Geschichten für zwischendurch - Edith Ruhöfer-Mentges - E-Book

Geschichten für zwischendurch E-Book

Edith Ruhöfer-Mentges

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Beschreibung

Dort oben unter dem schwarzen Spitzdach, dem Himmel ganz nah, hinter den Fenstern der beiden Dachgauben, alte Straße, hat mein Leben begonnen. Von Pracht und Herrlichkeit war ich weiß Gott nicht umgeben, hatte auch keine Wiege mit rosa Seidenschleifen auf weißem Batist… Ernste und heitere Kurz- und Kürzestgeschichten, die den Leser auf den Flügeln der Zeit durch acht Jahrzehnte tragen. Geschichten, die, zwischendurch gelesen, uns immer wieder die eigenen Stärken und Schwächen vor Augen führen.

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Etti Ruhöfer

Inhaltsverzeichnis:

Herzklopfen

Se(e)h – Kreise

Er nannte ihn Viktor

Endlose Minuten

Blutrache

Was dem Manne wichtig ist

Sie

Aber wenn es doch gut tut

Allez – hopp, Papa

Meine Straße

Freitag – Putztag

Unterm Apfelbaum

Hass lebt

Ewiger Wandel

Ausblicke

Grillparty

Ein zu langer Sommer

Steine

Gekostet und…

Die neue Hose

Ungeahnte Perspektiven

Verrückte Träume

Junggesellen

Berufswunsch

Der Schweigsame

Zuflucht

Die Eroberung

Endlich Regen

Neujahrsmorgen

Taktgefühl – keine Frage des Alters

Vision

Verloren

Spaziergang am Morgen

Wie lange noch?

Herbstgedanken

Eric

Gedanken, die immer wiederkehren

Unbekannte Welt life…

Ein schwieriges Vorhaben

Natürlich fernsehen

Hallo, alte Straße

Bombenhagel

Die letzten Kriegstage

Neudorf

Ein Blättchen am oberen Ast

Besuch im Altenheim

Friedhofsgedanken

Im Restaurant

Zockerrunde

Geburtstagsvorbereitungen

Lisas Geburtstag

Gedanken im Schnee

Es weihnachtet wieder

6 in einem Abteil

Reflexionen am Ende „Zwischen Petroleumlampen und Atommüll“

Herzklopfen

Sie hatte Bedenken. Dabei war der Tag wie geschaffen. Alles stimmte: Ein wolkenleerer Himmel, ein zärtlicher Wind und wie sie zitterte auch das Meer - allerdings unter der Sonne…

Oben auf dem Hügel, gegen dessen felsige Rückseite sich seit Menschengedenken aufdringlich und ungestüm die See drängt, stritten sie sich. Die Worte die er zu ihr sprach, blieben erfolglos, fielen einfach ins warme wogende Gras, in das sie vorher achtlos ihre Schuhe geworfen hatte. Barfuß lief sie seinem Drängen davon, gefolgt vom Wind, der fast spielerisch übermütig an ihrem leichten Baumwollkleid zerrte, es eins werden ließ mit ihrer Gestalt. - Welch ein Anblick! Sein Herz begann zu klopfen, als sich ihm die Feingliedrigkeit ihres Körpers offenbarte.

Drei Monaten waren schon vergangen, als sie mit Anmut und Liebreiz in sein leichtlebiges chaotisches Dasein gekommen war - eine zarte Knospe, die sich ihm nur zögernd öffnete. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte ihn ein wundersamer Zauber erfasst. Sein Herz schwamm auf einer Woge von Glückseeligkeit, seine Gedanken erhoben sich in Wolkenberge… Warum nur sträubte sie sich? Sie hatten diesen Tag doch gemeinsam geplant. Enttäuscht wanderte sein Blick den Hügel hinab. In der Bucht rebellierte ein Boot gegen seine Verankerung, als fordere es die Freiheit, um dem anderen zu folgen, das da draußen mit einem Liebespaar auf den Wellen tanzte. Bei diesem Anblick packte ihn Sehnsucht. Er wandte sich wieder seiner Begleiterin zu und nahm sie in den Arm. „Bitte, lass uns doch!“ Kaum merklich entwand sie sich ihm. „Heute nicht. Ich habe Angst!“, erwiderte sie. „Ich werde Acht geben. Das verspreche ich. Aber komm, ich hab mich so darauf gefreut.“ Er legte seinen Arm um ihre Schultern. Siehe da, sie schien bereit. Als er hinter ihr den schmalen Pfad hinunterging, konnte er den Blick nicht abwenden von ihrem feuerroten Haar, der grazilen Gestalt, die da immer noch barfuß vor ihm herging und in jeder Hand einen Schuh baumeln ließ.

In der Bucht angekommen, zögerte sie noch einen kurzen Moment, bis sie endlich einwilligte. Ein lustiger Dritter, der hinzugekommen war, hatte ihr Mut gemacht, stand den beiden sogar zur Seite, ihr Vorhaben endlich in die Tat umzusetzen. Er half dem erwartungsvollen Paar durch einen kräftigen Stoß. Nach einer Weile klang ihr Lachen übers weite Meer - ein befreites glückliches Lachen. Gut gelaunt meisterten sie jede Welle. Als aber Wind aufkam, stand wieder Angst in ihren Augen, denn der Wellengang wurde bedrohlich stark. Nur mit wildestem Paddeln konnten sie die Anlegestelle erreichen.

Sonst sähe man die beiden sicher heute noch schippern, vielleicht sogar bis Amerika. Wer weiß?

Se(e)h – kreise

„Aufstehen! Es ist Montag. Montage sind scheußlich – ungefähr wie Lebertran nach einem Zuckerbrot. Ich mag sie nicht, hörst du? Besonders wenn es regnet, so wie heute.“

Eine halbe Stunde später zwängen wir uns in den vollen Bus, erwischen sogar einen Platz. Die meisten Fahrgäste dösen vor sich hin. Quietschende Scheibenwischer quälen sich über die Frontscheibe – quietschbru, quietschbru – einschläfernd!

Gelangweilt male ich einen Kreis auf die beschlagene Fensterscheibe – sieht aus wie ein See in einer nebligen Landschaft – ein Se(e)hkreis. Ein paar Tropfen rollen über seinen Rand - zerreißen ihn. Ich male noch einen – für jeden Monat einen? Der Gedanke gefällt mir – zwei Monate.

„He, freust du dich? Nur noch zwei Monate – langsam, da brauchst du doch nicht gleich auszurasten!“

Am Friedrich-Wilhelm Platz klemmt die Tür; ein paar Mal pufft die Hydraulik – tsch pff, tsch pff – die Tür öffnet sich. „Verdammt! Scheiß Tür!“, kommt es aus dem grellroten Mund eines jungen Mädchens, dessen Schirm in der Tür hängen geblieben war.

„Da solltest du lieber nicht hinhören.“

„Der Mief hier ist ja ätzend!“, sagt wieder die mit dem roten Mund, und drängt sich energischen durch die sonntagsmüden Leiber.

„Siehst du, so geht das jeden Tag, quetschen, schieben, schubsen, und montags noch gähnen und der Kampf gegen die Schwere der Augenlider auf den immer gleichen Gesichtern – wie der da gegenüber mit den ausgestreckten Beinen. Er hat schon aufgegeben. Oder der von der anderen Seite. So nach und nach erschlafft jeder seiner Muskeln – die Lider, der Hals, die Arme – pass auf, gleich wird ihm die Tasche aus der Hand fallen und das Klatschen auf dem Boden jede weitere Muskelschwäche verhindern. Nachmittags solltest du ihn sehen, da ist er immer hellwach, witzig, voller Übermut, nicht zu überhören.

Der neben mir gähnt dauernd, er hält zwar die Hand vor den Mund, aber der Atem dringt durch seine Finger und streift meinen Hals. – Haaaa… Gähnen ist ansteckend. Du scheinst nicht müde zu sein, obwohl du in der Nacht so unruhig warst. Aua! Gib doch jetzt wenigstens Ruhe! Die von eben, weißt du, die mit den grellroten Lippen, schiebt dauernd einen Kaugummi hin und her, ohne ihren Mund zu schließen. Sie schmatzt. Schmatzen ist grässlich, das solltest du niemals tun. Jetzt gähnt sie auch noch, und der weiße Gummi auf ihrer Zunge ist zu sehen – igitt! Weißt du, früher hat mich das alles amüsiert, jetzt geht es mir auf den Geist. Aber es sind ja nur noch zwei Monate, die schaffen wir noch. Mein Sehkreis ist schon ganz zerfleddert – Au, werde doch nicht so rebellisch! – Ach, du hast keinen Kreis. Dann male ich dir eben einen. So, bist du nun zufrieden?“

Mensch, der neben mir geht mir auf die Nerven. Wie ein Gorilla klammert der sich an der Haltestange fest, bringt mir mit seinem Ellbogen die Frisur durcheinander –, rücksichtsloser Heini.

Dabei könnten wir es uns jetzt gemütlicher machen, denn der Bus ist schon leerer geworden. Nur noch wenige warten auf ihren Ausstieg.

„Hoppla, hast du dich erschreckt? Eine Vollbremsung und die kauende Schönheit ist dem Störenfried direkt in die Arme gefallen. Nun hängt der Bursche wenigstens manierlich da, mit nur einer Hand an der Stange.

Jetzt kann ich nur noch durch deinen Kreis schauen. Die anderen sind zusammengelaufen – doch die zwei Monate sind leider immer noch 2 Monate. Aber danach wird bald Frühling sein, hörst Du? Frühling wird sein. Wir werden spazieren gehen, wann immer wir wollen, wir werden lachen, Unsinn machen und im Park in der Sonne sitzen – nein, lieber unter einen Baum, die Sonne könnte dir schaden. Wir werden es sehr schön haben und glücklich sein, jeden Tag, auch an den Montagen. Bus fahren – nur noch, wenn wir es wollen. Und sollte es regnen, uns wird es nichts ausmachen.

Au, stups doch nicht so. Ich kann mir ja denken, dass es eng in mir ist. Ein Wunder überhaupt, dass Du noch Platz zum Strampeln hast. Wie wird es wohl in zwei Monaten sein?

Weißt du, dass ich nie geglaubt habe, das in mir jemals ein kleines Menschlein wachsen könnte?“

Er nannte ihn Viktor

Für gewöhnlich dringt kein Regen durch das dichte Buschwerk unter dem Dachvorsprung am Fuß der Kirche. Aber in der Nacht gab es ein Unwetter.

Wie kleine Kristallkugeln rollen Regentropfen von Viktors Schlafsack, als er den Reißverschluss öffnet. Sein Körper ist heiß wie ein Feuerball.

Und heute kommen die Gärtner, geht es ihm durch den fieberheißen Kopf. Er weiß genau, an welchen Tagen der Rasen geschnitten wird, denn dann packt er seine Schlafstatt zusammen. Er will nicht, dass man ihn hier findet.

Viktor ist kein Penner im üblichen Sinne – mit langen Haaren, Bart und vom Alkohol geröteten Augen. Viktor rasiert sich regelmäßig, säubert die Schuhe mit Zeitungspapier und hängt seinen Anzug ins Gebüsch, bevor er in seinen Schlafsack kriecht. Heute wird er nicht aufstehen können, da macht es nichts, dass der Anzug nass geworden ist, weil der Regen durch das Buschwerk kam. Schon gestern fühlte er sich nicht wohl – ausgerechnet an dem Tag, an dem sich in seinem sinnlos gewordenen Leben der Höhepunkt ereignen sollte, auf den er seit Wochen gewartet hatte. Auf dem grünen Plakat an der Kirchentür steht in großen schwarzen Buchstaben die Ankündigung von Brahms Deutschem Requiem. Als er es las, dachte er an Theres, an ihre gemeinsame Liebe zu sakraler Musik, an die Stunden, als sie sie noch gemeinsam hörten – damals…

Aber das war, bevor seine Stimme diesen blechernen Klang bekam, bevor das unerträgliche Klicken seiner Kanüle ihre Gemeinsamkeit zerstörte und er alles, was bis dahin sein Leben war, hinter sich gelassen hatte. Niemand sollte sich mehr von ihm abwenden müssen, niemand! Selbst dem Pfarrer, dem er manchmal begegnete, geht er aus dem Weg. Er antwortete ihm auch nicht, als der ihn einmal nach seinem Namen fragte. Seitdem nennt der Pfarrer ihn Viktor. Wie kann er mich nur Viktor nennen, mich, den Verlierer?

Seit gestern kämpft Viktors Körper gegen das Fieber. Gestern – was war gestern? Er lag auf seiner Schlafstatt hinter dem Buschwerk. – Das Requiem – er wartete auf das Requiem. Aber ihm war so heiß – ihm ist immer noch heiß. Hatte er es überhaupt gehört? – Ja, manchmal. – „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden…“ Ganz schwach erinnert er sich. – Ganz aus der Ferne drang es zu ihm – „Sie gehen hin und weinen, wie…“ Nur Bruchstücke drangen in sein Hirn. Er kämpfte gegen die Müdigkeit. – Das Requiem. – Immer dachte er, ich will das Requiem hören. – „Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth - Herr Zeba…“

Wenn nur die Gärtner nicht kämen, denkt er. Dann zieht es ihn hinein in die Stille eines grauweißen Strudels – tiefer immer tiefer. Und plötzlich beginnt die Lautlosigkeit sich anzufüllen mit dem Klang des allmorgendlichen Glockengeläuts – mit dem sich nähernden Rasenmäher – macht sich breit in seinem Kopf – vermischt sich mit seinem schweren Atem, dem überlauten Klicken seiner Kanüle, und alles wird übertönt vom Hohngelächter der Fratzen, die ihn anstarren. Es dröhnt – dröhnt, wird lauter und lauter…

Viktor fühlt sich fortgetragen…

Endlose Minuten

Er stand mitten zwischen den vielen Menschen, die an der Haltestelle warteten und sich dann in den angekommenen Bus drängten. Alle mit der gewohnten Hektik. Und da lag sie plötzlich in ihrer ganzen Länge, mit hochrotem Kopf. Jemand hatte sie achtlos weggeworfen. Und just in dem Augenblick trafen sich unsere Blicke. Er hatte blaue Augen – das heißt, nur eines war blau, das andere leblos und weißgrau überzogen. Unwillkürlich musste ich an einen gekochten Fisch denken. Aber in dem lebendigen Auge war außer Erstaunen noch etwas anderes, das sich nicht deuten ließ.

Der Bus war weg. Jetzt waren nur noch wir da, ich, der mit dem leblosen Auge und sie, die immer noch am Boden lag. Ich ging ein paar Schritte näher. Von ihr konnte ich nur etwas Weißes sehen, weil er mir die Sicht nahm. Dann betrachtete ich ihn, der unentschlossen dastand. Dunkle Haarsträhnen kräuselten sich über das blasse jungenhafte Gesicht und den weißen dünnen Hals. Etwas Beiges kam unter einer schwarzglänzenden Jacke aus Lederimitat hervor, und eine schwarze ausgefranste Jeans schloss sich an. Er trug braune Socken zu schwarzen, sehr alten Sandalen, und auf dem Rücken ein rucksackähnliches Behältnis. Ich wusste ihn nicht so recht einzuordnen. Sein Verhalten war sehr merkwürdig. Die Art, wie er vor ihr stand und dabei ständig zu mir rüberschaute, ließ ahnen, dass er versucht war, sich nach ihr zu bücken, sich aber nicht traute, solange ich mich in der Nähe befand.

Immer wieder begegneten sich unsere Blicke, und, obwohl das grauweiße Auge sich nicht bewegte, schien es mich ständig zu fixieren. Dann wusste ich es, er ist ein Stadtstreicher! Zwar noch ein Greenhorn, doch seine Zukunft schien besiegelt zu sein. Und was ich zu Anfang in seinem blauen Auge nicht zu deuten wusste, das war nichts anderes als Befriedigung darüber, dass das Schicksal sie, die immer noch am Boden lag, vor seine Füße landen ließ. Seine Gedanken schienen nur um sie zu kreisen, doch fehlte ihm die Courage für den letzten Schritt.

Sein Zögern forderte mich heraus, abzuwarten. Ich wollte wissen, wie er sich wohl weiter verhalten würde und schaute in eine andere Richtung. Er sollte das Gefühl haben, unbeobachtet zu sein. Doch ich tat es so, dass ich seine Bewegungen aus dem linken Augewinkel verfolgen konnte. Es kam jetzt nur darauf an, wer von uns den längeren Atem hatte.

Sicher fieberte er genauso dem Augenblick entgegen, sich nach ihr bücken zu können, wie ich mir wünschte, dass er es auch tun würde, bevor mein Bus käme.

Ich wurde ungeduldig, wollte aufgeben. Als ich mich zu ihm umdrehte, befand er sich gerade in gebückter Haltung, endlich entschlossen zur letzten Konsequenz. Sein blaues Augen wie ein ertappter Dieb auf mich gerichtet, hob er sie endlich auf, eilte in den Park, steckte sie zwischen seine Lippen und zog den Rauch gierig in seine Lungen.

Blutrache

Ich saß da – das heißt, vorher lag ich. Konnte nicht einschlafen. Also begann ich zu zählen, erst Schäfchen, dann einfach nur so, weil die schnuckeligen Vierbeiner alle durcheinander liefen und ich immer wieder neu anfangen musste. Ich zählte mit weit aufgerissenen Augen, das hilft nämlich beim Einschlafen – meistens jedenfalls. Die Augen ganz weit öffnen und aufhalten bis die Lider schwer werden. Irgendwann wurden sie dann auch schwer - so ungefähr bei 500. Schönes Gefühl, wenn sich endlich die Muskeln entspannen, das Rauschen des Blutes leiser wird, der Terminkalender sich zu verwischen beginnt und das Gefühl im Kopf so weich wird, und dann noch ein Engel singt – Ssssss… Schön!

Aber kurz vor dem endgültigen Hinübergleiten muss wohl Fräulein Knittel, die über mir wohnt, etwas umgestoßen haben. Na ja, sie ist 85. Das passiert ihr oft. Sie sieht schlecht. Mit dem Schlafen war’s vorbei! Aber der Engel sang weiter. Ich glaubte sogar, seinen Flügelschlag zu spüren. Und als dann etwas ganz kurz meine Wange berührte, da war ich erst richtig wach und wusste sofort, das war überhaupt kein Engel! Das war eins von diesen kleinen widerlichen, durchsichtigen Biestern mit den langen Fühlern, das sich an mir gütlich tun wollte. Raus aus dem Bett! Licht an! – Nichts zu entdecken.

Ja, so saß ich dann da und wartete. Nichts tat sich… Raffiniertes Biest! Du wirst keine Freude an mir haben. Ich verhielt mich ganz ruhig, fühlte mich aber irgendwie beobachtet. Dann, das nervtötende Sssss… direkt neben mir, und für Sekunden war das winzige Ungeheuer in meinem Blickfeld. Der Versuch, es zwischen meinen Handflächen zu zerdrücken, schlug fehl. Das Biest war schneller. Ein Klatsche hätte ich gebraucht, eine Klatsche! Und schon wieder ssst-tete es an mir vorbei. Ohne Zweifel, es war mir überlegen.

Ich werde strategisch vorgehen müssen, dachte ich. Punkt 1: Den Gegner orten, sich langsam nähern und – patsch. Punkt 2: Absicht ja nicht erkennen lassen, sich gleichgültig zeigen.

Ich zog Punkt 2 vor, stellte den Fernseher an und konzentrierte mich dann erst auf Punkt 1. Eine Weile tat sich nichts. Dann ein leises Ssss – Stille. Ich schaute mich vorsichtig um. Da, es saß auf dem Fußteil des Bettgestells und schien zu triumphieren. Mich erschreckte die Mordlust, die ich plötzlich empfand, obwohl ich mir gar nicht so sicher war, ob ich es wohl fertig bringen würde, es zu vernichten, ich konnte noch nie ein Tier töten und war es noch so klein. Aber es ärgerte mich zu sehr, dass dieses kleine Luder so eine Macht über mich hatte. So nahm ich dann doch das bereitgelegte Tuch, holte zum Schlag aus und, ssssst, schon hatte der Feind den Standort gewechselt und saß jetzt auf der Wand. Ich hinterher. Aber der nächste Angriff war ebenso erfolglos wie die vielen Angriffe danach.

Langsam sah ich in dem kleinen Biest ein Wesen mit einer ausgeprägten Wahrnehmung, das mir an Raffinesse weit überlegen war.

Gegen Morgen schlief ich bei laufendem Fernseher vor Erschöpfung ein. Als ich erwachte, traute ich meinen Augen nicht. Direkt über mir an der Wand saß mein Gegner, dem es immer wieder gelungen war, mich auszutricksen. Ich hätte es wissen müssen. Wie heißt es doch? Ein wahrer Feind verlässt dich nie!“

Ich nahm wieder das Tuch, näherte mich ihm. Dieses Mal schien sein Spürsinn zu versagen. Komisch, in der Nacht sah sein Körper gegen das Licht so zart und durchsichtig aus, nicht so prall wie jetzt…

Auf meinem Arm entdeckte ich eine rote juckende Delle. Das Biest hatte mich also im Schlaf erwischt. Feigling! Seine Hinterlist machte mich noch wütender. Ich ging langsam auf die Wand zu. Faul und fett hing es da. Ich war fest entschlossen, meine augenblickliche Überlegenheit auszunutzen – drückte das Tuch fest auf die Stelle und spürte das Platzen des Körpers. Ein großer Blutfleck auf der Tapete und einer auf dem Tuch. Mir war nicht so gut, ich hatte es tatsächlich getan. Doch ich tröstete mich und sagte mir: „Schließlich war es ja mein Blut das ich vergossen habe…“

Was dem Manne wichtig ist…

Herr Knüppelmann, gerade mit dem Ankleiden fertig geworden, hatte offenbar nicht an seinen Bauch gedacht, der ihm seit langem bei vielen Gelegenheiten im Wege ist, ja, ihm sogar Atemnot verursacht.

Verständlich, wann denkt man auch schon an ein einzelnes Körperteil, wenn es sich nicht gerade unangenehm bemerkbar macht, etwa, wie man erst dann an seine Nase denkt, wenn sie zu tropfen beginnt.

Bei Herrn Knüppelmann ist es also der Bauch, der ihm große Schwierigkeiten beim Schnüren der Schuhe bereitet, so dass ihm das Blut in den Kopf steigt und die Augen aus den Höhlen treten.

Gott sei Dank, das wäre mal wieder überstanden!

Als er sich davon ein wenig erholt hat, tritt er vor den großen Spiegel, ohne den er niemals mehr Gelegenheit haben würde, wie Frau Knüppelmann glaubte, die untere Hälfte seines Körpers problemlos in Augenschein zu nehmen, entschlösse er sich nicht bald zu der empfohlenen Diät.

Nun sieht Herr Knüppelmann sich in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit. O, Gott, denkt er, was die Zeit so aus einen machen kann. Soweit ist es also gekommen, dass ich erst vor einen großen Spiegel treten muss, um gewisse Details von mir sehen zu können.

Das Bier sei Schuld, meint Frau Knüppelmann. Ja, das gibt Herr Knüppelmann zu. Beim Bier fühlt er sich immer wie ein Mann, so lächerlich das auch klingen mag. Das rührt daher, weil er von seiner Frau eine so hohe Meinung hat, dass er sich manchmal wie ein Zwerg vorkommt.

Nun also ist aus dem Zwerg ein Mops geworden, geht es ihm durch den Kopf. Gut, zu ändern ist im Augenblick nicht viel. Um aber jetzt noch einen einigermaßen gut aussehenden Fünfziger darzustellen, fehlen da unten mindestens 2–3cm, denkt er.

„Es fehlen doch 2–3cm“, ruft er Frau Knüppelmann zu, die dann auch gleich kommt und wie erwartet nicht seiner Meinung ist. Es geht hin und her, mal zieht sie mit den Worten: „Die Länge ist gut!“, mal zieht er mit den Worten: „Nein, es fehlen eher vier als zwei Zentimeter. Eine Reserve von zwei Zentimetern wäre auf jeden Fall von Vorteil!“

Der Streit droht zu einem handfesten Ehestreit zu eskalieren, bis plötzlich, für Frau Knüppelmann ganz ungewohnt, der Zwerg Knüppelmann energisch zu verstehen gibt, dass er nun keine weitere Diskussion mehr dulde. Noch einmal geht ein heftiger Ruck durch seine Hose, als er sie mit den Worten hochzieht: „Knick vorn, aufliegen am Absatz hinten, basta! Besser ein paar Zentimeter mehr, als Hochwasser zu riskieren“, und er beschließt, die leidige Stilfrage für „unten ‘rum“ von nun an selber zu entscheiden.

Sie

Perfekt! Sie ist die Beste, lebendig, interessant – sie ist einzigartig, so, wie er sie sich vorgestellt hat. Er ist glücklich – könnte jubeln. Diese Nacht wird eine gute Nacht – sie wird neben ihm liegen.

Zufrieden schlägt er die Bettdecke zurück, beginnt sich langsam zu entkleiden – ohne sie dabei aus den Augen zu lassen, und nicht ohne sie hin und wieder zu berühren. Wieder greift er nach ihr – noch einmal vor dem ersehnten Schlaf – sinkt auf den Bettrand – schaut sie an – sehr lange, erst liebevoll, dann kritisch… Wie konnte er nur…? Wie konnte er denken, sie sei vollkommen? Nervös streicht seine Hand über sie. Wieder beginnt es in seinem Kopf zu arbeiten. Er wird sie ändern müssen! Er muss sie ändern! Wäre doch gelacht, wenn sie sich nicht zurechtbiegen ließe!

Stunde um Stunde vergeht. Seine Augen beginnen zu brennen. Seine Kraft schwindet. Es ist vier Uhr morgens. Er kann nicht mehr.

Als er nach kurzem, unruhigem Schlaf erwacht, liegt sie da, in der grellen Morgensonne, verunstaltet von unzähligen Wunden, die er ihr zugefügt hat. Lustlos hängt sein Blick an ihr. Ob er es doch noch einmal versuchen soll? – Ein letztes Mal stürzt er sich auf sie…

Langsam schwindet der Nebel in seinem Kopf. Er wird locker, frei, schäumt über wie perlender Sekt… Geschafft! Seine Augen tasten sie ab – er sollte – Schluss! Nichts sollte er mehr! Jetzt bleibt sie, wie sie ist. Nur schwer kann er es sich recht machen. Aber nach den Tagen der Anspannung, der beflügelnden Erregtheit hat er vielleicht schon den Blick für sie verloren.

Noch einmal betrachtet er sie. Sein Gesicht entspannt sich. Die Mühe hat sich gelohnt…

Es ist eine gute Geschichte geworden.

Aber wenn es doch gut tut…

Arbeitswut trieb mich neulich in den Keller. Aufräumen war angesagt. In jeder Ecke Gerümpel und Kisten, angefüllt mit Dingen – irgendwann mal aus dem Leben geworfen –,, Abfall aus gelebter Zeit.

In einer dieser Kisten ruhte ein ganz besonderes Erinnerungsstück – eine mit edler Spitze gearbeitete Bluse. Sie war aus der Zeit, als Schwiegermuter noch über mich herrschte – sie mir beizubringen versuchte, eine gute Ehefrau und Dame zu werden. Ich trug diese Bluse zu einem petrolfarbenen Kostüm, zu dem meine Lehrmeisterin mir dann auch noch einen weißen Hut, Spitzenhandschuhe und Handtasche verordnet hatte. All dies gehöre zu einer richtigen Dame – meinte sie. Schwiegermama wusste immer, was für mich gut war…

Obwohl ich Kostüm und Bluse lieb gewonnen hatte, musste ich mich irgendwann von beiden trennen. Sie waren zu aufdringlich geworden, schmiegten sich an meinen Körper, als wollten sie mich erdrücken. Die Bluse mit der kostbaren Spitze wanderte zwecks Wiederverarbeitung in den Keller.

Nun lag sie zum Trennen auf meinem Küchentisch. – Gerade, als ich die Schere ansetzte, dachte ich, zieh sie doch mal an. Ich war selbst neugierig, was inzwischen aus mir geworden war, und zog die Bluse an. Dieses Experiment gelang aber nur, weil sie ärmellos und auf-knöpfbar war. Das Vorderteil reichte mir im Umfang nur noch von einer Brustwarze zur anderen. Die Armlöcher umspannten meine Oberarme wie Schraubstöcke. Jede Bewegung schmerzte. Meine innere Stimme jauchzte, stachelte mein schlechtes Gewissen so richtig an, ha ha, damals habe ich dich gewarnt, als du glaubtest, dein Geheimnis wäre nur Medizin für deine Seele. Ich überhörte die Schadenfreude.

Mit ausgestreckten Armen stand ich vor Paul und sagte lachend: Kannst du dir vorstellen, dass ich da einmal reingepasst habe?

Sein grinsendes Gesicht kündigte schon eine seiner ironischen Antworten an. Ich sei jetzt eine doppelte Existenz, meinte er.

Wenn er die Ursache meiner Verdoppelung wüsste – fast hätte ich sie ihm verraten, aber tat es dann doch nicht. Es war mein Geheimnis und so sollte es auch bleiben.

Verstohlen schaute ich in den Spiegel, strich mit den Händen über meinen Körper und sagte zu mir: Na, du altes Modell, bist ganz schön gepolstert. Eine doppelte Existenz bist du. Ich ging näher an den Garderobenspiegel heran, um mich genauer betrachten zu können… Da sind diese kleinen Schwellen um Augen, Mund und Wangen – sie erinnern an eine verkehrsberuhigte Straße. Ja, das ist ein guter Vergleich. Immer wieder versuche ich mit den Daumen rechts und links der Wangen die Haut

zu den Ohren hin etwas zu straffen – sozusagen nach meinem Jugendantlitz zu forschen. – Eine vage Erinnerung ist da schon noch. – Der Lack ist ab. Was soll’s? Schönheit und Weisheit gesellen sich eben nur selten. – Ich werde mich jetzt mit der Weisheit begnügen müssen.

Schließlich kann man nicht alles haben. Dafür aber schwimme ich jetzt, wie es irgendwo geschrieben stand, auf der so genannten zweiten Leistungswelle. Sollen die schönsten Jahre des Lebens sein. Ha, ha! Abwarten! Irgendwo und irgendwann wird sich diese Leistungswelle ja bemerkbar machen…

Irgendwo? – Wieder der kritische Blick in den Spiegel – Warum nur gehen die Pfunde statt in die Breite nicht in die Länge? Und warum wird im Alter die Körperkraft weniger, während die Pfunde mehr werden…?

Was mein weit geschnittenes Kleid nun wieder ausfüllt, beunruhigt mich jetzt doch ein wenig. Auch meine Taschen werden größer, sind mit den Jahren genauso gewachsen wie der Stoffverbrauch für meine Kleider. Was schleppe ich auch alles mit mir herum? Zellstoffartikel, Faltencreme, Puderdose, Pillchen für den Kreislauf, gegen Kopfschmerzen, Herztropfen, ich weiß nicht, was noch alles. Die neue Tasche zeigt auch schon wieder Beulen. Aber – ach, gerade wollte ich sagen, besser die Tasche als ich. Doch der Blick in den Spiegel gebietet mir zu schweigen. Was ist denn geworden aus der weich fließenden Linie meines erst kürzlich neu erworbenen Kleides, unter dem sich alles so toll verbergen ließ? Nun muss ich schon wieder die Garderobe erneuern! Ja, ja, mein süßes Geheimnis fängt wirklich an, mir Kummer zu bereiten – Vielleicht sollte ich doch nicht mehr – oder wenigstens weniger?

Aber – hat Paul nicht neulich gesagt, rundliche Frauen wären gemütlich, gutmütig und warmherzig? Dann mag er doch pummelige Frauen! Und wenn Paul pummelige Frauen mag, warum sollte ich da nicht mein Geheimnis lüften und ihm endlich sagen, dass es die Champagnertrüffel sind, die mich immer pummeliger werden lassen. Dann wäre endlich Schluss mit den Heimlichkeiten, und ich könnte ohne schlechtes Gewissen und in aller Ruhe meine geliebten Trüffel weiter essen…

Und was wäre, wenn Paul doch anders dächte und ich am Ende wirklich verzichten sollte? Was bliebe mir dann noch, ohne diese braunen, sahnigen, in Zucker gehüllten Köstlichkeiten? Sie sind es doch, die all meine geheimen Sehnsüchte überwinden helfen. Sie sind es doch, die mir Freude am Leben und die Kraft dazu geben, wo doch Kraft und Freude im Alter ohnehin mehr und mehr nachlassen…