Goethe und Grimm hätten sich in Karlsbad und Teplitz treffen können - Winfried Wolf - E-Book

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Winfried Wolf

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Fast alle wichtigen Personen in dieser kleinen Erzählung kannten sich persönlich und standen zumindest für eine gewisse Zeit ihres Lebens in Verbindung. Die beiden Hauptpersonen, Friedrich Melchior Grimm und Johann Wolfgang von Goethe, sind sich im wirklichen Leben dreimal begegnet. 1777 trafen sie sich zufällig auf der Wartburg bei Eisenach. Grimm war auf der Durchreise von St. Petersburg nach Paris, Goethe hatte sich im Thüringer Wald eine "Auszeit" genommen. Grimm war in Gesellschaft von Carl Theodor von Dalberg und Goethe notierte in sein Tagebuch: "Die Ankunft des Statthalters schloss mich auf einige Augenblicke auf. Grimms Eintritt wieder zu. Ich fühlte inniglich, dass ich dem Mann Nichts zu sagen hatte, der von Petersburg nach Paris geht." Das zweite Mal trafen sie sich in Düsseldorf bei ihrem gemeinsamen Bekannten Friedrich Heinrich Jacobi. Grimm war mit seiner "Familie", der Gräfin Bueil und ihren Kindern auf der Flucht vor der Revolution und legte hier mit vielen anderen Emigranten auch, eine Zwischenstation ein. Goethe erinnerte sich später: "Herr von Grimm und Frau von Bueil erscheinen gleichfalls. Bei der Überfüllung der Stadt hatte sie ein Apotheker aufgenommen [...]. 1801 begegneten sich Grimm und Goethe zum dritten Mal. Goethe kam auf Besuch nach Gotha, er hatte hier viele Freunde, darunter auch den Herzog Ernst II. Man traf sich im sog. "Prinzenhaus", das Grimm damals mit seiner "Adoptivfamilie" de Bueil bewohnte. Goethe hat Grimm indirekt aber schon viel früher kennenlernen dürfen. Er zählte nämlich zu den auserwählten Lesern der Correspondance littéraire. Unter den wenigen Lesern dieses Kultur-Journals, die nicht einem Fürstenhause angehörten, gab es einige geadelte Bürgerliche, darunter auch Goethe.

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Goethe und Grimm hätten sich in Karlsbad und Teplitz treffen können

Titel SeiteAnkunft und erste Tage in KarlsbadEin gewöhnlicher KurtagHeute weder am Sprudel noch am MühlbrunnGrimm trifft Goethe am SprudelGrimm notiertGrimm trifft einen alten Bekannten: Lord FindlaterAlle spielen TheaterEin Ausflug zum PosthofGrimm und der Kurier der ZarinMit Goethe nach TeplitzGrimm, Goethe und der Prinz Europas

Ankunft und erste Tage in Karlsbad

Der eine kam von Dresden her, der andere aus Jena. Beide hatten das gleiche Ziel, Karlsbad, hier erhofften sie sich Linderung ihrer körperlichen Leiden. Dabei stand der eine mit seinen 46 Jahren noch mitten im Leben, der andere war mit seinen 72 fast schon am Ende seiner irdischen Laufbahn angekommen.

Baron von Grimm war Ende Juni nach Karlsbad gekommen, da ging es im Kurbad noch ruhig zu, er wollte vier, höchstens sechs Wochen bleiben und dann nach Gotha zurückkehren. Goethe hatte sich Anfang Juli mit einem Pack naturwissenschaftlicher Arbeiten und dichterischer Entwürfe auf die Fahrt ins Bad begeben. Nach überstandenenbösen Wegenkam er am 4. Juli abends in Karlsbad an, wo er imGrünen Papageiauf der Wiese sein Quartier nahm, für sieben Gulden die Woche. Zu Eckermann sollte er später sagen: Ich habe gehandelt wie ein Jude. Das Wetter ließ zu wünschen übrig, kalte Regentage, während der Herreise nur selten ein Sonnenstrahl zwischen den Wolken.

Nach den notwendigen Absprachen mit den Wirtsleuten begab sich Goethe in seine kleine Wohnung im dritten Stockwerk. Er hatte es nicht gern, wenn ihm jemand über dem Kopf herumging. Er warf einen prüfenden Blick auf den bescheidenen Schreibtisch und gab dem Burschen, der beim Abpacken des Wagens geholfen und das Reisegepäck nach oben getragen hatte, ein kleines Trinkgeld. Hatte der Türmer bei seinem Eintreffen die Trompete geblasen, er hatte gar nichts gehört, nun, man wird sehen , wenn morgen die Türmersfrau kommen und Glück zur Ankunft wünschen wollte.

Auf dem Sekretär lag die gedruckte Gästeliste des Kurbades. Unter den aufgeführten Namen waren ihm die meisten bekannt: Die verwitwete Fürstin von Schwarzburg-Rudolstadt, die kam ja jedes Jahr. Der Herzogin von Meklenburg-Schwerin war er noch nicht begegnet, auch die Bekanntschaft mit dem Fürsten Moritz von Lichtenstein hatte er noch nicht gemacht, aber den Fürsten Emanuel von Salm-Salm hatte er schon zusammen mit Karl August in Weimar getroffen und auch der regierende Fürst Reuß von Greiz war ihm kein Unbekannter mehr. Ein Name auf der Liste ließ jedoch Goethes Augenbrauen ein wenig nach oben gehen. Baron Friedrich Melchior Grimm hielt sich ebenfalls in Karlsbad auf. Er würde ihn gewiss morgen, sicher aber in den nächsten Tagen am Brunnen treffen. Es war drei Jahre her, da hatte er ihn bei Jacobi in Pempelfort gesehen. Grimm war damals in Begleitung der Gräfin Bueil nach Düsseldorf gekommen, auch deren Kinder waren dabei. Er glaubte sich erinnern zu können, dass Grimm mit seiner „Familie“, wie er die Bueils nannte, in einer Apotheke logierte, es gab ja kaum Platz für die vielen Emigranten. Wie Goethe von den Frankenbergs aus Gotha wusste, hatte Grimm mit seiner Adoptivfamilie später Aufnahme bei Herzog Ernst gefunden.

Ja, die französischen Emigranten, sie zogen jetzt von Hof zu Hof und bettelten um Unterstützung. Grimm wird es aber nicht so arg getroffen haben, er ist ein Freund des Herzogs und stand in seiner Pariser Zeit in dessen Diensten und, was viel wichtiger ist, er ist ein enger Vertrauter der Kaiserin von Russland. Wie man hört, kommen regelmäßig Kuriere aus St. Petersburg nach Gotha und Grimm scheint tatsächlich das Ohr der Zarin zu haben. Sehr wahrscheinlich wird sie ihm auch das nötige Geld zuschießen. So schlimm wird es mit Grimm also nicht stehen. Er wohnt jetzt, wie Goethe über die Frankenbergs wusste, mit seiner „Familie“ im alten Haus des Prinzen August und der Herzog soll ihm ja auch eine schöne Ausstattung überlassen haben. Goethe machte sich für das Bett zurecht, morgen wollte er schon um fünf Uhr am Brunnen sein.

Während Goethe auspackte, stand Grimm an diesem Abend in seinem Zimmer am Fenster und sah auf den dunklen Markt hinaus, um diese Zeit war kein Leben mehr in den Gassen. Er rieb sich die geröteten Augen, konnte aber dadurch auch nicht viel besser sehen. Grimm dachte an Katharina und an seinen Auftrag. Ja, er war nach Karlsbad gekommen, weil ihm die Kur schon einmal gut getan hatte, das war vor drei Jahren gewesen, gleich nach seiner Flucht aus Frankreich.

Aber es waren nicht nur seine körperlichen Leiden, die er hier auskurieren wollte, es gab noch einen wichtigeren Grund über den er mit niemandem hier sprechen konnte. Vordergründig war es die Sache mit seinen Augen, die nicht besser werden wollten. Karlsbad hatte, das wusste er, schon viel Nutzen bei mancherlei Augenleiden geleistet, besonders bei sekundären Affektionen, die bloß Reflex eines chronischen Leidens des Pfortadersystems waren. Die Dämpfe der heißen Quellen konnten vielleicht die leichten Nebelflecke der Hornhaut, die sich bei der Entwicklung des grauen Stars einstellten, verschwinden lassen. Doktor Damm sprach noch gestern davon, dass durch eine streng eingehaltene Trinkkur dem pathologischen Kleeblatt Hämorrhoiden, Gicht und Lythiasis zu Leibe gerückt werden könne. Das Brunnenwasser, sagte der Arzt, bewirke die erwünschten kritischen Ausscheidungen durch den Darmkanal und die Urinwege. Grimm hatte jedoch Zweifel am Wahrheitsgehalt einer Geschichte, die ein gefälliger Kurgast in Umlauf gesetzt hatte. Nach dessen Darstellung konnte er schon in der vierten Woche seiner Kur mit dem linken Auge wieder den kleinsten Vogel in der Luft sehen und mit dem rechten war es ihm möglich, was er zu Anfang seiner Kur nicht konnte, die Anzahl der Finger, die ihm der Arzt vorhielt, zu bestimmen. Grimm musste lächeln, eine solche Geschichte hätte auch im Unterhaltungsteil seinerCorrespondance littérairestehen können.

Ja dieCorrespondance littéraire, das lag nun auch schon 20 Jahre zurück, damals hatte er mit seinem Periodikum von Paris aus ganz Europa in Erstaunen versetzt, auch den jungen Herrn Goethe, der heute hier eingetroffen sein soll. Er wird sich wohl auch in die Gästeliste aufnehmen lassen. Grimm hatte zunächst Bedenken, sich über diese Liste den Anwesenden bekannt zu machen aber es ist doch recht nützlich zu erfahren, wie man sich bei zu machender Bekanntschaft zu titulieren habe. Darauf hatte er immer großen Wert gelegt; man muss den Herrschaften die nötige Ehrerbietung zeigen, sonst gewähren sie dir keinen Einlass in ihre inneren und äußeren Gemächer.

Diderot hatte ihm einmal seine vielen Bücklinge vor den Großen und Mächtigen vorgeworfen. Der Philosoph hatte aus seiner Sicht vielleicht Recht aber wäre er, Grimm, ohne Schmeichelei und Liebedienerei an den Tisch der Fürsten und Könige geladen worden? Wichtig war doch, dass man sich selbst treu blieb. Nein, bestechlich war er nie gewesen und was er vor zwanzig Jahren für richtig hielt, war heute immer noch richtig. Aber bei Gott, die Zeiten hatten sich geändert. Frankreich ist von einem Schwindelgeist ergriffen worden. Ein Haufen von halbtrunkenen Advokaten und Edelleuten hat sich einfallen lassen, eine Menge Rechte abzuschaffen, die seit Jahrhunderten bestanden. Katharina ist zuzustimmen, wenn sie sagt, dass Frankreich jetzt eine strenge Hand und einen wirklichen Führer braucht. Sie hatte ihm geschrieben: „Cäsar wird kommen, da können Sie sicher sein.“

Ja, auch er war überzeugt, dass sich jedermann in Frankreich nach dem republikanischen Abenteuer und dem Terror der Jakobiner die Rückkehr zur Monarchie wünschen wird. Grimm warf noch einmal einen Blick auf die Kurliste, sie hieß offiziell „Geschriebene Specifikation der Badegäste, welche sich in der königlichen Stadt Karlsbad der heilsamen Gesundbrunnen hier bedient haben“. Die Fürsten Reuß und Lichtenstein standen auf der Liste, sie könnten ihn ein wenig über die österreichischen Verhältnisse aufklären. Katharina war nicht nur mit den Preußen unzufrieden. Sie suchte einen starken Partner, der ihr den Rücken im Kampf gegen die Türken freihielt, aber die Österreicher wollten nicht. Seit Joseph II. hatte die Habsburger Monarchie keinen entschlossenen Führer mehr an ihrer Spitze. Verdiente Männer wie sein Freund, Fürst de Ligne, waren kaltgestellt worden.

Es klopfte, der Hausbursche brachte die Speisen, die Grimm heute Mittag im „Goldenen Ochsen“ bestellt hatte: Rindfleisch mit Meerrettich, eingemachtes Gemüse und etwas gekochtes Obst, dazu eine Bouteille roten Melnicker Wein. Vielleicht sollte er zu Abend weniger essen, nun ja, er will ja so gut es geht auf den Rat des Arztes achten: nicht zu stark gesalzen oder gewürzt und keine geräucherten und fetten Speisen sollen es sein. „Ich werde mich überwinden müssen“, seufzte Grimm in sich hinein, „gehen wir bald schlafen, ich muss meine Kur einhalten“.

Ein gewöhnlicher Kurtag

In den ersten Tagen seiner Kur hatte sich Baron Grimm ganz auf die Einhaltung einer strengen Kur konzentriert, so wie es ihm Doktor Damm, der hiesige Arzt, vorgeschlagen hatte. Er erhoffte sich viel von einer Verbesserung seines Gesundheitszustandes, die nächsten Jahre würden ihm noch viel Kraft abverlangen und es war ohnehin erstaunlich, welche Lasten er noch mit sich herumschleppen konnte. Da war seine „Familie“ in Gotha, dann die aufgetragene Sorge um die anderen französischen Emigranten, denen er, so gut es ging, mit Katharinas Hilfe ein Überleben in Deutschland sichern sollte und ja, er selbst stand weiter im Dienst der Kaiserin von Russland und ihr wollte er wirklich dienen, solange es seine Kräfte zuließen.

Schon nach wenigen Tagen hatte sich Grimm an einen Tagesablauf gewöhnt, den er mit kleinen Abweichungen auch ohne größere Probleme einhalten konnte: Um 5, spätestens um 6 Uhr morgens verlässt Grimm das Bett. Ein Blick aus dem Fenster sagt ihm, wie er sich für den Tag zu kleiden habe. Dann wandert er, mit dem Becher in der Hand, zum Brunnen. Er trinkt dort zwei bis drei Becher, macht ein paar Schritte, trinkt vielleicht noch einen und wandert wieder gemächlich auf und ab. Inzwischen hat man den einen oder anderen Bekannten gesehen und treibt die übliche Brunnenkonversation in meist angenehmer Gesellschaft. Nach dem letzten Becher steht eine Nachpromenade von etwa einer halben Stunde an, sodann macht man Aufwartung, geht zu Gaste oder bewegt sich sonst in Gesellschaft.

Bei schlechtem Wetter geht Grimm zurück in den Mohren oder besucht eines der Kaffeehäuser auf der Wiese. Bei gutem Wetter sucht er sich einen Platz unter den Kastanien, dort findet sich immer ein Kreis von neuen und alten Bekannten. In einem der Kaffeehäuser nimmt er dann gewöhnlich bis gegen 9 oder 10 Uhr auch sein Frühstück ein. Manchmal hat er ein Journal dabei oder er setzt ein paar Gedanken für einen Brief auf mitgebrachtes Papier. Wenn er noch Lust zum Gehen hat, macht er dann wieder eine Promenade und nimmt um 1 spätestens 3 Uhr das Mittagsmahl ein. Er hat sich aber auch schon das Essen in seine Wohnung bringen lassen, das war, als es ihm nicht besonders gut ging.

Nach Tisch begibt sich Grimm bis gegen 4 Uhr zur Ruhe. Ein Schläfchen aber will er sich nur selten gestatten. Der Arzt empfahl ihm für die Zeit nach dem Essen eine leichte Lektüre oder, wenn es sich ergeben sollte, ein Spielchen. Dann ist wieder Bewegung angesagt, man tritt, oft hat man am Morgen schon eine lockere Verabredung für den Nachmittag getroffen, in hoffentlich heiterer Gesellschaft eine Promenade an, vielleicht ergibt es sich, einen Kaffee oder Tee an einem der Belustigungsorte zu sich zu nehmen oder man geht bei schlechtem oder zu heißem Wetter von 4 bis 6 ins Theater. Eine Spazierfahrt in die Umgebung von Karlsbad bietet sich an, wenn eine geeignete Begleitung vorhanden ist.

Wenn der Arzt es angeordnet hat, kann man zwischen 5 bis 7 Uhr Abends wieder ein oder zwei Becher trinken, promeniert dann, so einen die Beine noch tragen können, und nimmt dann bis 8 oder 9 Uhr sein Abendmahl ein. Damit ist der Kurtag zu seinem Ende gekommen, es sei denn, es liegt noch eine Einladung zu einem Ball oder zu einer Abendgesellschaft vor, die man nicht ablehnen kann. Für gewöhnlich aber legt sich Grimm, wie alle anderen Kurgäste, um 9, spätestens um 10 Uhr zu Bett. Davor aber gedenkt er noch seiner Katharina und seiner „Familie“, das versteht sich von selbst. In sein Tagebuch notiert er am dritten Tag seiner Kur:

„Es findet sich hier eine geschlossene Gesellschaft ein. Der hohe Adel überwiegt, auf der Kurliste stehen Fürstin von Schwarzburg-Rudolstadt, Fürst Czartorynsky, die Herzogin von Mecklenburg-Schwerin, Fürst Moritz von Lichtenstein, Fürst Emanuel von Salm-Salm, Fürst Reuß etc. ... Man spricht hier vor allem Französisch, aber auch Deutsch, Italienisch, Russisch und Polnisch. Man kann die Stadt am Tepelfluss als eine internationale Oase in einer aufgewühlten Welt betrachten. Sonst lässt es sich in Karlsbad recht wohl sein, man fühlt sich zwischen den Mächten Russland, Österreich, Frankreich und Preußen wie auf einer friedlichen Insel.“

An Gräfin Bueil und die Kinder hatte er nach Gotha geschrieben: „Ich wohne im Gasthaus „Zu den drei Mohren“ auf dem Markt. Der Platz mit seinen Bürgerhäusern gleicht den schönsten Plätzen der Städte Frankens.“ Etwas Ähnliches fand sich dann auch in seinem ersten Brief an Katharina.

Heute weder am Sprudel noch am Mühlbrunn

Grimm ist heute weder zum Sprudel noch zum Mühlbrunn gegangen. Er war erst gegen halb neun aufgestanden, hatte sich Tee und ein zweimal gebackenes Brot kommen lassen und war dann wieder im Armsessel am Fenster ein wenig eingenickt. Nicht jedem Gast bekam das Wasser, Grimm gehörte zu denjenigen, die sich überwinden mussten. Ihm war heute speiübel und in Erwartung einer plötzlich auftretenden Unpässlichkeit schien es ihm geraten zu sein, zumindest den Vormittag auf dem Zimmer zu bleiben. Vielleicht konnte er ja noch ein paar Schreibarbeiten erledigen. Er hatte den Seinen in Gotha versprochen, sie über die Fortschritte seiner Kur zu unterrichten. Die kleine Katharina hatte ihm einen süßen Brief geschrieben, darauf musste er auf jeden Fall antworten. Auch dem Herzog musste er schreiben und ihm für das großzügige Reisegeld danken und dann warteten die Emigranten auf ein tröstliches Wort, wenn nicht gar auf eine finanzielle Zusage. Den Brief an die Kaiserin hatte er fast fertig. Katharinas Kurier würde sicher ein paar Tage in Karlsbad bleiben, ihm könnte er auch diktieren, wenn die Augen wieder trüb wurden. Vor drei Tagen kam Goethe, er wird ihn in den nächsten Tagen am Brunnen treffen. Man macht hier viel Aufhebens um den Dichter. Madame Brun war schon voller Erwartung, wie sie ihm gestern auf der Promenade fast mädchenhaft schüchtern gestand. Sie hatte den Dichter noch nicht leibhaftig gesehen und erwartete von ihm nichts Geringeres als die Veredelung ihrer Seele. Das ist schon merkwürdig mit den Deutschen, man hat hier viel Talent in Weimar, aber fehlte es nicht etwas an Geist? In Paris hat Goethes Werther vor der Revolution keine guten Kritiken bekommen. Ich selbst habe in dem Werk nur eine alltägliche und kunstlos dargestellte Handlung gefunden. Wilde Sitten, eine bürgerliche Ausdrucksweise und die Heldin? Eine Frau von plumper, provinzieller Einfalt. Die Brun sieht in Goethe jedenfalls einen Günstling der Musen und Grazien. Für sie ist der Schöpfer des „Tasso“, des „Egmont“ und der „Iphigenie“, des „Götz“, desFausts“ und ach der anderen Sachen, die ich weder gelesen noch gesehen habe, ein Genie. Vielleicht ist er das auch. In Pempelfort hat er aus seiner Iphigenie gelesen, das Publikum hat ihm applaudiert, ich hatte keinen rechten Zugang zu diesen Sachen. Er ist aber auch ein Liebhaber der Natur und hat über die Metamorphose der Pflanzen geschrieben und neuerdings soll er sich mit der Farbenlehre beschäftigen. Ob ich ihm einmal etwas von Diderots Ideen über die Farben erzählen soll?

Grimm riss sich aus seinen Gedanken, nahm seinen Platz am kleinen Schreibtischchen ein, legte sich Tinte und Feder und Papier zurecht und begann einen Brief an seineKatinkazu schreiben.

Am Abend des fünften Juli hatte Goethe in sein Tagebuch die folgenden Notizen gemacht: „Zum ersten Mal Sprudel getrunken. Mehrere Bekanntschaften gemacht, die Brun stellt mir die Meyers vor. Den größten Teil des Morgens spazieren gegangen. Mittags bei Graf Reuß, wo auch ein Kurfürstlich Sächsischer Gesandter war. Nachher wieder spazieren. Bei Steinschneider Müller Steine besehen. Nach Tische über den Hirschsprung. Abends auf das Posthaus, wo Fürst Lichtenstein eine Fete gab. Um 9 Uhr zurück. Bekanntschaft mit Graf Golowkin.“

Grimm trifft Goethe am Sprudel

Die Glocken der Magdalenenkirche schlugen halb fünf. Grimm öffnete die Augen, blickte gegen das Fenster und lauschte auf die Geräusche, die vom Markt herauf kamen. Heute war Mittwoch, seit einer Woche war nun Grimm schon in Karlsbad. Wie immer um diese frühe Stunde begannen draußen die Händler sich auf den Tag vorzubereiten. Heute gab es unten frisches Obst und Gemüse. Wenn die Kur anschlagen sollte, musste er jetzt aufstehen. Die ärztlichen Vorschriften wollte Grimm genau und mit Beharrlichkeit befolgen. Das Wasser hatte ihm am Anfang nicht geschmeckt, angewidert hatte er beim ersten Becher den Mund verzogen, was die Umstehenden zum Lachen brachte. Nach den ersten Tagen hatte er sich aber wieder an den salzigen, laugenhaften Geschmack gewöhnt aber so war es ja auch schon, als er vor drei Jahren hier zum ersten Mal war. man muss in eine Gewohnheit kommen, dann wird alles leichter. Er öffnete leicht das Fenster und schnupperte nach draußen, es roch nach Regen und es war frisch. Einige Bauern aus der Umgebung hatten schon mit dem Aufbau ihrer Marktstände begonnen. Eben war hier die Sonne aufgegangen, aber sie ließ sich auch heute nicht blicken. Der Himmel zeigte sich grau und verhangen. Er könnte sich das Wasser ja auch bringen lassen aber es war wohl besser am Brunnen selbst zu trinken. Frisch geschöpft ist das Mineralwasser noch unzersetzt und besitzt, wie ihm Dr. Damm, den er zu Beginn seiner Kur aufgesucht hatte, versicherte, noch die volle ihm von der Natur verliehene Kraft. Jetzt hatte Grimm schon eine Woche hinter sich, er hatte alle Vorschriften so gut es ging, streng eingehalten, eine Besserung seiner Leiden zeichnete sich aber noch nicht ab. Der Arzt hatte gelacht: „Lieber Herr Baron, für die meisten Gäste sind vierzehn Tage Karlsbad lang genug, bei Ihren eingewurzelten Leiden sind zwanzig Tage wenig, aber Sie werden sehen, ab der dritten Woche wird eine Besserung eintreten. Setzen Sie dann noch zwei Wochen drauf und Sie werden bis zum nächsten Jahr geheilt sein.“ Nächstes Jahr, lieber Doktor, da werde ich mit den Meinen in Sankt Petersburg sein oder in Wien oder gar in Konstantinopel, mal sehen, wohin mich die Zarin schicken wird und vielleicht wird dann gar keine Kur mehr nötig sein, es sei denn, ich begleite Katharina in die böhmischen Bäder.

Grimm schloss die Weste über der Brust, zog sich seinen grünen Rock über, warf sich den wollenen Mantel über die Schultern, nahm Stock und Trinkbecher und quälte sich, eine Hand am Geländer, die andere Stock und Becher haltend mit steifen Gliedern die Treppen hinunter und trat auf den morgendlichen Marktplatz hinaus. Von hier zum Mühlbrunnen am Fuße des Schlossbergs waren es nur wenige Minuten. Gewöhnlich begann Grimm am Mühlbrunnen seinen ersten Becher zu trinken aber heute sollte er vielleicht über die Johannisbrücke zum Sprudel laufen, die Wahrscheinlichkeit lag höher, dort den richtigen Leuten zu begegnen. Dieser Goethe wird sich doch sicherlich am Springer laben, der Mann liebt das Schauspiel und wird am dumpfen Getöse des Wassers mehr Freude haben als an einer leise sprudelnden Quelle.

Er überquerte gemessenen Schrittes den schon belebten Marktplatz und ging hinunter zur Johannisbrücke. Die Boutiquen an der Tepel waren noch geschlossen, nur bei einer Bude war der Laden schon aufgeklappt, hier konnten frühe Badegäste Trinkbecher kaufen. Grimm blieb stehen und strich mit dem Zeigefinger über die fleckige Innenwand seines Bechers, er hätte ihn mit frischem Wasser und etwas Kochsalz im Mohren noch auswaschen sollen. Er würde das in seiner Wohnung nachholen, vielleicht nach dem Frühstück, er wird dann auch zur Reinigung der Zähne nach frischen Salbeiblättern geschickt haben. Er richtete sich auf und dachte just in diesem Moment an sein Alter. Ich fahre noch mit 72 zur Trinkkur nach Karlsbad, ohne Sekretär und ohne Diener. Vielleicht hätte ich Madame de Bueil bitten sollen, mich zu begleiten. Wenn alles gut geht, wird diese Woche noch Nolken nach Karlsbad kommen, der Arm der Kaiserin wird mich auch hier erreichen. Damals, als Katharina ihre große Reise in den Süden ihres Reiches unternahm, erreichten mich sogar ihre Briefe aus dem fernen Sewastopol. Grimm hatte die Mitte der Johannisbrücke erreicht, der Sprudel war nun nicht mehr weit.

Eine Gruppe von froh gelaunten Kurgästen zog an ihm vorbei, einige Herren zogen den Hut, ob ein Bekannter darunter war, vermochte Grimm nicht zu erkennen, der Nebel auf seinen Augen hatte sich noch nicht gelichtet. Er folgte der Gruppe und hörte nun schon das dumpfe Getöse des aus den Tiefen des Gestein hervorstoßenden Wassers. An der Wanne im Sprudel saßen auch heute morgen wieder zwei Frauen, die einem den Becher füllen konnten. Grimm schätzte diese Bequemlichkeit, er würde die Frauen, meist arme Witwen, wie er gehört hatte, am Ende seiner Kur angemessen belohnen. Hier konnte man das heiße Wasser nur schlürfend trinken, am Mühlbrunn war es kälter. Es war schon komisch, er war nach Karlsbad gekommen, weil er Heilung suchte, weil er dieses Jahr wieder zu Kräften kommen wollte, Kräfte, die er für die Reise nach Russland im nächsten Jahr dringend benötigen würde. Aber das Heilwasser verursachte schon am Morgen bei ihm eine leichte Übelkeit; er spürte mehr als sonst die Völle seines Leibes und das ranzige Aufstoßen nach dem Genuss des Wassers war ihm mehr als unangenehm.

Ich muss jetzt ein wenig herumgehen, dachte Grimm. Wenn man herumgeht, stößt man auf Leute und eigentlich bin ich ja hier, um diesem Goethe zu begegnen und wenn ich auf diesen Goethe treffe, bekomme ich womöglich gleich einen Schwung von lohnenden Bekanntschaften mitgeliefert.

Grimm entfernte sich etwas von den Umstehenden, er wollte Platz gewinnen, um gesehen zu werden.

Grimm führte den gefüllten Becher zum Munde, übersah aber eine hervorstehende Holzbohle der Brunnenabdeckung, stolperte und fiel zu Boden. Sein Becher rollte einer eleganten Dame vor die Füße während Grimm, am Boden liegend, versuchte, sich mit der nun freien Hand wieder aufzuhelfen. Die junge Dame hielt ihm ihre Hand hin, ein hilfreicher Herr packte ihn an den Schultern und Grimm stand wieder auf seinen Beinen. Er klopfte sich den Schmutz vom Ärmel seines Rockes und schaute etwas irritiert auf das freundliche Frauenzimmer, dass ihm so beherzt zur Seite gesprungen war. „Haben Sie vielen Dank, verehrtes Fräulein ...“ „Marianne Meyer“, sagte die schöne Dame, „ich komme aus Berlin.“ „Berlin, ja, ich kenne die Residenz des Königs. Vor Ihnen schönes Fräulein steht, dank ihrer Hilfe, Baron Grimm.“ „Das freut mich, Herr Baron, ich habe gerne geholfen aber entschuldigen Sie mich jetzt, meine Schwester wartet.“

Der kleine Vorfall hatte die Aufmerksamkeit des Brunnenpublikums, dankbar für jede Abwechslung, auf sich gezogen. Ein alter Herr in einem etwas wunderlichen aber herrschaftlichem Anzug war gestürzt und man hatte ihm aufgeholfen. Wie apart, eine elegante Dame hatte sich seiner angenommen, sie war eine der beiden Frauen, die mit Goethe zusammen zum Brunnen gekommen waren. Und Goethe selbst, der Dichter, er hatte in dem Gestürzten den französischen Emigranten, den deutschen Franzosen, den Baron Melchior Grimm erkannt. Er hatte ihn das letzte Mal vor drei Jahren bei seinem Freund Jacobi in Düsseldorf getroffen. Nun sah er den Baron schneller als er gedacht hatte; noch am Abend seiner Ankunft hatte er sich Gedanken gemacht, wie er ihm hier in Karlsbad wohl begegnen sollte. Jetzt eilte er schnellen Schrittes herüber und streckte Grimm seine Hand entgegen.

„Das leibliche Wohl und seine Gefährdung führen uns wieder zusammen. Was für eine Freude, Sie hier zu sehen, verehrter Herr Baron!“ „Ja, wenngleich die Umstände etwas unglücklich sind, mein lieber Goethe, auch ich freue mich, Sie zu sehen. Mein Sturz beschert mir den größten deutschen Dichter, das nenne ich Glück im Unglück. Ich vermute, Sie sind erst seit kurzem hier, denn ich hatte bisher nicht das Vergnügen Sie im Gewühl der Menge promenieren zu sehen.“ „Ja, ich bezog erst gestern Abend mein Quartier im „Grünen Papagei auf der alten Wiese.“ „Geruhen Sie länger zu bleiben, das Wetter scheint uns ja dieses Jahr nicht besonders hold zu sein.“ „Ich habe meine Kur auf vier Wochen angelegt, aber das wird sich ergeben. Sind Sie schon länger hier, Herr Baron?“ „Eine Woche, ja und drei werden noch folgen, dann muss ich zurück nach Gotha. Bin ja schon wieder lange weg, war im April schon in Dresden aber Sie wissen ja, ich habe eine Familie in Gotha zu versorgen.“ „Ja, Gräfin de Bueil mit ihren Kindern, ich hörte schon von den Frankenbergs, dass Sie sich rührend um diese Familie kümmern. Aber mein lieber Baron, jetzt müssen auch Sie mich schon wieder entschuldigen, die Damen warten auf mich.“ Bei diesen Worten blickte Goethe dorthin, wo die Geschwister Meyer standen. Graf Reuß leistete ihnen nun Gesellschaft, Zeit sich wieder zurückzumelden. „Herr Baron, wir sehen uns gewiss bald wieder. Ich brenne geradezu darauf mit Ihnen zu sprechen. Man hat selten genug die Gelegenheit hier einen Mann von Welt zu treffen.“

Damit entfernte sich Goethe wieder vom alten Grimm, der sich nun einen zweiten Becher füllen ließ und ganz zufrieden mit dem Verlauf der Ereignisse für einen Augenblick seine Schmerzen an der Hüfte und sein morgendliches Unwohlsein vergaß. Mehr als zwei Becher wollte er am Sprudel nicht zu sich nehmen, außerdem hatte er keinen Schlüssel für den Abtritt an diesem Brunnen in der Tasche und so setzte er denn seine nächsten Schritte wieder in Richtung Johannisbrücke. Bis zum „Mohren