Glut und Asche – Burnout -  - E-Book

Glut und Asche – Burnout E-Book

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Beschreibung

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Burnout. Das Burnout-Syndrom ist in den letzten Jahren zu einer häufig gestellten Diagnose geworden und die Medien griffen das Thema mit vielen Titelgeschichten, Dossiers, Talkshows etc. auf. Begriff, Diagnostik und Therapiemöglichkeiten des Burnout blieben dabei jedoch oft diffus und Kritiker traten auf den Plan, die von Medienhype und Modeerscheinung sprachen. Dem möchten die Herausgeber und Autoren dieses Bandes entgegentreten, indem sie den Leidensdruck der Betroffenen ernst nehmen. Sie betrachten das Phänomen Burnout umfassend aus vielen Perspektiven: von medizin- und philosophiehistorischen Darstellungen über aktuelle diagnostische Verfahren bis zu ganz neuen Therapieansätzen.

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Glut und Asche – Burnout

Anton Proksch Institut, Wien

Glut und Asche – Burnout

Neue Aspekte derDiagnostik und Behandlung

Herausgegeben von Michael Musalek und Martin Poltrum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.ddb.de abrufbar. © Parodos Verlag, Berlin 2012 Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-938880-47-0 https://parodos.de

E-Book: © Berlin 2023 ISBN 978-3-96024-031-0 https://heptagon.de

Vorwort

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Burnout. Das Burnout-Syndrom ist in den letzten zehn Jahren zu einer hoch attraktiven und häufig gestellten Diagnose geworden. Im vergangenen Jahr (2011) hat die mediale Berichterstattung zu Burnout einen Höhepunkt erreicht. Fast jede größere Tageszeitung und Wochenzeitung berichtete in einer Schwerpunktausgabe über Burnout. Ähnliches gilt für die deutschsprachigen Radio- und Fernsehsender. In nahezu jeder populären Talkshow haben sich mittlerweile prominente Musiker, Sportler und Manager geoutet und von ihrem persönlichen Erschöpfungszusammenbruch erzählt. Begriff, Diagnostik und Therapiemöglichkeiten des Burnout blieben dabei jedoch oft diffus und Kritiker traten auf den Plan, die von Medienhype und einer Modeerscheinung sprachen, mit der sich die Erfolgreichen paradoxerweise geradezu zu schmücken scheinen. Dem Eindruck möchten die Herausgeber und Autoren dieses Bandes entgegentreten, indem sie den Leidensdruck der Betroffenen ernst nehmen.

Es gilt daher aufzuklären, warum es diese Epidemie gibt, weshalb diese Störung und der Burnout-Diskurs so boomen, was hinter dem Phänomen steckt – die Kollateralschäden des Kapitalismus, eine psychische Störung oder gar verweichlichte postmoderne Subjekte – um nur ein paar Extrempositionen zu nennen. Die im vorliegenden Band versammelten Arbeiten haben sich zum Ziel gesetzt, das Burnout-Phänomen umfassend und polyperspektivisch zu behandeln. Dazu werden die neuesten Einsichten, Erkenntnisse und Ergebnisse der Burnout-Forschung zusammen mit neuen Behandlungskonzepten präsentiert.

Im ersten Beitrag von Michael Musalek geht es um die ideengeschichtliche Betrachtung der Burnout-Störung und unter anderem um die Frage, inwiefern Burnout und Arbeitssucht zusammenhängen. Handelt es sich vielleicht sogar um ein und dasselbe Phänomen, das lediglich zwei Namen erhalten hat, einen populären, Burnout, und einen eher Stigma behafteten (da er mit dem Suchtbegriff konnotiert ist), Arbeitssucht? Dass diese Erörterung keinesfalls nur eine akademisch-sophistische Frage ist, sondern eine Überlegung, die eine unmittelbare Handlungsrelevanz hat, zeigt sich spätesten dann, wenn man darüber nachdenkt, wer aus dem traditionellen medizinischen Versorgungssystem denn eigentlich für die Burnout-Störung zuständig ist und a priori die besten Behandlungsmethoden mitbringt. Bei einer Epidemie gebietet es die gesundheitsökonomische Verantwortung, auch diese Ressourcenfrage mit zu stellen. Ist Burnout aus klinisch-phänomenologischer Sicht mit der Arbeitssucht verwandt oder gar identisch, dann müssten naturgemäß Spezialeinrichtungen für Suchterkrankungen die Behandler der ersten Wahl sein. Derzeit ist es eher so, dass selbsternannte Experten am Burnout-Kuchen mit naschen möchten, da die Mär existiert, bei Burnout handle es sich um eine Krankheit der Manager, an deren Kaufkraft man dann oft durch schnellgezimmerte Behandlungsangebote mitverdienen will. Dass Therapiekonzepte, welche für die Rehabilitation bei Suchterkrankungen entwickelt wurden, sehr erfolgreich auch für die Behandlung von Burnout/Arbeitssucht eingesetzt werden können, zeigt das Orpheus-Programm des Anton Proksch Instituts.

Der zweite Beitrag von Wolfgang Lalouschek widmet sich den klassisch medizinisch-psychotherapeutischen Aspekten und dem gegenwärtigen State of the Art der Burnout-Behandlung. Er zeigt auf, dass man nur über die Harmonisierung der verschiedenen Lebensbereiche (»Ich-Bereich«, Familie/Freunde, Beruf) aus der Burnout-Spirale herausfinden kann.

Den allerneuesten Wegen der Burnout-Diagnostik mittels Herzratenvariabilitätsmessung geht Oliver Scheibenbogen in seiner Abhandlung nach. In seinem Beitrag findet sich u. a. eine nützliche Evaluation der gängigen Fragebögen, Ratingskalen und Checklisten zur testpsychologischen Erhebung von Burnout.

In Martin Poltrums Text zur zeitgeschichtlichen Dimension des Burnout wird die Veränderung der Zeitstruktur am Ende der Moderne mit der Burnout-Diagnose zusammengedacht und argumentiert, dass es sich bei Burnout um eine »Beschleunigungspathologie« und damit um eine Pathologie des gegenwärtigen Zeitgeistes handelt.

Dass nicht einmal Experten und Kenner der menschlichen Seele vor der idealistischen Selbstausbeutung geschützt sind und ein übertriebenes Sendungsbewusstsein im Dienste der eigenen Sache leicht zur Selbstüberforderung und dann zum totalen Zusammenbruch führen kann, zeigt Helmut Albrecht in seiner Studie über den Psychotherapeuten Alfred Adler. Mit über hundert Vorträgen im Jahr versuchte Adler in seinen letzten Lebensjahren in Amerika seine Methode, die Individualpsychologie, populär zu machen, was ihm schließlich zum Verhängnis wurde. Interessant ist dabei auch, dass sich das psychodynamische Hintergrundgeschehen bei Burnout gerade aus individualpsychologischer Sicht gut fassen und beschreiben lässt.

Eine originelle Perspektive findet sich im Essay von Nicolai Gruninger, welcher der Romanfigur Thomas Buddenbrook die Diagnose Burnout ausstellt und notgedrungener Weise bei der Diagnose stehenbleiben muss, da in diesem Fall die Behandlung ja zu spät käme. Der Beitrag von Gruninger zeigt, dass es das Phänomen Burnout bereits vor seiner ersten Namensgebung gab – schon Thomas Mann muss davon gewusst haben. Die zitierten Stellen machen die intrapsychischen Konflikte von Burnout-Patienten, stellvertretend durch die Rede von Thomas Buddenbrook, eindrucksvoll sichtbar.

In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, dass die Geburtsstunde des Burnout-Begriffs in der Literatur schlug. Die wahrscheinlich früheste Verwendung des Terminus in seinem heutigen Sinn findet sich in Graham Greens Roman »A Burnt-Out Case« (1960), in dem ein sehr prominenter und erfolgreicher Architekt, der alles im Leben erreicht hat, vor der empfundenen Sinnlosigkeit seines Lebens nach Afrika flüchtet. »Ich habe das Ende des Verlangens erreicht und das Ende der Berufung«, lässt Green seinen Protagonisten sagen, der schließlich im sozialen Engagement und durch den Bau eines Hospitals für Leprakranke wieder zu sich findet. Gleichzeitig meint Burnout im Roman aber auch den Zustand eines Leprakranken, wenn er nicht mehr ansteckend ist, wenn er eben »ausgebrannt« ist.

Wenn Burnout u. a. mit der Beschleunigung des Lebenstempos und dem Rasen der Zeit zusammenhängt, diese Epidemie somit nicht zufällig am Ende der Moderne auftaucht, dann ist es nur folgerichtig, dass im individuell bzw. kollektiv einzusetzenden Therapie- und Präventionsprogramm die buddhistische Achtsamkeitspraxis zur Burnout-Prophylaxe Anwendung findet. Durch die Auslegung des Grimm-Märchens »… und mein König auch« schlägt Ursula Baatz in ihrer Abhandlung die Brücke zu Jon Kabat Zinns Mindfulness Based Stress Reduction, einer klinisch evaluierten Methode zur Stress-Reduktion und Stress-Prophylaxe, in welcher das Phänomen der Achtsamkeit die zentrale Rolle spielt.

Im letzten Beitrag, der erneut von Michael Musalek stammt, schließt sich der Bogen zum eingangs erwähnten Orpheus-Programm des Anton Proksch Instituts, denn wenn es Ressourcen gibt, die bei Burnout/Arbeitssucht besonders fruchtbringend darauf hinweisen, dass es noch mehr gibt als die Zentrierung des Lebens auf die Arbeit, von der man suchtartig festgehalten wird, dann sind es die ästhetischen Ressourcen. Denn der Zauber des Schönen, welcher die Seele der Menschen öffnet, ist wie keine andere Sache auf dieser Welt prädestiniert, neue Möglichkeiten des Lebens und der Lebensneugestaltung zu erschließen. Die Erfahrung des Schönen gibt zu denken, dass es vielleicht etwas jenseits des arbeitssüchtigen Verhaltens gibt, das attraktiver und spannender ist als das hyperaktive Tätigsein.

In diesem Sinn wünschen wir allen Lesern, dass sich das Diktum Nietzsches erfüllen möge: »(…) wir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein, und im Kleinsten und Alltäglichsten zuerst!«

Martin Poltrum und Michael Musalek

Wien im Dezember 2011

Michael Musalek

Zur Ideengeschichte des Burnout – Eine Introduktion

Oh Mensch! Gieb Acht! / Was spricht die tiefe Mitternacht?

‚Ich schlief, ich schlief –, / Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –

Die Welt ist tief, / Und tiefer als der Tag gedacht.

Tief ist ihr Weh –, / Weh spricht: Vergeh!

Lust – tiefer noch als Herzeleid: / Doch alle Lust will Ewigkeit –,

will tiefe, tiefe Ewigkeit!‘

Friedrich Nietzsche

Ist Burnout bloß eine Erfindung unserer Zeit oder ein naturgegebener psychischer Zustand, der als Leidensform ernstgenommen werden muss? Ist Burnout bloß ein ubiquitär vorkommender Schwäche- und Erschöpfungszustand oder handelt es sich dabei um eine neue Krankheit unserer Zeit? Wird Burnout nur von Arbeitsfaulen bzw. Arbeitsscheuen als Ausrede genutzt, nur noch weniger leisten zu müssen oder ist es tragischer Endpunkt einer übermäßigen Einsatzfreudigkeit bzw. Leistungswilligkeit von sich selbst überschätzenden Menschen? Alles Fragen, die noch immer die Lager spalten. Die einen sprechen von einer neuen Modediagnose, die nur dazu führe, dass die Sozialausgaben des Staates ins Unermessliche steigen, die anderen von einer durch unsere Gesellschafts- und Lebensform bedingten Volkskrankheit beträchtlichen Ausmaßes (siehe auch: Bergner 2007, Burisch 2006, Hillert & Marwitz 2006, Hofmann 2010, Unger & Kleinschmidt 2007). In beiden Fällen gefällt man sich dabei in Superlativen, einmal in jenen der völligen Ablehnung, ein andermal in solchen der grenzenlosen Befürwortung.

Ich bin völlig erschöpft. Ich bin so müde und ausgelaugt. Ich bin es leid, so weiter zu tun. Ich kann nicht mehr. Ich möchte damit nichts mehr zu tun haben. Alles wird mir so fremd. Alles ist gegen mich. Jeder und jedes hat sich gegen mich verschworen. Ich gehöre einfach nicht mehr dazu. Nichts geht mehr, ich schaffe das alles nicht mehr. Mir wird schon alles und jedes zu viel. Nicht einmal das Einfachste gelingt mir mehr. Ich weiß nicht, wie es mit mir weitergehen soll. Ich bin am Ende. Das alles sind Sätze, die bezeugen, dass Burnout nicht nur ökonomiegeborenes Phantasiegebilde, sondern für die davon Betroffenen bittere Realität ist. Wer sagt solche Sätze schon aus Jux und Tollerei? Wer gibt schon gerne zu, dass er zu schwach, dass er ein Versager ist. Wer sagt solche Sätze schon dann, wenn es ihm gut geht und dann auch noch mit dem Hintergedanken, dass es ihm hernach noch besser gehe. Sätze wie diese sind denjenigen, die sich mit Burnout-Patienten professionell beschäftigen, nur allzu wohlbekannt. Sie belegen Tag für Tag die naturgegebene Existenz einer Leidensform, die durch Erschöpfung, Entfremdung und Leistungsverfall charakterisiert ist. Ganz entgegen der These von heute so gar nicht selten auftretenden Sozialschmarotzerdogmatikern, die behaupten, dass Burnout nur eine der Natur fremde Erfindung des (nicht mehr arbeiten wollenden) Menschen sei, wird damit ein vernunftgeleitetes Verwerfen der Existenz desselben unmöglich.

Auch wenn aufgrund der unleugbar hohen empirischen Evidenz alles für ein naturgegebenes Leiden namens Burnout spricht, bleibt dennoch die Frage offen, ob Burnout nun nur als ein mehr oder weniger spezifischer (und auch simulierbarer) Leidenszustand oder aber als eine pathologische Entwicklung, als ein medizinisches Syndrom oder gar als eine eigenständige Krankheit anzusehen ist. Die Beantwortung dieser keineswegs einfachen Frage ist insofern von großer Wichtigkeit, als die damit in Zusammenhang stehenden Sichtweisen und Interpretationsmöglichkeiten enorme Auswirkungen auf Umgang, Hilfestellung bis hin zur medizinischen Behandlung von an Burnout Leidenden haben. Ein Leidenszustand, ganz allgemein betrachtet, ist wie schon im Namen ausgedrückt ein psychischer Zustand, der als schmerzvoll erlebt wird. Dem leidenden Menschen geht es schlecht, er fühlt sich miserabel, elend. Das Negative wird hier zum Haupterlebnisfeld. Die Zeit des Leidens ist also von markantem Unwohlsein geprägt, das sich in unterschiedlichsten psychischen Zuständen manifestieren kann: wie z.B. in Angstzuständen, Lustlosigkeit, Freudlosigkeit, Aussichtslosigkeit, Missgestimmtheit, Unruhe- und Spannungszuständen, paranoiden Entwicklungen, psychischen und körperlichen Schmerzen, um nur einige wenige der Möglichkeiten zu nennen.

Woran leiden nun Patienten mit Burnout? Seit Beginn der noch so jungen Geschichte des Burnout – in der medizinischen Literatur fand er seine erste Erwähnung erst 1974 durch Herbert J. Freudenberger in dessen Publikation »Staff Burnout« – wurden drei Phänomenfelder als typisch benannt: 1. Erschöpfung, 2. Depersonalisation bzw. Zynismus und 3. berufliche Überforderung und Leistungsverfall (Freudenberger 1974, Maslach & Leiter 2001). Die Erschöpfung wird in der Regel als psychisches Ausgelaugt-sein erlebt, kann aber auch physische Müdigkeit mit umfassen. Mit dem zweiten Bereich sind weder Depersonalisationsstörungen im engeren psychopathologischen Sinn, wie sie etwa im Rahmen von Psychosen berichtet werden, noch einfache sarkastische bzw. zynische Reaktionsmuster gemeint. Depersonalisation und Zynismus stehen hier für die von den Betroffenen meist als bedrohlich erlebte Entfremdung von der Arbeitswelt und von früher noch als nahe stehend erlebten Menschen (sie­he auch: Freudenberger 1974, Maslach & Jackson 1981, 1986; Schaufeli et al 2008). Der dritte Leidensbereich umfasst nicht nur objektivierbare Leis­tungsreduktionen, sondern vor allem auch das subjektiv erlebte »Nicht-mehr-Können«.

Diese drei Phänomenfelder sind in den verschiedenen Stadien des Burnout unterschiedlich stark besetzt. In den Anfangsstadien überwiegen der Zwang, sich zu beweisen, sowie der verstärkte Arbeitseinsatz im Sinne einer Überkompensation bis hin zum »Perfektionismus«. Im Weiteren werden dann zunehmend die eigenen Bedürfnisse vernachlässigt, Konflikte verdrängt, Werte umgedeutet und Probleme verleugnet. Darauf folgt dann zunehmender Rückzug, Abschottung von der Mitwelt und soziale Isolation. Von außen werden jetzt Verhaltensänderungen sichtbar. Der Betroffene erlebt sich als zusehend, sich selbst und seiner Umgebung gegenüber entfremdet. Auf das Stadium der Depersonalisation und Selbstverneinung folgen dann die Stadien der inneren Leere, Verzweiflung und Antriebslosigkeit, die bis ins Vollbild einer Depression übergehen können und gar nicht selten mit verstärktem Suchtmittelgebrauch bis hin zu Suchtentwicklungen gepaart sind. Der Endpunkt ist dann geprägt von aussichtslosem Erschöpft-sein und völligem psychischen bzw. physischen Zusammenbruch (siehe Burnout-Stadien: Freudenberger & North 1992).

Ganz allgemein betrachtet, also losgelöst von der speziellen Burnout-Symptomatik, tritt Leiden immer dann auf, wenn wir in Situationen kommen, die als markante Diskontinuität unserer Lebenslinie erlebt werden. Das Herausfallen aus unseren gewohnten Lebenskontexten und die damit verbundene Erschütterung vertrauter Deutungsrahmen wird als Verunsicherung, als nachhaltiges Ausgeliefertsein erlebt und legt damit den Grundstein zum Leiden (Piepmeier 1986). Leiden setzt also Bedeutung voraus; gleichzeitig ist Leiden aber auch eines jener Lebensverhältnisse, dem besondere Bedeutung beigemessen wird. Mit anderen Worten: Wir leiden nicht so sehr am Faktum, sondern an der Bedeutung des Faktums; eines Faktums, das wir üblicherweise als das uns Gegenüberstehende, das uns Gegebene, als »donatum« erleben. Das gilt auch für das Leiden in und am Burnout. Fast alle Burnout-Patienten behaupten an »objektiven Arbeitsüberlastungen« zu leiden und vergessen dabei ganz, dass es vielmehr die Bedeutung ist, die sie der Arbeit im allgemeinen und ihrer Arbeit im Besonderen geben, die sie dann dazu führt, sich immer mehr in leidbringenden Überlastungssituationen zu verfangen.

Die Pathogenese des Leidens im Allgemeinen und die des Leidens am und im Burnout im Besonderen, ist aber wesentlich komplexer, als es eine einfache linear-mechanistische Hypothese, wie hier vorerst angeführt, zu erklären vermag. Am Beginn des Leidens steht zwar immer eine überfordernde bzw. überlastende Situation, ein Stressor, dieser führt aber nur dann ins Leiden, wenn wir über keine adäquaten Bewältigungsmechanismen verfügen. Dabei stellt sich zuvorderst die Frage: Woher stammen nun Überlastungssituationen? Oder anders ausgedrückt: Wie werden für uns banale Lebensbelastungen, die wir ja in der Regel durchaus gut bewältigen können, zu nicht mehr bewältigbaren Belastungssituationen? Es sind zum einen vor allem die von uns in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen, die vorher als nicht belastend erlebte Situationen nun zu belastenden werden lassen. Denken wir nur an eine Mutter, die mit ihrem Kind am Gehsteig einer vielbefahrenen Straße geht. Das Kind reißt sich los, läuft mit Freude auf die Straße, weiß noch nichts von der Gefährlichkeit der Situation und ist daher völlig unbelastet. Die Mutter hingegen weist einen ganz anderen Erfahrungsstand auf und ist demgemäß, das Gefahrenpotential dieser Situation erkennend, massiv belastet. Es sind aber nicht nur unsere (negativen) Erfahrungen, die uns zu Recht oder zu Unrecht in Belas­tungssituationen bringen, sondern es ist vor allem auch der herabgesetzte körperliche bzw. psychische Allgemeinzustand, der Überlastungssituationen fördert und katalysiert. Wir alle wissen, dass wenn wir z.B. nach einem erholsamen Urlaub in eine schwierige berufliche Situation geraten, wir diese gut und leicht meistern können, während uns die gleiche Situation in einem Zustand der Überarbeitung, also in einem schlechten psychischen bzw. körperlichen Zustand heillos überfordert.

Es sind also nicht nur von außen auf uns einwirkende Kräfte, die uns bestimmte Situationen als belastend erleben lassen, sondern vorzugsweise unsere eigenen Bedeutungsgebungen einerseits und unser eigener Allgemeinzustand andererseits, die prinzipiell gut bewältigbare Gegebenheiten zu nicht mehr bewältigbaren machen. Das heißt aber auch, dass es nicht mehr nur die objektive Arbeitsbelastung ist, die ins Burnout führt, sondern eben ganz wesentlich auch die Bedeutungsgebungen der Arbeitssituation sowie auch die körperliche und psychische Gesamtverfassung der Betroffenen. Hier öffnet sich bereits ein erster Teufelskreis: Natürlich geht chronisches Leiden selbst schon mit einem reduzierten psychischen und physischen Allgemeinzustand einher, der seinerseits dann wieder dazu führt, dass über nicht bewältigbare Überlastungssituationen der Leidenszustand wieder verstärkt wird (siehe Abb. 1). Auch das klinische Vollbild des Burnout selbst ist gekennzeichnet von massiv herabgesetztem psychischen und physischen Allgemeinzustand und kann dem gleichgesetzt daher auch selbst wieder zu Überlastungssituationen führen, die dann als leidvoll erlebt werden, womit der Leidenszustand weiter verstärkt wird. Chronisches Leiden allein führt schon zur Erschöpfung, womit ein weiterer Teufelskreis geschlossen ist (siehe Abb. 2).

Abb. 1

Abb. 2

Chronisches Leiden im Allgemeinen und das Leiden am Burnout im Besonderen kann aber auch als immanente Erfahrung selbst zum Ausgangspunkt von Überlastungen werden, vor allem dann, wenn diese als ausweglose und aussichtslose Situation erlebt werden, womit noch ein Verstärkerkreis geschlossen wird. Chronisches Leiden bleibt auch nie nur auf das primär betroffene Einzelindividuum beschränkt, es hat immer auch Auswirkungen auf dessen Umgebung. Die Reaktionen des sozialen Umfeldes – seien es nun Angehörige, Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen oder Vorgesetzte – wirken dann ihrerseits wieder auf den Primärbetroffenen zurück: zum einen unmittelbar auf dessen Erfahrungsfeld und Allgemeinzustand, zum anderen aber auch dahingehend, dass sie wiederum selbst zum Ausgangspunkt von Belastungen und Überlastungen werden können, womit noch komplexere Verstärkermechanismen etabliert werden. Burnout-Patienten sind somit in mehrfachen Verstärkerkreisläufen mit ganz unterschiedlichen körperlichen, psychischen und sozialen Bedingungskonstellationen verfangen, denen allen in der Behandlungsplanung Rechnung zu tragen ist. Damit wird hier schon deutlich, dass zielführende Hilfestellungen für Burnout-Patienten sich nie in singulären simplen Ratschlägen bzw. Aktionen, wie zum Beispiel »spannen Sie ruhig einmal aus« oder »genehmigen Sie sich einfach eine Auszeit« erschöpfen dürfen, sondern an den verschiedenen Schnittstellen des kybernetisch-dynamischen Systems des Leidens am und im Burnout ansetzen müssen.

Auch wenn ein chronischer Leidenszustand und damit natürlich auch das Leiden am Burnout in all seiner Komplexität ganz wesentlich durch unsere Bedeutungsgebungen bedingt ist, braucht es zur Entstehung doch eines Faktums, dem leidbringende Bedeutung beigemessen wird. Was ist nun dieses Faktum? Was ist das uns Gegebene, das dann ins Burnout führt? Von Beginn an wurde von Burnout immer nur dann gesprochen, wenn als Ursache für den Leidenszustand eine bestimmte Arbeitskonstellation verbunden mit deutlicher Arbeitsüberlastung verantwortlich zu machen war. Ausgebrannt-sein im Sinne von Erschöpfung, Entfremdung und Leis­tungsverlust ist aber natürlich nicht immer nur Folgeerscheinung von Arbeitsproblematiken. Es gibt mannigfache Situationen und Zustände, die zu nachhaltiger Erschöpfung führen können: Man kann auch in Ehen, in Partnerschaften, in zwischenmenschlichen Beziehungen im Allgemeinen, im Sport, ja sogar im Überfluss unserer Spaßgesellschaft »ausbrennen«. Auch wenn wir bei arbeitsbedingtem Burnout, also bei Burnout im eigentlichen und engeren Sinne, in den prädisponierenden Bedingungskonstellationen unverhältnismäßig häufig Partnerschaftsproblematiken finden und das Leiden am Burnout natürlich immer auch im gesellschaftlichen Kontext zu sehen ist, empfiehlt es sich doch in der klinischen Praxis nur dort von einem Burnout zu sprechen, wo die jeweilige Arbeitssituation Ausgangspunkt des Leidens ist. Auf diese Weise können dann zumindest einige diagnostische Unschärfen und damit verbunden auch unnötige begriffliche Verwirrungen bzw. Verirrungen vermieden werden.

Seither widerfuhren dem Begriff Arbeit allerdings mannigfache Bedeutungsveränderungen. In der Neuzeit gilt Arbeit als Tätigkeit zur Produktion von Gütern. Ihre Aufgabe ist die Herstellung von Gegenständen und sie wird damit neben Boden und Kapital zum unverzichtbaren dritten Produktionsfaktor. Bei Marx erlangt die Arbeit dann eine Doppelbedeutung: Einerseits verheißt sie unmittelbare Verwirklichung des Menschen, andererseits führt sie aber auch unmittelbar zur Entfremdung des Menschen. Der Mensch wird zur Produktionsmaschine und verliert damit sein Menschsein. Mit Arbeit war natürlich auch hier vor allem körperliche Arbeit gemeint. Erst später wurde auch geistige Arbeit als solche anerkannt, allerdings auch nur dann, wenn sie als besondere Form menschlicher Tätigkeit »zur Herstellung von Gütern und Eintreten von Situationen führt.« Demgegenüber kann man Arbeit auch als Mittel zur »Entfaltung der dem Menschen eigenen Fähigkeiten, zur Naturbeherrschung und zur allgemeinen Verbesserung der Lebensverhältnisse« sehen, oder gar als »Weg zur Gestaltung und Kontrolle des Lebens« (Ulfig 1999, Arendt 2010).

Die letztgenannten Ansichten sind heute aber bei weitem noch nicht allgemein verfügbares Gedankengut, noch immer wird Arbeit, wie schon in der Antike, mit Zwang, Unfreiheit, Leid und Mühsal gleichgesetzt – und das leider oft gar nicht zu Unrecht. Noch immer ist es vor allem das Arbeiten selbst und nicht das damit zu vollbringende Werk, das im Mittelpunkt des Erlebens steht. Noch immer hat Arbeit die Bedeutung von molesta, dem Lästigen, dem zur Last Fallenden, während die Sinngebung derselben durch opus, opera, von dem am Ende der Bemühungen und Anstrengungen stehenden Werk in unserer vorzugsweise auf raschen Profit ausgerichteten Gesellschaft wenig Verbreitung erfährt. Gezwungen-werden, Leid und Mühsal und das dann noch als Selbstzweck, das alles sind Erlebnisweisen, die zweifelsohne für den Arbeitenden nicht gerade attraktiv und demgemäß nur wenig motivierend sind. Das erklärte Ziel von vielen Arbeitenden war und ist es daher auch, eine Gesellschaftsstellung zu erreichen, in der man nicht (mehr) zu arbeiten braucht. Arbeit wird damit für den Arbeiten-müssenden zum eigentlich Unerwünschten, wodurch nicht nur in manch Älterwerdendem der Wunsch genährt wird, möglichst früh berentet zu werden. Der heutige Diskurs zur Arbeit, der nahezu ausschließlich auf die Frage fokussiert, wann jemand den Altersruhestand (also den Zustand staatlich verordneter Arbeitslosigkeit) erreichen soll bzw. darf, gibt eindrucksvolles Zeugnis davon. So wichtige, weil auch (über)lebensbestimmende Fragen zur Bedeutung der Arbeit als weltgestaltendes Element, Fragen zur Sinnfindung und Sinngebung durch Arbeit, Fragen zur Arbeitsqualität, zur Arbeitsethik und zur Arbeitsästhetik (alles Fragen, deren Beantwortungen für eine zielführende Burnout-Prophylaxe unverzichtbar sind) bleiben dabei auf der Strecke. Die Folgen einer solch weitgehend fehlenden Arbeitskultur entäußern sich dann nicht zuletzt auch in einer heute immer mehr zunehmenden Arbeitsüberforderung, in Erschöpfung, Energieverlust, Leistungsminderung und Abkehr von der Mitwelt – alles Zeichen, die im Begriff Burnout mit enthalten sind.

Burnout und Arbeit sind also untrennbar miteinander verbunden. Da verwundert es auch nicht, dass sich insbesondere die Arbeitspsychologie dieses Themas annahm und die derzeitige Hauptprotagonistin des Burnout-Konzepts, Christina Maslach, eine an der University of California, Berkeley, tätige (Arbeits-)Psychologin ist. Der Begriff selbst wurde wie gesagt vom Psychiater und Psychoanalytiker Herbert Freudenberger (1974) geprägt. Er betitelte damit ein klinisch-psychiatrisches Zustandsbild, das bei helfenden Berufen überzufällig häufig in Erscheinung tritt und das von Leistungsverlust, Überforderung bis hin zur Erschöpfung und abweisender zynischer Haltung anderen gegenüber geprägt ist. Die erste Beschreibung und Konzeptualisierung war also eine rein medizinisch-psychotherapeutische. Es ging Freudenberger vor allem darum, die wesentlichen klinischen Merkmale und intrapsychischen Prozesse, die im Rahmen chronischer Arbeitsüberforderungen auftreten, festzumachen, um anhand dessen Handlungsanleitungen für die Therapie derselben entwickeln zu können. In der Folge erfuhr diese erste medizinische Konzeption aber markante Veränderungen. Nicht mehr nur das klinische Erscheinungsbild und seine Behandlung standen nun im Mittelpunkt der Forschungsbemühungen, sondern es rückten immer mehr pathogenetische Überlegungen und Untersuchungen ins Zentrum des Interesses. Die Erforschung des Burnout wurde immer mehr zur Domäne der Arbeitspsychologie. Der Wechsel von der klinischen patientenorientierten Sichtweise zu einer arbeitspsychologischen Perspektive führte auch dazu, dass Burnout heute keineswegs mehr als ein Problem der daran leidenden Patienten aufgefasst wird, sondern immer mehr auch als Problem des Arbeitgebers. Christina Maslach geht dabei sogar so weit, dass sie es überhaupt ablehnt, Burnout als Krankheit zu bezeichnen, sondern es stattdessen auf den Status einer »besonderen Erfahrung« beschränkt (Maslach 2011). Nicht ganz konsequent spricht sie dann zwar von Symp­tomen des Burnout, was manchen doch als eine typische medizinische Krankheitsnomenklatur anmutet. Als Symptome werden ja üblicherweise Krankheitszeichen benannt. In einer erweiterten Verwendungsweise des Begriffs werden aber auch andere Zeichen für Fehlentwicklungen darunter gefasst, wie z.B. Symptome einer wirtschaftlichen Fehlentwicklung, Symptome einer nicht funktionierenden Gesellschaftsform etc. belegen (man verwendet ja dann auch die Bezeichnungen kranke Wirtschaft oder kranke Gesellschaft).

Zu den charakteristischen Symptomen des Burnout zählt Christina Maslach vorherrschende Ermüdungszeichen und atypische körperliche Stress-Symptome, die arbeitsabhängig bei psychisch gesunden Menschen auftreten und die mit einer reduzierten Leistungsfähigkeit einhergehen. Die Folge davon sind ihrer Ansicht nach schlechte Arbeitsqualität, niedrige Arbeitsmoral, häufige Arbeitsabwesenheiten und Arbeitsplatzwechsel, gesundheitliche Probleme, Depression und familiäre Probleme. Die Ursachen lassen sich für sie dabei nicht so sehr im Einzelindividuum finden, sondern vielmehr in der jeweiligen Betriebsführungs- bzw. Arbeitsplatzgestaltung, wobei hier sechs Kapitalfehler von Unternehmen angeprangert werden: 1. Das Missverhältnis von geforderter Arbeitsleistung und zur Verfügung gestellter Mittel, 2. Organisationsmängel mit fehlenden Kontrollmechanismen, 3. ungenügende Anerkennung (nur Tadel, kein Lob), 4. Zusammenbruch der Arbeitsplatzkommunität geprägt von Unfreundlichkeiten, Abwertungen und Einschüchterungen, 5. Verlust von Fairness und Respekt, sowie 6. Wertkonflikte (das Gelebte steht hier im Widerspruch zum Gepredigten). So wichtig und bereichernd diese Ausweitung des Diskurses um betriebliche Führungsfehler als Bedingungskonstellationen auch ist, so problematisch ist es doch, das Burnout völlig aus der medizinischen Krankheitsdiagnostik zu nehmen und zur reinen Erfahrungsmöglichkeit zu reduzieren. Mehr noch: Das Negieren des Burnout als Krankheit ist ein für die von Burnout Betroffenen folgenschwerer Fehler – es werden ihnen nämlich damit, und hier vor allem den am schwersten Erkrankten, all jene Vorrechte entzogen, die Kranken sinnhafter Weise gewährt werden, wie z.B. das Recht auf Behandlung bzw. Krankenstand, womit ein primär durchaus humaner Ansatz zum Inhumanum mutiert.

Burnout ist keineswegs nur das Problem des Arbeitgebers. Ganz ohne Zweifel kann es nicht ohne diejenigen entstehen, die darunter leiden. Burnout als Leiden gesehen ist ein subjektiv erlebter psychischer Zustand höchsten Unwohlseins, der seine Ursachenkonstellationen einerseits natürlich in der Arbeitswelt des Betroffenen, andererseits aber auch in den Umgangsformen des Betroffenen mit seiner Arbeitswelt hat. Erst durch das Zusammenspiel der beiden tritt der fatale Fall völliger Überforderung ein mit all seinen leidvollen Folgen, die wir heute Burnout nennen. Als Leidenszustand kommt dabei dem Burnout per se noch keine Krankheitswertigkeit zu (auch wenn dieser Leidenszustand später durchaus in einen Krankheitszustand übergehen kann). Nicht jeder Leidenszustand ist schon auch ein Krankheitszustand (vgl. Poltrum u. Musalek 2008, 26 f.). Wir können z.B. an Liebeskummer leiden, an finanziellen Nöten, an Langeweile oder eben auch an Überarbeitung. Diese Leiden alleine würden uns noch nicht dazu berechtigen, schon von Erkrankungszuständen zu sprechen, obgleich wir wissen, dass all die angeführten Leiden auch in Krankheiten übergehen können.

Es stellt sich somit die Frage ab wann kann man bzw. ab wann muss man von einer Krankheit Burnout sprechen? Wo liegt die Grenze zwischen ubiquitär vorkommenden, beeinträchtigenden, psychischen Konstellationen einerseits und behandlungsbedürftigen Krankheitszuständen andererseits? Welche Grenzziehungsmöglichkeiten finden sich zwischen ‚normal‘ und ‚krank‘? Heute wird sehr oft zwischen ‚normal‘ und ‚krank‘ unterschieden, ganz so, als ob es sich dabei um zwei Gegenpole handelte. Dabei ist das Gegenteil von ‚normal‘ natürlich nicht ‚krank‘, sondern abnormal‘ und das von ‚krank‘ nicht ‚normal‘, sondern ‚gesund‘ – wobei ‚gesund‘ keineswegs und in jedem Fall mit ‚normal‘ gleichzusetzen ist; selbst dann nicht, wenn wir so gern Gesundheit als das Normale ansehen. Betrachten wir die Menschheit als statistische Gesamtgröße, dann erscheint Gesundheit als gar nicht mehr so normal. Jeder stirbt, die allermeisten sterben an Krankheiten. Es handelt sich beim Kranksein also keineswegs um einen seltenen Ausnahmefall, sondern im Gegenteil um eine Normalität unseres Daseins. So betrachtet könnte (und sollte) man auch das Kranke (und nicht nur das Gesunde) als das für uns Menschen durchaus Normale ansehen. Dazu kommt noch, dass wir das Normale von unterschiedlichen Seiten festmachen, was allesamt im täglichen Diskurs leider nur allzu oft zu unheilvollen Missverständnissen und Streitfällen führt. Um mehr Klarheit in die im Alltag so oft obskuren Verflechtungen von diversen Normfeststellungen zu bringen, empfiehlt es sich zwischen vier voneinander abgrenzbaren Normbegriffen zu unterscheiden: 1. die subjektive Betrachternorm, 2. die Idealnorm, 3. die statistische Norm und 4. die sogenannte funktionale Norm, wobei die erste als subjektive Norm und die restlichen drei von nicht wenigen (aber dennoch unkorrekter Weise) als objektive Normen bezeichnet werden.

Bei der subjektiven Betrachternorm geht man von der These aus, dass der Betrachter selbst die Norm repräsentiert, womit dann das Andere, das Gegenüberstehende verglichen wird: All das, was dem Eigenen gleicht, wird als normal bewertet, all das davon Abweichende als abnorm. Dieser Normbegriff ist wohl der in der Bevölkerung am weitesten verbreitete. Wenn wir im Alltag ohne große Reflexion »normal« sagen, dann begründen wir dieses »normal« üblicherweise auf der subjektiven Betrachternorm. Sind nicht nur wir es, die auf diese Weise etwas als normal bezeichnen, sondern finden auch andere unter Anwendung desselben Normbegriffs, dass etwas normal ist, dann sehen wir das Normale (oder das Abnorme) als schon »objektiv« nachgewiesen an. Die zwei gro­ßen Probleme, die bei Verwendung dieses Normbegriffs auftreten, sind folgende: Zum Ersten wird diese Normbestimmung absurd, wenn der Betrachter selbst nicht normal ist (wodurch nämlich alles primär Normale dann zum Abnormen mutiert) und zum Zweiten macht es aufgrund der Vielfalt von Menschen wenig Sinn, all das, was anders ist, nur deshalb, weil es anders ist, schon als abnorm zu bewerten. Im Alltag werden, um diese Problematik zu minimieren, daher meist nur relativ starke Abweichungen als abnorm klassifiziert, wobei das, was als relativ stark abweichend, und das, was als schwach abweichend bezeichnet wird, wiederum subjektiv festgelegt wird.

Demgegenüber stehen die sogenannten »objektiven Normbegriffe«. An erster Stelle sei hier die in der Medizin so häufig zur Normbestimmung herangezogene Idealnorm genannt: Sie beruht auf der Hochrechnung von möglichen Eigenschaften, Verhaltensweisen bzw. Befunden zu ihrem Ideal. Wenn »Idealwerte« gemessen werden können, wenn Idealeigenschaften bzw. Idealverhaltensweisen beobachtet werden können, dann entspricht das dem Normalen. Denken wir z.B. nur an Röntgenbefunde oder andere medizinische Beurteilungen von Organbeschaffenheiten. Wir wissen z.B., wie ein Gehirn morphologisch ideal auszusehen hat; findet sich dann eine Veränderung, die von diesem Ideal abweicht, wie z.B. ein Tumor, dann wird diese Abweichung vom Ideal als abnorm klassifiziert. So hilfreich diese Normbestimmung in vielen Fällen auch ist, so birgt sie doch auch Probleme. Zum einen ist das Ideal bei Lebewesen nicht so häufig anzutreffen, sodass man auch Abweichungen von demselben, vor allem dann, wenn sie nicht zu groß sind, noch als normal zu bezeichnen hat; man spricht dann von Normvarianten. Die Grenzziehung zwischen Ideal und Normvariante auf der einen Seite und dem Abnormen auf der anderen Seite erfolgt aber in der Regel mittels subjektiver Methoden. Zum anderen kann es natürlich höchst gefährlich werden, gerade bei Verhaltensweisen Ideale vorzugeben: Wer weiß hier schon, was ideal ist? Welch furchtbare Konsequenzen solche (zumeist dann wieder sehr subjektiv getroffene) Idaelbestimmungen haben können, davon zeugen allbekannte Vorkommnisse von Inhumanität in totalitären politischen Regimen, in denen mehr oder weniger willkürlich bestimmte Merkmale bzw. Ansichten als ideal ausgewiesen werden. Auch diese Normbestimmung entpuppt sich also bei genauerem Hinsehen als einerseits gar nicht so »objektiv«, wie sie gerne erscheinen mag, und sie kann andererseits durchaus dramatische Folgen nach sich ziehen. Darüber hinaus kann sie auch andere Normbestimmungen maskieren. So glauben z.B. noch immer viele fälschlicherweise, dass Normwerte von Blutparameterbestimmungen auf der Idealnorm basieren. Durch den Begriff Normwert wird hier einem das Gefühl vermittelt, dass das System, für das der jeweilige Blutwert steht, normal im Sinne von ideal funktioniert. Normwertbereiche von Blutparametern werden aber in der überwiegenden Mehrheit nicht auf der Basis einer Idealnorm erstellt, sondern sind Ergebnis statistischer Berechnungen und damit Ausdruck statistischer Norm.

Die der statistischen Norm zugrundeliegende Annahme heißt, die Mehrheit repräsentiert das Normale, die Minderheit das Abnorme. Ist man so wie die allermeisten, dann befindet man sich also im Normbereich, in den Rand- bzw. Grenzbereichen der Gauß’schen Verteilungsglocke (die mit sogenannten Standardabweichungen in Zahlen gegossen werden) beginnt das Abnorme. Dass sich ein Blutwert im Normbereich befindet, bedeutet also nicht das Erreichen eines Idealwertes, sondern vorerst nur, dass dieser Wert in einem Bereich angesiedelt ist, wo auch die Werte der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung zu finden sind. Eine Anwendung dieses Normbegriffes auf medizinische Problemstellungen macht überall dort Sinn, wo man davon ausgehen kann, dass der Großteil der Bevölkerung sich im Gesunden befindet; dort allerdings, wo krankhafte Veränderungen weit verbreitet sind, darf er nicht angewendet werden: So wäre es absurd z.B. Karies, trotzdem weite Bevölkerungsteile daran leiden, als normal zu bezeichnen und damit mit gesund gleichzusetzen.

Die dritte »objektive« Norm, die funktionale Norm ist die im Bereich der Psychiatrie wohl am häufigsten gewählte Normperspektive. Hier wird der Patient quasi zu seiner eigenen Kontrollgruppe. Jeder Mensch hat seine bisherige beobachtbare Entwicklung. Von dieser wird dann in bestimmten Grenzbereichen auf die weitere Entwicklung des Einzelnen hochgerechnet. Verläuft die Lebenslinie im Wesentlichen kontinuierlich, dann wird das als normal (im Sinne von erwartet) gesehen, weist diese Lebenslinie eine Bruchstelle oder stärkere Abweichung auf, dann ist das als abnorm (im Sinne von unerwartet) zu bewerten. Man spricht dann von einer signifikanten Abweichung vom Habitualzustand. So kann man z.B. von einem fleißigen, arbeitssamen, gut gepflegten Studenten, der interessiert, lustig und gesellig ist, erwarten, dass er das, von möglichen geringen Schwankungen abgesehen, auch in Zukunft bleiben wird. Verliert der Student aber plötzlich sein Interesse, kommt er nicht mehr seiner Arbeit als Student nach, zieht er sich immer mehr zurück und vernachlässigt vielleicht sogar noch die Körperpflege, dann würde das einen Bruch in der Lebensführung darstellen und es wäre die Frage zu stellen, ob der Grund für ein solches für ihn selbst abnormes Verhalten nicht ein Krankheitsgeschehen (möglicherweise eine Depression) sein könnte. Die Stärke dieses Normbegriffs liegt vor allem in Lebensbereichen mit hoher interindividueller Variabilität: Was für den einen bei Momentbetrachtung durchaus noch normal sein kann (z.B. dass man sich wenig pflegt, nicht sehr lustig und gesellig ist) kann für den anderen schon abnorm sein (nämlich für den, der sich üblicherweise pflegt, lustig und gesellig ist). Die Grenze, ab wann man etwas als schon abnorm oder aber doch noch als »nur geringe Normabweichung« bezeichnet, erfolgt dann mittels subjektiver Methoden bzw. statistischer Berechnungen. In den Grenzbereichen selbst weist die Beurteilung natürlich Unschärfen auf, die umso geringer werden, je stärker die beobachtbaren Veränderungen ausgeprägt sind.

Egal welchen der vier Normbegriffe man nun anwendet, in jedem Fall sind wir im Rahmen von Normbestimmungen mit dem sogenannten »Kontinuumsproblem« konfrontiert. Völlig normal und völlig abnorm sind nämlich nicht voneinander unabhängige Gegensätze, sondern Extremvarianten auf einem dazwischen liegenden Kontinuum (Musalek et al. 2010). Zwischen den Bereichen »normal« und »abnorm« findet sich ein Übergangsbereich, in dem es schwer fällt, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit etwas als normal bzw. als abnorm zu bewerten; je näher man den Extrembereichen kommt, desto sicherer wird die Beurteilung. Dasselbe gilt auch für das Gegensatzpaar gesund und krank. Auch wenn »gesund-krank« nicht mit »normal-abnorm« gleichgesetzt werden darf, so gelten doch viele Überlegungen, die wir zur Normbestimmung anwenden, auch für die Bestimmung von »gesund« und »krank«. Auch hier ist ganz ähnlich wie bei den vier unterschiedlichen Normbestimmungen vorzugehen. Analog zu den vier Normbegriffen kann man daher von einem »subjektiven«, einem »idealen«, einem »statistischen« und einem »funktionalen« Krankheitsbegriff sprechen, wobei aber nicht außer Acht zu lassen ist, dass »krank« immer wesentlich mehr als »abnorm« und »gesund« wesentlich mehr als »normal« umfasst.

Die WHO definiert Gesundheit als körperliches, psychisches und soziales Wohlbefinden (eigentlich richtiger Wohlsein – siehe engl. Fassung: »well-being«!). Die Frage, die sich hier natürlich stellt, lautet: Was heißt Wohlsein? In der medizinisch-klinischen Praxis wird Wohlbefinden/Wohlsein einerseits mit der Absenz von Leid und andererseits mit Funktionstüchtigkeit gleichgesetzt, wobei gutes Funktionieren nicht nur auf die Arbeitswelt beschränkt bleibt, sondern auch auf die Privatsphäre angewandt wird, auf den Umgang mit Freunden, Partnern, mit Familie, mit Kindern etc. Gesund ist dann jemand, der im körperlichen, psychischen und sozialen Bereich voll funktionstüchtig ist und der kein körperliches, seelisches und/oder soziales Leiden beklagt. Gesundes Leben kann aber auch mit schönem Leben gleichgesetzt werden, wobei wir üblicherweise dann von einem schönen Leben sprechen, wenn es möglichst autonom und weitgehend freudvoll geführt werden kann. Bei einer solchen Definition steht dann nicht mehr so sehr das Nicht-Funktionieren im Mittelpunkt des diagnostischen Interesses, sondern die Beurteilung eines etwaigen Autonomieverlusts, des Führen-müssens eines nicht mehr weitgehend selbstbestimmten Lebens sowie das Erleben einer zunehmenden Freudlosigkeit, die in der Regel mit zunehmendem Erleben von Leiden gepaart ist.

Für die Burnout-Diagnostik bedeutet das, dass wir natürlich auch hier mit einem Kontinuum zwischen ganz gesund und ganz krank konfrontiert werden. In ein Burnout zu kommen oder ein Burnout zu haben heißt nicht schon in jedem Fall auch krank zu sein. Gerade in den Frühstadien des Burnout, die sich in chronischer Müdigkeit, Erschöpfung, Langeweile, Zynismus und Gleichgültigkeit (»empfindendes Stadium« nach Freudenberger & Richelson 1980) entäußern, ist in der Regel noch nicht von einer Krankheit zu sprechen. Andererseits ist im Vollausprägungsgrad mit deutlichen Zeichen einer Depression, totaler Erschöpfung und psychosomatischen Beschwerden (»empfindungsloses Stadium« nach Freudenberger & Richelson 1980) ganz ohne Zweifel eine Krankheit im engeren Sinn zu diagnostizieren. Dazwischen gibt es mannigfache Übergangstadien, die sich in der Vernachlässigung eigener Bedürfnisse, in Konfliktverdrängung, Werteumdeutungen, Problemverleugnung, Entfremdung und zunehmendem sozialen Rückzug zeigen (Burnout Stadien nach Freudenberger/North 1992), bei denen es im Einzelfall durchaus schwer fallen kann, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustellen, ob nun eine Burnout-Krankheit vorliegt oder nicht.

Wenig hilfreich sind dabei die diagnostischen Kriterien der WHO in der derzeit vorliegenden Fassung (ICD-10). Hier wird das Burnout nicht als eigentliche Krankheitsdiagnose (F-Klasse), sondern als »Ausgebranntsein« der Gruppe der »Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zu einer Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen« (Z-Diagnosen) zugeordnet (siehe ICD-10 1993). Ein Umstand übrigens, der vor allem von jenen Kollegen die mit Begutachtungsfragen befasst werden, als sehr verunsichernd erlebt wird. Es ist zu hoffen, dass in der nun vorbereiteten nächsten Version der WHO-Kriterien (ICD-11) der beobachtbaren Realität Rechnung getragen wird und bestimmte Formen bzw. Ausprägungsgrade des Burnout in die Gruppe der F-Diagnose aufgenommen werden.