Grimmbart - Volker Klüpfel - E-Book + Hörbuch

Grimmbart Hörbuch

Volker Klüpfel

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Beschreibung

Kluftingers neuer Fall führt ihn ins Schloss in Bad Grönenbach, wo ihn allerlei Merkwürdiges erwartet: Die Frau des Barons wurde nicht nur ermordet, sondern auch noch wie auf einem uralten Familienporträt hergerichtet. Auf dem Gemälde ist ein Mann mit seltsam gelben Augen zu sehen. Und der Baron verschwindet immer wieder im schlosseigenen Märchenwald. Auch privat geht es bei Kluftinger märchenhaft zu: Sein Sohn heiratet, und zur Feier haben sich die Schwiegereltern aus Japan angesagt. Zum Glück lässt Kluftingers Intimfeind Langhammer nicht lange auf sich warten, um dem Kommissar bei dieser kulturellen Herausforderung zu helfen.

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Zeit:15 Std. 5 min

Sprecher:Volker Klüpfel

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Volker Klüpfel / Michael Kobr

Grimmbart

Kluftingers neuer Fall

Knaur e-books

Über dieses Buch

Kluftinger Kluftinger lässt sich von seinem Intimfeind Langhammer überreden und fährt mitten in der Nacht zum Schloss in Bad Grönenbach, um nach dem Rechten zu sehen. Dort findet er die Frau des Barons in grotesker Pose drapiert ermordet vor: Sie wurde wie auf einem uralten Familienportrait her- und dann hingerichtet. Liegt die Lösung des Falles in der Familiengeschichte? Was hat der Mann mit den gelben Augen auf dem Gemälde zu suchen? Und warum verschwindet der Baron immer wieder im schlosseigenen Märchenwald? Auch Privat geht es bei Kluftinger märchenhaft zu: Sein Sohn heiratet seine langjährige Freundin Yumiko, und zur Feier haben sich deren Eltern aus Japan angesagt. Doch Langhammer lässt nicht lange auf sich warten, um dem Kommissar bei dieser kulturellen Herausforderung zu helfen.

Inhaltsübersicht

Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. KapitelEpilogDank
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Prolog

»Es war einmal, kapierst du das endlich?« Er sieht sie wütend an, doch sie lächelt. »Nichts ist mehr, wie es war. Hör auf zu grinsen. Es gibt nichts zu grinsen. Wir sind allein.«

Noch immer das Lächeln.

»Herrgott, sie haben uns weggeschickt.«

Er schüttelt sie. Jetzt bröckelt ihr Lächeln, und er ist zufrieden. Gleichzeitig tut sie ihm leid. Er nimmt sie in den Arm. »Es wird schon. Wir haben ja uns.«

»Uns«, wiederholt sie.

Zart und zerbrechlich steht sie da. Jetzt droht die Verzweiflung ihn zu übermannen. Doch Verzweiflung kann er sich nicht leisten. Er muss stark sein. Für sich. Und für sie.

»Geht es wieder?«

Sie nickt.

Er geht ein paar Schritte. Sein junger Körper ist ausgezehrt, nur noch Haut und Knochen.

»Meinst du, der Katze geht es gut?«

Statt Verzweiflung nun wieder Wut. Wie kann sie in dieser Situation an die Katze denken?

»Los jetzt.« Er steht auf, schaufelt Erde mit dem Fuß in die Glut des erloschenen Feuers. »Wir müssen weiter.«

»Aber es ist Nacht.«

Er sieht sich um. Der Mond scheint silbern durch die Baumwipfel. »Wir müssen. Sonst erfrieren wir.«

Sie ergreift seine Hand. Er zieht sie fort.

Nach einer Weile fragt sie: »Kennst du den Weg?«

»Ja.«

Er lügt, und sie weiß es. Aber es beruhigt sie. Nichts wäre schlimmer als die Wahrheit.

Sie stolpert hinter ihm her. Er geht zu schnell. Doch sie beklagt sich nicht. Er hat immer einen Ausweg gefunden. So wird es auch diesmal sein.

Ein Klopfen über ihnen lässt sie aufhorchen.

»Was war das?« In ihrer Stimme liegen Angst und Hoffnung zugleich.

Er hebt den Kopf: »Nur der Wind.« Seine Hand deutet auf einen Ast, der gegen einen Baumstamm schlägt. Immer wieder.

Ihre Kräfte schwinden, das merkt er. Wenn nicht bald etwas passiert, wird es schlimm enden.

»Da.«

Er hat es auch gesehen. Eine Hütte. Er streicht sich durch seine dichten Haare. Eine Hütte.

Seltsame, süße Verheißung.

Auf Wärme.

Auf Essen.

Ein Zuhause.

Er geht voraus. Sucht Deckung hinter einem Baumstamm, späht in die Nacht.

Sein Entschluss steht fest. Er dreht sich um.

Und schreit.

Sie brennt.

Lichterloh.

Dann erwacht er aus seinem Traum.

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Nein, nein, neinneinneinneinneinnein!«

Kluftinger führte einen regelrechten Veitstanz vor seiner Frau auf. Die stand davon ungerührt vor ihm im Hausgang und flötete in den Telefonhörer: »Aber natürlich ist er da, Martin, wart mal, ich geb ihn dir.«

Kluftinger verdrehte die Augen, formte mit den Lippen ein ironisches Danke und streckte mit grimmigem Blick den Arm aus. Ausgerechnet in seinem wohlverdienten Feierabend musste ihn der neunmalkluge Doktor behelligen.

Erika flüsterte ein zuckersüßes »Bittschön, Butzele« zurück und verschwand im Wohnzimmer.

»Herr Langhammer …«, fragte er brummend in den Hörer und machte sich auf den üblichen Wortschwall des Gemeindearztes gefasst. Doch es blieb erstaunlich lange still am anderen Ende der Leitung. »Herr Langhammer?«

Kluftinger wunderte sich, dass der Arzt noch immer nicht mit einer seiner gefürchteten Geschichten begonnen hatte: über einen neuen Rekord auf dem Golfplatz oder, noch schlimmer, intime Details seines Ehelebens mit Gattin Annegret. Stattdessen kam ein zaghaftes »Es tut mir leid, dass ich Sie so spät noch störe« aus dem Hörer.

Es tut mir leid? Der Kommissar konnte sich nicht erinnern, diese Worte im Laufe ihrer langjährigen Zwangsbekanntschaft schon einmal vom Doktor vernommen zu haben. Und somit erhielt der doch noch Kluftingers ungeteilte Aufmerksamkeit. »Passt schon, noch bin ich ja nicht im Bett, worum geht’s denn?«

»Es ist etwas heikel, aber Sie müssen da wohl einfach auf meine kriminalistische Intuition vertrauen.«

Kluftinger erwiderte nichts.

»Von der Sie selbst ja auch schon profitiert haben, wenn ich Sie daran erinnern darf …«

Der Kommissar war beinahe erleichtert: Da war er wieder, der gute alte Doktor.

»Sie kennen ja meine Liebe zu klassischer Musik.«

Kluftinger seufzte. Bisher hatte er sich den Einladungen zu Hausmusikabenden bei Langhammers meist geschickt entziehen können. Er legte sich bereits ein paar noch unbenutzte Ausreden zurecht, da fuhr der Doktor fort: »Im Allgäu kommt man da an den von Rothensteins natürlich nicht vorbei. Sie kennen doch die von Rothensteins?«

Kluftinger dachte nach. Er meinte, den Namen schon einmal gehört zu haben, war sich aber nicht sicher.

»Sie veranstalten regelmäßig Kammermusikabende in ihrem Schloss. Wahre Kleinode des Kulturbetriebs, aber das führt jetzt vielleicht zu weit. Jedenfalls habe ich den Freiherrn von Rothenstein Grimmbart bei einer dieser Veranstaltungen kennengelernt, und er hat mich seither auch schon als Arzt konsultiert. Es entwickelte sich so etwas wie eine lockere Freundschaft – soweit das zwischen Bürgerlichen und Adeligen eben möglich ist.«

Kluftinger wunderte sich, dass ausgerechnet der Doktor in solchen überkommenen Strukturen dachte. Er wusste jedoch immer noch nicht, was das Ganze mit ihm zu tun haben sollte, und fragte deswegen ungeduldig: »Und?«

»Nun, der Baron hat mich gerade eben angerufen.«

»Welcher Baron jetzt?«

»Na, Baron Rothenstein.«

»Ist das der Bruder, oder was?«

»Welcher Bruder?«

»Ja, von dem Freimaurer da.«

»Welcher Freimaurer denn?«

»Der halt, von dem Sie die ganze Zeit geredet haben.«

»Sie meinen den Freiherrn?«

»Ja, den.«

»Nein, der Baron hat keinen Bruder, soviel ich weiß.«

»Ich mein ja nicht den Baron, ich mein den anderen.«

»Welchen anderen?« Langhammer klang verzweifelt.

»Den Frei… dings.«

Der Doktor seufzte. »Den Freiherrn? Das ist der Baron. Man spricht ihn so an.«

Kluftinger biss die Zähne zusammen und schwieg, ganz gegen seinen inneren Impuls, einfach aufzulegen.

»Jedenfalls«, fuhr Langhammer fort, »hat er mich vor ein paar Minuten angerufen. Er schien regelrecht aufgelöst, was für Menschen seines Standes …«

»Herr Langhammer, bitte!« Die Weitschweifigkeit des Doktors, gepaart mit dieser Unterwürfigkeit gegenüber Adeligen, war schwer auszuhalten.

»Er schien sehr erregt. Auch ein wenig wirr. Er fabulierte etwas von einem Bild, also einem bestimmten Gemälde, und seiner Frau, die auf dem Bild zu sehen sei, dann wieder von einem Foto und dann wieder von dem Bild … Sie müssen wissen, dass es im Schloss eine umfangreiche Gemäldesammlung gibt, die zumindest historisch von einigem Wert ist. Kunsthistorisch müsste man vielleicht zu bedenken geben, dass …«

Jetzt riss Kluftinger der Geduldsfaden: »Himmel, was ist denn jetzt mit den Bildern? Fehlt eins? Und was für Fotos? Hat er sie etwa auf einem nackt gesehen, und jetzt ist er recht verstört?«

»Mich? Wieso denn mich? Wie sollte ich denn …«

»Die Frau! Himmelherrgott, Langhammer, jetzt sagen Sie halt, was los ist.«

»Ach so, ja, natürlich. Also, ich mache mir ernsthafte Sorgen. So habe ich Herrn von Rothenstein Grimmbart noch nie erlebt. Er sagte nur ständig ›Meine Frau, meine Frau‹, hat sich aber auch auf Nachfrage nicht genauer geäußert. Stattdessen stammelte er etwas von einer Bedrohung … möglicherweise sei vor kurzem jemand eingedrungen …«

»Dann fahren S’ halt hin.«

»Würd ich ja, aber ich hab Nachtdienst. Ich kann unmöglich weg.«

»Dann rufen Sie die Polizei.«

»Tu ich doch.«

»Wie? Na, ich mein, ja, schon, aber … halt die Kollegen. Ich hab nämlich keinen Nachtdienst.«

»Verstehe, es tut mir auch wirklich leid, aber ich weiß nicht, ich hab ein ungutes Gefühl bei der Sache. Vielleicht täuscht es auch.«

»So wird’s wohl sein. In diesem Sinne …«

»Aber wenn nicht … also, kurz und gut: Könnten Sie eventuell mal vorbeischauen?«

Kluftinger presste die Luft zwischen den Zähnen hervor. »Also gut, ich fahr morgen mal hin, vielleicht ist er dann ja wieder nüchtern.«

»Nein, nein, jetzt!«

»Hm?«

»Ich meine: Könnten Sie bitte jetzt kurz hinfahren?«

»Kommen S’, Herr Langhammer, nur weil sich Ihr Musikkamerad da ein bissle verwirrt angehört hat. Das weiß man doch von diesen Adeligen, dass die nicht ganz, wie soll ich sagen …«

»Ja?«

»Ich mein, mit der ganzen Inzucht und so …«

»Herr Kluftinger, jetzt beleidigen Sie doch nicht Ihre eigene Intelligenz. Baron Rothenstein ist ein honoriger, hochintegrer Mann, ein Feingeist wohlgemerkt, kein so ruppiger Geselle wie …«

»Wie?«

»Na, Sie wissen schon, wie die meisten anderen hier im Allgäu.«

»Soso.«

»Jetzt legen Sie doch nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Meine Spürnase sagt mir, dass das was für Sie sein könnte.«

»Ihre … was?«

»Lassen Sie sich nicht betteln.«

»Herr Langhammer, ich glaube wirklich nicht, dass ich Ihnen da helfen kann. Da müssen Sie sich schon an jemand anders wenden, denn meine Spürnase sagt mir, dass ich das Haus heute nicht mehr verlassen werde.«

 

 

Kruzifixnomal! Kluftinger ärgerte sich über sich selbst. Wieder einmal hatte er sich breitschlagen lassen. Wieder einmal war er nicht fähig gewesen, sich dem Doktor zu widersetzen, nachdem der ihm diverse Gefälligkeiten aufgezählt hatte, die er ihm angeblich noch schuldete. Wieder einmal hatte er klein beigegeben. Kampflos, wie er sich zu alldem eingestehen musste.

Na ja, nicht ganz, aber Erika hatte den letzten Rest seines Widerstands mit ihrem »Mach das jetzt, sonst lad ich sie nächste Woche jeden Tag zu uns ein«-Blick erledigt.

Statt gemütlich vor dem Fernseher zu sitzen oder mit seinem Sohn und seiner zukünftigen Schwiegertochter ein Feierabendbier zu trinken, rumpelte er nun also in seinem Passat über schlechte Straßen durchs nächtliche Allgäu, um nach Langhammers Psychofreund zu sehen.

Priml, dachte er resigniert und drehte am Knopf seines Autoradios. Aus den Lautsprechern drang nur unangenehmes Rauschen. Das war nicht ungewöhnlich: Seit ihm irgend so ein Hundskrüppel die Antenne abgerissen hatte, hatte er nur noch dürftigen Empfang. Vor allem bei einer Witterung wie heute: Ein heftiger Wind fegte die ersten braungefärbten Blätter auf die feuchte Straße, und man musste nicht in den Kalender schauen, um festzustellen, dass es Herbst geworden war. Es nieselte leicht aus dunklen, schweren Wolken.

Da braut sich was zusammen, hatte seine Frau noch gesagt. Anscheinend über mir, fügte er jetzt in Gedanken hinzu.

Er schaltete das Radio wieder aus und konzentrierte sich auf die Straße. Für den kurzen Weg nach Bad Grönenbach hatte er entschieden, hintenrum zu fahren, wie er es nannte. Allerdings bedeutete das: enge, neblige Schleichwege entlang der Iller. Und das bei diesem Wetter. Aber so war es wenigstens kürzer und damit billiger als über die Autobahn.

Seufzend trauerte er dem verlorenen Abend nach und versuchte, sich Langhammers kryptischen Anruf noch einmal in Erinnerung zu rufen. Die spärlichen Fakten zu ordnen. Um irgendetwas mit einem Bild war es da gegangen, einen Unfall, ein Gemälde und die Frau dieses Barons. Wenig erhellende Informationen, die keinen Sinn ergaben, wie immer er sie auch zusammensetzte. Und dann noch ein Adeliger! Der Kommissar fühlte sich unwohl. Üblicherweise hatte er es mit »normalen« Menschen zu tun. Er wusste nicht einmal, wie man so einen Blaublüter anredete. Dass der ein Freund von Langhammer war, verhieß ebenfalls nichts Gutes.

»Zefix!« Kluftinger stieg heftig auf die Bremse, was den betagten Wagen auf der laubbedeckten Straße ein wenig ins Schlingern brachte. Schlossberg stand auf dem Schild, das gerade in seinem Scheinwerferkegel aufgetaucht war. Beinahe hätte er die Abzweigung verpasst. Fluchend setzte er zurück und lenkte den Wagen das steile Sträßchen hinauf zum Anwesen der Rothensteins.

Er war noch nie hier gewesen, aber er kannte das Schloss vom Vorbeifahren. Man sah es sogar von der Autobahn aus, es thronte auf einem bewaldeten Hügel über dem Ort. Vielleicht nannte man es deswegen auch Hohes Schloss. Wobei Schloss ein etwas schönfärberischer Ausdruck war, wie er fand. Sicher, es war ein mächtiges, hoch aufragendes Bauwerk, das von einer langen und bewegten Geschichte zeugte. Aber ein Schloss? Neuschwanstein war ein Schloss. Hohenschwangau. Selbst das Stadtschloss in Füssen konnte man mit etwas gutem Willen noch dazuzählen. Aber das hier? Es war eher ein in die Höhe gezogenes Landhaus, das die besten Jahre hinter sich hatte. Weit hinter sich. Selbst von ferne konnte man die Spuren des Verfalls erkennen, der Putz blätterte ab, die Fassade war vergraut und brüchig.

Jetzt erreichte Kluftinger das Plateau des Hügels und fuhr auf das Gebäude zu. In dieser ungemütlichen Nacht wirkte das spärlich beleuchtete Gemäuer wie eine mittelalterliche Burg, abweisend und ein wenig unheimlich. Er stellte seinen Passat auf einem der Parkplätze vor dem langgezogenen Nebengebäude ab und lief auf die Brücke zu, die über einen Burggraben zu einem massiven Portal führte. Davor stand ein windschiefes Schild, dessen antiquierte Buchstaben den Namen »Schloss Grimmbart« bildeten. Seltsam, dachte der Kommissar, er hatte immer gedacht, es hieße offiziell Hohes Schloss.

Die eine Hälfte des Portals stand offen, und Kluftinger blieb unwillkürlich stehen, als er dahinter eine Gestalt erkannte, die einen vielarmigen Kerzenleuchter in der Hand hielt. Er kam sich vor wie in einem dieser Edgar-Wallace-Streifen aus den Sechzigern, ballte die Fäuste in seinen Taschen und lief auf die Gestalt zu. Noch ehe er die Tür erreicht hatte, rief eine Stimme gegen den Wind: »Herr Inspektor?«

»Kommissar.«

»Oh, ja, pardon, Kommissar natürlich. Doktor Langhammer hat Sie bereits telefonisch angekündigt. Ich bin etwas … Ich darf mich kurz vorstellen: Wieland Freiherr von Rothenstein Grimmbart.«

Kurz ist gut, dachte der Kommissar. Immerhin wusste er nun, woher der Name auf dem Schild kam.

Jetzt konnte er auch das Gesicht des Mannes im flackernden Kerzenschein sehen. Die grauen Haare standen ihm wirr vom Kopf ab, seine Oberlippe zierte ein schmales Bärtchen. Die Hand, die den Leuchter hielt, zitterte.

»Haben Sie Stromausfall?«, begrüßte der Kommissar den Mann.

»Wir? Wieso …« Der Mann folgte Kluftingers Blick zu seinem Leuchter. Er schien verwirrt, als fiele es ihm schwer, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. »Ach so, verstehe. Nein, aber in dem Trakt, in den wir müssen, da macht die Elektrik immer wieder Sperenzchen.«

»Priml.«

»Wie meinen?«

Wie meinen! Der redete genauso geschwollen daher, wie Kluftinger befürchtet hatte. »Verstehe.«

»Ja, wissen Sie, alles sehr alte Leitungen, zudem sind nicht alle Räume elektrifiziert worden. Aber bitte, bitte jetzt schnell, kommen Sie, meine Frau! Jemand hat … es droht Gefahr!« Der Mann stemmte sich gegen das Portal, und es schloss sich knarzend hinter ihnen. Sofort umfing sie eine beklemmende Stille, nur ganz schwach drang das Pfeifen des Windes noch durch die dicken Mauern.

Die Tür hatte den Blick auf die Wand dahinter freigegeben, an der ein Wandteppich hing, den ein riesiges Wappen zierte. Im Zentrum des Wappens prangte ein Tier, das Kluftinger in dem schummrigen Licht jedoch nicht erkannte. Bevor er danach fragen oder sich erkundigen konnte, was denn überhaupt los sei, setzte sich der Mann hektisch in Bewegung, und der Kommissar folgte ihm. Sie stiegen eine breite Treppe hinauf, deren Geländer wüste, steinerne Figuren zierten, Fabelwesen mit weit aufgerissenen Mäulern und grauenhaften Fratzen, die im Schein der Kerzen lebendig zu werden schienen. Den Kommissar fröstelte es, und er schlug unwillkürlich den Kragen seines Lodenmantels hoch.

Er folgte dem Schlossherrn durch mehrere Türen und kleine Verbindungsgänge und hatte längst die Orientierung verloren, als der Mann abrupt stehen blieb. Kluftinger sah sich um. Vor ihnen gähnte nur ein schwarzes Loch, wohl ein langer Gang, von dem gerade mal ein paar Meter durch die Kerzen erhellt wurden.

»Moment, ich mache mal Licht«, sagte Rothenstein, und Kluftinger atmete auf. Doch als der Adelige den Schalter mit einem satten Schnalzen umgelegt hatte, merkte der Kommissar kaum eine Veränderung. Er kniff die Augen zusammen, um in diesem in funzeliges Glühlampenlicht getauchten Korridor irgendetwas ausmachen zu können.

Sein Vordermann drehte sich um und blickte ihn erwartungsvoll an. »Was meinen Sie?«

Der Kommissar hatte keine Ahnung, worauf er anspielte. »Es tut mir leid, aber, also ich kann nix … wird das noch heller?«

»Hier, an der Wand.« Er deutete nach links.

Kluftinger schritt an einer Reihe düsterer Porträts vorbei, vermutlich Ahnen des Schlossherrn, die einst in diesen Mauern gehaust hatten. Sie waren in massive Holzrahmen gefasst, deren goldene Farbe zum Teil abgeplatzt war und … Er hielt inne. Ein Bild fehlte. Stattdessen hatte jemand etwas an die Wand gepinnt. Einen Zettel oder … »Können Sie mal mit dem Kerzenleuchter kommen?«

Rothenstein stellte sich neben ihn, und jetzt konnte der Kommissar endlich ein bisschen mehr sehen. Es war kein Zettel, der da an der Wand hing, es war ein Foto. Ein Polaroid.

»Darf ich?«, fragte er und zeigte auf die Kerzen. Der Mann nickte, und der Kommissar nahm den Leuchter in die rechte Hand. Er machte noch einen weiteren Schritt auf das Foto zu, dann stieß er die Luft aus. Denn in diesem Augenblick wurde ihm klar, dass es noch eine lange Nacht werden würde.

 

 

»Ist das ..?«

»Ja, das ist meine Frau.« Die Stimme des Mannes klang brüchig. Kluftinger musterte ihn noch einmal: Seine Haare umrahmten ein hageres, aschfahles Gesicht mit feinen Zügen und leuchtenden, wasserblauen Augen.

Der Kommissar ging noch näher an das Foto heran; er stand nun so dicht davor, dass er es mit der Nasenspitze fast berührte. Es war lange her, seit er das letzte Polaroid gesehen hatte. Sein Vater hatte einmal eine dieser Kameras auf der Dienststelle gehabt und sie manchmal zu Familienfesten mit nach Hause gebracht. Man musste mit den fertigen Bildern immer wild in der Luft herumwedeln, um irgendwann eine Abbildung zweifelhafter Qualität in Händen zu halten, die schon nach wenigen Wochen verblich. Da war man mit einem schönen altmodischen, analogen Fotoapparat, wie er ihn stolz sein Eigen nannte, doch wesentlich besser bedient. Solange es noch Filme dafür gab, zumindest. Damit knipste man nicht einfach drauflos, man wählte Motive bewusst aus. Außerdem war es immer eine schöne Überraschung, wenn man schließlich die Aufnahmen eines Sechsunddreißigerfilmes in Händen hielt und längst vergessene Schnappschüsse vom Sommerurlaub in Südtirol neben dem Nikolausfest vor Augen hatte.

Den Sinn dieser Polaroid-Mordstrümmer hatte Kluftinger dagegen nie ganz verstanden. Außer natürlich, man wollte eine kostümierte Frau fotografieren und ihr Bild noch in derselben Nacht im Gang eines alten Schlosses aufhängen. Aber was zeigte dieses Foto? Die Frau darauf steckte in einer grotesken, historischen Kostümierung mit einer altertümlichen Haube und einer barocken Robe. Das Gesicht war kalkweiß gepudert, ein Teil der Schminke war verlaufen – wegen der Tränen aus den seltsam starr dreinblickenden Augen. Es war ganz offensichtlich, dass die Frau nicht freiwillig Modell gesessen hatte.

Kluftinger sog scharf die Luft ein und wich einen Schritt zur Seite.

»Vorsicht!«, rief der Adelige, und Kluftinger erstarrte in der Bewegung.

»Was ist denn?«

»Der Rahmen.« Rothenstein zeigte auf den Boden. Die Leisten, die dort lagen, hatte Kluftinger zunächst für Baumaterial zur Reparatur des maroden Gebäudes gehalten. Jetzt erst erkannte er, dass es ein leerer Bilderrahmen war.

»Liegt der schon lange da?«, fragte er sofort.

»Nein, ich habe ihn entdeckt, bevor ich Sie gerufen habe.«

»Ich nehme mal an, dass da bisher auch ein Bild drin war, oder?«

»Ja.«

Kluftinger seufzte. Der Mann war nicht gerade eine Plaudertasche. »Und welches?«

Der Adelige streckte den Finger aus: »Das da.«

Der Kommissar blickte in die gewiesene Richtung. »Das … Foto?«

»Ja. Sozusagen.«

Kluftinger verstand nicht.

»Sie wollen mir erzählen, dass Sie in dieser Gemäldegalerie ein gerahmtes Polaroid hängen haben?«

»Nein. Das Original. Das hing bis … also bis vor … also, jedenfalls bis vor kurzem noch da.«

Das Ganze wurde immer mysteriöser. Gedanklich ordnete Kluftinger die bis jetzt gewonnenen Informationen: Irgendjemand hatte also ein Gemälde, das normalerweise hier hing, gegen dieses Foto ausgetauscht. Ein Foto, das die Frau des Schlossherrn in einer seltsamen Kostümierung zeigte. Ihn beschlich eine dunkle Ahnung: »Wieso sitzt Ihre Frau so … komisch da auf dem Foto?«

»Sie sitzt da wie die Frau im Original. Also, im Gemälde.«

»Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«

Ohne nachzudenken antwortete der Mann: »Heute Vormittag. Sie war im Südflügel, um dort ein Hochzeitsbankett vorzubereiten.«

»Ach, man kann hier heiraten?«, fragte Kluftinger schnell.

»Ja, sicher, wieso?«

Der Kommissar machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, nichts. Sie haben Ihre Frau also später nicht mehr gesehen?«

Rothenstein schüttelte den Kopf.

»Auch nicht gesprochen? Telefoniert?«

»Nein.«

»Hat sich jemand bei Ihnen gemeldet? Ich mein, falls sie entführt …«

»Bei uns gibt es nichts zu holen«, unterbrach ihn sein Gegenüber ruppig. »Noch dazu jetzt, wo das wertvollste Gemälde verschwunden zu sein scheint!«

Kluftinger wollte schon anmerken, dass er doch immerhin in einem Schloss wohne, verkniff es sich aber. Für diese Art der Befragung würden sie später noch genug Zeit haben, jetzt war der Verbleib der Frau erst einmal wichtiger. Er trat noch einmal an das Bild heran. Nun sah er auch, dass sie etwas in der Hand hielt. Er kniff die Augen zusammen, doch er konnte es beim besten Willen nicht erkennen. Sosehr sich der Fotograf mit der Szenerie Mühe gegeben hatte, so schlecht war das Bild geworden: Man hatte die Frau frontal angeblitzt, das Motiv warf einen mächtigen Schlagschatten auf die Tapete hinter ihr. Der Kommissar fuhr herum: »Ist diese Tapete auch auf dem Gemälde?«

Rothenstein trat nun ebenfalls näher und antwortete: »Ja, stimmt, jetzt sehe ich es auch, das ist wie auf dem Original, das wurde ja damals im Märchenkabinett gemalt. Seitdem hat sich dort kaum etwas verändert.«

Kluftinger bemerkte, wie ein Ruck durch den Körper des Mannes ging.

»Mein Gott, das würde ja heißen …«

Der Kommissar drückte ihm den Leuchter in die Hand und zischte: »Sie gehen vor!«

 

 

Wieder führte ihr Weg über zahlreiche Treppen und Flure, und Kluftinger hatte das Gefühl, als werde er immer tiefer in die dunklen Innereien des Schlosses gesogen. Irgendwann blieb der Adelige jedoch abrupt stehen: »O nein, ich habe ja gar keinen Schlüssel für das Kabinett.«

»Dann holen Sie ihn«, keuchte der Kommissar.

»Nein, Sie verstehen nicht: Er ist nicht in meinem Besitz.«

»Aber das ist doch Ihr Schloss.«

»Ja, nein, schon, aber es ist etwas komplizierter. Es gibt hier ein Verwalterehepaar. Die kümmern sich für die Gemeinde … also, wir hätten sonst das Schloss nicht halten können, aber so …« Rothenstein wand sich, es war ihm sichtlich unangenehm, darüber zu reden. Da der Kommissar kein Interesse daran hatte, sich ausgerechnet jetzt in die verworrenen Besitzverhältnisse einweihen zu lassen, sagte er schnell: »Wo wohnen diese Verwalter?«

»Im Nebengebäude.«

Sie machten auf dem Absatz kehrt und rannten los.

 

 

»Du hast doch wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank, du degeneriertes Arschloch!« Der Verwalter, ein großer, grobschlächtiger Kerl in dunkelblauem Ballonseide-Trainingsanzug, hatte sich bedrohlich im Türrahmen aufgebaut.

»Hören Sie, Herr Pawlowicz, es ist nicht der Moment für Streit, es handelt sich sozusagen um einen Notfall, ich bräuchte den Schlüssel zum Märchenkabinett, meine Frau ist möglicherweise …«

»Was geht mich deine Alte an? Hast du mal auf die Uhr geschaut? Im Gegensatz zu dir arbeite ich den ganzen Tag, du …«

»Jetzt bleiben Sie mal in der Ruhe, Herr … Dings.«

Der Hüne schien Kluftinger erst jetzt zu bemerken. Er wandte sich ihm zu und funkelte ihn feindselig an. Kluftinger wollte sich nicht lange mit Erklärungen abgeben und zückte seinen Dienstausweis. »Kripo Kempten. Geben Sie uns jetzt sofort den Schlüssel heraus.«

Pawlowicz schien überrascht. »Polizei?«, fragte er mit einer Mischung aus Misstrauen und Vorsicht, die Kluftinger von Menschen kannte, die schon einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren.

»Ja, Polizei, und wenn Sie jetzt nicht sofort …«

»Schon gut.« Der Verwalter hob abwehrend die Hände. »Ich komm mit.«

Dann zog er eine Weste über, griff sich eine Taschenlampe und trat zu ihnen in die Nacht hinaus.

 

 

Kluftinger hatte inzwischen das Gefühl, jeden Winkel des Schlosses durchlaufen zu haben, und trotzdem kam ihm keiner der Gänge, durch die sie nun gingen, bekannt vor. Nach ein paar wortlos verstrichenen Minuten gelangten sie an eine doppelflügelige Holztür, die mit massiven Eisenbeschlägen versehen war. Pawlowicz drückte gegen die Tür, die mit einem Knarzen nach innen aufschwang, ohne dass er den riesigen Schlüssel auch nur ins Schloss gesteckt hatte.

»Da war überhaupt nicht abgesperrt, Rothenstein! Und deswegen schmeißen Sie mich mitten in der Nacht aus dem Bett?«

Vorsichtig traten sie einer nach dem anderen durch die Öffnung. Kluftinger verfluchte sich dafür, dass er seine Dienstwaffe nicht mitgenommen hatte. Aber wer hätte auch damit rechnen können, dass der Doktor recht behalten würde? Bevor er den Raum betrat, versuchte er, sich für den nun folgenden Anblick zu wappnen. Doch es half nichts. Was er sah, ließ selbst das kleinste Haar an seinem Körper zu Berge stehen: Erleuchtet vom grellen Schein der Taschenlampe, saß dort die Frau von dem Foto. Sie war bleich geschminkt und hatte die altertümliche Haube schief auf dem Kopf. Ihre Hände hielten einen Gegenstand und lagen auf dem Tischchen vor ihr. Das heißt, sie lagen nicht, sie waren mit Klebeband fixiert worden.

Doch das war nicht das Schlimmste an diesem Anblick. Was Kluftinger am meisten zu schaffen machte, war die absolute Gewissheit, dass die Frau vor ihm tot war.

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Der Kommissar stand etwas abseits an einem der großen, bleiverglasten Fenster und schaute nach draußen in die Dunkelheit. Nur durch die spärliche Beleuchtung des verschlafenen Kurortes, der unterhalb des Schlosses lag, ließ sich der Dunst erahnen, der sich als Vorbote des Herbstes wie eine Glocke über die Landschaft gelegt hatte.

Seltsam gedämpft drangen auch die Geräusche an Kluftingers Ohr, die seit gut einer halben Stunde den Raum erfüllten. Das geschäftige Werkeln seiner Kollegen, das ihm sonst half, trotz seiner Leichenunverträglichkeit zu funktionieren, drang kaum noch zu ihm durch. Zu fremdartig wirkte die Szenerie. Das alles, sie alle passten nicht so recht in dieses alte Gemäuer. Das grelle, kalte Licht der Scheinwerfer, die Blitze der Fotokameras der Spurensicherung, all das stand im Gegensatz zu der morbiden Würde, die der Raum ausstrahlte.

Rita Freifrau von Rothenstein Grimmbart, so stand es in ihrem Ausweis, die Frau des Barons, war auf höchst bizarre Art und Weise getötet worden, war in eine Szenerie drapiert worden, die der glich, die ein altes Familienporträt aus dem sechzehnten Jahrhundert darstellte. Das immerhin wusste er mittlerweile. Sonst so gut wie nichts.

Die Zeit bis zum Eintreffen seiner Kollegen hatten sie fast wortlos vor dem Hauptportal des Schlosses verbracht. Nur Rothenstein hatte manchmal ein Wimmern oder tiefe Seufzer ausgestoßen. Lediglich ein paar spärliche Sätze über seinen Tagesablauf hatte er ihm entlocken können. Nun drehte sich Kluftinger um und kniff unwillkürlich die Augen zusammen, als er zu Georg Böhm, dem Gerichtsmediziner, sah. Mit zwei Beamten des Erkennungsdienstes löste er gerade das Klebeband, das die Hände der Frau auf dem Tisch fixierte und die Tote auf dem Stuhl noch immer aufrecht hielt. Der Rechtsmediziner nickte ihm kurz zu, dann widmete er sich wieder seiner Aufgabe.

Am anderen Ende des Raums kniete der Leiter des Erkennungsdienstes, Willi Renn, vor einem der mächtigen Schränke und hantierte mit einer großen schwarzen Klebefolie. Während Kluftingers direkte Mitarbeiter Richard Maier und Roland Hefele gerade mit dem Schlossverwalter und dessen Frau sprachen, vernahm Eugen Strobl, der vierte Kommissar in Kluftingers Abteilung bei der Kripo Kempten, noch einmal den Baron.

Kluftinger hing seinen Gedanken nach, noch immer hämmerten dieselben Fragen in seinem Hirn wie eine Langspielplatte mit Sprung: Warum nur begeht jemand eine solche Tat? Wie bringt man die Energie auf, einen Leichnam während oder nach der Tötung derart herzurichten? Und, noch wichtiger: warum? Welche Botschaft wollten der oder die Täter dadurch vermitteln?

Er gab sich einen Ruck und ging auf den Gerichtsmediziner zu. Mittlerweile hatten sie das Klebeband vom Stuhl losgeschnitten, das die Frau wie ein eigentümliches Korsett gehalten hatte. Der Leichnam lag nun zusammengesunken auf dem antiken Lehnstuhl. Böhm warf Kluftinger einen besorgten Blick zu, schließlich wusste er um das Problem, das der im Umgang mit Toten hatte, doch der Kommissar winkte ab. Seine Schrecksekunde hatte er schon vorher gehabt, und die gute halbe Stunde bis zum Eintreffen der Kollegen hatte ihm geholfen, sich ein wenig zu fangen.

»Schon recht, Georg, ich kipp dir nicht vom Stängele, ich bin zu müd, als dass mir das Ganze noch viel anhaben könnte. Kannst du schon sagen, wie sie gestorben ist?«

Böhm richtete sich auf, schob seine verwaschene Baseballkappe aus dem Gesicht, die er, das war ein offenes Geheimnis, nur trug, um von seinem schütter werdenden Haar abzulenken, und erklärte mit angedeutetem Kopfschütteln: »Also, mit einer Schuss- oder Schlagverletzung kann ich schon mal nicht dienen. Zumindest nicht im Kopfbereich. Strangulationsmale hab ich auch keine gefunden. Ich hab aber gewisse Hinweise auf Erstickungstod, könnt gut sein, dass es darauf hinausläuft. Aber vielleicht finden wir noch eine Wunde. Wobei, selbst wenn man die Tote erst nach der Tat umgezogen hätte, sie sieht nicht aus, als hätte sie viel Blut verloren. Ich lös jetzt noch das da …«, er zeigte auf das Klebeband, das die Frau im Beckenbereich an den Sitz fesselte, »… und dann kann ich ganz sicher sagen, ob sie am Rumpf wirklich unversehrt ist.«

»Also wahrscheinlich hat man sie mit irgendwas erstickt?«

Böhm wiegte den Kopf. »Zu achtzig Prozent, ja. Kann auch sein, dass man ihr Mund und Nase von Hand zugedrückt hat. Was mich ein wenig stutzig macht, ist, dass es nicht die geringsten Spuren von Gegenwehr bei ihr gibt. Wie, wenn die betäubt worden wäre.«

»Gift?«

»Medikamente? Drogen? Was soll ich denn jetzt sagen, hm? Das zeigt erst die Sektion. Ich nehm mir die Dame gleich morgen vor, ich hab eh nur ein paar Suizidierte, die können schon ein bissle warten, vielleicht geb ich da auch einen nach München ab.«

»Ein erster Tipp vielleicht?«

»Lieber nicht.«

»Hat man sie vor oder nach ihrem Tod so komisch hergerichtet?«

»Schwer zu sagen, echt, ich hab sie ja noch nicht mal ausgezogen. So aus dem Gefühl raus: vorher. Nagel mich aber nicht drauf fest. Oder sollt ich in dem Fall besser sagen: Kleb mich nicht dran fest?«

»Deine Nerven möcht ich haben!« Kluftinger ging zu Willi Renn, der gerade eine seiner Klebefolien in seinen Asservatenkoffer gesteckt hatte und nun beschriftete.

Renn bemerkte Kluftingers fragenden Blick und verdrehte die Augen. »Klufti, du weißt, ich bin kein Freund von voreiligen Schlüssen. Wenn du was über die Spurenlage an sich wissen willst …«

Kluftinger nickte.

»Bis jetzt nix Weltbewegendes. Ein paar Fußspuren, Fasern, ab und zu ein schöner Fingerabdruck. Aber der Raum hier war ja tagsüber für Besucher zugänglich, die werden auch nicht gerade in Vollschutzanzügen unterwegs gewesen sein.«

»Wieso zugänglich?«

»Weil man, wenn man sich für heimatliche Geschichte interessiert und überhaupt ein bissle aufgeschlossen ist, das Märchenkabinett des Schlosses eben besuchen kann. Ein paar Porträtschinken gibt es hier auch. Und eben Märchenbilder verschiedener Epochen.« Er deutete vage in den Raum.

»Soso. Und das hast du alles schon vorher gewusst, willst du mir jetzt wohl weismachen.«

»Freilich. Weil ich mich nämlich für meine Heimat interessiere und schon mal hier war. Im Gegensatz zu dir, vermute ich?«

»Ja und? Ich hab was anderes zu tun in meiner kostbaren Freizeit, als in der Weltgeschichte rumzufahren und abgewirtschaftete Schlösser und Burgen zu besichtigen.«

»Echt? Was denn?«, hakte Renn grinsend nach.

Kluftinger suchte einen Moment nach einer Antwort, winkte dann jedoch mürrisch ab.

»Willi, sag mir lieber mal, ob ihr irgendwelche Spuren habt, die einen Hinweis geben können, in welchem Zustand das Opfer hereingebracht wurde. Schleifspuren oder so. Und wenn ja, woher sie kommen.«

»Nein.«

»Was, nein? Sagst du es nicht, oder habt ihr keine?«

»Wir haben keine. Zumindest nichts von der Tür. Hier, um den Stuhl und den Tisch herum, da ist eh alles unbrauchbar durch das ständige Hin und Her.«

»Wenn du was Handfestes hast, sag Bescheid, Willi, ja?«

»Versteht sich, Klufti. Vor morgen Mittag brauchst du aber gar nicht anzurufen, klar? Das hält mich nur von der Arbeit ab.«

Mit einem gebrummten »Schon recht, trotzdem danke« entfernte sich der Kommissar und ging auf Richard Maier zu, der sich noch immer mit dem genervt dreinblickenden Schlossverwalter unterhielt, dem er ständig sein Smartphone mit Diktierfunktion unter die Nase hielt. Die Erfahrung sagte ihm, dass es Zeit war, einzugreifen.

»Herrschaft, Herr Kommissar, Ihr württembergischer Kollege hier will immer wieder das Gleiche von mir wissen. Kann ich jetzt mal gehen? Ich bin müd, zefix! Und wenn, dann will ich mit jemand Vernünftigem reden, nicht mit so einer Witzfigur!«

Maier schnappte nervös nach Luft, doch Kluftinger kam einer Reaktion zuvor. »Jetzt mal vorsichtig, Herr …«

»… Pawlowicz.«

»Genau, ich glaub nicht, dass ausgerechnet Sie in der Position sind, sich hier so aufzublasen. Sie werden genauso vernommen wie alle anderen auch.«

Der Anflug eines Lächelns machte sich auf Maiers Gesicht breit. Dankbar sah er seinen Vorgesetzten an.

»Was wolltest du denn wissen, Richie?«

»Ich habe ihn über sein Alibi befragt, aber er gibt stets nur ausweichende und diffuse Antworten. Nichts Konkretes.«

»Ja, Himmelherrgott, er kapiert’s einfach nicht: Ich hab mit meiner Alten ein nettes kleines Nümmerchen geschoben nach Feierabend, bevor wir uns mit einem schönen kühlen Weizen vor die Glotze geknallt haben! Und dann ist ja schon der Vollidiot von Baron mit Ihnen zusammen vor der Tür gestanden und hat genervt. Ist Ihnen das klar genug ausgedrückt? Hm?« Schnaubend, mit rotem Kopf, stand Pawlowicz da und warf seiner Frau einen prüfenden Blick zu, die sich gerade mit Roland Hefele unterhielt.

»Interessant«, sagte Kluftinger unbeeindruckt, »damit wüssten wir ja auch schon, was Ihre Frau zur fraglichen Zeit getan hat, gell? Vorausgesetzt, sie kann sich überhaupt noch daran erinnern.« Damit ließ er den entgeistert dreinblickenden Verwalter stehen.

Hefele sah ihn aus den Augenwinkeln, als er zu ihm und der Frau kam. »Chef, Frau Pawlowicz bestätigt, dass sie den ganzen Abend mit ihrem Gatten zusammen war, auch wenn sie es ein wenig dezenter ausgedrückt hat als das, was ich da von ihrem Mann gehört habe. Wie er hat sie weder etwas Besonderes gehört noch gesehen, wobei sie, aus bekannten Gründen, dafür wohl weder Augen noch Ohren hatte«, erklärte er.

Kluftinger nickte.

»Und denken Sie sich nix dabei, weil er immer gleich so schreit. So isser halt. Wird schnell wild.« Sie grinste breit.

Kluftinger zuckte mit den Schultern. »Kein Problem, Frau Pawlowicz, ich hab nichts gegen klare Worte, ist mir lieber, als wenn man ständig um den heißen Brei herumredet.«

Stumm sinnierend ging der Kommissar nun durch den Raum. Ein seltsames Grüppchen musste das gewesen sein, das da bislang auf dem Schloss zusammengelebt hatte: Freiherr von Rothenstein Grimmbart, der Edelmann, und auf der anderen Seite das Ehepaar Pawlowicz, derb, mit geradezu provokativ zur Schau getragenen schlechten Manieren. Konflikte mussten da an der Tagesordnung gewesen sein. Er fragte sich, was das überhaupt für eine seltsame Konstruktion war: ein Schlossherr, der nicht einmal alle Schlüssel zu seinem Anwesen hatte und bei einem Verwalter darum bitten musste.

Kluftinger ging gerade auf Strobl und Rothenstein zu, als ihn Georg Böhm noch einmal zu sich winkte.

»Sag mal, wann genau habt ihr die Tote gefunden?«

Der Kommissar blickte auf sein Handy. »Ich hab genau um dreiundzwanzig Uhr sieben mit den Kollegen telefoniert, zwei Minuten vorher waren wir hier und haben sie gesehen, warum?«

»Wenn mich jetzt nicht alles täuscht – und das würd mich schon sehr wundern –, war sie da noch nicht wahnsinnig lange tot.«

»Willst du damit sagen, dass … ich hab mich schon vergewissert …«

»Nein, so mein ich das nicht. Ist auch nur so eine Ahnung, Genaueres gibt’s auch da morgen.«

»Okay, danke, Georg.«

Strobl erzählte ihm von seinem Gespräch mit Rothenstein, dessen Ergebnisse sich in etwa mit denen deckten, die er selbst schon gewonnen hatte, als sie auf das Eintreffen der Kollegen gewartet hatten: Er war davon ausgegangen, seine Frau, die des Öfteren bei Konzerten oder anderen Kulturveranstaltungen in Kempten oder Memmingen war, sei am Abend unterwegs gewesen. Er habe sie also spät zurückerwartet und sei früh zu Bett gegangen, nachdem er gegen neun vom Angeln an einem seiner etwas entfernt gelegenen Fischweiher zurückgekommen sei.

Dennoch wandte Kluftinger sich noch einmal an den Mann: »Sagen Sie, gesehen hat Sie da sicher niemand, beim Angeln, oder? Oder dass jemand mitbekommen hätte, wie Sie nach Hause gekommen sind?«

Rothenstein schüttelte langsam den Kopf.

»Was haben Sie denn gefangen?«

»Rein gar nichts, Sie sehen, nicht einmal ein winziger Fisch findet sich, der mich entlasten könnte. Sie müssen mir wohl oder übel Glauben schenken, Herr Hauptkommissar«, sagte er mit brüchiger Stimme.

»Und zu dem Zeitpunkt, als Sie gekommen sind, haben Sie nichts im Schloss bemerkt?«, wollte Strobl wissen.

»Sie haben gesehen, wie weitläufig die Räumlichkeiten und Korridore hier im Hause sind. Ich bin erst aus dem Schlaf hochgeschreckt, als ich meinte, das große Portal unten knarren und kurz darauf ins Schloss fallen zu hören. Als dann aber meine Frau nicht in die Wohnung heraufkam, ging ich nachsehen. Den Rest der Geschichte kennen Sie ja selbst.«

»Versuchen Sie, sich ein wenig auszuruhen«, schlug Kluftinger vor. »Wir werden morgen wieder vor Ort sein, und die Kollegen von der Kriminaltechnik auf jeden Fall die ganze Nacht. Da kommt sicher noch einiges auf Sie zu. Ihre Frau wird in die Pathologie nach Memmingen gebracht, dann wissen wir da auch bald mehr.«

»Ja, es wird wohl das Beste sein, wenn ich mich zurückziehe. Auch wenn an Ruhe nicht zu denken sein wird. Aber ich habe von Doktor Langhammer gute Beruhigungstropfen bekommen, da ich in letzter Zeit zu unruhigem Schlaf neige.«

Er verabschiedete sich mit einem kraftlosen Händedruck, und Kluftinger sah ihm mitfühlend nach, wie er mit langsamen Schritten den Raum verließ.

 

 

Als der Kommissar eine Stunde später durch die Nacht Richtung Altusried fuhr, war er kein bisschen müde. Er sah auf die Uhr. Es war Viertel vor drei. Sie hatten einen neuen, spektakulären Fall zu lösen, das hielt sein Gehirn auf Trab, und er fühlte sich erstaunlich fit. Eigentlich hätte er seit mindestens viereinhalb Stunden im Bett sein müssen, um eine angemessene Ration Schlaf abzubekommen. Noch vor einer Weile hatte er gesundheitliche Probleme gehabt, die ihm viel Kraft und Zuversicht geraubt hatten – und sich dann als großes Missverständnis in Luft aufgelöst hatten. Dennoch hatte er sich eine etwas andere Sicht auf sein Leben und seine Zukunft bewahrt, er tat alles ein wenig bewusster, achtete auf etwas gesündere Ernährung, auch wenn sich mehr und mehr die jahrzehntelangen Gewohnheiten Bahn brachen. Manchmal erinnerte er sich jedoch an seine guten Vorsätze, und er machte einen ausgedehnten Spaziergang oder holte sich einen Kohlrabi aus dem Gemüsefach statt einer Hartwurst aus der Speisekammer.

Kurpfuscher ruft an.

Die Textzeile auf seinem Handy riss ihn aus seinen Gedanken. Hatte Langhammer nichts Besseres zu tun, als ihn mitten in der Nacht zu behelligen?

Er beschloss, den Anruf samt Vibrationsalarm einfach zu ignorieren, und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Bestimmt war dem nur daran gelegen, Details über seinen Besuch im Schloss zu erfahren. Andererseits: Wenn der Doktor doch etwas Dringendes wollte? Am Ende war etwas mit Erika, schließlich war die in der letzten Zeit nervlich alles andere als stabil gewesen, wegen des großen Ereignisses …

»Ja, Kluftinger?«

»Langhammer hier, mein Lieber, endlich stehen die Zeichen Ihres Handys wieder auf Empfang! Möchten Sie mir kurz die Details Ihres Besuches beim Freiherrn von Rothenstein referieren? Darf ich fragen, in welcher Verfassung Sie ihn vorgefunden respektive zurückgelassen haben?«

Schon am Ton des Arztes merkte Kluftinger, dass der von seiner entschuldigenden, unterwürfigen Haltung bereits wieder meilenweit entfernt war.

»Grüß Gott, Herr Langhammer. So viel Aufopferungsbereitschaft für die Mitmenschen zu nachtschlafender Zeit?«

»Immer im Dienst, wie Sie, mein Bester. Unsereins ist schließlich Hippokrates per Eid verpflichtet, da ist der Nachtschlaf eine Marginalie, noch dazu, wenn ich Notdienst habe.«

»Und ich bin leider unserem Staat per Eid verpflichtet, und da sind Neugier und Geschwätzigkeit noch schlimmer als so eine Migräne.«

»Nicht diese unbedachte Ruppigkeit, werter Kluftinger, sonst gibt’s am Ende wieder so ein hässliches Ziehen im Brustkasten vor lauter Verspannungen, lassen Sie mich als behandelnder Arzt das sagen.«

»Hätten wir’s dann? Ich hab kein Freisprechdings.«

»Aha, Handy zwischen Kopf und Schulter eingeklemmt, ganz schlecht für die Nackenmuskulatur. Wie dem auch sei, ich habe es schon diverse Male bei Ihnen versucht, immer wieder zwischen meinen eigenen Einsätzen, aber Sie haben nie abgenommen. Nun war ich doch sehr alarmiert. Sie können hoffentlich Entwarnung geben?«

Kluftinger rang mit sich. Einerseits ging es den Arzt nichts an, andererseits hatte er ihn überhaupt erst auf diese Fährte gebracht. Und vielleicht hatte er als Freund der Familie Rothenstein ja sogar etwas beizutragen. Außerdem würde er sowieso bald aus den Medien von der grausigen Tat erfahren. »Herr Langhammer, ich muss Ihnen da was Trauriges sagen …« Er erzählte ihm nur das Wichtigste, die Details ließ er aus. Selbst durch das Mobiltelefon konnte Kluftinger erkennen, wie schockiert der Arzt über die Nachrichten war.

»Ich will Ihnen anbieten, unverzüglich eine Aussage zu machen«, sagte der schließlich, als er sich wieder gefangen hatte. »Immerhin habe ich den Anruf des Barons erhalten und kenne das Ehepaar ja persönlich. Mögen Sie gleich noch bei mir vorbeikommen? Ansonsten kann ich auch zu Ihnen …«

»Um Gottes willen. Ich mein: Das ist wirklich vorbildlich von Ihnen, Sie sind ein ungeheuer pflichtbewusster Bürger, Herr Langhammer. Und Sie hatten sogar den richtigen Riecher, gut, dass Sie mich hingeschickt haben. Aber jetzt ist Schluss. Sobald ich daheim bin, gehe ich ins Bett, wenn’s recht ist. Morgen früh ist die Nacht rum, und ausgeruht ermittelt es sich besser. Pfiagott und gut Nacht!«

Ohne eine Reaktion abzuwarten, legte der Kommissar auf, kaum eine Viertelstunde später lag er tatsächlich im Bett. Etwas unruhigen Schlaf fand er allerdings erst, als die Dämmerung schon heraufzog.

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Sei bloß leise, Butzele, sie schlafen noch.«

Kluftinger hatte gerade seinen Wecker ausgestellt und die Augen aufgeschlagen. Erika war anscheinend bereits seit einer Weile wach, er hingegen fühlte sich, als habe er die letzte Nacht durchgefeiert. »Hm?«

»Du sollst nicht wieder so rumrumoren, nicht dass sie aufwachen.«

»Sie, sie, immer sie«, brummte Kluftinger, als er wie jeden Morgen, wenn er aufstand und seine Gelenke noch nicht so recht wollten, ungelenk zur Kommode humpelte, um sich mit frischer Wäsche und einem neuen Paar Wollsocken für den Tag zu rüsten. »Schon klar, die werten Herrschaften brauchen dringend ihren Morgenschlaf, nicht dass sie noch mit den täglichen Mühen der arbeitenden Bevölkerung behelligt werden.«

»Hör auf zu granteln, Brummbär. Das tut dir nicht gut. Meinst du, du schaffst es noch, Semmeln fürs Frühstück zu holen?«

»Nein, das glaub ich nicht, viel los heut bei uns. Müssen die Herrschaften wohl mit Toast vorliebnehmen.« Erika hatte doch mitbekommen, wann er nach Hause gekommen war, schließlich hatte sie ihn gleich über seinen neuen Fall ausgefragt. Und nun wollte sie ihn trotz allem zum Bäcker schicken.

»Gut, Butzele, aber denk dran, heute Mittag haben wir einen Termin, gell?«

»Termin, jaja.« Abwesend beugte er sich zu seiner Frau, drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und zog die Schlafzimmertür hinter sich zu.

Eine Tasse löslichen Kaffee und zwei Marmeladentoasts später schlüpfte er in seinen Übergangsjanker, der ab Mitte September seinen Sommerjanker ablöste. Dann suchte er geschlagene fünf Minuten nach seinem Autoschlüssel, den er schließlich außen im Haustürschloss steckend fand, packte seine Tageszeitung aus dem Briefkasten in die Aktentasche um, ging noch einmal zurück in den Hausgang, fuhr sich mit seinem Taschenkamm durchs schüttere Haar und verließ, derart für einen anstrengenden Arbeitstag gewappnet, sein Haus.

»Na, Zeit wird’s, mein Bester.«

Kluftinger fuhr zusammen und blickte fassungslos in Doktor Langhammers strahlend weißes Lächeln. Als er sich wieder gefangen hatte, knurrte er: »Blüht mir das eigentlich auch in den nächsten Jahren?«

»Was meinen Sie?«

»Das mit der senilen Bettflucht. Dass man nicht mehr schlafen kann und dann seine Zeitgenossen erschreckt am frühen Morgen.«

»Immer einen launigen Spruch auf den Lippen, unser lieber Herr Staatsdiener. Sie sind einfach ein unverbesserlicher Misanthrop!«

Kluftinger ignorierte diese sicherlich beleidigende Anmerkung und versuchte dasselbe auch mit dem Doktor, was jedoch nicht von Erfolg gekrönt war. Denn der stellte sich ihm mitten in den Weg, hob beide Arme und sagte: »Befragen Sie mich.«

Der Kommissar biss die Zähne zusammen. Streng genommen war es sicher nicht von Nachteil, Informationen über Baron Rothenstein von jemandem zu bekommen, der ihn persönlich kannte. Zudem wollte er zu dieser frühen Stunde keinen Streit mit dem Doktor vom Zaun brechen. Und ein paar Minuten konnte er schon noch entbehren.

»Wenn’s sein muss. Nescafé gefällig?«, fragte er also.

»Um Himmels willen, wollen Sie mich umbringen? Eine Tasse grünen Tee würde ich aber nicht ablehnen.«

»Grün?« Missmutig schloss Kluftinger die Haustür wieder auf. »Pfefferminz hätten wir, glaub ich. Aber leise sein, gell? Alle schlafen noch. Ich hab keine Lust, dass die ausgerechnet wegen Ihnen aufwachen.«

Als Kluftinger den Doktor an sich vorbeischob, nahm er einen Mann in Lederjacke wahr, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand und auf irgendjemanden zu warten schien. Doch als sich ihre Blicke kreuzten, wandte er sich schnell ab. Kein Wunder, was der über dieses seltsame Schauspiel am frühen Morgen gedacht haben musste, wollte er sich lieber gar nicht ausmalen.

Immerhin erfuhr er im Folgenden, dass der Baron schon des Öfteren bei Langhammer in Behandlung gewesen war, dass sie sich hin und wieder über verschiedenste Themen bei dem einen oder anderen Gläschen Rotwein »ausgetauscht« hatten. Und auch, dass es den Rothensteins offenbar nur mit großen Anstrengungen und vielen Veranstaltungen, Märkten und Konzerten und sogar der Vermietung von Zimmern möglich war, das Schloss, ein paar Weiher und den Märchenwald rings um das Anwesen zu halten. Frau Rothenstein Grimmbart besitze zudem einen der bedeutendsten Heilkräutergärten der Gegend, in dem auch seltene Pflanzen wuchsen und der über die Grenzen der Region hinaus Beachtung finde. Und sie habe auch in kleinem Maßstab selbst Tees und Kräuter für den Verkauf auf Märkten und bei den Konzerten im Schloss hergestellt.

Von den Verwaltern habe der Doktor bislang keine Notiz genommen. Dafür lobte er ständig Rothensteins feinsinnige, aristokratische Art, die makellosen Umgangsformen und den Kunstverstand der Verstorbenen.

Langhammer bot schließlich großzügig an, für jegliche weitere Aussage zur Verfügung zu stehen, während Kluftinger ihm für den Fall einer Indiskretion schwerwiegende rechtliche Konsequenzen in Aussicht stellte.

 

 

Als der Kommissar eine Stunde später endlich im Büro ankam, hatte er seine nervlichen Tagesreserven bereits aufgezehrt: Neben der Aussage hatte es noch einen Langhammerschen Vortrag über Grüntee und dessen zellschützende Wirkung gegeben, ein weltmännisches Kompliment an Erika, die selbst im Morgenrock wie aus dem Ei gepellt wirke, und zwei weitere Erinnerungen – eine davon von Langhammer – an den ominösen wichtigen Termin, den sie alle zusammen mittags hätten. Er wusste nicht mehr sicher, was für ein Termin das war, wollte sich aber vor dem Doktor und seiner Frau keine Blöße geben.

»Fräulein Henske, was mach ich heut Mittag?«, fragte er also beim Eintreten seine Sekretärin, die von seiner Frau regelmäßig mit den Eckdaten seines privaten Kalenders versorgt wurde. Ihm selbst traute sie in dieser Hinsicht nicht weiter als bis zur Haustüre.

»Guten Morgen, Chef«, begrüßte ihn Sandy Henske mit einem milden Lächeln.

»Morgen, ja. Also, was ist denn noch los bei mir?«

Sandy, die aus Dresden stammende gute Seele ihrer Bürozwangsgemeinschaft, grinste, als sie sagte: »Also, was bei Ihnen noch so los ist, darüber möchte ich mir kein Urteil erlauben, das ist Sache Ihrer Frau, würd ich meinen, nich?«

Kluftinger lächelte – das erste Mal an diesem Tag.

»Sie sind heute zum Essen im Gasthaus, Sie wissen schon, wegen der …«

»Ah, verreck, jaja, freilich. Gut, dass Sie immer alles im Griff haben. Dafür geb ich Ihnen einen Kaffee aus. Da können wir gleich die Kollegen einsammeln, die sich noch in der Teeküche rumtreiben.«

 

 

»… den hat sie heimgeschickt, während der Dienstzeit, zum Umziehen, weil er statt Sakko und Hemd bloß eine ausgeleierte Strickjacke angehabt hat. Wenn ihr mich fragt: zu Recht. Man ist ja bei der Polizei und nicht im Kuhstall.«

»Wer hat wen heimgeschickt, Richie?«

Richard Maier zuckte ein wenig zusammen, bevor er kopfschüttelnd abwinkte. »Morgen, Chef. Nichts weiter, nur eine Anekdote von unseren Kollegen aus Hannover.«

»Hannover? Kennst du da jemanden? Die sind doch so hochdeutsch da oben, verstehen die dich überhaupt mit deinem Württemberger Singsang?«

»Erstens: Ja, ich kenne da jemanden, von einer Fortbildung nämlich. Zweitens: Ja, die Kollegin versteht mich … Drittens: Du kennst auch jemanden, unsere neue Präsidentin kommt nämlich von dort. Frau Dombrowski war stellvertretende Chefin im Hannoveraner Präsidium und für Personalfragen zuständig. Und aus gut unterrichteter Quelle, mit der ich übrigens keinerlei intime Beziehungen pflege oder anstrebe, weiß ich auch, dass Frau Dombrowski sehr sensibel ist, was den Ton und die Rücksichtnahme unter den Mitarbeitern angeht. Da gab es schon Abmahnungen wegen Kollegenmobbing und wegen ständigem Gepiesacke.«

»Richie, jetzt heul nicht gleich rum«, schaltete sich Roland Hefele ein, der ein bisschen besorgt klang. »Wer piesackt denn hier am meisten, hm? Du brauchst dich gar nicht beschweren, schließlich ist noch nie jemand handgreiflich gegen dich geworden.«

»Meine Herren, nicht streiten«, bat Sandy Henske, die stets um Harmonie in der Abteilung bemüht war, »wir müssen doch zusammenhalten, schließlich sind wir ein Team und lassen uns nicht von der neuen Chefin entzweien. So weit darf es gar nich erst kommen.«

»Fräulein Henske, Männer«, setzte Kluftinger an, »das sind doch bestimmt alles nur Vorurteile gegenüber der Frau Dombrowski. In den drei Wochen, seit denen sie da ist, können wir uns nicht beklagen, würd ich sagen.«

Die anderen sahen ihn wenig überzeugt an.

»Himmelarsch, statt dass ihr froh seid’s, dass der Lodenbacher weg ist, passt es euch schon wieder nicht. Seid’s doch nicht immer so negativ alle, zefix!«

Sandy Henske presste ein »’tschuldigung« hervor, wandte sich ab und verließ wortlos den Raum. Anscheinend war Kluftingers Reaktion heftiger, als Sandy Henske es heute vertragen konnte. Maier und Hefele sahen ihn vorwurfsvoll an.

»Ist doch wahr, ihr sucht doch bloß nach einem Grund, wieso die Neue schon wieder schlecht sein muss. Bloß weil …«

»… sie aus Preußen kommt, geschwollen daherredet, eine Frau ist, die uns anschafft, was wir zu tun und zu lassen haben, überall ihre Nase reinsteckt und angeblich – ich beruf mich da auf Richies Quelle – Zwangsfortbildungen für computermäßig minderbemittelte Kollegen anordnet.« Hefele ließ seine Worte kurz wirken, dann fuhr er mit rotem Kopf fort: »Das sind wir, Klufti, ist dir das klar? Wir zwei auf einer Computerfortbildung.«

»Ach was, so schnell schickt uns niemand auf Fortbildung. Da gibt es Mittel und Wege, das zu verhindern. Wir haben ohne psychologische Hilfe den Lodenbacher überstanden, was soll uns noch passieren?«

»Ich sag nur eins: Es kommt nix Besseres nach«, beharrte sein Kollege.

»Da muss ich dem Chef recht geben«, verkündete Maier. »Ich bin ohnehin immer sehr gut mit Präsident Lodenbacher ausgekommen, und ich gehe davon aus, dass Birte Dombrowski ebenfalls Kompetenz, Loyalität und Einsatzbereitschaft zu schätzen weiß. Eigenschaften, die ich mir getrost zuschreiben darf, nicht wahr?«

Hefele prustete los.

»Bescheidenheit hast du vergessen«, ergänzte der Kommissar. »Aber was anderes, wo ist eigentlich der Eugen?«

»Der darf dem Böhm bei der Sektion der Baronin beiwohnen«, erklärte Hefele sarkastisch. »Aber sag mal, was genau macht denn der Lodenbacher jetzt im Innenministerium?«

»Na ja, es hat doch geheißen, er sei Ministerialrat oder so. Genau weiß ich es auch nicht. Ich würd sagen, er sitzt nett in München an einem Schreibtisch und wartet auf die Mittagspause, geht mit lauter wichtigen Ministerialkollegen zum Essen, vielleicht auch mal auf den Viktualienmarkt, knüpft Kontakte zu wichtigen Mitarbeitern von anderen wichtigen Ministerien und redet noch gescheiter daher als bisher auch. Insofern hat sich die Golferei mit Landrat und Konsorten letztlich doch gelohnt.«

»Neidisch?«, fragte Maier herausfordernd.

Kluftinger stieß verächtlich die Luft aus. »Ganz bestimmt, Richie. Ich würd nicht mal bei doppeltem Gehalt nach München gehen, schon gar nicht zu den Sesselfurzern ins Ministerium.«

»Chef, wenn ich hier auch mal die eben von dir angemahnte Loyalität den Vorgesetzten und der staatlichen Verwaltung gegenüber ins Spiel bringen dürfte?«, warf Maier in belehrendem Tonfall ein. »Nur mit einem soliden administrativen Überbau, der durch kompetente, erfahrene und gut vernetzte Beamte gebildet wird, ist souveräne Polizeiarbeit in unserem Staate möglich.«

»Ach komm, Richie«, erwiderte Kluftinger, legte seinem Kollegen die Hand auf die Schulter und stimmte einen versöhnlichen Ton an, »du hoffst doch bloß, dass dich der Lodenbacher mal als Hilfsbremser nach München holt und du dich nicht mehr mit uns bösen Buben rumärgern musst. Aber ich glaub, du mit deinem gelbfüßlerischen Migrationshintergrund hast da schlechte Karten.«

»Erstens ist das nicht wahr, ich habe keinerlei ministeriale Ambitionen, zweitens handelt es sich historisch gesehen bei den sogenannten Gelbfüßlern entgegen der landläufigen Meinung um einen Necknamen für den badischen Teil der Bevölkerung unseres Bundeslandes, nicht für den schwäbischen, was auf eine Uniformtradition im achtzehnten Jahrhundert …«

»Richie«, sagte Kluftinger grinsend, »wir Allgäuer werden schon selber wissen, wer unsere Gelbfüßler sind.« Dann erklärte er in die Runde: »So, und jetzt nix für ungut allerseits, ab in die Morgenlage, wir haben noch ein bissle was vor heut, Männer.«

 

 

»Also, fangen wir an, ihr wisst, was heute alles auf uns zukommt.« Kluftinger hatte wieder zu einem geschäftsmäßigen Ton zurückgefunden. »Alle nicht dringenden Fälle sind derweil … nicht so dringend. Roland, du schließt nebenbei bitte noch die Brandstiftung am Wildpoldsrieder Wertstoffhof ab, da haben wir ja mittlerweile auch ein Geständnis dieser Halbwüchsigen mit den Silvesterknallern, oder?«

Hefele nickte.

»Dann kommen wir also zum gestrigen Tötungsdelikt im Schloss in Grönenbach. Der Eugen Strobl hat sich ja dankenswerterweise bereit erklärt, bei der Obduktion dabei zu sein.« Kluftinger bemerkte, dass Maier unruhig auf seinem Stuhl herumrutschte. »Richie?«

»Ist mir im Prinzip egal, aber die Müll-Brandstiftung war streng genommen mein Fall. Roland, wenn du das bitte im Schlussprotokoll entsprechend vermerkst.«

Hefele warf Kluftinger einen fragenden Blick zu.

In diesem Moment betrat Willi Renn den Raum. »Wenn ich die Eifersüchteleien der Herren mal kurz unterbrechen dürfte und auf den aktuellen Fall kommen könnte, ich hab noch eine für euch wahrscheinlich unvorstellbar große Menge an Spuren abzuarbeiten, und stündlich werden es mehr. Aber ich will nicht jammern, es hätte mich schlimmer erwischen können, hätte ja auch in eurer Abteilung landen können.«

Kluftinger verdrehte die Augen.

»Also, Klufti, ich hab dir gestern ja schon gesagt, es gibt eine Menge Spuren, allerdings ist fraglich, was uns da wie weiterbringen wird. Die Fingerabdrücke sind schon mal negativ, keine Treffer in der Datenbank. Wir haben einige vernünftige Fußspuren, die eine oder andere Faser scheint vielversprechend. Für alles, was ich habe, gilt aber: Ihr müsst mir die Schuhe, Jacken oder Haarbesitzer schon bringen, dann können wir vergleichen. Meine Männer sind heute noch den ganzen Tag draußen.«

»Danke, Willi. Jedenfalls für den dienstlichen Teil.«

Auch Renn schlug jetzt einen versöhnlicheren Ton an. »Aber mal im Ernst: Wenn ihr nur halb so viel streiten würdet, wären eure Überstundenkonten leer und die Aufklärungsrate wahrscheinlich auch …«

»… vielleicht noch ein wenig vorbildlicher, das stimmt wohl, Herr Renn. Guten Morgen.«

Alle fuhren herum und sahen zur Tür, in der Birte Dombrowski stand und die Anwesenden einen nach dem anderen mit einem gewinnenden Lächeln bedachte.

Als die sich von ihrem Schrecken erholt hatten, machten sie Anstalten aufzustehen, um ihre neue Vorgesetzte gebührend zu begrüßen.

Die jedoch winkte ab. »Gilt schon, meine Herren. Lassen Sie sich nicht stören. Bitte einfach weitermachen, ich bin gar nicht da. Mich interessiert einfach, wie Sie mit einem so spektakulären Leichenfund wie dem von gestern Abend hier so umgehen.« Sie trug einen eng geschnittenen, dunkelblauen Hosenanzug. Die Präsidentin setzte sich etwas abseits in einen Sessel, den sie von Kluftingers kleiner Bürositzgruppe weggezogen hatte, und nahm ihren Schreibblock samt Kugelschreiber zur Hand.

Kluftinger war verunsichert. Wollte sie sich etwa Notizen ihrer Besprechung machen? »Entschuldigung … aber Sie müssen nicht mitschreiben, Frau Dombrowski«, sagte er mit belegter Stimme, »unsere Frau Henske ist doch eine versierte Schreibkraft, die verfasst uns bestimmt was Schönes, das lassen wir Ihnen dann zukommen.«

»Kein Problem, ich mache mir keine inhaltlichen Notizen, mir geht es ja um ganz andere Dinge«, erklärte die Präsidentin bestimmt.

Ganz andere Dinge, wiederholte Kluftinger für sich. Was meinte sie denn damit? Das konnte ja heiter werden.

»So, ja, also gut: Herr Renn hat uns ja gerade kenntnisreich und … dings, also fundiert wie immer über die Spurenlage berichtet. Wie sieht es denn bei dir aus, Roland? Du hast ein paar Informationen über die Familie Rothenstein Grimmbart zusammengetragen, gell? Warst heute ja schon wieder früh hier im Büro.«

Hefele lächelte stolz und referierte, um hochdeutsche Aussprache bemüht: »Hab ich, exakt. Danke, Chef. Also, dieser Zweig der Familie Rothenstein Grimmbart lebt seit einigen hundert Jahren auf dem Schloss in Grönenbach. Frau Rita Rothenstein Grimmbart, das Opfer, stammt ursprünglich aus Erfurt, hieß mit Mädchennamen Rita Peters, wurde 1954 geboren und floh mit ihren Eltern 1960 aus der ehemaligen DDR. Sie hat in Freiburg ab 1973 Kunstgeschichte studiert, wo sie auch ihren späteren Ehemann, den Forstwissenschaftler Wieland Baron Freiherr von Rothenstein Grimmbart kennenlernte. Nach dem Studium zogen beide auf das Schloss der Familie nach Bad Grönenbach. Sie schrieb hin und wieder ein paar hobbywissenschaftliche Abhandlungen über verschiedenste Künstler, er kümmerte sich um den familieneigenen Forstbesitz, der im Laufe der Jahre aber anscheinend durch wiederkehrende Verkäufe und ziemliche Misswirtschaft durch den Baron auf ein Minimum dessen zurückgegangen ist, was er noch vor vierzig Jahren zu scheinen gewesen …«, unsicher blickte Hefele über die Schulter zur Polizeipräsidentin, »… also war.« Frau Dombrowski reagierte nicht, deswegen fuhr er fort: »Sie stellen somit quasi einen verarmten Teil der Familie dar, weitere Zweige wohnen in Oberschwaben, in Hohenlohe und auch im Schwarzwald, allesamt offenbar mit weniger finanziellen Problemen. Eltern von beiden sind schon verstorben, Kinder haben sie keine. Ein Bruder des Barons lebt nicht mehr, die Frau hatte keine Geschwister. Sie leben im Schloss, aber irgendwie hängt die Gemeinde auch mit drin, aber mehr konnte ich …«, wieder drehte er sich um, »… also in der Kürze der Zeit, aber ich werde ja gleich noch genauer … wenn Bedarf besteht.«

»Respekt, Roland«, versetzte Kluftinger demonstrativ, »sehr gut recherchiert in der kurzen Zeit! So, wie wir es hier eben immer halten.« Hefele war irritiert, weil er dabei an ihm vorbei in Richtung der Präsidentin sah.

»Wenn ich da noch etwas anfügen dürfte«, meldete sich Richard Maier eifrig zu Wort. »Mir ist es gelungen, aus dem Internet einmal eine vorläufige und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebende Zusammenstellung der Einnahmequellen des Barons zu erstellen.«

»Der Richie und sein geliebtes Internet, soso«, setzte der Kommissar bereits ein wenig abfällig an, dann aber besann er sich eines Besseren und fuhr, an Frau Dombrowski gewandt, fort: »Das ist nämlich von ihm als Recherchequelle sehr geschätzt, das Internet, sie helfen uns immer ungemein, also der Richard, der Herr Maier und das Internet eben, um einen ersten Überblick von so … Gemengelagen zu erhalten.«

Birte Dombrowski runzelte die Stirn, und Kluftinger wunderte sich selbst über das, was er gerade gesagt hatte, ließ es aber so stehen, hatte er doch Anlass zu der Befürchtung, es würde alles noch unverständlicher klingen, wenn er weiterredete. »Also, Richard, gespannt hören wir, was du herausgefunden hast.«

»Aha, das ist mir aber neu«, sagte Maier scharf, »nun gut, wie wir wissen, lebte das Ehepaar in einer kleinen, abgetrennten Wohnung innerhalb des Schlosses, Einnahmen generierten die beiden zunächst aus der Verpachtung weiter Teile des Schlosses. Hier müsste man noch ermitteln, wie sich die genaue Vertragssituation darstellt, jedenfalls tritt die Gemeinde Bad Grönenbach offenbar als Pächter auf und bezahlt auch das Ehepaar Pawlowicz, das als Hausmeister, Verwalter und Betreiber des Gästehauses auf dem Gelände fungiert. Es gibt öffentliche Führungen durch das Schloss, verschiedene Säle sind für Konzerte, Hochzeiten oder andere Feiern zu mieten. Auch werden immer wieder Märkte im Schlosshof veranstaltet, wo die Frau bisher auch Kräuter und Tees aus dem eigenen Garten verkauft hat. Des Weiteren wird vom Baron ein sogenannter Märchenwald betrieben, eine Attraktion für Kinder, die es seit hundert Jahren gibt. An Ländereien gehört nur noch das Gelände direkt um das Schloss dem Baron, zudem drei kleine Fischweiher in Zell, wenige Kilometer vom Schloss entfernt.«

Maier nickte Hefele demonstrativ zu, dann wartete er auf einen Kommentar seines Chefs.

»Hm, hast du das denn bei dir im Internet nicht gefunden, Roland?«, fragte der schließlich.

Wieder machte sich die Dombrowski Notizen, und Kluftinger traten die ersten Schweißtröpfchen auf die Stirn. »Ja, äh, und: auch gut, Richard, das von dir.«

»Sagen Sie, Herr Maier«, schaltete sich da die Präsidentin ein, »wissen wir denn, ob dieses Gästehaus momentan frequentiert wird?«