Gespräch und Gegenwart - René Scheu - E-Book

Gespräch und Gegenwart E-Book

René Scheu

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Beschreibung

Was löst ein gutes Gespräch aus? Der NZZ-Feuilletonchef René Scheu führt regelmässig Interviews mit grossen Persönlichkeiten zu Fragen über Kultur, Politik und Gesellschaft. Für Scheu stellt der Dialog ein Gegengewicht zur Social-Media-Beliebigkeit dar. Alle schreien, viele schweigen, die wenigsten sprechen noch miteinander. Das ist der Befund, der für das Zeitalter der sozialen Medien gilt. Doch gerade im digitalen Zeitalter sind Gespräche notwendiger denn je. Sie finden von Angesicht zu Angesicht statt, in der Präsenz zweier Menschen, zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Raum, hier und jetzt. Im Gespräch entwickelt sich zwischen zwei Menschen eine intellektuelle Intensität und Dynamik, die über das bisher von ihnen Gedachte und Gewusste hinausweist. Was so entsteht, ist für sie – und für die Leser – ein Denk- und Sprachabenteuer, im besten Fall schaffen sie etwas Neues. René Scheu präsentiert im Band seine besten Gespräche mit unterschiedlichen Protagonisten des Zeitgeschehens, Stanford-Professor Hans Ulrich Gumbrecht beleuchtet in einem Essay die Bedeutung des Gesprächs als literarische Form. Gespräche mit Peter Sloterdijk, Niall Ferguson, Peter Thiel, Wolfgang Beltracchi, Francis Fukuyama, Mary Rorty, Condoleezza Rice, Peter Handke, Jonathan Franzen, Steven Pinker, Rüdiger Safranski, Jörg Baberowski, Daniel Kehlmann, Robert Harrison, Slavoj Zizek, Mario Vargas Llosa.

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René Scheu

Gespräch und Gegenwart

Reden über (und gegen) den Zeitgeist

Herausgegeben vonHans Ulrich Gumbrecht

NZZ Libro

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel

Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2020 (ISBN 978-3-907291-02-3)

Lektorat: Ulrike Ebenritter, Giessen

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

ISBN E-Book 978-3-907291-03-0

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.

Für Isabella und Immanuel

INHALTSVERZEICHNIS

MONOLOG ZUM AUFTAKT

Hans Ulrich Gumbrecht: «Hand aufs Herz» – Interview als Gattungsgeschichte und der Moment von René Scheu

ZWANZIG INTERVIEWS

CORONA – PHILOSOPHISCH UND LITERARISCH

Markus Gabriel: Gut gelaunter Jungspund

Robert Harrison: Italianist im Baumhaus

KULTURHELDEN DER GEGENWART

Wolfgang Beltracchi: Künstler ohne Tabu

Xenia Tchoumitcheva: Eiserne Lifestyle-Performerin

Peter Maffay: Grundanständiger Rockstar

Robert Hunger-Bühler: Der Mann mit der ruhigen Stimme

Zucchero: Der Mann mit der sonnigen Stimme

Mario Vargas Llosa: Lateinamerikas Gesicht in Madrid

Peter Handke: Literarischer Pilzsucher

Jonathan Franzen: Lärmsensibler Ironiker

Daniel Kehlmann: Bestsellerautor aus einer anderen Zeit

TYPEN AUS DEM SILICON VALLEY

Mary Rorty: Heitere Philosophin

Peter Thiel: Paläophilosoph in Los Angeles

Sam Ginn: Superjunger KI-Pionier

Russell Berman: Geheimnisvoller Professor

Condoleezza Rice: Eindrückliche Frau, zierlich und stark

Francis Fukuyama: Der meistmissverstandene Intellektuelle

Niall Ferguson: Der Bodybuilder unter den Historikern

DENKER MIT ÜBERSICHT

Steven Pinker: Vollzentrierter Starpsychologe

Peter Sloterdijk: Feinsinniger Philosophiestar

ZUM SCHLUSS: GESPRÄCH ÜBER INTERVIEWS

Hans Ulrich Gumbrecht interviewt René Scheu: Denkseele mit Oberarmmuskeln

QUELLENANGABE UND DANK

BILDNACHWEISE

BIOGRAFISCHE ANGABEN

MONOLOG ZUM AUFTAKT

«Hand aufs Herz» – Interview als Gattungsgeschichte und der Moment von René Scheu

Von Hans Ulrich Gumbrecht

Natürlich geht jeder Text, den wir «Interview» nennen, auf ein Gespräch zurück – oder, um es genauer zu sagen, wir unterstellen, dass Interviews dies immer beanspruchen. Unter den Grundformen von Kommunikation standen Gespräche seit je hoch im Kurs – aus einer ganzen Reihe von Gründen. Sie gelten als offen, freundlich, demokratisch, besonders im Vergleich zu allen Formen monologischer Rede oder Schrift. Seit Platos sokratischen Dialogen werden Gespräche mit einem «mäeutisch» genannten Gestus der Vermittlung assoziiert, das bedeutet, mit einer Technik des Überzeugens, die Wahrheiten angeblich «wie eine Hebamme» aus dem Geist der Lernenden holt, statt sie ihnen aufzuerlegen. Daran ist die Hoffnung geknüpft, in Gesprächen intellektuell weiter zu gelangen als mit einsamer Konzentration. Denn in Gesprächen kann es zu Ereignissen kommen, also zu Einsichten, Entwicklungen oder manchmal auch Fehlern, die sich beileibe nicht ereignen mussten. Vor allem aber sollen sich in Gesprächen Wahrheiten zeigen, die ohne sie – also in monologischer Rede oder Schrift – unter den Wörtern ungesagt blieben.

Zum bildungsgesättigten Loblied auf das Gespräch gehört eine Gegenbilanz, die fast ebenso regelmässig heraufbeschworen wird – und kaum weniger konventionell klingt: Gespräche, weiss man, können als durchtriebene Strategien wirken, um monologische Positionen ohne Widerstand zu etablieren; als Instrument eines pädagogisch guten Willens, der in Psychoterror umzukippen droht; als scheinbar bewegte Inszenierungsform intellektueller Stagnation; und als langfristiges – wenn nicht definitives – Versiegeln von Wahrheit unter einem Simulakrum ihrer Erscheinung. Mit der durch Jean Baudrillard und Jacques Derrida inspirierten Formel vom «Simulakrum einer Erscheinung der Wahrheit» nähere ich mich bewusst dem – mittlerweile mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegenden – Impulsmoment der Dekonstruktion als philosophischer Bewegung, nämlich Jacques Derridas Buch La Voix et le Phénomène von 1967, das damals der klassischen Kritik an der Aura des Gesprächs eine aufregende Aktualität und Prominenz gab. Eben mit der Inszenierung einer Gesprächssituation als angeblichem Ursprung von geschriebenen Texten, dies war Derridas These, habe Plato in seinen Dialogen den entscheidenden Schritt hin zur Präsenz-Metaphysik der europäischen Philosophie vollzogen und mithin zum Glauben an die Existenz einer einzigen, homogenen Wahrheit.

Zu einer Art Sündenfall wurde dieser Schritt freilich erst, indem die Dekonstruktion der platonischen Priorität von Gespräch und Mündlichkeit die von Derrida (und bald auch von seinen damals zahllosen Anhängern) favorisierte Option einer Priorität der Schrift entgegensetzte. In ihr als Medium sollte jegliche Homogenität oder jeglicher Abschluss von Wahrheit den Status eines unendlichen «Aufschubs» annehmen, weil man ja jedem «letzten» Wort oder «letzten» Satz immer noch einen weiteren Satz oder ein weiteres Wort hinzufügen könne.1 Genau darauf bezogen sich allzu viele, allzu geistreiche Wortspiele mit dem aus dem französischen Verb «différer» («aufschieben») abgeleiteten Nomen «différance». Doch was für eine Verbindung zwischen Gespräch und Mündlichkeit einerseits und andererseits homogener Wahrheit und Präsenz-Metaphysik war dabei eigentlich unterstellt? Wie sollte nach Derrida die platonische Vorstellung von einem Gespräch das in der Schrift sichtbar werdende Wahrheits-Aufschub-Prinzip unsichtbar machen? Die Dekonstruktion setzte in diesem Zusammenhang – für mich plausiblerweise – auf den generellen Eindruck (eher als auf die Gewissheit), dass sich im Gespräch die Einheit und Ganzheit eines menschlichen Bewusstseins, also eines Subjekts, artikuliere. Denn wir setzen in einem Gespräch ja voraus, dass der andere für sein jeweiliges Wissen steht, für seine Weltsicht, für seine Wahrheit – als das jeweils ganze Wissen, die ganze Weltsicht, die ganze Wahrheit eines Subjekts.

Doch warum gehe ich zu den brillanten Interviews von René Scheu aus den letzten Jahren eigentlich über den Umweg der Dekonstruktion als einer fast schon fernen Vergangenheit? Weil jedes Nachdenken über das Interview als besondere Form des Gesprächs, so meine Antwort, philosophisch naiv bleiben muss, wenn sie nicht die Prämisse beachtet, dass es sich unvermeidlich im Spannungsfeld zwischen dem klassischen Lob des Gesprächs und seiner ebenso klassischen Kritik vollzieht. Erst mit dieser Einsicht gewinnt man ein ironisch-distanziertes Verhältnis zu beiden Seiten der Debatte über das, was das «Gespräch» ist und sein sollte. Innerhalb des Spannungsfelds, also auch selbstironisch – und nun schon mit den Scheu-Interviews im Visier –, möchte ich nun die Ursprungskritik der Dekonstruktion am Gespräch ins Positive umkehren.

Gerade weil wir uns heute – existenziell wie epistemologisch – in einer Situation grundlegender Unsicherheit wiederfinden, in einem Universum von Kontingenz und im permanenten Bewusstsein intellektueller Unabschliessbarkeit, sehnen wir uns – legitimerweise – nach der Geschlossenheit, Prägnanz und Authentizität von Subjekten (wir können sie auch weniger philosophisch «Gestalten» nennen). Die Interviews von René Scheu – das ist meine Sicht, die ich nun zum ersten Mal erwähne, um sie dann in der Komplexität ihrer verschiedenen Dimensionen zu begründen – kommen genau dieser Sehnsucht unserer Zeit nach greifbaren Gestalten entgegen, ohne ihre Leser in falschen Sicherheiten zu wiegen. Um ein elementares Funktionspotenzial der Rede geht es hier also – viel mehr als um spezifische Inhalte. Und so drängen die drei Worte «Hand aufs Herz», die Lieblingsformel von Scheu in seinen Interviews, auf Authentizität in der Selbstpräsentation von Gestalten, auf eine manchmal riskante, aber unnachgiebig geforderte und durchgehaltene Ehrlichkeit, die Geschlossenheit in Aussicht stellt. Noch einmal anders gesagt: Als Autor dieser Interviews produziert und präsentiert René Scheu oft Gestalten, die kohärent erscheinen und an denen man sich festhalten kann, ohne dass sie ihre Leser auf unklare metaphysische Voraussetzungen oder gar auf einen Konsens mit den Positionen jener Gestalten verpflichten.

Ein solches Verständnis der Scheu-Interviews und ihrer Gesprächstechnik werde ich über die Skizze einer Gattungsgeschichte und dann über eine Analyse der Interviewtexte selbst zu entwickeln versuchen. Obwohl man erstaunlich wenige Vorarbeiten zur Gattungsgeschichte des Interviews findet, habe ich mich an eine solche Skizze gewagt, weil erst vor ihr als Hintergrund klar genug werden kann, von welcher historisch gewachsenen Konstellation meist wohl vorbewusster Erwartungen die Praxis von Scheu ausgehen musste – und mit jedem seiner Interviews weiterhin ausgeht. Und erst im Kontext dieser Konstellation gewinnen die Formen seiner Gespräche ihre jeweils spezifischen Funktionen, die dann in der Emergenz prägnanter Gestalten zusammenlaufen.

*

Beim Versuch, aus der Perspektive von «Gattung» über den von René Scheu praktizierten Typ des Interviews nachzudenken und zu schreiben, bin ich auf zwei Probleme gestossen. Zum einen erfüllen die meist verschriftlichten Gespräche, die wir «Interviews» nennen, eine beträchtliche Vielfalt verschiedener Funktionen, etwa als Einstellungsgespräche («job interviews»), als sozialwissenschaftlich genormte Forschungsgespräche («research interviews») oder als im Feuilleton von Tageszeitungen veröffentlichte Gespräche. Den Feuilleton-Interviews, auf die wir uns konzentrieren, scheint es primär um das Gegenwärtigmachen (in der Tat: um das Heraufbeschwören) von Persönlichkeiten zu gehen, aber oft auch um die Entfaltung von Wissen (wobei sich beide Funktionen natürlich überlappen können). Es handelt sich also um eine Untergattung, die sich nicht auf eine einzige Funktion festlegen lässt.

Die grössere Herausforderung für eine Gattungsgeschichte liegt jedoch in der Tatsache, dass die textuellen Formen von Interviews auf Gespräche zurückgehen, die unter spezifischen institutionellen Bedingungen stattfinden, ohne dass solche Bedingungen notwendigerweise einen Niederschlag in den Texten hinterlassen. Deshalb sind etwa alle Annahmen über den historischen Beginn der Persönlichkeits- und Wissens-Interviews grundsätzlich prekär. Historisch gesehen setzt die Subgattung des Persönlichkeits- und Wissens-Interviews erstens die Institution der Tages- und Wochenpresse voraus; zweitens deren Freiheit, bestimmten Texten keine spezifische Funktion (oder höchstens die vage Funktion der «Unterhaltung») zuordnen zu müssen; drittens wird ihr Beginn meist mit dem dritten Viertel des 19. Jahrhunderts und den Medien jener Zeit verbunden; und hinzu kommt viertens, dass die Gattung und ihr Name zuerst in den Vereinigten Staaten auftauchten, um erst Jahrzehnte später in Europa Fuss zu fassen.2

*

Noch um 1850 sahen selbst in den Vereinigten Staaten angesehene Zeitungsautoren und Reporter die Veröffentlichung von Gesprächen, die Eindrücke oder gar Details aus der Privatsphäre berühmter Gestalten zur Sprache brachten, als «poor journalist conduct» an, als «unwarranted invasion of privacy» oder als ein «indelicate and offensive parading of personalities», das Journalisten von «Interpreten der Gegenwart zu blossen Schreibern» herabstufe. Doch zugleich wurde ein Hunger der Leser nach «the real thing» deutlicher als je zuvor, nach «the state of mind of the nineteenth century» und nach «life as it was» – wozu «neu erschlossene Fakten» aus der Privatsphäre prominenter Gestalten gehören sollten. Woher kam auf der einen Seite dieses neue intensive Bedürfnis nach privater Wirklichkeit, in dessen Befriedigung sich die Massenpresse entwickeln sollte, und woher auf der anderen Seite jener nachhaltige Widerstand gegen die Verbreitung solchen Wissens, der offenbar in Nordamerika noch am frühestens gebrochen wurde? Jene hierarchischen Ständegesellschaften Europas, aus denen die Einwanderer gekommen waren, hatten den Einblick in das nicht repräsentative, «wirkliche» Leben der jeweils höheren Stände mit einem prinzipiellen Tabu umgeben, und zugleich pflegte jeder Stand sein homogenes Weltbild, das nicht durch Alternativen oder Abweichungen von aussen infrage gestellt wurde. Selbst jene private «Menschlichkeit», mit der vor allem Mitglieder der bürgerlichen Schichten im 18. Jahrhundert den neuen Raum der aufgeklärten Öffentlichkeit füllen und konstituieren wollten, war ja eine solche normative, sozusagen «keimfrei» kohärente Version familiären Glücks.

In dem Mass nun, wie über das 19. Jahrhundert vor allem in der Neuen Welt Kontakte zwischen den Mitgliedern ehemals voneinander abgeschotteter Stände zunahmen und zugleich die religiösen Institutionen immer weiter hinter der Aufgabe zurückblieben, ein übergreifend verbindliches Bild vom Leben zu stiften, muss der Stellenwert des Wirklichen zu einem verwandelten Status aufgestiegen sein. Er lag in der zuerst noch kaum bewussten Erwartung und Hoffnung, dass sich aus der Wirklichkeit und aus ihren Fakten eine neue, auch gemeinschaftlich verbindende Ordnung ergeben könne. Naturgemäss schmolz in der adelsfreien amerikanischen Gesellschaft der Vorbehalt von Prominenten «besserer Herkunft» schneller, Journalisten Zugang zu ihrem Privatleben zu gewähren. Am Ende freilich lassen sich der neue, die Privatsphäre einschliessende Faktenenthusiasmus und die entsprechende Entwicklung der Tagespresse nur dokumentieren – eine kohärente geschichtsphilosophische Deutung kann man diesen Tendenzen kaum abgewinnen. Um 1880 jedenfalls hatte sich die Idee des Persönlichkeits-Interviews in den Vereinigten Staaten «wie ein Steppenfeuer» verbreitet, während es nur allmählich in den englischen Zeitungen, dann im nördlichen Mitteleuropa (besonders dem Zweiten Deutschen Kaiserreich) und schliesslich nach der Jahrhundertwende auch in den Mittelmeerländern zu ersten, eher zögerlichen Versuchen mit der Gattung kam.

Damals erschütterte und begeisterte die Welt von New York schon ein Zeitungskrieg zwischen der New York World und der New York Sun, zwischen Joseph Pulitzer und William Randolph Hearst, die in gnadenloser Rivalität aus dem Hunger nach «Fakten» eine Sucht der «Sensationen» machten. Kein sozialer Raum war in dieser Hinsicht explosiver und attraktiver als das Privatleben der Prominenten, was Pulitzers bindende Anweisung und Anforderung für seine Reporter erklärt: «A vivid picture of his domestic environment, his wife, his children, his animal pets etc. – those are the things that bring the famous man clearly more home to the average reader than would his most imposing thoughts, purposes or statements.» Auf der anderen Seite galt unter amerikanischen Journalisten nun aber auch schon als ausgemacht, dass «nichts das wahre Selbst besser verbergen könne als ein Interview – es sei denn weitere Interviews».

Was ich als Spannungsfeld von zwei entgegengesetzten philosophischen Auffassungen des Gesprächs beschrieben habe, war also in der vor allem amerikanischen Frühgeschichte des Interviews zu einem Kontrast zwischen seinem Gebrauch als Medium der Ent-Hüllung und als Medium der Ver-Hüllung individueller Identität geworden. Daraus erwuchs während der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts – in meiner Sicht: während der ungekrönt grossen, jedenfalls der heroischen Epoche des Persönlichkeits-Interviews – ein komplexes Syndrom von «Authentizität», das nach den «Fakten» nun auch die «Sensationen» als Leitbegriff der Gattung ablösen sollte.3 Denn wenn der Faktenhunger und die Emergenz des Interviews als Gattung nach der Mitte des 19. Jahrhunderts noch auf das Gefühl reagiert hatten, dass sich die neue Vielfalt simultaner Welterfahrungen nicht mehr, wie früher, in einem einzigen, übergreifenden Weltbild auffassen liess, so wurde der Erste Weltkrieg als traumatische Schwelle von Zeitgenossen mit dem noch radikaleren Gefühl beschrieben, «den existenziellen Grund unter den Füssen verloren zu haben», ja sogar die Natur selbst und nicht nur die Annahme einer ihr impliziten Ordnung.

Es war die Mission der sich in jener Gegenwart ausformenden Totalideologien des Kommunismus und des Faschismus, aber auch einer Reihe weniger massiv organisierter Bewegungen, die verlorene Gewissheit eines Grundes und der Natur durch eigene Welt- und Wertentwürfe zu ersetzen. Die meisten dieser Entwürfe fassten sich entweder als «künstlich» oder als «authentisch» auf: als bewusst und programmatisch «künstlich», indem sie – wie etwa die Manifeste des Futurismus oder des Surrealismus – an die Stelle einer versunkenen alten Ordnung neue, geschaffene, eindimensionale, betont materielle Wirklichkeiten stellen wollten. Als «authentisch» galt dagegen das Versprechen, verdrängte, vergessene oder vernachlässigte Ordnungen der Vergangenheit wiederentdeckt und neuen Weltbildern zugrunde gelegt zu haben.

Anders als Künstlichkeit setzte und setzt Authentizität also zwei Wirklichkeitsebenen voraus. Man kann sie die Ebene des Grundes und die Ebene der auf ihr beruhenden Erscheinungen nennen. In diesem Kontext kam der nun mit einem Mal emblematischen Rolle des Journalisten eine doppelte Aufgabe zu, aus der sich zwei Textformen weiterentwickelten: zum einen die «Reportage» als Beschreibung des Erlebens neuer Erscheinungen, eines Erlebens noch ohne die Zeit für Tiefe und Interpretation;4 zum anderen das Persönlichkeits-Interview als ein Gespräch in Konzentration auf die beiden Dimensionen von Erscheinung und Grund. Es war ein Gespräch, das entweder Authentizität als organische Beziehung zwischen Erscheinung und Grund bei den Protagonisten verschiedenster Weltbilder bestätigte oder gerade deren innere Spannungen und Widersprüche sichtbar machte und ausleuchtete. Sowohl organische als auch widersprüchliche Porträts aber setzten erstens Authentizität als normativ-existenzielle Grundstruktur voraus und konnten zweitens – ganz unabhängig vom positiven oder negativen Bild, das der jeweilige Gesprächspartner hinterliess – die gelingende Authentizität des Interviews selbst bestätigen.

Unter diesen Prämissen wurde das Interview zu einer zentralen, zwar eher sparsam, aber besonders wirkungsvoll bespielten Bühne für eine Gegenwart markant charismatischer Persönlichkeiten in Politik, Wissenschaft und Kultur, für eine komplexe Gegenwart, die auf Authentizität fixiert war, sich an ihr festhalten wollte – und an ihr scheiterte. Um 1929 muss etwa die singuläre Bedeutung Albert Einsteins als Naturwissenschaftler für die Leser eines Gesprächs in der Saturday Evening Post so klar festgestanden haben, dass der Reporter ohne weitere Vorbereitung ihre Aufmerksamkeit auf eine Selbstbeschreibung seines Denkens lenken konnte: «I am enough of an artist to draw freely upon my imagination. Imagination is more important than knowlegde. Knowledge is limited. Imagination encircles the world.» Es folgte die obligatorische Bitte des Journalisten um eine allgemein verständliche Definition des Begriffs «Relativität» und um eine Illustration seiner Konsequenzen, bevor sich das Gespräch in einem damals typischen, zwischen komprimierten Beschreibungen und wörtlichen Zitaten oszillierenden Diskurs wieder dem privaten Leben des Nobelpreisträgers zuwandte: «Einstein, himself, didn’t indulge in any relativism. He was a man of strong beliefs, not equivocations. For instance, his love of music was absolute: ‹If I were not a physicist, I would probably be a musician. I often think in music. I live my daydreams in music. I see my life in terms of music. I cannot tell if I would have done any creative work of importance in music, but I do know that I get most joy in life out of my violin.›» Mit seiner Musikliebe und anscheinend bescheidenen Zurückhaltung bezüglich der eigenen Talente wirkt der private Einstein nicht nur sympathisch; aus der Konvergenz zwischen seiner Betonung der Rolle von Imagination für das wissenschaftliche Werk und den privaten Tagträumen, die sich «in Musik» artikulieren sollten, ergibt sich auch der Eindruck einer organischen Authentizität.

Ganz anders ein Interview, das George Sylvester Viereck 1923 für den Manchester Guardian mit Adolf Hitler führte, den Europa damals als «Deutschlands Mussolini» zu entdecken begann.5 Hier wurde im Wechsel von Zitaten und kurzen Beschreibungen – vor dem Hintergrund von Hitlers deutlicher Bemühung um ideologische Authentizität – eine Inkonsistenz spürbar, die der Text gar nicht explizit machen musste: «‹Why›, I asked Hitler, ‹do you call yourself a National Socialist, since your party programme is the very antithesis of that commonly accredited to socialism?› ‹Socialism›, he retorted, putting down his cup of tea pugnaciously, ‹is the science of dealing with the common weal. Communism is not Socialism. Marxism is not Socialism. The Marxists have stolen the term and confused its meaning. I shall take Socialism away from the Socialists. Socialism is an ancient Aryan, Germanic institution.›» Ganz ähnlich endet das Gespräch: «‹In my scheme of the German state, there will be no room for the alien, no use for the wastrel, for the usurer or speculator, or anyone incapable of productive work.› The cords on Hitler’s forehead stood out threateningly. His voice filled the room. There was a noise at the door. His followers, who always remain within call, like a bodyguard, reminded the leader of his duty to address a meeting. Hitler gulped down his tea and rose.» Der expliziten Gewissheit Hitlers in der Beschreibung seines Weltbilds widersprachen eine Anspannung, von der er sich offenbar nicht befreien konnte, und die Abhängigkeit von der Bürokratie seiner Partei. Nie fand er zu jener Gelassenheit, die allein ihn hätte authentisch wirken lassen.

Aus einem Interview schliesslich, das der damalige amerikanische Starjournalist Roy Howard am 1. März 1936 mit Stalin führte, ergab sich ein Gefühl für die Authentizität des Gesprächs und für die Inkonsistenz des Diktators weniger aus einer Spannung zwischen seinen Worten und der Beschreibung seiner Gesten als aus langen, durch keinerlei Reaktionen des Reporters mehr unterbrochenen Monologen, die fortschreitend den Kontakt mit der Wirklichkeit zu verlieren schienen. Am Ende einer eher hilflosen Antwort auf die Frage nach der Funktion von Wahlen in einem Ein-Parteien-System mündete Stalin in einen automatischen Rhythmus der Rede, der keinerlei Unterscheidungen oder Argumente mehr hervorbrachte: «Yes, election campaigns will be lively, they will be conducted around numerous, very acute problems, principally of a practical nature, of first class importance for the people. Our new electoral system will tighten up all institutions and organizations and compel them to improve their work. Universal, equal, direct and secret suffrage in the U.S.S.R. will be a whip in the hands of the population against the organs of government which work badly. In my opinion our new Soviet constitution will be the most democratic constitution in the world.» In solchen Passagen wird das Interview zur Dokumentation der damaligen Gegenwart, deren textuelle Evidenz fast keiner Kommentare und Interpretationen mehr bedarf.

*

Zu den seltenen Konsens- und Orientierungspunkten in der Geschichte der Presse gehört die Feststellung, dass sich der Fächer von journalistischen Formen und Funktionen, wie er in den Vereinigten Staaten seit dem späten 19. Jahrhundert entstanden war, auf dem europäischen Kontinent erst seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vollständig etablierte. Tageszeitungen, die weder auf die politischen oder kulturellen «Meinungen» bestimmter sozialer Gruppen noch auf strikt lokale Kommunikation ausgerichtet waren, hatte es dort vorher nicht gegeben – und ich erinnere mich noch deutlich, wie heftig meine in der frühen Mitte ihres Lebens stehenden Eltern und Lehrer Anstoss an der Herausforderung nahmen, dass nun mit einem Mal «Klatsch» als eine akzeptable Pressegattung gelten sollte (sprichwörtlich in dieser Hinsicht war der Name Elsa Maxwell). Doch weder in Europa noch in Nordamerika scheinen jene Jahre mit ihrer dankbar-restaurativen Stimmung eine Zeit wirklich intensiver Faszination für die verschlossenen Dimensionen im privaten Leben grosser Persönlichkeiten gewesen zu sein.

Zwei Wochen nach ihrem verzweifelten Selbstmord am 4. August 1962 zum Beispiel publizierte das Life Magazine ein Gespräch mit Marilyn Monroe unter dem Titel «Last Talk With a Lonely Girl» in der Form des inneren Monologs, dessen flach-freundlichen Ton wir entweder als Produkt eines anonym redigierenden Journalisten oder als Symptom für Marilyns Anpassung an die Erwartungen der zeitgenössischen Medien auffassen können: «Marilyn’s words revealed her own private view of Marilyn Monroe: ‹Sometimes wearing a scarf and a polo coat and no makeup and with a certain attitude of walking, I go shopping or just look at people living. But then you know, there will be a few teenagers who are kind of sharp and they’ll say, ‘Hey, just a minute. You know who I think that is?’ And they’ll start tailing me. And I don’t mind. I realise some people want to see if you’re real.›» Der Text liess Marylin so reden, als habe sie mit der Wirklichkeit ihres Selbst nie ein Problem gehabt – denn keine persönliche Tragödie durfte im Jahrzehnt der Petticoats und der Milchbars das gute soziale Gewissen stören.

Im Vordergrund der Interviewgattung hatten nach 1950 zunächst Gespräche mit Politikern gestanden, die den Strategien ihrer Wahlkämpfe folgten, wie die bis heute berühmte Unterhaltung von 1960 zwischen der Präsidentenwitwe Eleanor Roosevelt und dem Präsidentschaftskandidaten John F. Kennedy. Einer Zeit, die geneigt war, sich entschlossen von den dunklen Seiten im Leben ihrer Protagonisten abzuwenden, scheint die Konzentration auf praktische Funktionen des Gesprächs leichtgefallen zu sein. Eher verhalten setzte deshalb eine für die Zukunft ausschlaggebende Entwicklung ein, nämlich die ersten Experimente mit Live-Talkshows auf verschiedenen Fernsehsendern.

Als Frühgeschichte dieser das Interview als Gegenwart und als potenzielles Ereignis neu inszenierenden Form gelten heute die halbstündigen Unterhaltungen, die Mike Wallace von 1957 bis 1960 auf ABC meist mit Protagonisten anspruchsvoller Kultur wie Pearl S. Buck, Salvador Dalí, Aldous Huxley oder Frank Lloyd Wright führte, aber auch mit Bundesrichtern, Psychoanalytikern oder Theologen. In Johnny Carsons Tonight Show vollzogen sich dann seit den frühen 1960er-Jahren entscheidende strukturelle Veränderungen. Dieses in verschiedenen Varianten bis 1992 fortgesetzte Programm wurde mehrfach (bis zu fünfmal) pro Woche ausgestrahlt, fand einen definitiven Ort im Spätabendprogramm und passte neben Schlagersängern, Sportlern und Fernsehstars nun auch namenlose Gestalten des Alltags in seinen alltäglichen Rhythmus ein. Unversehens war das Interview als Talkshow zu einem Teil des Alltags und seiner Selbstdokumentation geworden, es hatte bei den Showfans die Freizeit der durchschnittlichen Tage erobert – und mag als ein neues Ritual von Alltäglichkeit in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch Symptom für das Aufkommen einer neuen existenziellen Unsicherheit gewesen sein.

Unter solchen Voraussetzungen schrieben sich seit den 1970er-Jahren eine Reihe von Fernsehinterviews mit emblematischen Persönlichkeiten in das kulturelle Gedächtnis der Amerikaner ein: John Lennon 1972, Muhammad Ali 1974, Richard Nixon 1977, Federico Fellini 1992 und vor allem Michael Jackson 1993 als Gast von Oprah Winfrey, mit über 100 Millionen Livezuschauern der grösste Publikumserfolg in der Geschichte der Gattung. Vor allem die 1990er-Jahre wurden mit Programmen von David Letterman, Howard Stern und Oprah Winfrey, die den Stareffekt vom Gast auf den Gastgeber kehrten, zur absoluten Hoch-Zeit der Talkshows, die nun auch ausserhalb der Vereinigten Staaten ihre jeweiligen Äquivalente fanden. Historisch gesehen brachten sie als Gattung einerseits die Gegenwartseffekte des klassischen Persönlichkeits-Interviews zur Erfüllung und nahmen andererseits mit ihren gelegentlichen Gästen aus der Alltagswelt Aspekte der heutigen Realityshows vorweg. Doch schon im frühen 21. Jahrhundert kam die Talkshow als zentrales Live-Programm des linearen Fernsehens zu einem fast abrupten Ende. Kaum spektakuläre, aber für das Zuschauerverhalten einschneidende technische Innovationen führten zu jener bis heute fortschreitenden Individualisierung des TV-Konsums, die es keinem Programm und keinem Star mehr erlaubt, einen relevanten Teil der Bevölkerung in Gleichzeitigkeit zu versammeln. So ist die Gegenwart der Bildschirmmedien diffus geworden – und ihre charismatischen Gestalten gehören nun zum Fundus der Vergangenheit.

Doch immerhin wirkt die Talkshow als zentraler Kulturgestus einer jungen Vergangenheit nach. Sie hat dem Interview als Persönlichkeitsporträt eine vorher kaum vorstellbare Aufmerksamkeit und Aura gegeben, mit denen heute auch anspruchsvolle Journalisten rechnen können – und von denen sie profitieren. Zeitlich parallel mit der Expansion des klassischen Interviews zur Talkshow eroberte sich auch seine gedruckte Version einen mittlerweile gesicherten Ort unter den Formen geisteswissenschaftlicher Publikationen.6 Schon in den 1970er-Jahren, also gleichzeitig mit der Bildschirmrenaissance der Gattung, hatte eine neue Generation vor allem literaturwissenschaftlicher Archivzeitschriften das Interview mit Fachautoritäten zu einer zentralen Form ihres Repertoires ausgebaut. Dabei ging es naturgemäss primär um die Vermittlung oder Kommentierung neuen Wissens, neuer intellektueller Positionen und neuer Stilarten des Denkens, zunächst im Kontext einer inzwischen längst zum Ende gekommenen Phase geradezu hektischer Theoriedebatten. Zu dieser Funktion hatte sich als Bonuseffekt schon immer der Eindruck von persönlichen Begegnungen mit Protagonisten einer akademischen Teilwelt gesellt, die im vergangenen halben Jahrhundert in dem Mass an Popularität gewann, wie sie öffentliche Wissensautorität verlor.

Vor dem Gesamthintergrund dieser komplexen und wirklich erst in Ansätzen fassbaren Gattungsgeschichte wird deutlich, dass die Interviews von René Scheu, um die es in diesem Buch geht, drei verschiedene und doch miteinander verbundene Traditionen beerben. Sie erinnern in ihrem Anspruch, ihrem sprachlichen Niveau und vor allem ihrer eher vorbewussten Ausrichtung auf das Syndrom der Authentizität («Hand aufs Herz») an jene grossen Gespräche mit den Gestalten der Zwischenkriegszeit; sie stehen im Nachhall der unüberbietbar populären Talkshows aus dem späten 20. Jahrhundert als Dokumentationen und Feiern ihrer eigenen Gegenwärtigkeit; und sie folgen der Öffnung der Geisteswissenschaften auf ein mittlerweile gar nicht mehr so neues Publikum gebildet-interessierter Laien. Anders gesagt: Dank ihrer Gattungsgeschichte können Interviews heute die Aura individueller Authentizität, medialer Allgegenwart und unendlicher Gelehrsamkeit wecken und tragen.

Doch trotz meiner Bewunderung, aus der als erster Impuls dieser Band entstanden ist, will ich nicht verschweigen, dass auch drei Endzeitaspekte die Traditionen durchdringen, denen die Interviews von René Scheu folgen. Erstens steht den gedruckten Qualitätszeitungen als Medien der Massenkommunikation wohl schon aus wirtschaftlichen Gründen mittelfristig ein Abschied bevor (ich selbst bin alt genug für die Hoffnung, ihn nicht mehr erleben zu müssen). Zweitens liegt die intensive Lebhaftigkeit der charismatischen Talkshow-Momente, an die manche der Scheu-Gespräche erinnern, längst irreversibel hinter uns. Und drittens erlebe ich sogar die freundlich-wechselseitige Öffnung zwischen Geisteswissenschaften und Qualitätspresse als eine Abschiedsgeste, wie sie sich Institutionen in den Phasen ihrer letzten Auflösung gern leisten – und sicher nicht als einen Aufbruch zu neuen Zielen und Zeiten. Vielleicht sollten wir also die konkrete Brillanz der Texte von René wie das Strahlen eines letzten Akts erleben, wie eine Sonne, die wir in dem Bewusstsein geniessen, dass sie nicht wieder aufgehen wird.

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Nichts lag solch opulentem Endpathos ferner als meine Stimmung bei der ersten Begegnung mit dem damals 40-jährigen René Scheu. Im Frühjahr 2014 trafen wir uns an der Schweizer Sporthochschule in Magglingen. Walter Mengisen, der Rektor, hatte Gunter Gebauer aus Berlin, Peter Sloterdijk aus Karlsruhe und mich eingeladen, in einem Seminar den damals, vor dem Beginn der Fussballweltmeisterschaft in Brasilien, global gegenwärtigen Stellenwert des Sports zu diskutieren. Zu den Verpflichtungen vor Ort gehörte ein Interview für die mir noch unbekannte Zeitschrift Schweizer Monat mit ihrem Herausgeber, der in Philosophie promoviert hatte und dazu Italianist war. Als Romanisten mit philosophischen Ambitionen erwartete ich also einen – bestenfalls «aufgeschlossenen» – akademischen Kollegen zu unserem Termin am letzten Magglingen-Tag. Kein Wunder deshalb, dass ich den jungen Mann mit dem muskulösen Oberkörper, der pünktlich in der Hotellobby erschien, über die ganze Zeit der vorausgehenden Diskussionen für einen Sportstudenten gehalten hatte (einen Eishockeyspieler vielleicht oder einen Schweizer Sportsoldaten auf Offiziersniveau mit Skilanglauf als Fokus).

Es war René Scheu, und unser Gespräch, das er gleich ohne Umstände begann, setzte mit einer Überraschung ein. Ausgerechnet in Magglingen und nach dem Seminar wollte er mit mir eben nicht vom Sport und seinem kulturellen Stellenwert reden: «Sie sind ein Sportfreak, zumal einer, der viel zum Thema publiziert hat. Lassen Sie uns darum über was ganz anderes reden.» Das sass – als angenehmer, wenn auch etwas verwirrender Anfangsimpuls. Und sofort spürte ich eine Energie, die mich – noch einmal eher angenehm – überwältigte: «In Ihrem Kopf dreht es sich immer, egal, wo Sie gerade sind. Das ist jedenfalls der Eindruck des Lesers.» «Stimmt, ich kann nicht abschalten», sagte ich fast schuldbewusst. Dann doch eine eher richtige Frage: «Was ist Ihnen auf Ihrer kleinen Tournee durch die Schweiz als engagierter Beobachter aufgefallen?» Aus der Defensive punktete ich: «Eine Patina», war die Antwort, «das Ausbleiben eines Ehrgeizes von Dauerrenovierung.» Damit hatte nun Scheu nicht gerechnet und reagierte mit etwas schematisch-nationaler Selbstkritik: «Erste Zerfallserscheinungen am helvetischen Wohlstandsperfektionsmus?» «Nein, Gelassenheit als nationale Attitüde, wie sie sich nur die Schweiz leisten kann.» Runde für Runde änderte sich unser Punktestand. Als ich von den Silicon-Valley-Stars schwärmte und ihrem Ehrgeiz, mit 30 ausgesorgt zu haben, konterte Scheu: Das ist die «früheste Suche nach lebenslangem Rentnerdasein». Doch da waren wir schon nicht mehr im Wettbewerb. Der Rhythmus blieb athletisch, aber jetzt spielten wir uns Fragen und Begriffe zu, in Strafraumnähe sozusagen, mit Torriecher, fluiden Rollen und tatsächlich ein paar neuen Gedanken, die wie Torschüsse wirkten. Seit dem Magglingen-Moment, auf Sichtweite der Eiger-Nordwand übrigens, ist René mein intellektuell-athletischer Freund geworden, der Meister des Interviews, auf dessen Pässe ich mich verlasse, für den ich Tore schiessen möchte – und noch mehr Leser aktivieren.

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Scheu-Interviews konkretisieren die Welt in einem warmen Licht, das bei aller Wärme nie verschwimmt: Sie lassen die berühmten Gestalten der Zeit gegenwärtig, die Typen des Alltags singulär, unser Wissen auf unvorhersehbaren Wegen dynamisch werden – und stehen dabei als Prozess so wenig im Vordergrund, dass niemand sich belehrt fühlen muss. Diskret sind diese Gespräche, ohne den Eindruck von Rückzug oder Bescheidenheit auszulösen. Aus denselben Gründen fällt es allerdings schwer, dem Regisseur und Autor René Scheu auf die Schliche zu kommen. Seine Präsenz spürt man in jedem Satz, aber daraus wird nicht leicht eine Stimme, ein Gesicht oder gar ein Markenartikel. Kein Passepartout lässt sich entdecken und keine zentrale Machart, eher so etwas wie eine Grammatik, ein unpersönlich wirkendes Ensemble von Formen, das mit gelassener Gewissheit bestimmte Wirkungen produziert.

Untergattungen werden dabei nicht ohne Weiteres als Formen sichtbar, was uns veranlasst hat, die 20 Gespräche dieses Bands eher thematisch-ondulierend aufzustellen: von der Corona-Gegenwart zu grossen, aber auch zu scheinbar anonymen Gestalten von heute; von den heutigen Gestalten nach Silicon Valley, einer Lieblingswelt von René; von Silicon Valley zu Power-Intellektuellen unserer Zeit – und zurück zu Corona. Dabei deuten sich dann doch Untergattungen an in den Funktionen der Texte und in den Vergangenheiten, die hinter ihnen stehen. So wie Eleanor Roosevelt 1960 John F. Kennedys Persönlichkeit hell aufscheinen liess, lässt René die ehemalige amerikanische Aussenministerin Condoleezza Rice als Hochschullehrerin in einer späten Etappe des Lebens scheinen, mit ihrer Bildung, ihrer Klarheit und ihren entschlossenen Ansichten. Kein Zweifel, dass er sie bewundert und seine Bewunderung weitergeben will. Peter Thiel, Markus Gabriel, Robert Harrison oder Peter Sloterdijk helfen René, Wissen und Ideen in Bewegung zu bringen, weshalb die besten Passagen dieser Gespräche an Interviews mit den Geistesheroen des späten 20. Jahrhunderts erinnern: Eher können sie Leidenschaften des Denkens wecken als Meinungen oder Parteinahmen bestätigen. Manchmal sucht René Scheu auch für seine Leser nach komplexen Antworten, die er selbst schon zu erahnen scheint: Er fragt den genialsten Kunstfälscher aller Zeiten nach dem operativen Selbstverständnis seines Werks; einen gerade volljährig gewordenen Milliardär nach seinen Zukunftserwartungen; und einen Geisteswissenschaftler, warum er auf Donald Trump setzt.

Am meisten aber fasziniert mich die vierte, die klassische, in die Talkshows eingegangene und jetzt ihrem historischen Ende nahe Interviewvariante, in der René Scheu Porträts unter der Prämisse von Authentizität entstehen lässt. Porträts so konkret eben, so fast altmodisch konkret und konturiert, dass mir beim Lesen ganz normale Schlagersänger mit ihren pseudoexistenzialistischen Liedern wichtig wurden, die ich noch nie gehört, und Schönheitsköniginnen, die ich noch nie gesehen hatte. So konkret auch, dass ich mich gefragt habe, ob nicht das Pilzesammeln oder das Bleistiftespitzen die eigentliche Berufung von Peter Handke ist – und ein politisch ruhiges Gewissen das wahre Lebensziel seines Literaturnobelpreis-Kollegen Mario Vargas Llosa. In ein paar Interviewfällen schliesslich kommt es zu Ereignissen. Wenn zum Beispiel ein Gesprächspartner René Scheu mit der allerersten Bemerkung auf dem falschen Fuss erwischt – wie Steven Pinker, der Medien und Journalisten die Schuld für das paranoide Weltbild von Milliarden Zeitgenossen zuschiebt –, dann räumt René keinesfalls das Feld, sondern kämpft sich zurück (wieder die athletische Geste) und gewinnt an Terrain, um bestenfalls doch noch Verschiebungen in der Gegenansicht auszulösen.

Die Funktionen dieser verschiedenen Interviewformen sind also vielfältig und vielleicht sogar zentrifugal. Nur ein einziger Effekt kehrt immer wieder. René eröffnet jedes Gespräch mit einer spezifischen und wohl immer überraschenden Herausforderung an sein Gegenüber, mit einem intellektuellen Problem, einer These, einer Provokation, mit einer Herausforderung jedenfalls, die auf den Ton der Unterhaltung einstimmt und über ihn entscheidet. «Herr Gabriel, perfekt, es klappt also», heisst es – unter Corona-Bedingungen – im ersten Interview dieses Bands, «ich sehe ein Bücherregal, das neue Statussymbol im Skype-Quarantäne-Zeitalter. Sie sehen allerdings gar nicht lektürebleich, sondern kerngesund aus. Haben Sie Ihr Unwohlsein überwunden?» «Hand aufs Herz», wendet sich René an Zucchero, den italienischen Sänger, «wie ausgeprägt ist ihr Lokalpatriotismus?» Für Peter Handke beginnt er mit einem Kompliment: «Wow. Die sind ja wunderbar. Haben Sie die Pilze selbst gefunden?» Und Peter Thiel setzt er mit einer wohlinformierten Frage gleich in Szene: «Wir treffen uns hier in Los Angeles – und nicht in Palo Alto, wo Sie jahrelang tätig waren. Sie haben das Silicon Valley verlassen. Läuft etwas falsch mit dem Hotspot der Tech-Industrie?»

So vielfältig wie die Themen und Töne der Eröffnungsimpulse sehen auch die syntaktischen Formen der Gespräche aus, ihre Verlaufsstrukturen. Als Leser gewinnt man den Eindruck, dass René Scheu (der «wahre» René Scheu oder die von ihm im Text des Interviews kreierte Rolle?) immer eine Intuition hat, wohin das Gespräch gehen könnte, und doch offen genug bleibt, um auf Überraschungen, Widerstände, neue Fragen zu reagieren. Jedenfalls wirkt er gut und spezifisch vorbereitet («he has done his homework», wie wir Amerikaner gern sagen) – und nutzt selbstbewusst seine philosophische und italianistische Fachkompetenz, wenn er zum Beispiel mit Robert Harrison oder Peter Sloterdijk die Werke von Boccaccio und Leibniz durchaus auf Augenhöhe diskutiert. Andererseits zögert er nie, die Grenzen seines eigenen Verstehens – auch im Interesse der Leser – etwa mit der Bitte nach Definitionen ins Spiel zu bringen: «Sie sprechen in Rätseln», sagt er gern in solchen Momenten, «was genau meinen Sie?» «Konkreter bitte» – oder auch «Stop!» Solche Interventionen regulieren den Rhythmus der Gespräche, blockieren allzu geistreiche Monologe, verlängern Sequenzen von scharfen Intuitionen und wechseln die Themen, wenn sie sich zur Erschöpfung neigen.

Als deutlichste rhetorische Stärke von René sehe ich seinen Willen und sein Geschick zum Dagegenhalten an, ganz unabhängig von den eigenen Meinungen. Als ich in unserem Magglinger Urgespräch eine alte und oft wiederholte Ansicht zum Besten gab, nach der Geisteswissenschaftler als Intellektuelle «riskantes Denken» pflegen sollen, das heisst, ein Denken, das die Welt komplexer und sogar komplizierter erscheinen lässt, retournierte er per Volley: «Wie bitte? Meinen Sie das nun zynisch oder ernst?» «Todernst und enthusiastisch», sagte ich und musste mir anhören: «Dann dürfen Sie sich nicht beklagen, wenn die Welt, zumal die helvetische, glaubt, auf Intellektuelle verzichten zu können.» Am erfolgreichsten hat das Entgegenhalten wohl bei Russell Berman funktioniert, einem Germanisten aus Stanford, der für die Trump-Regierung im Aussenministerium von Washington gearbeitet hat. Keine der sprichwörtlich «unangenehmen» Fragen und Thesen zu Trump blieben Berman erspart (selbst in den Fällen, wo der persönliche René ihre Perspektive nicht teilte), und genau dieses freundliche Sperrfeuer verpflichtete ihn, ein immer differenzierteres, immer komplexeres und am Ende vielleicht sogar nuanciertes Bild des amerikanischen Präsidenten zu entwerfen.

Zum Repertoire des Dagegenhaltens gehört auch die Provokation mit pointiert unannehmbaren Selbstbildern, die René seinen Gesprächspartnern zumutet: «Sie reden fast schon wie ein verkappter Marxist», sagt er zu Peter Thiel, dem Silicon-Valley-Milliardär. Den sich betont sensibel präsentierenden Zürcher Schauspieler Robert Hunger-Bühler fragt er ausgerechnet, ob er sich als «Rampensau» verstehe. Erstaunlicherweise gehen die Reaktionen stets in ähnliche Richtung. Statt die gegenintuitive Beschreibung von sich zu weisen, fängt Thiel an, von Karl Marx zu schwärmen, während Hunger-Bühler von Satz zu Satz mehr Gefallen am hypothetischen Rampensau-Image findet.

Eine ganz andere Frage – vielleicht die zentrale Frage für meine Beschreibung von René Scheus intellektuellem Stil – heisst, ob er denn in seinen Interviews je selbst Fragen im primären Sinn des Wortes stellt, Fragen, die ein Nichtwissen voraussetzen und mit der Auskunft einer bündigen Antwort zum Ende kommen. Ausschliessen lässt sich dies keinesfalls, weil mir kaum ein Thema in den Sinn kommt, das René nicht interessieren könnte. Doch in den Interviews bringen seine Fragen eher die Gesprächspartner in Höchstform und funktionieren als das Metronom der intellektuellen Bewegung. Richtige Fragen hingegen, Fragen, denen es um die Antworten geht, führen ja grundsätzlich eher ins Schweigen – wogegen überhaupt nichts einzuwenden ist. Aus dem Rhythmus der Fragen von René hingegen und aus dem Rhythmus der Reaktionen, die sie provozieren, entstehen konkrete Gestalten und Bewegungen, singuläre Gestalten mit je spezifischer Gegenwart, Gestalten, die wir als Interviewleser authentisch oder inauthentisch finden können – aber kaum je belanglos. Gestalten, die einer diffusen Welt Konkretheit geben.

Und neben den einzelnen Gestalten pro Interview entfaltet sich – langsamer und entlang aller Gespräche – eine andere Gestalt, die Gestalt von René Scheu, wie sie Konturen und Stärke bekommt, aber kein individuelles Gesicht. Viel erfahren wir nicht über ihn. Schweizer ist er, was niemanden überraschen kann, er hat Kinder, auch zu erwarten – und prononcierte Meinungen, zur politischen Korrektheit etwa, zur Bedeutung der individuellen Freiheit, zum typischerweise expansiven Staat unserer Gegenwart oder zu den Klassikern der italienischen Literatur. Aber solche Passionen und Positionen, an denen dem privaten René, wie ich weiss, sehr liegt, spielen in den Interviews nicht die entscheidende Rolle. Er mag gegen einen «Zeitgeist» halten, aber vor allem verhilft René selbst einem bestimmten Zeitgeist zu seinem konkreten Porträt. Deshalb kann man sich an seinen Gesprächen erfreuen, ohne mit dem René Scheu der Gespräche – und dem richtigen René Scheu – einverstanden zu sein.

Im René Scheu der Gespräche aber kommen zwei Kräfte zusammen. Die Kraft (oder soll ich besser sagen: die Gelassenheit?), anderen Platz zum Reden zu geben, sie in Bestform zu halten, verständlich werden zu lassen und komplex. Zugleich aber auch die Kraft (soll ich eher sagen: das Geschick?), alles so zu planen, dass die anderen eine Gestalt bekommen, die sie ausserhalb des Gesprächs nie erreichen könnten, eine konturierte Konkretheit und manchmal sogar ein Strahlen. Es sind die beiden Seiten aus der Ambivalenz des philosophischen Blicks auf das Gespräch, die in den Interviews von René Scheu und im René Scheu der Interviews zusammenkommen, die Seite der Offenheit und die Seite der Gestaltung. Vielleicht kann sich solche Konvergenz nur in diesem einen glücklichen Moment am Ende der Gattung ereignen, den René anscheinend abgepasst hat. Denn wenn der Moment zur Synthese würde, wo alles mit allem vermittelt ist, dann müsste er, Hand aufs Herz, im Stillstand einfrieren.

ZWANZIG INTERVIEWS

CORONA – PHILOSOPHISCH UND LITERARISCH

1Markus Gabriel: Gut gelaunter Jungspund

Er schrieb mir am 23. März 2020 aus dem Homeoffice völlig unerwartet eine E-Mail. Maurizio Ferraris und Slavoj Žižek, die er zu seinen Freunden zähle, hätten sich im Feuilleton der NZZ bereits klug ad Corona(m) geäussert, und auch die in der NZZ publizierten Textinterventionen von Giorgio Agamben habe er gelesen. Da könne er, Gabriel, natürlich nicht schweigen, kurzum, er wolle sich, so seine Worte: in die «NZZ-Debatte einklinken». Ich gestehe dem jungen Mann (Jahrgang 1980, also um einige Jahre jünger als ich) Carte blanche zu. Und so verfasst der wie ein alter Mann schreibgeübte, blitzgescheite Philosoph in kürzester Zeit einen Essay, in dem er den Begriff des virologischen Imperativs prägt – und der über Wochen in der deutschen intellektuellen Netzcommunity viel zu reden gibt.

Ich habe meine Freude am Text, weil er eindeutig die gedankliche Ausgeburt eines unangepassten Geistes ist (was ja unter deutschen Professoren nicht allzu häufig vorkommt). An der sich daran anschliessenden E-Mail-Korrespondenz fällt mir ein eher beiläufiger Ton auf, der im akademischen Milieu sogar Ausnahmecharakter hat: der Ton eines gut gelaunten Zeitgenossen.

Diesem Mann scheint etwas Unbekümmertes eigen zu sein, und er braucht für sein intellektuelles Unternehmen, das er seit bald zehn Jahren verfolgt, wohl tatsächlich eine Extraportion Chuzpe. Denn wie sonst kann man es wagen, bereits ab dem zarten Alter von gut 30 Jahren in eigenen bestsellerverdächtigen Werken einen eigenen philosophischen Neorealismus zu propagieren? Der 1980 geborene Gabriel, seit 2009 ordentlicher Professor für Philosophie in Bonn, tut dies furchtlos in Auseinandersetzung einerseits mit Klassikern wie Kant, Hegel und Heidegger und der Neurowissenschaft und andererseits der evolutionären Psychologie. Jedes Jahr legt er mit neuen Werken nach – und weitet seine Forschungs- und Kampfzone konsequent aus.

Als wir dann endlich skypen, erlebe ich tatsächlich einen gut gelaunten (und vielversprechend aussehenden) Gabriel in einem Homeoffice. Beide haben wir eben unsere Familien bekocht, beide Male gab’s Pasta (in meinem Fall mit Zitrone, Basilikum und Parmesan, nach einem Rezept von Gennaro Contaldo), über deren Zubereitung wir uns zu Beginn des Interviews kurz austauschen. Lockerer Ton, pointenreiches Sprechen. Der Mann ist richtig schlagfertig – jede Antwort mündet in eine Denkbewegung mit eigenem rhetorischem Singsang.

Gabriel entfaltet nicht nur im Gespräch, sondern auch im Beruf eine beträchtliche Produktivität. Dabei hält er sich an einen sehr strukturierten Tagesablauf: Arbeit von 6.30 bis 21 Uhr mit Unterbrechungen für Lunch und Nickerchen (12–14 Uhr) und Abendessen und Rollerbladen im Naherholungsgebiet Kottenforst (17.30–19.30 Uhr). Nach 21 Uhr ist dann Netflix angesagt. Gabriels heisseste Empfehlung: die spanische Produktion The Platform. In der Tat – ein ebenso sehenswerter wie krasser Film.

Markus Gabriel: «Wir haben eine politische Monokultur.»

Herr Gabriel, perfekt, es klappt also. Ich sehe ein Bücherregal im Hintergrund, das neue Statussymbol im Skype-Quarantäne-Zeitalter. Sie sehen allerdings gar nicht lektürebleich, sondern kerngesund aus. Haben Sie Ihr Unwohlsein überwunden?

Ich hatte tatsächlich sechs Tage lang leichtes Fieber um die 38 Grad, ohne weitere Symptome. Dies geschah nach zwei Wochen selbst gewählter Isolation, weil ich ja sehr gut von zu Hause arbeiten kann. Wie es sich für einen anständigen Bürger gehört, habe ich mich sogleich auf Sars-CoV-2 testen lassen. Ich habe mir also einen Stab tief in den Rachen geschoben, was ziemlich unangenehm war, aber natürlich viel weniger schlimm als das, was Donald Trump noch vor einigen Wochen über sich ergehen lassen musste. Denn die ersten Tests gingen noch richtig die Nase hoch. Doch schau her, mein Test fiel negativ aus, ich bin putzmunter.

Sie klingen gut gelaunt. Hatten Sie keine Angst, dass es Sie erwischt hat?

Doch, doch, allerdings mehr aus psychologischen als aus gesundheitlichen Gründen! Denn Sars-CoV-2 ist ja ein psychologisch aufgeladenes Virus. Wir wissen nach wie vor kaum etwas über das kleine Biest. Aber wir alle machen den Fehler, uns im digitalen Universum nach Informationen umzuschauen, und insofern gehören wir alle zur Gattung der eingebildeten Kranken – mit einer Ausnahme: Boris Johnson. Der britische Premierminister war, wenigstens eine Zeitlang, ein eingebildeter Gesunder.

Grossartig! Doch denken wir mal in alternativen Welten. Wenn das Virus Sie wirklich erwischt hätte, was hätte das mit Ihnen gemacht?

Ich habe mich während meiner Fieberphase gefühlt wie ein Aussätziger. Meine einzige Sorge war: Was sollen bloss alle denken, wenn ich, als staatstreuer Beamter, der sich gehorsamst an alle Vorschriften hält, in selbst gewählter Isolation vom Virus heimgesucht werde? Das wäre gleichsam mein persönlicher Super-GAU gewesen. Ich hätte mich ständig rechtfertigen müssen, denn so ist das nun mal im digitalen Zeitalter. Wer sich wie ich philosophisch zu Corona exponiert, der muss dann, wenn es ihn trifft, auch philosophisch zu Corona einstecken.

Es wäre um Ihre Glaubwürdigkeit als Philosophieprofessor geschehen gewesen.

Plötzlich hätte es geheissen: Wo war denn der Herr Gabriel? Hat er sich womöglich gar nicht an die Idealvorstellung von der Quarantäne gehalten? War das alles bloss eine geschickte Täuschung?

Und was hätten Sie dann geantwortet?

Ich hätte wahrheitsgetreu gestehen müssen, weil es stimmt: Ja, ich war ein einziges Mal im Supermarkt …

… Skandal! Sogleich hätte es geheissen: Na, hatte der Philosoph denn auch eine Atemmaske an?

Ganz schlimm. Sehr wahrscheinlich wäre medial das Bild eines unhygienischen Philosophen kreiert worden, der mit der Zunge den Supermarkt abschleckt und sich die Seuche zuzieht, weil er nicht mal weiss, wie man sich die Hände wäscht. Denn im Ernst, das ist im Grunde genommen der Verdacht, den heute, in einem angeblich aufgeklärten Zeitalter, alle gegenüber Virusträgern haben: In irgendeinem Sinn haben sie sich schuldig gemacht.

Frei nach dem Motto der neuen Naturreligion: Das Virus ist wenn nicht eine Strafe Gottes, so doch eine der Natur.

In der Tat. Das sind Erinnerungen an die mittelalterliche Pest, die wir mit uns herumtragen. Die haben uns nun eingeholt, ohne dass wir es gemerkt hätten.

Und natürlich hätte auch der Ruf der Philosophenzunft darunter gelitten. Ihr Gang in den Supermarkt wäre mit dem Fall des Thales von Milet in die Grube verglichen worden. Wer im Wolkenkuckucksheim unterwegs ist, kann weder überlebens- noch lebensfähig sein.

Ich kann mir die Häme der Kommentatoren vorstellen: Die Philosophen sind die Ersten, die das Virus kriegen – das haben sie von der kritischen Theorie, vom ständigen Herummäkeln an den Ideologien der Gegenwart! Zugleich – auch das gilt es zu bedenken – hätte ich eine höhere moralische Autorität gewinnen können. Wäre ich mir trotz Leidens an Covid-19 in meinem ideologiekritischen Impetus treu geblieben, hätten plötzlich alle gesagt: Der Mann ist sich treu und darum ein Held. Obwohl er die Pest hat, analysiert er immer noch kritisch die Regierung!

Was man in der Krise sagt, zählt. Nun ist es ja aber so, dass wir uns jahrelang über die Gefahr den Kopf zerbrochen haben, die von künstlicher Intelligenz, Supermaschinen, Cyber-War und Bioterrorismus ausgeht, ja, wir haben uns gleichsam daran berauscht. Und nun kommt ein kleines gemeines Coronavirus daher, allerdings in besonders fieser Mutation, und legt unseren Betrieb lahm. In welchem schlechten Traum waren wir da gefangen?

In der Tat kann man wohl festhalten: In den letzten 30 Jahren, also seit dem Ende des Kalten Kriegs, hat sich die postmoderne Wirklichkeitsflucht beschleunigt. Es ist der Eindruck entstanden, dass wir letztlich in einer Art Computersimulation lebten. Und dieser Eindruck hat sich Tag für Tag, Gadget für Gadget stärker in unseren Gehirnen verfestigt. Das war eigentlich die stimmungsmässige Signatur unserer eben zu Ende gegangenen Gegenwart. Die Frage, um welches Genre es sich dabei handelt, wurde jedoch nie geklärt. Das machte, dass wir uns stets so fühlten, als wäre es ein irgendwie heiteres, aber zugleich sinnloses Spiel. Einerseits irreal, andererseits sinnlos, ja, ich denke, so war es – bis 2020. Die echten Probleme der künstlichen Intelligenz und der Digitalisierung sind damit natürlich noch gar nicht berührt!

So wie im FilmMatrix – wir spielen im Geist in einer tollen Geschichte mit, während unser Körper in einem Stahltank lebt?