Glutroter Luberon - Ralf Nestmeyer - E-Book

Glutroter Luberon E-Book

Ralf Nestmeyer

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Beschreibung

Stimmungsvolle Urlaubslektüre für heiße Sommertage: Die Provence ächzt unter Trockenheit und einer ungewöhnlichen Hitzewelle, allerorts droht Waldbrandgefahr. Währenddessen wird in einer Steinhütte im Luberon eine tote Frau gefunden, die wenige Wochen zuvor ein Kind zur Welt gebracht hat. Niemand scheint sie zu vermissen, und auch von dem Säugling gibt es keine Spur. Capitaine Malbec folgt den einzig verwertbaren Hinweisen: Farbpigmenten an den Händen und der Kleidung des Opfers. Sie führen ihn in die Ockerbrüche von Roussillon – und in ein Inferno, das zur tödlichen Falle wird.

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Seitenzahl: 346

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Ralf Nestmeyer ist Historiker und Reisejournalist sowie Autor von zahlreichen Reiseführern, vor allem über französische Regionen, außerdem verfasste er Bücher über französische Mythen und französische Dichterhäuser. Er ist Gründungsmitglied des PEN Berlin. www.nestmeyer.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: stock.adobe.com/mehdi33300

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Nadine Buranaseda, typo18, Bornheim

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-150-8

Provence Krimi

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

EINS

Er hatte sie die letzten Meter in seinen Armen getragen. Sie fühlte sich so federleicht, so wunderschön an. Er ging in die Knie, um sie auf den Boden zu legen. Vorsichtig zog er die Hände unter ihrem Körper hervor und ließ die Finger zärtlich über ihren Oberschenkel gleiten. Ihre Haut war kalt, aber davon ließ er sich nicht irritieren. Mit angewinkelten Beinen ruhte sie auf der Seite. Ihr Top war verrutscht und bedeckte den wohlgeformten Busen nur zur Hälfte. Ganz langsam beugte er sich hinab, schloss die Augen und versenkte das Gesicht in ihrem Haar, um ihren Duft einzusaugen. Er verharrte reglos, denn er wollte sich nicht von ihr trennen.

Noch einmal streichelte er über die zarte Haut ihres Pos. Er atmete schwer und dachte an die Zeit, die sie zusammen verbracht hatten. Keine Frage, sie waren füreinander bestimmt gewesen. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte er es gespürt, als sie ihm lächelnd gegenübergestanden hatte. Sie strich sich durch die langen Locken, schaute ihn verführerisch an und schob die Sonnenbrille kokett nach oben. Diese Geste deutete er als Zeichen, als geheime Botschaft, die nur an ihn gerichtet war. Schnell durchschaute er ihr Spiel, brach ihren Willen mit sanftem Druck, bis sie sich fügte, ihm gehorchte.

Er war großzügig und überhäufte sie mit Geschenken, erahnte ihre Wünsche, bevor sie ausgesprochen wurden. Seine Aufmerksamkeit und Fürsorglichkeit kannten keine Grenzen. Jeden Abend verzehrte er sich nach ihr, freute sich, ihr nah sein zu können, und hoffte auf das ersehnte Familienglück. Er kümmerte sich um alles und richtete das Kinderzimmer ein. Doch letztlich war sie undankbar gewesen, hatte ihn provoziert, sich über ihn lustig gemacht. Das konnte er ihr nicht durchgehen lassen. Nein, das ging nicht. Das ging eindeutig zu weit.

Es würde nicht leicht sein, sie nicht mehr bei sich zu wissen. Jetzt musste er sich allerdings nie mehr sorgen. Alles war gut. Vorbei. Die gemeinsamen Tage, Wochen, Monate würden ihm für immer im Gedächtnis bleiben.

Mit bedächtigen Bewegungen legte er ihre Arme zur Seite. Ihre Gesichtszüge waren entspannt, ganz friedlich lag sie da, als wäre sie eben erst eingeschlafen. Er betrachtete ihren ausgestreckten Körper. Neben ihr kniend, strich er ihr eine Haarsträhne zurück und küsste ihre erkalteten Lippen.

Nun war es an der Zeit, Abschied zu nehmen. Für immer.

***

Malbecs Portable vibrierte zum wiederholten Mal auf dem Nachttisch. Langsam streckte er den Arm aus und tastete nach dem Telefon. Verschlafen drückte er auf den grünen Button, um den Anruf anzunehmen.

»Olivier«, hörte er seinen Kollegen Roland Cabanel im breiten Singsang seines südfranzösischen Akzents sagen, »ich glaube, es wäre gut, wenn du einen Ausflug nach Gordes unternimmst.«

»Roland, weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, grummelte Malbec ungehalten. Er setzte sich auf und ließ die Füße auf den kühlen Boden gleiten. Um Catherine nicht zu wecken, stand er schnell auf und lief ins Badezimmer.

»Ja, es ist bereits nach sechs Uhr, mein Lieber, und wir dienen beide dem Staat rund um die Uhr.«

»Spar dir deine Witze. Was soll ich in Gordes? Da ist um diese Zeit noch niemand unterwegs.«

»Es gibt einen triftigen Grund. Vor einer knappen Stunde wurde die Leiche einer jungen Frau gefunden. Um genau zu sein, sie wurde halb nackt in einer Steinhütte unterhalb des Dorfs entdeckt.«

»Merde!«

»Kannst du den Fall übernehmen? Ich muss heute Vormittag vor Gericht aussagen. Du weißt, es geht um den Bauingenieur, der seine Tochter entführt hat.«

»Dann wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben«, sagte Malbec und erinnerte sich daran, dass Roland Cabanel im Zusammenhang mit einer Anklage wegen Kindesentführung in einem Sorgerechtsstreit als Zeuge vorgeladen worden war.

»Danke, ich schicke dir gleich die genauen Koordinaten, informiere noch Sergent Bouzidi und die Spurensicherung. Wenn ich mehr weiß, melde ich mich wieder.«

»Alles klar, ich mache mich in zehn Minuten auf den Weg«, versicherte er gequält.

Malbec legte das Telefon zur Seite. Er stützte sich mit den Händen am Rand des Waschbeckens ab und betrachtete seine Augenringe im Spiegel. So hatte er sich den Morgen nicht vorgestellt. Geplant gewesen war, auszuschlafen und dann gemeinsam mit frischen Croissants im Garten unter dem Feigenbaum zu frühstücken. Er wollte später ins Büro, Überstunden abbauen, und auch seine Freundin Catherine Cardot hatte sich den Vormittag freigehalten. Es war schwierig, Absprachen zu treffen, da Catherine als Landschaftsarchitektin sehr beschäftigt war.

Unkonventionelle Entwürfe waren ihr Markenzeichen als Architecte paysagiste. Seit mehrere internationale Architekturmagazine vor zwei Jahren über ihre Arbeit berichtet und diese als florale Poesie gelobt hatten, konnte sie sich mit ihrem kleinen Büro vor Anfragen aus der gesamten Provence kaum retten. Das versetzte sie in die komfortable Situation, nur diejenigen Aufträge anzunehmen, die sie herausforderten. Jeder Garten trug ihre individuelle Handschrift und zeichnete sich durch eine besondere Farbgebung aus, die sich von den Bäumen bis zu den Stauden und Beeten mit spielerischer Leichtigkeit fortsetzte.

Für Malbec waren die gemeinsamen Stunden mit Catherine kostbar. Vor einem halben Jahr hätten sie sich fast getrennt, glücklicherweise war ihre Beziehungskrise überwunden, und sie hatten vereinbart, fortan eine lockere Partnerschaft ohne Zwänge und Besitzansprüche zu führen. Das war nicht einfach, jedoch besser, als sich in endlosen Streitereien aufzureiben.

Gestern Abend hatte Malbec einen Tisch im »Au Fil du Temps« reserviert, einem charmanten Restaurant, das in den Räumlichkeiten einer ehemaligen Épicerie inmitten der Altstadt von Calmont-les-Fontaines untergebracht war. Sie saßen auf der Terrasse neben einem alten steinernen Brunnen und ließen sich von den kulinarischen Köstlichkeiten verwöhnen. Das Lokal war bekannt für seine erlesene Auswahl an Weinen und eine moderne Interpretation der provenzalischen Küche, die mit ungewöhnlichen Kombinationen wie Poireaux farcis oder Jakobsmuscheln im Mangoldmantel begeisterte.

Während sich Catherine für ein auf den Punkt gegartes Carré d’Agneau aus den Alpillen, das mit einer Oliven-Kräuter-Kruste überbacken wurde, als Hauptgericht entschied, wählte Malbec Épaule de veau. Das glasierte Kalbsschultersteak wurde mit Dinkelrisotto und Butternut-Kürbis serviert. Nach dem Dessert schlenderten sie Arm in Arm durch die stillen Gassen nach Hause. Es war ein wunderbarer Abend. Sie saßen bei einem Rosé unter dem sternenklaren Himmel und freuten sich über jeden zarten Windstoß. Catherine streichelte seinen behaarten Unterarm. Sie hatten sich zuerst sanft, dann immer leidenschaftlicher geküsst, ihre halb vollen Gläser stehen gelassen und waren Hand in Hand die Treppe hinaufgegangen.

Malbec drehte den Wasserhahn auf. Es blieb nur Zeit für eine Katzenwäsche. Leise kehrte er ins Schlafzimmer zurück. Er verharrte vor dem Bett, ging in die Hocke und beugte sich zu Catherine hinab, die seelenruhig schlief. Er küsste ihre nackte Schulter und strich über ihr dunkelblondes Haar, worauf sie mit einem wohligen Brummen reagierte. Mit einem Anflug von Wehmut richtete sich Malbec auf und begab sich ins Erdgeschoss hinunter.

Sein Schlafzimmer befand sich im Obergeschoss eines alten Steinhauses, das er vor mehreren Jahren in Calmont-les-Fontaines gekauft hatte und dessen Renovierung längst nicht abgeschlossen war. Hätte Malbec gewusst, wie viel Arbeit er sich damit aufhalsen würde, hätte er das verfallene Haus nicht erworben. Doch damals hatte er sich von einer Bauchentscheidung leiten lassen, angeregt vom Duft reifer Feigen, der vom Garten bis in das Haus hineingedrungen war. Er hatte einen Ort gesucht, an dem er sich dauerhaft zu Hause fühlen konnte, einen Ruhepol in seinem unsteten Leben. Das alte Gemäuer mit seinen massiven Wänden verkörperte für ihn eine Verbundenheit mit der Erde, und das hatte ihn von Anfang an fasziniert.

In den vergangenen Monaten hatte es ihm Freude bereitet, sein Haus mit alten Möbeln einzurichten, die er bei seinen Besuchen auf dem Antiquitätenmarkt in L’Isle-sur-la-Sorgue erstanden hatte. Besonders stolz war Malbec auf eine wurmstichige Kommode aus Zedernholz, die er im Schlafzimmer platziert hatte, und einen großen, mit Messingbeschlägen reich verzierten Spiegel, den er an der Stirnseite des Treppenhauses angebracht hatte. Demnächst wollte er wieder einen Sonntagsausflug nach L’Isle-sur-la-Sorgue unternehmen und entlang der am Ufer des Flusses errichteten Verkaufsstände flanieren.

Die Antiquitätengeschäfte übten eine magische Anziehungskraft auf ihn aus, manche von ihnen erinnerten an Ali Babas berühmte Höhle. Dort fand man selbst die skurrilsten Dinge, etwa schmiedeeiserne Zäune, alte Fensterrahmen mit wundervoller Patina, authentische Louis-seize-Sessel oder einen riesigen Kronleuchter, den man mit zwanzig Kerzen bestücken konnte. Auf Malbecs Wunschliste standen noch ein massiver Esstisch für die Küche und stylisches Mobiliar für die Terrasse.

Als Malbec die noch im Schatten gelegene Haustür öffnete, vermisste er die Kälte. Keine Frage, es würde wieder ein heißer Tag werden. Schon seit einer Woche dämmerte die Provence unter einer lähmenden Hitzeglocke dahin. Wer konnte, hielt sich im Schatten auf, ab den Mittagsstunden wurde jegliche Aktivität zur Qual. Noch war der Himmel in ein wolkenloses Kobaltblau getaucht, aber im Laufe des Tages würde es wie in den vergangenen Wochen diesiger und drückender werden – ohne Aussicht auf ein erlösendes Gewitter.

Seit über einem Monat hatte es in der Provence nicht mehr geregnet. Die Brandgefahr stieg mit jeder Stunde. Die Böden auf den Feldern waren staubtrocken und von zentimeterbreiten Rissen durchzogen, die Wälder ausgetrocknet, die Baumwurzeln stülpten sich wie verdorrte Finger über die Erde. In den Nachrichten wurde gebetsmühlenartig davor gewarnt, dass bereits ein einziger Feuerfunke eine Katastrophe auslösen konnte.

Mittlerweile waren alle Wanderwege im Luberon als Zone rouge ausgewiesen. Mitarbeiter des Parc naturel régional patrouillierten hoch zu Ross, um die Sperrung zu überwachen. Wildes Campen und offenes Feuer waren unter Androhung hoher Geldstrafen strengstens verboten. Die Maßnahmen stießen nicht überall auf Verständnis. Viele Touristen waren darüber verärgert, dass die Wanderwege gesperrt waren, obwohl die Anordnung zu ihrem Schutz erlassen worden war. Sie hatten sich auf einen schönen Urlaub gefreut und verkannten die Gefahr, die bei Mistral drohte. Starke Winde verbreiteten kleine Brandherde wie ein Blasebalg, sodass ein Waldspaziergang im Handumdrehen lebensgefährlich werden konnte. Erst gestern hatte Malbec den Flugdienst der regionalen Sapeurs-pompiers beobachtet. Die Feuerwehr kreiste mit ihren Leichtbauflugzeugen über den Hügeln der Vaucluse, um Waldbrände anhand verdächtiger Rauchsäulen lokalisieren zu können. Bei größerer Gefahr waren Löschhubschrauber im Einsatz, die Wasserbomben abwarfen, um einen Brand schnellstmöglich unter Kontrolle zu bringen.

Mit müden Augen setzte sich Malbec ins Auto, öffnete die Seitenfenster und fuhr los. Zu dieser frühen Stunde gab es nur wenig Verkehr in Calmont-les-Fontaines. Die Landstraße war kaum befahren, wodurch er schnell vorankam. Der morgendliche Einsatz missfiel Malbec, wenigstens musste er nicht den ganzen Tag in den stickigen Räumen des Kommissariats verbringen. Die defekte Klimaanlage hatte dazu geführt, dass er und seine Kollegen seit Wochen im Halbdunkel der heruntergelassenen Jalousien arbeiten mussten. Staatliche Mangelwirtschaft.

Er schaltete das Radio ein und wählte »France Bleu Vaucluse«, das wie üblich einen grenzwertigen Mix aus aggressiver Werbung, seichter Musik und Guter-Laune-Moderation spielte. Malbec war zufrieden, weil die Nachrichtensprecherin kein Wort darüber verlor, dass in Gordes eine unbekannte Frauenleiche entdeckt worden war. Aus Erfahrung wusste er, dass es nur eine Frage von Stunden war, bis die Nachricht über den Ticker der Agenturen lief und sich die ersten Übertragungswagen der Privatsender auf den Weg nach Gordes machten.

Während Malbec einen Viehtransporter überholte, dachte er daran, dass das sein erster Einsatz mit Sergent Bouzidi sein würde. Er war gespannt. Leila Bouzidi gehörte erst seit einer Woche zum Team. Commandant Louis Chevaline hatte sie bei der letzten Sitzung als Vertretung von Sergent Simone Thibault vorgestellt, die sich im Mai in den Mutterschaftsurlaub verabschiedet hatte. Malbec hatte sich schon gedacht, dass Simone eine Familie gründen würde, aber dass sie ihm schon wenige Monate nach ihren Flitterwochen, die sie auf La Réunion verbracht hatte, mit einem verzückten Lächeln von ihrer Schwangerschaft erzählte, hatte ihn dann doch überrascht. Malbec freute sich für Simone, bedauerte es jedoch gleichzeitig, da er gerne mit ihr zusammengearbeitet hatte. Er schätzte ihre erfrischende Art und wusste, dass er sich in jeder Situation auf sie verlassen konnte. Die letzten Monate war Simones Aktionsradius ausschließlich auf den Innendienst beschränkt gewesen – Dienstvorschrift. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass Simone so schnell nicht zur Gendarmerie nationale zurückkehren würde.

***

Gordes war bereits am Horizont auszumachen. Die Häuser des Dorfs stapelten sich wie steinerne Kaskaden über einen mächtigen Hügel, der von einem Château und einer dem heiligen Firmin geweihten Pfarrkirche gekrönt war. Gordes galt als provenzalisches Traumdorf und war seit Jahrzehnten eine der Hochburgen des Tourismus und als solche regelrecht belagert. An manchen Tagen waren über tausend Menschen auf den mittelalterlichen, mit Kieselsteinen gepflasterten Gassen unterwegs. Mit riesigen Parkplätzen versuchte man, den sommerlichen Ansturm zu bewältigen. Malbec hatte zuletzt im Frühjahr auf einer Tour mit dem Rennrad in Gordes einen Zwischenstopp eingelegt, um neben dem Brunnen vor dem Schloss einen Kaffee zu trinken und dem Treiben zuzusehen.

Malbec hatte die GPS-Koordinaten des Fundorts eingegeben und musste nicht bis zum Dorf hinauffahren. Kurz nach der zweiten Kurve bog er in einen holprigen Feldweg ein. Der Fundort war vorschriftsmäßig gesichert und mit rot-weißem Flatterband abgesperrt. Der örtliche Chef de Police erwartete ihn bereits, wie von Cabanel angekündigt, und winkte ihn aufgeregt heran.

Malbec parkte neben der Schotterpiste und stieg aus.

»Bonjour, Capitaine. Schön, dass Sie da sind«, sagte er mit erkennbarer Erleichterung. »Haben Sie den Weg hierher leicht gefunden?«

»Ja, problemlos, Sie hatten meinem Kollegen dankenswerterweise die genauen Koordinaten durchgegeben.«

»Heutzutage ist das mit einem Smartphone ein Kinderspiel. Erlauben Sie mir, mich vorzustellen?«, sagte er und streckte Malbec die Hand entgegen. »Claude Roux, ich bin seit knapp zwölf Jahren Leiter der örtlichen Dienststelle, aber das ist der erste Mordfall in meinem Zuständigkeitsbereich.«

Den letzten Halbsatz zog er bedächtig in die Länge. Malbec wusste nicht, wie er die Betonung einschätzen sollte. War Roux entsetzt, oder freute er sich, dass sich in Gordes endlich einmal ein Kapitalverbrechen ereignet hatte und er sich nicht mit falsch parkenden Touristen und Taschendieben herumärgern musste? Letztendlich war es auch egal, der vierschrötige Chef de Police schien engagiert und hilfsbereit.

»Ich habe den Fundort weiträumig abgesperrt, damit keine Spuren zerstört werden. Daher müssen wir noch ein Stück zu Fuß gehen.«

Malbec schaute sich um und betrachtete drei seltsam geformte Steinhütten. Das nächste bewohnte Haus war deutlich weiter als hundert Meter entfernt. Der Feldweg verlief zwischen hüfthohen Bruchsteinmauern, dahinter erstreckten sich kleine, ungenutzte Felder, die verdorrt waren.

»Wer hat die Leiche entdeckt?«

»Es war eine Anwohnerin, Madame Morel, sie beziehungsweise ihr Hund hat die Tote während des morgendlichen Spaziergangs gefunden.«

»Und wo ist Madame Morel jetzt?«

»Sie wohnt da drüben.« Er deutete ein kleines Stück den Hang hinunter. »Das Haus mit der hellgelben Fassade neben der Zypresse. Ich habe ihr erlaubt, zu Hause zu warten, damit sie sich ausruhen kann. Sie ist nicht mehr die Jüngste und war total durch den Wind.«

»Kann ich verstehen.«

»Ich habe ihr schon angekündigt, dass sie sich für eine Zeugenbefragung bereithalten muss. Außerdem werde ich mich später noch einmal erkundigen, wie es ihr geht.«

Gerade als er sich bedanken wollte, hörte Malbec, wie sich ein Motorrad mit blubberndem Geräusch näherte. Neugierig drehte er sich um und sah, dass eine schwere Enduro über den Feldweg holperte und einen Steinwurf entfernt hielt. Eine kleine Person in schwarzer Ledermontur stieg schwungvoll vom Sattel. Erst als sie den Helm abnahm und ihre langen Haare herausquollen, erkannte er seine neue Kollegin. Sergent Bouzidi stülpte den Helm über den Lenker und zog die Motorradhandschuhe aus.

»Wow. Die Gendarmerie nationale hat ein neues Dienstfahrzeug!«, kommentierte Malbec. Er musterte die Yamaha Ténéré und umrundete das Motorrad im Halbkreis.

»Nicht wirklich, die XT 600 ist ein Oldtimer. Längst ausgemustert.«

»Ja, aber immer noch imposant«, bekundete Malbec respektvoll. »Ein Freund von mir hat mit so einem Teil die Sahara durchquert.«

»Was angesichts der politischen Situation in Mali heute wenig zu empfehlen ist.« Sie fuhr sich mit beiden Händen durch die dunkelbraunen, schwer zu bändigenden Haare.

Malbec erfreute sich an ihrem Lachen und ihren strahlenden Augen. Obwohl sie erst wenige Tage im Commissariat arbeitete, hatte Leila für Schwung gesorgt. Selbst Capitaine Cabanel, der politisch mit dem »Rassemblement National« sympathisierte und sich gerne über Araber und Immigranten echauffierte, war von Leila Bouzidis Charme angetan. Das war typisch für Leute, die diesbezügliche Vorurteile und Ressentiments pflegten. Der Feind sind immer die anderen, die Unbekannten.

»Darf ich vorstellen? Sergent Bouzidi, meine Kollegin.«

»Enchantée.«

»Wo befindet sich die Tote?«

»Dort drüben, folgen Sie mir bitte zu der Borie«, sagte Roux, drehte sich um und stapfte zügig zwischen Lavendelbüschen, vertrockneten Garrigue-Sträuchern und kleinen Felsbrocken hindurch zu einer der halb verfallenen Steinhütten. Vor einem hüfthohen halbrunden Eingang blieb er stehen und überließ Malbec und Sergent Bouzidi mit einer Handbewegung den Vortritt.

Malbec zog Schuhüberzieher aus der Tasche und hielt sie Leila Bouzidi entgegen. Er stülpte sich die blauen Plastikteile über und war dabei bemüht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Bevor er sich vor der steinernen Öffnung nach vorne bückte und tief in die Knie ging, hielt er die Luft an. Drei Schritte später richtete er sich wieder auf. Gleichzeitig stieg ihm eine unangenehme Duftnote in die Nase – eine Mischung aus streng riechendem Urin und süßlich-beißendem Verwesungsgeruch.

Obwohl Licht durch den Eingang und die fehlenden Steine auf dem Dach in die Hütte fiel, mussten sich seine Augen erst an die Dunkelheit gewöhnen. Nur schemenhaft konnte er die Konturen einer halb nackten Frau zwei Meter vor ihm auf dem Boden ausmachen. Ein Moment der Stille folgte, dann zog Leila, die mit zugehaltener Nase neben ihm stand, eine Taschenlampe hervor.

Die Frau lag mit leicht angewinkelten Beinen auf dem Rücken, während ihre Arme zur Seite gestreckt waren. Die geöffneten Hände befanden sich auf Brusthöhe. Sie war spärlich bekleidet, trug lediglich ein Shirt und einen Minirock, was angesichts der sommerlichen Hitze nicht ungewöhnlich war. Malbec betrachtete das sinnlose Trauerspiel eines viel zu frühen Todes.

Leila richtete den Lichtkegel auf das Baumwolltop. Auf der Brust der Toten hatte jemand eine verwelkte rostrote Rose und einen Rosenkranz abgelegt. Geopfert wie auf einem Altar. Leila atmete schneller. Malbec ging in die Hocke, um den Körper der Toten genauer betrachten zu können. Das Top war hochgerutscht, der halbe Bauch entblößt. Teile eines Tattoos spitzten hervor. Es gab keine offensichtlichen Blutspuren, nur kleine Kratzer, die eventuell vom Transport stammten, und eine Schürfwunde am Knie, die verkrustet und daher älter sein musste.

Malbec schätzte das Alter der Frau auf Anfang dreißig, er konnte sich jedoch irren, da der Verwesungsprozess bereits eingesetzt hatte und durch die Hitze der letzten Tage noch beschleunigt worden war. Die Tote war normal groß, schlank und hatte halblanges dunkelbraunes Haar. Es fiel ihm auf, dass sie nicht geschminkt war, kein Lippenstift, keine lackierten Finger- oder Zehennägel. Unter dem künstlichen Licht wirkte ihre Haut auffällig blass. Sie trug keinen Schmuck, nicht einmal einen Ring.

Malbec beugte sich vor. Bei den dunklen Flecken, die er am Hals entdeckte, konnte es sich um Würgemale handeln, doch es war wahrscheinlicher, dass es Totenflecke waren. Diese blau-violetten Hautverfärbungen entstanden durch das Austreten und Eindicken von Blutserum aus dem Gefäßsystem. Ansonsten gab es keine Anzeichen für eine unnatürliche Todesursache. Über den Körper der Toten krabbelten Ameisen und Speckkäfer, die als Aasfresser bekannt waren, und huschten mit ihrer leopardenähnlichen Rückenmusterung herum. Mehrere grünlich glänzende Schmeißfliegen kreisten summend über dem Gesicht der Toten und verschwanden in ihren Nasenflügeln und Ohrmuscheln. Reflexartig verscheuchte Malbec die Insekten mit einer schnellen Handbewegung.

»Was denkst du, wie lange sie schon hier liegt?«, durchbrach Leila seine Gedanken und sah ihn mit großen Augen an. Ihre Halsschlagader pochte deutlich.

»Drei oder vier Tage, ist schwer zu sagen, aber das Entwicklungsstadium der Schmeißfliegenlarven wird dem Gerichtsmediziner helfen, den genauen Todeszeitpunkt zu bestimmen und bis auf wenige Stunden einzugrenzen. Schmeißfliegen sind bekannt dafür, dass sie sich von proteinreicher Nahrung ernähren und bereits die frühesten Stadien der Verwesung in einem toten Körper wahrnehmen können. Es dauert oft nicht einmal eine Stunde, bis sie ihre ersten Eier abgelegen.«

»Ich konnte diese Plagegeister noch nie leiden.« Sie schüttelte sich und verschränkte die Arme. »Die Teile sind eklig und übertragen Krankheiten. Immerhin erleichtern sie uns unsere Arbeit.«

Malbec ließ das Licht seiner Taschenlampe über den staubigen Boden schweifen und leuchtete die Ränder der Hütte aus. Von der Decke waren Steine herabgefallen, dazwischen lagen Reisigbündel, undefinierbarer Abfall mit vergammelten Resten von Lebensmittelverpackungen und Glassplittern, als hätten Jugendliche hier vor Jahren eine Party gefeiert. Im hinteren Bereich entdeckte er verrottete Stofffetzen und eine vergilbte Schokoriegelpackung. Ansonsten schien die Borie schon lange ungenutzt zu sein.

»Hast du etwas bemerkt?«, fragte er beiläufig.

»Nein.« Leila sah ihn erwartungsvoll an.

»Es liegen weder Schuhe noch eine Handtasche herum.«

»Stimmt. Du meinst …?«

»Die Vermutung liegt nahe, dass sie nicht hier ermordet worden ist. Barfuß wird sie sicherlich nicht unterwegs gewesen sein. Ich kann«, sagte Malbec und ließ die Linke über den Boden kreisen, »keine Anzeichen für einen Kampf oder irgendwelche Schleifspuren ausmachen.«

»Ja, da hast du recht.« Leila nickte gedankenverloren. »Warum musste sie sterben?«

Unvermittelt richtete sie ihre Taschenlampe auf die Schulter der Toten.

»Schau mal, was mir noch aufgefallen ist. Sie hat sich ihre Achselhaare seit längerer Zeit nicht rasiert.« Dann fuhr sie mit dem Lichtstrahl den Körper bis zu den Beinen hinunter, auf denen ebenfalls dunkle Stoppeln zu erkennen waren. »Entweder ist das ein eindeutiges Statement – in der Alternativ- oder Lesbenszene gilt das inzwischen als Trend –, oder sie hatte keine Möglichkeit sich zu rasieren.«

Malbec brummte zustimmend. Dieses Detail war ihm bisher entgangen, aber er schätzte Leilas aufmerksame Beobachtungsgabe. Er war bereits jetzt begeistert von der Zusammenarbeit mit ihr.

»Der Mörder hat die Leiche einfach in der Hütte abgelegt. Warum ausgerechnet hier? Das ist kein gutes Versteck. Über kurz oder lang hätte jemand die Leiche gefunden«, mutmaßte Leila.

»Ja, dem Hund von Madame Morel sei gedankt. Glücklicherweise wurde die Leiche recht bald entdeckt. Ich vermute, dass die Tote keine zweiundsiebzig Stunden hier liegt. Wer weiß, vielleicht wurde sie mit Absicht gerade hierhergebracht?«

»Der Fundort als Botschaft, das hat es alles schon gegeben.«

»Woher stammt sie? Und wer ist sie? Eine Touristin, eine Erntehelferin, eine Frau aus der Region, die als Anhalterin ihrem Mörder zufällig begegnet ist?«

»Wie kommst du darauf?« Leila hielt ihre Nasenflügel weiter zusammengekniffen.

»Leider haben wir bisher weder einen Ausweis noch ein Mobiltelefon gefunden. Das macht es uns schwer, ihre Identität herauszufinden«, sagte Malbec.

»Glaubst du, sie wurde vergewaltigt?«

»Es sieht nicht danach aus. Sie trägt noch einen Slip, das kann natürlich täuschen.«

»Immerhin können wir einen Raubmord ausschließen.«

»Ja«, stimmte Malbec ihr zu. Er hatte genug gesehen. »Gehen wir. Der Gestank ist kaum auszuhalten.«

***

Vom gleißenden Sonnenlicht geblendet, kniff Malbec die Augen zu Schlitzen zusammen und zog die Sonnenbrille herunter. Leila Bouzidi stand betreten neben ihm. Sie beide waren deutlich erleichtert, frische Luft einzuatmen.

Zwischenzeitlich hatte Claude Roux das gesamte Areal mit Absperrbändern eingehegt. Gerade als Malbec das überflüssige Unterfangen kommentieren wollte, bemerkte er einen Mini, der mit röhrendem Motor über den Feldweg rumpelte und eine Staubwolke hinter sich herzog.

»Da kommt die Spurensicherung.«

»Woher weißt du das?«

»Weil ich das Auto und den Fahrstil von Chantal Kleber kenne. Komm, lass uns zu ihr rübergehen und sie begrüßen.«

»Tout va bien?«

»Ça va. Ist für meinen Geschmack ein bisschen früh am Morgen«, sagte Chantal und drückte die Autotür zu. »Hätte ich das geahnt, wäre ich nicht so spät ins Bett gegangen.«

»Bist du heute ohne deinen Assistenten im Einsatz?«

»Ja, Personalmangel im öffentlichen Dienst.«

»Ernsthaft?« Malbec starrte sie ungläubig an.

»Keine Sorge.« Chantal beruhigte ihn mit einem schelmischen Grinsen. »Philippe ist mit dem eigenen Wagen unterwegs und müsste jeden Augenblick eintreffen. Aber wie ich sehe, hast du eine ganz entzückende Unterstützung bekommen!« Sie flirtete unverhohlen mit Leila. »Das gefällt mir.«

»Darf ich vorstellen?«, sagte Malbec. »Sergent Bouzidi. Sie kommt aus Marseille und verstärkt unser Team, nachdem Simone auf unbestimmte Zeit in den Mutterschutz gegangen ist.«

»Protection de la maternité – das wird mir wohl so schnell nicht passieren«, sagte sie lachend und tauschte mit Leila Wangenküsschen aus. »Schön, dich kennenzulernen, ich bin Chantal.«

»Leila. Freut mich ebenfalls.«

»Du bist aus Marseille? Da wohne ich seit einem Jahr.«

»Echt? Wo?«

»Im Panier.«

»Tolles Viertel mit hippen Läden, nur inzwischen sind mir dort zu viele Touristen. Ständig zieht irgendjemand seinen Rollkoffer zu seiner gebuchten Airbnb-Unterkunft.«

»Stimmt, Overtourismus. Vor meinen Haus stehen jeden Tag Dutzende, um das Frida-Kahlo-Graffito zu fotografieren, das die Fassade verziert.«

»Das nervt wirklich. Aber es gibt coole Restaurants. Kennst du das ›Marafiki‹?«

»Ja, da war ich erst letzte Woche«, antwortete Chantal.

»Afrikanische Küche und die große Terrasse – génial!«

»Ja, superlecker. Wir hatten eine köstliche Bouillon des légumes à la Brazzavilloise, und auch der gegrillte Wolfsbarsch à la congolaise war ein Gedicht. Vielleicht sollten wir uns mal in Marseille treffen?«

Kurz überlegte Malbec, Chantal mit einer Frage nach ihrer Freundin Anne zu necken, dann unterließ er es und schaltete in den Ermittlungsmodus um. »Weißt du, ob schon jemand den Transport in die Gerichtsmedizin organisiert hat?«

»Ja, den Leichenwagen habe ich für vierzehn Uhr bestellt. Bis dahin müssten wir fertig sein.«

»Das ist gut so. Die Nachmittagshitze wird unerträglich sein«, sagte er und schielte auf den wolkenlosen Himmel.

»Was erwartet mich?«, erkundigte sich Chantal und strich sich nachdenklich über die rasierte Seite ihres Undercuts.

»Eine junge Frau. Mit großer Wahrscheinlichkeit ein Tötungsdelikt. Todesursache unklar. Der Fundort ist nicht der Tatort. Ich würde vermuten, dass sich das Opfer und der Täter schon länger gekannt haben.«

»Danke für deine Einschätzung.«

»Ich würde dir empfehlen, eine Maske aufzusetzen. Es riecht angesichts der sommerlichen Temperaturen sehr unangenehm.«

»Dann werde ich mich gleich an die Arbeit machen«, sagte Chantal, zwinkerte Leila zu und holte ihren silberfarbenen Spurensicherungskoffer aus dem Kofferraum ihres Autos. Malbec drehte sich um und hörte noch, dass sie ihren zwischenzeitlich eingetroffenen Assistenten Philippe bat, die mobilen LED-Scheinwerfer am Fundort aufzustellen und die Kamera aus dem Auto mitzubringen.

***

»Was sind das eigentlich für seltsame Steinhütten hier?«, erkundigte sich Leila bei Claude Roux und deutete auf zwei weitere ähnliche Bauten, die in knapp hundert Metern Entfernung nebeneinanderstanden. »Die sehen aus wie überdimensionale Bienenkörbe.«

»Das sind Bories«, erklärte der Chef de Police. »Die findet man an vielen Orten in der Provence, aber vor allem rund um den Luberon.«

»Diese Teile sind mir bisher nicht aufgefallen. Liegt wohl daran, dass ich meine Freizeit am liebsten am Meer oder im Café verbringe. Wer hat diese Hütten zu welchem Zweck gebaut?«

»Die meisten Bories in der Vaucluse sind vor drei oder vier Jahrhunderten errichtet worden. Die verarmten Landarbeiter, die nebenher Schafe oder Ziegen hielten, haben im provenzalischen Niemandsland neue Felder angelegt und dabei die Steine, die sie beim Pflügen aus der Erde geholt haben, für den Bau einfacher Behausungen verwendet. Das Ergebnis waren karge Unterkünfte. Schwer vorstellbar, dass die Familien im Winter mit ihrem Vieh in einem einzigen Raum lebten. Zuletzt dienten die Steinhütten nur noch als Ställe oder Vorratskammern.«

»Interessant.«

»Bei den Bories handelte es sich um eine einfache traditionelle Bauweise ohne Fenster. Die Steine wurden ohne Verwendung von Mörtel oder Kalk nach oben spitz zulaufend aufgeschichtet. Meist auf einem kreisförmigen Grundriss, doch es gibt auch Langbauten. Typisch für den Trockensteinbau ist das unregelmäßige Mauerwerk. Die unbekannten Architekten beherrschten ihre Kunst meisterlich!«

»So?«

»Ja. Die Steine wurden waagerecht oder sogar leicht nach außen geneigt angeordnet, damit kein Wasser eindringen konnte. Jede Reihe überragte die darunter liegende ein wenig. Die Steine wurden sorgfältig gekreuzt, sodass die Reihen miteinander verbunden waren. Als Abschluss wurden große flache Steine entlang der Dachfirste gesetzt«, erklärte Roux und fügte hinzu: »Ähnliche Hütten finden sich übrigens im ganzen Mittelmeerraum. Ich erinnere mich an einen Urlaub in Apulien. Dort gab es vergleichbare weiß gestrichene Rundhäuser, die in Italien als Trulli bezeichnet werden.«

»Und Sie? Sind Sie diplomierter Experte für mysteriöse Steinbauten?«, fragte Leila mit einem Unterton, der zwischen Provokation und Bewunderung changierte.

»Nein, aber meine Frau arbeitet halbtags im Village des Bories. Das ist eine Art Freiluftmuseum. Gar nicht weit von hier entfernt, auf halbem Weg zur berühmten Zisterzienserabtei von Sénanque. Sie führt dort Gruppen über das Gelände, da habe ich einiges von ihr über die Bories gelernt. Wenn Sie möchten, arrangiere ich für Sie eine private Führung«, schlug er vor und grinste.

»Nein danke, so interessant finde ich diese Steinhaufen nun auch wieder nicht. Haben Sie die beiden anderen Hütten inspiziert?«

»Bisher nicht«, antwortete Roux.

»Dann sehe ich mich dort mal um. Einverstanden, mon Capitaine?«, fragte Leila.

»Klar, und ich werde derweil Madame Morel einen Besuch abstatten«, sagte Malbec.

***

Malbec stapfte mit Blick auf das hellgelbe Haus zwischen den Feldern hindurch. Die letzte Bruchsteinmauer überwand er sportlich auf eine Hand gestützt. Gerade als er auf der Suche nach dem Eingang das Haus umrundete, stürzte ein kläffender kleiner Hund auf ihn zu. Die weiße Promenadenmischung bremste in gebührendem Abstand und beobachtete ihn mit einem Knurren, das angesichts ihrer Körpergröße nicht gerade eindrucksvoll wirkte.

»Napoleon, beruhige dich und komm her!«, rief eine Frauenstimme.

Der Hund verfolgte ihn mit misstrauischen Augen.

»Madame Morel? Entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich bin Capitaine Malbec von der Gendarmerie nationale.«

»Ich habe bereits auf Sie gewartet«, ließ ihn eine rund achtzigjährige Frau mit einem vorwurfsvollen Unterton wissen, als er um die Ecke bog und geradewegs auf sie zulief. Sie fixierte den Hund, schnippte zweimal mit den Fingern, woraufhin sich dieser gehorsam vor ihre Füße legte und erwartungsvoll mit dem Schwanz wedelte.

Malbec nahm verwundert zur Kenntnis, dass Madame Morel zwar nervös, jedoch keineswegs so angeschlagen war, wie der örtliche Polizeichef Roux angedeutet hatte. Sie war schlank und hatte die grauen Haare im Stil einer strengen Lehrerin mit einem Kopftuch hochgebunden. Vage erinnerte sie ihn an Simone de Beauvoir auf Fotografien aus den 1950er Jahren.

»Wie ich sehe, geht es Ihnen gut.«

»Ja, ich habe mir einen Beruhigungstee gemacht. Ein Schock war es schon für mich. Ich habe«, sie machte eine Pause und dachte nach, »abgesehen von meinem Mann noch nie einen Toten gesehen. Arthur starb an Krebs. Sein Tod kam nicht überraschend, darauf war ich vorbereitet. Das war keine einfache Zeit.« Sie straffte sich und sah ihn abwartend an.

»Wollen wir uns setzen?«, fragte Malbec in die Stille hinein und deutete auf eine Bank vor dem Haus.

»Gerne.«

»Gehen Sie öfter mit Ihrem Hund oben an den Bories spazieren?«

»Ja, das gehört zu meiner üblichen Runde mit Napoleon«, antwortete sie und beschrieb die Tour mit einer ausholenden Geste. »Zwei- oder dreimal am Tag. Eine lieb gewordene Routine. Ich bin Frühaufsteherin. Heute Morgen waren wir sehr früh unterwegs, da ich die kühle Morgenluft nutzen wollte. Tagsüber ist es momentan unerträglich heiß.«

Malbec nickte.

»Als wir an der Hütte vorbeikamen, wurde Napoleon plötzlich unruhig. Zuerst dachte ich, er hätte ein Kaninchen oder eine Ratte aufgescheucht. Kurzzeitig verschwand er in der Steinhütte, blieb mit erhobener Rute vor dem Eingang stehen und bellte wild. Ich schaute nach, was los ist. Ich wollte gar nicht in die Borie reingehen, denn es roch sehr unangenehm. Dann sah ich die Frau am Boden liegen und wusste sofort, dass ihr nicht mehr zu helfen war. So schnell ich konnte, bin ich zu meinem Haus zurückgelaufen, um die Polizei zu rufen.«

»Sehr umsichtig«, lobte Malbec. »Ist Ihnen – oder Napoleon – in den letzten Tagen beim Spazierengehen jemand begegnet, oder gab es ungewöhnliche Vorkommnisse?«

»Lassen Sie mich mal überlegen.« Sie rieb sich nachdenklich hinter dem Ohr. »Während ich mit dem Hund unterwegs war, habe ich niemanden gesehen. Aber vor Kurzem, als ich meine Beete im Garten gegossen habe, ist mir ein Auto aufgefallen, das dort in der Nähe stand.«

Malbec wurde hellhörig. »Wissen Sie noch, wann genau das war?«

Sie zögerte. »Es war abends. Das weiß ich, weil ich die Blumen im Hochsommer immer in der Dämmerung gieße. Das ist am besten. Und wenn ich mich nicht täusche, müsste es vorgestern gewesen sein.«

»Wie sicher sind Sie sich?«

Sie wirkte angestrengt, als sie die Brille absetzte und sanft auf einem Brillenbügel herumkaute. »Ja, es war vor zwei Tagen. Ich kann mich daran erinnern, weil es an demselben Abend war, als meine Nichte mich angerufen hat. Sie müssen wissen, sie ist vor über zehn Jahren nach Amerika gezogen und arbeitet in Kalifornien für eine große Internetfirma. Wir telefonieren regelmäßig.«

»Haben Sie sich die Farbe oder Marke des Fahrzeugs merken können?«, hakte Malbec nach.

»Nein, ich kenne mich mit Autos nicht aus, außerdem befand es sich viel zu weit weg.«

»Schade.«

»Ich habe mich gewundert, weil der Feldweg ins Nirgendwo führt und dort fast nie jemand parkt. Selbst Spaziergängern begegnet man dort nur selten. Und wenn, dann sind es immer dieselben. Aber es war ein großes dunkles Auto!«

»Was verstehen Sie unter dunkel?«

»Nun, schwarz«, sie runzelte die Stirn, »es könnte auch dunkelgrün oder grau gewesen sein.«

Malbec wollte ihr auf die Sprünge helfen. »Ein Kombi oder ein Transporter?«

»Ich habe Ihnen schon erzählt, dass ich keine Ahnung von Autos habe. So ein ähnliches Ding fährt Arnaud, unser Dorfbäcker, nur in Weiß.«

»Stand das Fahrzeug lange dort?«

»Das kann ich nicht sagen. Ich habe nur einmal hingeschaut, als ich den Kompost ausgeleert habe.« Sie deutete in die entsprechende Richtung.

Malbec bedankte und verabschiedete sich. Während er zurücklief, beschloss er, Chantal zu fragen, ob sie es sinnvoll fände, nach zwei Tage alten Reifenspuren zu suchen.

***

Leila erwartete ihn schon mit scharrenden Füßen. »Chef, was hat dein Besuch bei der alten Dame ergeben?«

»Die Tote könnte mit einem dunklen Lieferwagen oder einem Kombi hierhertransportiert worden sein, doch die Aussage von Madame Morel war sehr vage. Das Auto könnte auch nur zufällig für kurze Zeit dort geparkt worden sein und mit unserem Fall nichts zu tun haben. Trotzdem sollten wir der Spur nachgehen. Könntest du bitte später beim Bäcker von Gordes vorbeifahren und herausfinden, welche Marke er fährt?«

»Klar, mache ich. Wieso interessierst du dich dafür, mit welchem Auto der Bäcker seine Baguettes ausliefert?«

»Er soll ein ähnliches Fahrzeug besitzen. Das könnte uns die Suche erleichtern.«

»Compris.«

»Und bei dir? Hast du was in den anderen Bories gefunden?«

»Ja«, sagte sie schmunzelnd. »Die hintere Steinhütte wird noch aktiv bewohnt.«

Malbec furchte die Stirn.

»Nun, es gibt untrügliche Anzeichen, dass sie in letzter Zeit als Liebesnest genutzt wurde.«

»Wie kommst du darauf?«

»Dort befindet sich eine Matratze, und zwischen ihr und der Wand liegen Dutzende aufgerissener Kondomverpackungen. Zwei, drei ekelige Lümmeltüten habe ich auch entdeckt.« Sie verzog das Gesicht. »Wirklich widerlich.«

»Das ist nicht dein Ernst!« Malbec schüttelte ungläubig den Kopf und musste lauthals lachen. »Wer kommt denn auf so eine Idee?«

»Nun ja, die menschlichen Triebe.«

»Auf einer alten Matratze in einer verfallenen Steinhütte? Da gibt es schönere Plätze.«

»Sicher, aber ich wette mit dir, dass die beiden anderweitig liiert sind.«

»Sie könnten wichtige Zeugen sein«, gab Malbec zu bedenken.

»Sie werden ihr Geheimnis bewahren und sich nicht freiwillig melden.« Leila setzte den Helm auf und schwang sich auf ihre Yamaha. »Dann besuche ich mal den Bäcker.«

»Wir sehen uns später im Kommissariat. Für den späten Nachmittag ist eine Dienstbesprechung angesetzt.«

Kraftvoll stieg sie mit dem Absatz auf den Kickstarter. Der Motor blubberte satt. Sie salutierte, gab Gas und düste, eine Staubfahne hinter sich herziehend, davon.

Malbec lief hinüber zu Chantal, die vor der Steinhütte stand und sich die Maske abgenommen hatte.

»Wir sammeln weiter Material. Philippe hat bereits Fotos vom Fundort und der Toten gemacht. Die Bilder verschicken wir später per E-Mail.«

»Hast du irgendwelche nützlichen Hinweise gefunden?«

»Schwer zu sagen, aber wir haben mehr als ein Dutzend Asservatentüten gefüllt. Die Fundstücke müssen wir hinterher im Labor auswerten.«

»Verstehe, dürfte ich dich trotzdem um deinen ersten Eindruck bitten?«, erkundigte sich Malbec.

»Wie du schon vermutet hattest, die Borie ist eindeutig nicht der Tatort. Es sieht so aus, als wäre die Frau ein oder zwei Stunden nach ihrem Tod hierhergebracht worden. Mein Bericht wird so schnell wie möglich folgen, nur erwarte keine Wunder. Das Ergebnis der Obduktion wird wichtiger sein.«

»Was denkst du, lohnt es sich, nach Reifenspuren zu suchen?«

»Auf dem steinigen Feldweg? Ich befürchte, das wird uns nicht weiterbringen. Keine Sorge«, sagte sie und zwinkerte ihm zu. »Nichtsdestoweniger werden wir den staubtrockenen Zufahrtsweg ebenso wie das Terrain rund um die Hütte routinemäßig unter die Lupe nehmen. Unterstützung ist angefordert. Sobald die Kollegen eintreffen, drehen wir nicht nur jeden Stein um, sondern durchforsten auch noch alle Mülltonnen in der Umgebung. Versprochen!«

»Danke«, sagte Malbec und streckte ihr den erhobenen Daumen entgegen.

ZWEI

Das fensterlose Besprechungszimmer im Commissariat von Carpentras war überraschenderweise noch angenehm kühl. Mit einem Becher Kaffee in der Hand und einer Mappe unter dem Arm begrüßte Malbec seine Kollegen, die sich fast vollständig rund um den lang gestreckten Resopaltisch versammelt hatten. Er ließ den Blick durch den Raum schweifen. An den Wänden hingen Fahndungsplakate, eine Landkarte des Département und amtliche Bekanntmachungen, die teilweise aus dem Vorjahr stammten. Adjudant Émile Poinsot hatte seine Hände auf das Kopiergerät aufgestützt und studierte den an eine Korktafel gepinnten Dienstplan, auf dem die Urlaubszeiten farblich markiert waren.

Neidvoll dachte Malbec an seine Kollegen, die im Fernsehen oder auf Netflix ermittelten. Sie hatten Beamer zur Verfügung, um ihre Erkenntnisse und den Stand der Ermittlungen mit allerlei technischem Equipment an die Wand oder auf Glasscheiben zu projizieren. Verdächtige wurden in einen Hightech-Vernehmungsraum mit einer nur einseitig durchsichtigen Fensterscheibe geführt und dort langsam mürbe gemacht. Nicht so bei der Gendarmerie in Carpentras. Da war schon eine Pinnwand oder ein Flipchart das höchste der Gefühle, und alle waren zufrieden, dass die Befragungen immerhin mit einem digitalen Diktiergerät aufgezeichnet werden konnten.

Malbec nahm neben Capitaine Cabanel auf einem der noch leeren Stühle Platz und betrachtete seine Kollegen. Sous-Lieutenant Jacques Taurel saß mit gebeugtem Rücken über seinem Tablet und ließ geschickt die Finger über den Bildschirm fliegen. Adjudant François Blanc strahlte mit seiner Glatze und den über dem Bauch verschränkten Armen eine unerschütterliche buddhistische Ruhe aus. Ihm gegenüber saßen Leila und Christine Bremond, eine Praktikantin der Écoles nationales de police – die beiden einzigen Frauen in der Männerrunde.

Der Raum mit den beigefarbenen Keramikfliesen war in seiner Tristesse schwer zu überbieten, aber es war das einzige größere Zimmer in der Gendarmerie. Selbst Leila wirkte im fahlen Licht der Neonröhren blass. Überhaupt war das am Stadtrand gelegene Polizeirevier ein schrecklicher Betonbau aus den siebziger Jahren, in dem einst der Vertrieb eines Sanitärhandels untergebracht gewesen war. Böse Zungen behaupteten, dass in dem Besprechungsraum Klobürsten gelagert worden waren. Als Übergangslösung gedacht, hatte sich die Zwischennutzung zum Dauerzustand entwickelt. Aufgrund von Sparmaßnahmen war das Budget der Regionalbehörde gekürzt und der Baubeginn für die neue Dienststelle auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Und so mussten sich Malbec und seine Kollegen mit diesem architektonischen Schandfleck arrangieren, der sich im Laufe des Tages, wenn die Sonne auf die Fenster brannte, in einen Backofen verwandelte. Jalousien statt Klimaanlage. Immerhin gab es einen großen Parkplatz direkt vor dem Revier.

Malbec warf einen Blick auf die Wanduhr. Der Nachmittag war schon weit fortgeschritten.

»Eigentlich sollten wir jetzt beginnen«, sagte er und öffnete demonstrativ seine Mappe, um die Gespräche zu unterbrechen. »Wo ist eigentlich unser Commandant? Hat ihn schon jemand gesehen?« Er deutete auf den freien Platz an der Stirnseite des Tisches.

»Oh, hat dir das noch niemand gesagt?«, erwiderte Roland Cabanel und zwinkerte ihm zu. »Commandant Chevaline hat Sommergrippe. Er hat sich heute Vormittag krankgemeldet.«

Capitaine Cabanel und alle Kollegen wussten, dass Malbec mit seinem direkten Vorgesetzten auf Kriegsfuß stand, seit ihm dieser die Leitung der Ermittlungen um einen spektakulären Vierfachmord am Mont Ventoux entzogen hatte. Das Verhältnis war kühl und beschränkte sich auf das Nötigste. Malbec ging dem Commandant aus dem Weg, soweit es ihm möglich war. Er erachtete Chevaline allenfalls als mittelmäßigen Polizisten. Der Commandant wurde von seinem Onkel protegiert, der ehedem das Ministère de l’Aménagement du territoire, de la Ville et de l’Intégration geleitet hatte und in Paris sowie in der Regionalpolitik bestens vernetzt war. Einzig diesem Nepotismus verdankte er seinen Posten als Leiter der Dienststelle. Gute Beziehungen waren in der französischen Verwaltung die halbe Miete. Es würde Malbec nicht wundern, wenn Chevaline demnächst befördert werden würde – im Gegenteil, er würde sich nicht ganz uneigennützig darüber freuen.

»Nun, dann wünschen wir ihm gute Besserung«, sagte Malbec. Trotz seiner Schadenfreude verzichtete er auf eine ironische Bemerkung. Der Mordfall hatte Vorrang. Er unterließ es, über den Tathergang zu spekulieren, und fasste mit knappen Worten den bisherigen Kenntnisstand zusammen.

»Wir fischen im Trüben«, resümierte Cabanel. »Weder kennen wir den Namen der Toten, noch liegen uns irgendwelche Anhaltspunkte vor, die uns bei der Ermittlung ihrer Identität helfen könnten.«

»Hat sich schon jemand die Vermisstenfälle im Département angesehen und abgeglichen?«, fragte Malbec. »Und besser: nicht nur in der Vaucluse, sondern in der gesamten Region Provence-Alpes-Côte d’Azur. Oder noch besser: landesweit.«

»Ja, das habe ich bereits gemacht, nur ist das ein schwieriges Terrain«, erklärte Poinsot. »Jedes Jahr werden in Frankreich mehrere tausend Personen als vermisst gemeldet. Da ist es nicht leicht, den Überblick zu behalten.« Er blätterte in einem Aktenordner. »Bekanntlich kann jeder Erwachsene seinen Aufenthaltsort selbst bestimmen. Es gibt ein Recht auf Verschwinden. Manche tauchen nach Jahren wieder auf, andere nie mehr. Die Behörden ermitteln nur bei Minderjährigen oder wenn der dringende Verdacht auf ein gewaltsames Verbrechen besteht. Bekanntlich sind die Gründe, warum sich jemand in Luft auflöst, vielfältig, vom Unfalltod bis hin zu banalen Beziehungsstreitigkeiten ist alles dabei.«

»Der sprichwörtliche Mann, der vom Zigarettenkaufen nicht mehr zurückkommt und ein neues Leben beginnt«, murmelte Malbec.

»Correct, aber das ist anscheinend leichter, als seiner Ehefrau in einer mühseligen Diskussion zu erklären, warum man sie verlassen möchte«, kommentierte Christine. »Einfach Tür zu und weg.«