Gewalt, Flucht – Trauma? - Karin Mlodoch - E-Book

Gewalt, Flucht – Trauma? E-Book

Karin Mlodoch

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Beschreibung

Menschen, die professionell oder ehrenamtlich in der Arbeit mit Geflüchteten tätig sind, werden tagtäglich mit den Folgen vielfältiger Gewalterfahrungen konfrontiert. Tagtäglich bewegen sie sich dabei auf dem schmalen Grat zwischen Universalismus und Kulturalismus, überprotektion und Distanzierung, oft fehlt es an Wegweisern.Karin Mlodoch führt in die Geschichte und die Grundlagen des psychologischen Traumakonzepts ein und gibt einen Überblick über die verschiedenen Ansätze und wichtigsten Kontroversen innerhalb der psychologischen Traumaforschung und -debatte. Sie beschreibt die individuellen und sozialen traumatischen Dynamiken nach schweren Gewalterfahrungen und hebt die zentrale Bedeutung von Stabilität, Respekt und Anerkennung für deren Bewältigung hervor. Das Buch wirft einen kritischen Blick auf die inflationäre Nutzung des Traumakonzepts in der Arbeit mit überlebenden von Gewalt und die damit verbundenen Distanzierungs- und Pathologisierungstendenzen. Karin Mlodoch plädiert für eine sozialpolitische, kultur- und geschlechtersensible Perspektive auf Trauma und eine ressourcenstärkende und empowernde Arbeit mit Menschen, die nicht ausschließlich über ihre Gewalterfahrungen definiert werden wollen und dürfen.

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Geflüchtete Menschen psychosozial unterstützen und begleiten

Herausgegeben von

Maximiliane Brandmaier Barbara Bräutigam Silke Birgitta Gahleitner

Karin Mlodoch

Gewalt, Flucht – Trauma?

Grundlagen und Kontroversen der psychologischen Traumaforschung

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99876-3

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

Umschlagabbildung: Nadine Scherer

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Reihenredaktion: Silke Strupat Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Geleitwort der Reihenherausgeberinnen

1 Gewalt, Flucht – Trauma? Vom inflationären Gebrauch des Traumakonzepts

1.1 Die Traumabrille in der Arbeit mit Geflüchteten und in ihren Herkunftsländern

1.2 Zu diesem Buch

2 Trauma – ein umstrittenes und umkämpftes Konzept von sozialer und politischer Brisanz

2.1 Traumadefinitionen

2.2 Die Anfänge der Traumaforschung

2.3 Diagnose PTSD: Zwischen politischer Errungenschaft und Pathologisierung

2.4 Konzepte zum Verständnis der Folgen von menschengemachter politischer, sozialer und Massengewalt

2.5 Die neoliberale Wende: Der »neurobiologische Turn« in der psychologischen Traumadebatte

2.6 Kontroverse Defizitorientierung versus Ressourcenstärkung

2.7 Fazit: Für eine Repolitisierung der psychologischen Traumadebatte

3 Trauma als individuelle und soziale Erfahrung: Traumaphänomene

3.1 Die zentrale Dialektik des Traumas: Zwischen Überflutung und Vermeidung

3.2 Der »innere Teufel«: Die Introjekte der Täter

3.3 Schuld

3.4 Scham

3.5 »Shattered assumptions«: Erschütterte Grundüberzeugungen und der Verlust des sozialen Gegenübers

3.6 Rachegefühle

3.7 Trauer

3.8 Komplexe Trauer- und Schuldproblematik bei »uneindeutigen Verlusten«

4 Traumaerinnerungen und Traumanarrative: Trauma als Gedächtnisphänom

4.1 Erinnerung als soziale Kategorie

4.2 Traumatische Erinnerung

4.3 Das Unsagbare: Mystifizierungen von traumatischer Erinnerung

4.4 Traumaerzählungen

5 Welche Wahrheit? Verstehen, bearbeiten – heilen?

5.1 Ungläubigkeit

5.2 Zuhören, bezeugen, verstehen

5.3 Speaking out: Die traumatische Erfahrung durcharbeiten – Notwendigkeit oder Dogma?

5.4 »Heilen«, entlasten oder leben mit dem Trauma?

6 Überlegungen zur Übertragung von Traumata und dem Begriff des »kollektiven Traumas«

6.1 Ist Trauma »ansteckend«? Belastungen für Helferinnen und Helfer

6.2 Transgenerationale Weitergabe von traumatischen Erfahrungen

6.3 Kann ein Kollektiv leiden? Konzeptionelle Ansätze zu kollektivem Trauma

7 Die politische und soziale Dimension von Trauma

8 Flucht und Trauma

8.1 Traumatische Sequenzen: Erfahrungen von Geflüchteten

8.2 Die Grenzen der Psychotherapie in unsicheren und politischen Räumen

8.3 Begegnungen auf Augenhöhe

9 Literatur

Geleitwort der Reihenherausgeberinnen

Wir freuen uns, in der Reihe »Fluchtaspekte. Geflüchtete Menschen psychosozial unterstützen und begleiten« mit dem Band von Karin Mlodoch einen grundlegenden Beitrag zum Verständnis von Trauma und darüber hinaus zur aktuellen Traumadebatte vorlegen zu können.

Der Autorin gelingt es, in einer für die verschiedenen Berufsgruppen sehr verständlichen Sprache Bezüge zu einer erweiterten Diskussion in diesem Feld aus soziologischer, philosophischer und vor allem auch politischer Sicht herzustellen. In besonderer Weise verknüpft Karin Mlodoch dabei internationale Erkenntnisse mit ihrer persönlichen Forschung und Praxis in Kurdistan/Irak und schulenübergreifend mit der Debatte im deutschsprachigen Raum.

Die Ausführungen der Autorin verdeutlichen, dass sich dem Begriff Trauma nur interdisziplinär und interprofessionell genähert werden kann und dass sich das Verständnis von Trauma entlang der jeweiligen politischen Situation kontinuierlich weiterentwickelt hat. Klar wird: Letztendlich ist der Begriff Trauma als Konstrukt zu verstehen und nicht als ein wissenschaftlich verobjektivierbarer, mit einer eindeutig klassifizierbaren Diagnose verbundener Terminus. Die Lektüre dieses gelungenen Überblicks über verschiedenste Ansätze weckt Interesse und Neugierde, einzelne Aspekte weiterzuverfolgen. Zahlreiche Literaturhinweise laden zur vertieften Auseinandersetzung ein.

Karin Mlodoch liefert eine konsequente Darstellung der kontextualisierten Sicht auf das Traumakonzept und eine klare, fachlich fundierte Analyse in der Debatte um diesen Begriff. Wir freuen uns auf den fachlichen Austausch.

Dorothea Zimmermann

Barbara Bräutigam

Maximiliane Brandmeier

Silke Birgitta Gahleitner

1 Gewalt, Flucht – Trauma? Vom inflationären Gebrauch des Traumakonzepts

Flüchtlingsproblematik, Flüchtlingskrise, Flüchtlingskatastrophe, Flüchtlingswelle, Flüchtlingsströme, Flüchtlingslawine – das sind nur einige der Begriffe, die die politische Debatte in Deutschland und Europa aktuell bestimmen, seit 2015 die Zahl der aus Kriegs- und Krisengebieten geflüchteten Menschen, die den Weg bis nach Europa geschafft haben, sprunghaft anstieg. Dramatisierende Begriffe, die den Blick auf die einzelnen Menschen und die vielfältigen Gründe verstellen, aus denen sie ihre Heimat verlassen; Begriffe, die dekontextualisieren und entsubjektivieren. Sie werden von konservativen Kräften in Europa und den USA gezielt eingesetzt, um Ängste vor den gesellschaftlichen Veränderungen in einer globalen Welt zu mobilisieren und wirtschaftliche und politische Abschottungsstrategien sowie ein Wiedererstarken nationalistischer Ideen und Diskurse zu befördern.

Glücklicherweise stehen dagegen in den USA und quer durch Europa zahlreiche Menschen auf. Aufkommenden Ideen von der Festung Europa und dem Rückfall in nationalstaatliche oder ethnisch begründete Denkmuster setzen sie ihre Vision von einer vielfältigen, offenen, demokratischen Gesellschaft entgegen, werben für eine »Willkommenskultur« und leisten Menschen auf der Flucht humanitäre Hilfe – auf dem Mittelmeer, entlang der Fluchtrouten und nach der Ankunft im Aufnahmeland. Sie bieten den geflohenen Menschen, ehrenamtlich oder professionell, Unterstützung bei der Integration in die Aufnahmegesellschaft an.

Diese Solidarität und Hilfsbereitschaft als »Gutmenschentum« zu diffamieren, ist schierer Zynismus. Wohl aber sind Ideen von offenen Grenzen und »Willkommensgesellschaft« eine unzureichende Antwort auf die Dimension der aktuellen weltweiten Fluchtbewegungen: Ende 2015 bezifferte das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen die Zahl der Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, auf 65,3 Millionen (United Nations High Committee for Refugees, UNHCR, 2017a). Sie fliehen vor den Kriegen in Syrien und in dem Irak, vor Terror und Gewalt in Pakistan und Nigeria, vor Dürre und Hunger im Sudan und Somalia, vor Armut und Perspektivlosigkeit, vor weltweit erstarkenden nationalistischen und religiösen Fundamentalismen und der Ausgrenzung ethnischer, religiöser und sexueller Minderheiten.

Nur ein kleiner Teil der geflüchteten Menschen kommt dabei bis nach Europa; 2015 stellten 476.649 Menschen einen Antrag auf Asyl in Deutschland (Bundesministerium des Inneren, BMI, 2015). Die meisten suchen Schutz im eigenen Land oder in Nachbarländern. So sind es vor allem selbst politisch und ökonomisch instabile Länder in Afrika und im Nahen Osten, die die größten Zahlen an Geflüchteten aufnehmen: In absoluten Zahlen stehen die Türkei, Pakistan und der Libanon an der Spitze; im Verhältnis zu ihren eigenen Bevölkerungszahlen der Libanon, Jordanien und der Süd-Sudan und im Verhältnis zu ihrer ökonomischen Kapazität der Süd-Sudan, die Republik Tschad, Uganda, der Libanon und Burundi (UNHCR, 2017b).

Die Gründe der vielfältigen Fluchtdynamiken liegen zum einen in der globalen Ausdehnung des neoliberalen Wirtschaftssystems, das Mensch und Natur an marktwirtschaftlichen Interessen orientiert ausbeutet und zu extremer ökonomischer und sozialer Ungleichheit, Marginalisierung ganzer Bevölkerungsgruppen, zu Verteilungskriegen und klimabedingten Katastrophen, Dürren und Hungersnöten geführt hat. Sie liegen zum anderen in weltweit erstarkenden ethnisch und religiös begründeten Fundamentalismen, die Terror und Angst verbreiten und neue Kriege und Ausgrenzung produzieren. Fluchtdynamiken sind »zur Tatsache geworden, die zum Zustand der gegenwärtigen Weltgesellschaft gehören«; sie sind gleichzeitig »kein Zustand: Flucht evoziert den Ruf nach Veränderung, ist Ausdruck von Veränderung, sucht nach Veränderung und schafft Veränderung« (Eppenstein u. Ghaderi, 2017, S. 1). Sie verändert nicht nur die Flüchtenden, sondern auch ihre Herkunfts-, Durchreise- und Aufnahmeländer, ob im Nahen Osten, Afrika oder Europa. Menschen auf der Flucht sind dabei »greifbar gewordenes Sinnbild einer Unsicherheit über die Zukunft der räumlichen Verortung der Menschen in der Moderne« (S. 15).

Angesichts der weltweiten Eskalation von Krieg und Terror, dem Erstarken nationalistischer und fundamentalistischer Diskurse und der großen Zahl der vor Elend und Tod schutzsuchender Menschen direkt vor unserer Haustür herrschen bei vielen, die für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit eintreten und sich im sozialen Bereich engagieren, Entsetzen, Sprach-und Ratlosigkeit vor. Bislang fehlt es an einer engagierten und differenzierten Debatte um politische Handlungsmöglichkeiten: Wie kann sich die zurzeit überwältigende Solidarität vieler Menschen mit Geflüchteten verbinden mit ebensolcher Solidarität und Vernetzung mit demokratischen und säkularen Kräften, die in den Herkunftsländern für politische und soziale Veränderung kämpfen? Wie können sich die notwendigen Proteste gegen Rassismus, AFD und PEGIDA mit einer ebenso entschiedenen Absage an jeglichen religiös und ethnisch legitimierten Fundamentalismus und einer klaren Positionierung für Säkularismus, Geschlechtergleichheit und universelle Menschenrechte verbinden? Welche Handlungsstrategien gibt es jenseits der Forderung nach politischen statt militärischen Lösungen, die Terror und Krieg jetzt beenden, ohne koloniale Unterwerfung fortzuschreiben und Gewalt weiter zu eskalieren?

Jenseits dieser Fragen, die uns noch viele Jahre beschäftigen werden, sind Solidarität mit und Unterstützung von Geflüchteten, die jetzt in Deutschland und Europa stranden, humanitäre und politische Notwendigkeiten. Darüber hinaus hat sich die Frage der eigenen Haltung zu Geflüchteten zu einem zentralen Terrain politischer Debatten in Deutschland entwickelt, zum Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen politischen Haltungen und gesellschaftlichen Zukunftsvisionen. Im Versuch, Abschottungswahn und Rassismus etwas entgegenzusetzen, gibt es dabei auf der Seite engagierter Unterstützer und Unterstützerinnen von Geflüchteten auch Tendenzen, letztere als Subjekte des Wandels, als Katalysatoren einer offenen und globalen Gesellschaft zu verklären und sie damit erneut zu generalisieren. Aus Furcht, die Ressentiments rassistischer Kräfte zu bedienen, werden sensible Fragen und möglicherweise kontroverse Meinungen zu unserer Haltung gegenüber den Geflüchteten oft zurückgestellt: zum Beispiel die Debatte um die Gratwanderung zwischen Universalismus und Kulturalismus; zwischen Sensibilität, Offenheit und Verständnis für Herkunftskontext und -kultur von Geflüchteten auf der einen Seite und der Verteidigung von hier erkämpften Rechten auf individuelle Selbstverwirklichung, Geschlechtergleichheit, sexuelle Freiheit, Trennung von Religion und Staat auf der anderen Seite. Eine Begegnung mit Geflüchteten auf Augenhöhe, eine Begegnung, die Generalisierungen und Spaltung in die Aufnahmegesellschaft, die Geflüchteten und die Herkunftsgesellschaft überwinden will, muss eine solche kontroverse Debatte einschließen – nicht über, sondern mit den Geflüchteten (siehe auch Kapitel 8).

1.1 Die Traumabrille in der Arbeit mit Geflüchteten und in ihren Herkunftsländern

Eine der generalisierenden Brillen, durch die Geflüchtete betrachtet werden, ist die Traumaperspektive. »Mindestens die Hälfte aller Flüchtlinge ist psychisch krank«, konstatiert die Bundespsychotherapeutenkammer (2015), 40 bis 50 % litten unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Bisweilen geistern Zahlen von 70 bis 90 % Traumatisierung unter Geflüchteten durch Fachwelt und Medien (siehe z. B. Asyl im Landkreis Biberach, 2017).

Zahlreiche Fachkräfte aus der Psychologie, der Psychotherapie und dem Gesundheitsbereich in Deutschland sind zurzeit in der Entwicklung spezifischer Beratungs- und Behandlungsangebote für Geflüchtete aktiv und fordern mehr staatliche Förderungen für Traumabehandlung; niedergelassene Psychotherapeutinnen bieten unentgeltliche Therapieplätze für Geflüchtete; ehrenamtliche Helfer und Helferinnen erhalten Fortbildungen im sensiblen Umgang mit Traumatisierten. Schon gibt es Überlegungen, qualifizierte Laien für die psychotherapeutische Arbeit mit Geflüchteten einzusetzen (Elbert, Wilker, Schauer u. Neuner, 2016). Mohammed Jouni, selbst als Jugendlicher aus dem Libanon nach Deutschland geflüchtet und heute in der Organisation »Jugendliche ohne Grenzen« aktiv in der Beratung neu ankommender Geflüchteter, sagte kürzlich auf einer Tagung, er bekomme manchmal den Eindruck, er solle die mit Geflüchteten ankommenden Busse am besten gleich komplett in die Psychotherapie umleiten.1

Es ist unbestreitbar, dass viele Geflüchtete vor und während ihrer Flucht traumatische Erfahrungen gemacht haben. Alle haben ihre Heimat verloren und damit ihren sozialen Bezugsrahmen. Viele von ihnen haben in ihren Herkunftsländern Gewalt und Krieg erlebt, waren Zeuginnen und Zeugen von Tod und Zerstörung, haben Angehörige und ihr Heim verloren. Die meisten haben auf dem Weg nach Europa Gewalt in Durchgangslagern erlebt, Hunger, Entbehrungen und Qualen auf Gewaltmärschen durchlitten, Todesangst auf seeuntüchtigen Schiffen und in luftlosen Lastwagen gehabt. Nach der Ankunft in Deutschland leben sie in Angst um und Sehnsucht nach zurückgebliebenen Angehörigen, in prekären Lagersituationen, in Unsicherheit über ihr Bleiberecht und ständiger Sorge vor Ablehnung und Abschiebung. Zweifellos brauchen viele Geflüchtete auf diesem Hintergrund psychotherapeutischen und psychosozialen Beistand bei der Bearbeitung ihrer vielfältigen Gewalterfahrungen. Zuallererst aber brauchen sie freundliche Aufnahme, menschenwürdige Unterkünfte, einen sicheren Aufenthalt in Deutschland, Arbeit, Bildung sowie Perspektiven und die Möglichkeit, ihre Familien nachzuholen.

So wichtig psychologische und psychotherapeutische Hilfe für viele Geflüchtete auch sein kann: Ihre Per-se-Diagnose als »traumatisiert« und der Fokus auf Traumata in der Unterstützung für Geflüchtete bergen die Gefahr einer Stigmatisierung und Pathologisierung der Geflüchteten als Patienten bzw. Patientinnen und sind somit letztendlich auch eine Form der Distanzierung. Zudem verstellen sie den Blick auf die vielfältigen Ursachen von Flucht, privatisieren die kollektive Fluchterfahrung und lenken ab von der zentralen Notwendigkeit stabiler Lebensbedingungen im Aufnahmeland.

Experten und Expertinnen der allermeisten Schulen und Ansätze in der Traumaarbeit sehen ein verlässliches soziales Umfeld und stabile Lebensbedingungen als Voraussetzung für eine Bearbeitung von traumatischen Erfahrungen. Wie also soll es gelingen, Menschen bei der Bearbeitung traumatischer Gewalterfahrungen psychologisch zu unterstützen, wenn sie weiter in prekären Situationen leben? Wie sollen sich Menschen, die Inhaftierung und Folter entronnen sind, in einem »geschützten therapeutischen Raum« mit dieser existenziellen Erfahrung auseinandersetzen, wenn sie nach der Beratung in eine Turnhalle oder lagerähnliche Wohnsituationen zurückkehren? Wie sollen Menschen, die Bombardements überlebt haben, sich mit der erlebten Todesangst konfrontieren, wenn ihre Angehörigen in den Herkunftsländern weiter täglichen Bombardements ausgesetzt sind? Und wie sollen sich Geflüchtete mit den Schrecken ihrer Fluchtstationen beschäftigen, wenn sie – wie im Asylpaket II vorgesehen – jederzeit ohne Ankündigung abgeschoben werden können? Fragen, die zeigen, dass psychologische Hilfen zur Traumabarbeitung immer mit dem Engagement für sichere Lebensbedingungen und Perspektiven der Betroffenen einhergehen müssen.

Parallel zum »Traumaboom« in der Arbeit mit Geflüchteten hat das Thema Trauma auch in der internationalen humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit Hochkonjunktur. Angesichts der Eskalation von Krieg und Gewalt im Irak und Syrien und Millionen von Menschen, die in der Region auf der Flucht sind, schießen dort Traumaprojekte wie Pilze aus dem Boden, viele davon mit Beratung und Unterstützung deutscher und internationaler Experten und Expertinnen. Auch hier soll keineswegs die Bedeutung von psychologischen Hilfen für die Opfer von Terror und Gewalt geschmälert werden: Für viele jesidische Frauen im Irak beispielsweise, die der Versklavung durch die Terrormiliz ISIS entkommen sind, sind Traumazentren oft die einzigen Orte, an denen sie Leidensgenossinnen treffen und ohne Angst vor Stigmatisierung über ihre Erfahrungen sprechen können. Trotzdem treibt die Traumaarbeit auch hier seltsame Blüten, wenn zum Beispiel Menschen in provisorischen Flüchtlingscamps, die gerade der Belagerung von Mossul entronnen sind und deren Angehörige noch dort sind, Traumaberatung angeboten wird.

Die massive deutsche und internationale Förderung von Traumaprojekten inmitten akuter Kriegs- und Krisensituationen erweckt den Eindruck, dass es hier angesichts des Scheiterns politischer Lösungen vor allem darum gehe, die Menschen im Ausnahmezustand fürs Durchhalten fit zu machen und sie von der Flucht nach Europa abzuhalten.

Hinzu kommt, dass in der boomenden Traumaarbeit in Deutschland und in den Herkunftsländern ganz unterschiedliche und oft kontrastierende Trauma- und Therapiekonzepte auf die Reise gehen. Das »Angebot« reicht von tiefenpsychologisch fundierter Traumatherapie über Gruppen- und Gesprächstherapie bis hin zu neurobiologisch begründeten Kurzzeit-Expositionstherapien, die in wenigen Sitzungen Erleichterung versprechen. Diese an sich durchaus positive Vielfalt von Ansätzen wird zum Problem, wenn die Geflüchteten und Betroffenen in den Herkunftsländern unzureichend über das Spektrum von Traumakonzepten und -ansätzen und die kontroversen Debatten über deren ethische Vertretbarkeit und Wirksamkeit informiert und somit kaum in der Lage sind, eine fundierte Entscheidung zu treffen, ob ein Angebot zu ihnen passt.

Der Export von westlichen Traumakonzepten und -therapieansätzen in Kriegs- und Krisenregionen übersieht zudem häufig vor Ort bereits bestehende Beratungsstrukturen, lokale Unterstützungs- und Bewältigungsmechanismen und das dort entwickelte Praxiswissen im Umgang mit Trauma. Statt eines einseitigen Wissenstransfers ist dringend ein gleichberechtigter Wissensaustausch zwischen hiesigen und Fachleuten in den Herkunftsländern (und unter den Geflüchteten selbst) über kulturell sensible und lokal kontextualisierte Mechanismen zur Unterstützung von Menschen mit Gewalterfahrungen geboten: eine Begegnung auf Augenhöhe.

1.2 Zu diesem Buch

In diesem Kontext möchte dieser Band der Reihe »Fluchtaspekte« zu einer kritischen Reflexion der aktuell inflationären Nutzung des Traumabegriffs und zu einem Austausch über eine sozial und politisch kontextualisierte Traumaarbeit anregen. Er richtet sich an Menschen, die professionell oder ehrenamtlich in der Arbeit mit Geflüchteten und Verfolgten tätig und tagtäglich mit den Folgen vielfältiger Gewalterfahrungen konfrontiert sind.