten lernte ich sticken und Löcher in Strümpfen stopfen – vorzugsweise meine eigenen Löcher in meinen eigenen Strümpfen. Außerdem war ich mit der Aufsicht über die Enten betraut, die ich jeden Tag zum Bach neben dem Haus und abends wieder zurück treiben musste, und schaute nach den Hasen. Wenn es nichts zu erledigen gab, saß ich gerne auf der Schaukel, die mein Onkel Willi mir gebaut hatte, und sah den Zügen beim Vorbeifahren zu. Ich winkte, und die Leute winkten zurück. „Wohin die wohl alle fahren?“, fragte ich mich. Mein Fernweh war jedenfalls wieder ein Stückchen mehr geweckt.

Mit dem Ende des Sommers ’52 war es für mich an der Zeit, in die Hauptschule zu wechseln. Meinem Wunsch entsprechend kam ich in den B-Zug der Richard-Wagner-Schule in Villach, weil ich so um den Englischunterricht herum kam. Die Tommies mochte ich nämlich nicht, mit der britischen Besatzung verband ich nur lästige Manöver in unserem Wald, nach denen immer Etliches beschädigt war. Das entsprach freilich, wie mir heute klar ist, zu einem ganz wichtigen Teil auch der allgemeinen Stimmung. An dem Gefühl, „besetzt“ und „besiegt“ zu sein, hatte sich im Grunde nie etwas geändert. Frauen, die sich mit britischen Besatzungssoldaten einließen, mussten sich die schlimmsten Schmähungen gefallen lassen. Die „Schokoladenfrauen“ wurden als Kollaborateure betrachtet, obwohl es gar keinen Krieg mehr gab. Niemandem wäre es eingefallen, gut über die Briten zu sprechen – das wäre praktisch gleichbedeutend mit Landesverrat gewesen.

Mit meinen zehn Jahren kam ich natürlich nicht in die Verlegenheit, mich für oder gegen einen britischen Soldaten entscheiden zu müssen, aber die allgemeine Ablehnung war ein Grundgefühl, in dem ich die vergangenen sieben Jahre verbracht hatte. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass ich einst Jahrzehnte in einem englischsprachigen Land verbringen würde…

Meine Eltern sahen das wohl ähnlich, denn sie entsprachen meinem Wunsch und wussten offenbar auch nicht, wozu um Himmels willen man Englisch lernen sollte. Fortan hieß es also jeden Tag mit dem Bus zum Hauptbahnhof Villach fahren und von dort einmal quer durch die ganze Innenstadt bis zur Südseite des Stadtparks laufen, wo das Schulgebäude stand. Im Winter fiel der Bus immer wieder aus, konnte wegen des vielen Schnees und der völlig vereisten Straße nicht fahren; dann mussten wir oft kilometerweit bei widrigsten Verhältnissen durch die Kälte stapfen. Niemand fragte danach, ob das zumutbar sei, wir machten es einfach, weil es sein musste. Gelernt haben wir allerdings an solchen Tagen wenig – wir kamen oft erst nach 2, 3 Stunden in der Schule an und waren froh, nicht erfroren zu sein.

Noch vor dem Winter ’52/’53 musste ich einen anderen harten Schlag verkraften: den plötzlichen Tod meiner geliebten Oma. Nach einer Magenoperation wachte sie einfach nicht mehr auf, die ganze Familie war völlig geschockt, niemand hatte mit so etwas gerechnet. Sie wurde in einem Zimmer des Feffernitzer Bauernhofes aufgebahrt, wo sich tagelang Leute von ihr verabschiedeten. Das Zimmer hatte eine winzige Luke in der Decke, die nur bei Todesfällen geöffnet wurde. Durch dieses „Seelenloch“ sollte der Geist der frisch Verstorbenen den Weg nach draußen, ins Jenseits, finden. Traditionell gab man der Seele drei Tage Zeit dafür. Nach dieser Frist wurde der Leichnam meiner Oma auf den Pferdewagen gehoben. Der Schwarzl wurde noch einmal angespannt, ich glaube er ist bald danach ebenfalls gestorben.

Meine Großmutter wurde auf ihrem letzten Gang von einem riesigen Trauerzug begleitet; sie war sehr bekannt und beliebt gewesen und hatte in der Kirche sogar einen reservierten Sitzplatz ihr Eigen genannt, auf dem ihr Name auf einer Messingplakette eingraviert gewesen war: Christine Kaltenhofer.

Der evangelische Pfarrer, Pater Franz, hielt die Totenmesse ab, dann wurde der Sarg vom Altar zum Friedhof direkt bei der Kirche getragen. Noch einmal sprach der Pater berührende Worte des Abschieds, dann ging eine endlose Reihe an Menschen an uns Angehörigen vorbei und kondolierte. Die meisten davon hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen. Aber in ihren Augen las ich, dass sie meine Großmutter gern gehabt hatten und wirklich traurig waren, und so tat mir ihr Trost recht gut.

Ein paar Wochen später versammelten sich die Kinder meiner Großmutter am Hof in Feffernitz und teilten die Kleider meiner Oma untereinander auf. Mein Großvater blieb in der großen Stube wohnen, und meine Tante Hanni, die Frau meines Onkels Jakob, des Bruders meiner Mutter, kümmerte sich um den Haushalt. Jakob wurde als Hoferbe eingesetzt.

Vielleicht ist es der aufmerksamen Leserschaft schon aufgefallen: In meiner Erinnerung ist immer nur von der Familie meiner Mutter die Rede. Meine Oma, meine Onkeln und Tanten, damit sind immer die Verwandten meiner Mutter gemeint. Das lag an einem lange zurück liegenden Familienstreit: Meine Eltern hatten sich in den 20er Jahren in Wien kennen gelernt. Meine Mutter, die Loisi, hatte als Köchin bei einer Herrschaft gearbeitet, mein Vater hatte die Schuhmachermeisterprüfung abgelegt. In seiner Freizeit spielte er Bass, und zwar so gut, dass er immer wieder mit seiner Band (damals hätte man wohl eher Kapelle gesagt) zum Tanz aufspielte. So auch beim Kärntnerball, zu dem auch die Loisi ging. Es hat wohl ganz kräftig gefunkt zwischen den beiden, jedenfalls waren sie von diesem Tag an ein Paar. 1930 hatten sie genug gespart, um nach Kärnten zurückzukehren und ihr neues, gemeinsames Leben zu beginnen.

Es gab allerdings ein Problem: Mein Vater war katholisch, meine Mutter evangelisch. Er wollte deshalb katholisch und evangelisch getraut werden, aber der katholische Pfarrer legte sich quer. Also konvertierte Rupert Pöheim kurzerhand zur evangelischen Konfession und heiratete 1931 in der evangelischen Kirche von Feffernitz seine Loisi. Da war der Bruch mit seiner Familie aber schon perfekt: Sein Vater und mit ihm die ganze erzkatholische Familie sagten sich wegen des Konfessionswechsels von ihm los, niemand von ihnen kam zur Hochzeitsfeier im Bauernhaus meiner Großmutter. Bis in die 50er Jahre, als ich anfing, mich für Familiengeschichten zu interessieren, gab es überhaupt keinen Kontakt. Es war für mich, als wäre mein Vater aus dem Nichts entstanden, nur meine Mutter stammte von jemandem ab.

*****

Das Jahr 1954 brachte zwei große Erleichterungen: Zuerst wurde unsere 7-Häuser-Siedlung an die Kanalisation und die Wasserversorgung angeschlossen. Der Gang zum Gemeinschaftsbrunnen, um das Trink-, Koch- und Waschwasser zu holen, erübrigte sich fortan. Eine Zeit lang fühlten wir uns wie die Kaiser von China, dann wurde der eigene Wasseranschluss zur Selbstverständlichkeit. Für das Gemeinschaftsgefühl in der Siedlung war die Entwicklung nicht förderlich: Zeitgleich mit der Installation der Wasserleitungen wurden die einzelnen Grundstücke mit Zäunen voneinander abgegrenzt. Damit hatten wir etwas mehr Privatsphäre – oder etwas weniger mit den Nachbarn zu tun, wie man es sehen will.

Im Herbst des Jahres öffnete die neu gebaute Hauptschule in Landskron ihre Pforten, was mir ausgesprochen recht war. Es ging dort viel familiärer als in der Richard-Wagner-Schule in Villach zu, ich kannte praktisch alle meine Mitschülerinnen aus der Nachbarschaft, und vor allem hatte ich jetzt keine endlosen Busfahrten oder gar Schneestapfereien mehr zu bewältigen, sondern nur noch einen kurzen Weg durch meinen geliebten Wald. In der Schule mochte ich Mathe, Deutsch, Erdkunde, Zeichnen, Biologie, Turnen, Singen und ganz besonders Handarbeiten. Darin stellte ich mich nämlich so geschickt an, dass man fast immer eines meiner Stücke in der Schule ausstellte, natürlich mit meinem Namen darunter. Ich kam langsam in die Jahre und machte mir Gedanken; Handarbeitslehrerin in einer Schule, das wäre vielleicht einmal ein Beruf für mich?

Mein neu erwachtes Interesse an meiner beruflichen Zukunft führte mich auch immer wieder ins Büro, in dem mein Papa gemeinsam mit zwei Kollegen arbeitete. Das heißt, anfangs wollte ich natürlich nur meinen Vater besuchen, und mein erster Eindruck war gar nicht so gut. Das Drei-Männer-Büro war einschlägig verziert – zwei Frauen auf Fotos stellten sich und ein bisschen Unterwäsche zur Schau. Es sah aus, als wollten sie unbedingt etwas aus dem Bild hinaus strecken, außerdem blickten sie auf eine Art, die mir gar nicht geheuer war. Sicherheitshalber erkundigte ich mich bei meinem Papa, ob denn die Mama von diesen Frauen wüsste? „Aber sicher“, antwortete er mir. „Weißt, die gehören nicht mir allein, die sind für uns alle da, auch für den Herrn Ebenwaldner und den Herrn Wuggenig. Wir genießen den Anblick gemeinsam.“

Das beruhigte mich (seltsam, ich weiß), und ich wandte mich dem nächsten spannenden Bürogegenstand zu: der Schreibmaschine, auf deren Tasten Herr Ebenwaldner einhackte. Ich fragte ihn, ob er mir wohl zeigen würde, wie man damit umgeht, und flugs lernte er mich als Bürohilfskraft an. Es dauerte nicht lange, da durfte ich bereits Bestellscheine ausfüllen, und war ganz in meinem Element. Schreibkraft in einem Büro, das wäre vielleicht einmal ein Beruf für mich?

Aber noch ging ich ja zur Schule, und der „Ernst des Lebens“ war weiter entfernt als je zuvor – wir waren zwar, aus heutiger Sicht, alles andere als wohlhabend, aber nach den schrecklichen Mangeljahren fehlte es uns an nichts wirklich Wichtigem, unsere Ernährung war dank Mutters sorgsam gehegtem Garten in vielem sogar besser als die heutige – die Fast-Food-Welle, die Nahrungsmittel mit sich bringt, die praktisch aus nichts anderem als Fett, Zucker und Fleisch bestehen, abgerundet mit einer satten Portion Stress oder mindestens Hektik, ist auch in Europa auf dem Vormarsch, dabei könnten und sollten die Menschen heute weitaus besser über eigentlich alles Bescheid wissen als in den naiven 1950ern. Immerhin gelten auch Lebensmittel aus biologischem Anbau und/oder regionaler Herkunft einer wachsenden Zahl an Menschen als gut und erstrebenswert; diejenigen, für die eine aus 5.000 bis 10.000 km Entfernung angereiste Mango immer noch grundsätzlich weit aufregender ist als der Apfel, der vor der eigenen Haustüre vom Baum gefallen ist, werden weniger. (Tatsächlich gibt es in der momentanen Wirtschaftskrise zwei Bereiche, die sich über satte Zuwächse freuen können: Ausgerechnet die beiden Antipoden Fast Food und Bio-Lebensmittel liegen Kopf an Kopf um den Titel des größten Krisengewinners.)

Man muss schon ein bisschen dumm und ziemlich kurzsichtig sein, um das Gute vor der eigenen Nase nicht zu erkennen. Das höchste der Gefühle für die Biofraktion ist „aus Wildsammlung“ – also eigentlich ist alles, was wir aus der Notwendigkeit der Zeit heraus machten, heutzutage der Inbegriff gesunder Ernährung: biologischer Anbau (Kunstdünger oder Spritzmittel wären sowieso unleistbar gewesen), regionale Herkunft (regionaler als der eigene Garten geht ja wohl nicht), Wildsammlung (wenn Werner und ich Pilze nach Hause brachten oder die ganze Familie „in die Himbeeren“ ging). (Vielleicht gibt es deshalb noch immer Leute, die „Bio“ und „Nachhaltigkeit“, wie man heutzutage den Einsatz des gesunden Menschenverstandes nennt, gering schätzen – es hat einfach ein wenig den Geruch von Notwendigkeit, die wiederum nach Armut und Mangel müffelt. Ich halte das für eine unverzeihlich snobistische Einstellung – es ist notwendig, punktum, was soll daran schlecht sein? – und schlichtweg idiotisch. Wer zwischen Eiern von den eigenen, namentlich bekannten Hühnern, und solchen aus Tierfabriken, in denen die Hendln ihre feinst faschierten Artgenossen zum Fressen kriegen, keinen Unterschied feststellen kann, muss ja wohl einen kräftigen Sprung in der Schüssel haben.)

Und selbstverständlich wurden die guten Zutaten auch selbst zubereitet. Ich habe die Küche meiner Mutter immer geliebt, und von Dingen wie Wohlstandsverwahrlosung und Dickleibigkeit als Volkskrankheit hatten wir nicht den Schimmer einer Ahnung, so etwas gab es in meiner Welt einfach nicht. Selbst wenn wir uns ausschließlich von Pommes frites und Hamburgern ernährt hätten – weder das eine noch das andere gab es irgendwo zu kaufen –, wir hätten alles wieder verbraucht. Das Leben spielte sich im Freien ab – unser Abenteuerspielplatz war der Grünsee, unser Fitness-Center der St. Magdalener See. Den Grünsee erklärten wir sowieso zu unserem Privateigentum, schließlich wohnten wir 5 Gehminuten entfernt, und alle Kinder der näheren Umgebung verbrachten jede freie und halbwegs warme Minute dort. Einmal fing mein Werner eine Schlange, versteckte sich im Gebüsch und warf mir das Tier dann vor die Füße, als ich vorbei kam. Meine Güte, hab ich gekreischt! Aber da war auch schon mein Held bei mir und beruhigte mich wieder. Ich konnte mich dann revanchieren, indem ich ihm beim Reparieren seines Motorrads half – Ventile mit Schmirgelpapier abschleifen war mein Job. Werner begann nach der Schule sofort eine Lehre als KFZ-Mechaniker, das war eindeutig sein Traumberuf.

Zum St. Magdalener See waren es nochmal fünf Minuten, aber trotzdem betrat man eine andere Welt: Hier gab es ein Strandbad, Boote, Tischtennis, Umkleidekabine, Sprungturm und Rutsche und ganz viele Gelegenheiten, neue Bekanntschaften mit lieben Buben zu schließen. (Ja, schön langsam begann mich das richtig zu interessieren.) Ich hätte mir das alles nicht leisten können und mit dem ganz still und unverbaut im Wald liegenden Grünsee vorlieb nehmen müssen, wäre Herta nicht gewesen. Sie war eine dicke Freundin von mir und wohnte praktischerweise direkt am St. Magdalener See, weil ihre Mutter beim Seebad Brandstätter gearbeitet hat. Deshalb brauchte sie für nichts zu bezahlen, und ich in ihrem Schlepptau genoss dieselben Privilegien.

Am Magdalener See war immer was los, und außer beim Köpfeln war ich bei allem dabei; unter Wasser durfte ich nicht, wegen meinem kaputten Ohr. Bei all der Action haben wir aber unseren Grünsee nie vergessen – dorthin zogen wir uns zurück, wenn wir mal einfach entspannen wollten oder um ein stilles Eckchen für die ersten Romanzen aufzusuchen. So wandelte sich die Rolle des kleinen Waldsees vom Abenteuerspielplatz der früheren Jahre zum Schauplatz der ersten Liebeswirren.

Diesbezüglich sollte mich Herta deutlich überholen. Meine beste Freundin war ein Adoptivkind; ihr Ziehvater sorgte wohl für ihre Grundbedürfnisse, er gab ihr zu essen und ein Dach über dem Kopf, war aber ansonsten immer sehr kühl zu ihr. Ihre Ziehmutter hatte vor lauter Arbeit einfach viel zu wenig Zeit und war so gut wie nie zu Hause. Meine Eltern nahmen sie deshalb wie eine zweite Tochter auf und gaben ihr die Zuneigung, die sie so nötig brauchte. Dazu bekamen wir auch noch in derselben Schule Zitherunterricht (meinen bezahlte mein Onkel Hansl, der mir auch die Zither geschenkt hatte) und waren sowieso ständig zusammen, machten die Aufgaben gemeinsam, die Handarbeiten, einfach alles. Herta lernte dann Verkäuferin, verliebte sich aber sehr bald und heiratete; mit 22 war sie bereits vierfache Mutter!

Dann kam das für Österreich wichtige Jahr 1955. Der Staatsvertrag wurde geschlossen, und die Alliierten entließen das Land in die Unabhängigkeit. Endlich zog die britische Armee ab! Sie waren keine Freunde von uns gewesen, wie ich ja schon sagte. Ich wollte nie wieder etwas mit Englisch sprechenden Menschen zu tun haben. Na ja … ich war 13 und hatte von der Welt noch nicht allzu viel begriffen.

Herta und ich machten Hausmusik auf unseren Zithern; mein Onkel Hansl spielte oft die zweite Stimme dazu. Unser größter Fan war Herr Wuggenig, der Bürokollege meines Vaters. Er kam uns gerne besuchen und lauschte stundenlang dem Zitherspiel von uns zweien oder dreien. Auch der andere Kollege vom Papa, der Herr Ebenwaldner, war häufig zugegen, er war nämlich in seinem Zweitberuf Friseur und kümmerte sich um die Haartracht der ganzen Familie. Die Besuche in Vaters Büro hatte ich aufgeben müssen, weil man seinen Arbeitsplatz zum Villacher Westbahnhof verlegt hatte, viel zu weit weg für Nachmittagsvisiten.

Mein Zitherspiel wurde immer besser, wiederholt gab ich auch bei Schulkonzerten mein Bestes. Dann hatte ich eines Tages plötzlich genug davon, alles wurde mir zu viel, und ich hörte von heute auf morgen komplett mit dem Musizieren auf. Ich gab meinem Onkel die Zither zurück und schenkte ihm meinen schönsten Bitte-sei-nicht-böse-deshalb-Rehblick und ein paar Busserln. Er war sicher enttäuscht, hat mir aber nie einen Vorwurf gemacht und ist mein Lieblingsonkel geblieben.