Gute Besserung - Angelika Stucke - E-Book

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Angelika Stucke

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Beschreibung

Ausgerechnet das Leinebergland, der idyllische Originalschauplatz von Schneewittchen, wird erneut Schauplatz eines Verbrechens. Eine junge Frau wird tot am Ufer der Leine aufgefunden. Trotz manch dunkler Punkte in der Vergangenheit des Opfers tippt die Polizei zunächst auf den pensionierten Polizisten Nikolaus Schrader als möglichen Täter. Selbstverständlich macht sich die ambulant arbeitende Fußpflegerin Kornelia Lorenz sofort daran, den guten Namen ihres Patienten von jeglichem Verdacht zu befreien und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Tatkräftig unterstützt wird sie dabei von Amalie Pfingsten, einer Zimmernachbarin von Nikolaus Schrader im Gronauer Altersheim. Angelika Stucke führt mit "Gute Besserung" die mit "Gute Absicht" begonnene Krimireihe um die schnüffelnde Fußpflegerin Kornelia Lorenz fort. Sympathisch-schrullige Charaktere und eine Heldin, die mitten im Leben steht. Schwarzhumorig und spannend!

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Angelika Stucke

Gute Besserung

Kriminalroman

BOOKSPOT VERLAG

für

Michaela Bangemann

Andrea Schönig

Ute Sobota

Sabine Weber

y para Chema siempre

Prolog

Freitag, 27. April

Wilhelm Knackstedt, von den Nachbarn seit Neuestem − genauer gesagt, seit er sich seinem neuen Hobby, dem Angeln, hingab − nur noch Fischkopp genannt, stand an den grünlich schimmernden Fluten der Leine und frönte seiner neu entdeckten Leidenschaft. Breitbeinig hielt er sich an der schlüpfrigen Böschung aufrecht. In der Nacht hatte es geregnet. Zwischen vereinzelten hohen Grashalmen moderte teilweise noch Laub vom vergangenen Herbst, welches das abschüssige Ufer nach dem nächtlichen Guss feucht und rutschig machte. Hier am Westufer säumten hohe Laubbäume, vor allem Pappeln den Fluss. Ihre jungen, zartgrünen Blätter leuchteten weithin.

Am gegenüberliegenden Ufer wuchs dichtes Unterholz: Weißdorn, Schlehen, Haselnusssträucher und Hundsrosen bildeten ein ziemlich undurchdringliches Dickicht, auf dessen Boden Amseln und Rotkehlchen nach Nahrung suchten. Immer wieder hörte Wilhelm ihr Rascheln. Er mochte besonders die zutraulichen Rotkehlchen gern, die, wenn er sich ganz still verhielt, manchmal sogar direkt vor seinen Stiefelspitzen unter den faulenden Blättern des Vorjahres stöberten.

Der alte Knackstedt befand sich etwas oberhalb der Staustufe, dort wo der Fluss von Banteln kommend zweigeteilt floss. Die Hälfte der Wassermassen strömte der kleinen Hansestadt Gronau über die Kuhmasch entgegen, der andere Arm schlängelte sich träge parallel zum Bantelner Weg dahin, ehe er rauschend die Staustufe hinunterstürzte, um sodann mit neu gewonnenem Schwung am Johanniter Krankenhaus und der Realschule vorbei unter dem Leintor hinweg in das Naturschutzgebiet unterhalb des Uthberges zu schießen.

Wilhelm spuckte zum wiederholten Male in das trübe Gewässer und sah nachdenklich den winzigen, weißen Schaumkronen hinterher, die sich dabei bildeten. Je näher sie der Staustufe kamen, desto schneller wurden sie. Er überlegte einmal mehr, warum er das Angeln nicht schon früher entdeckt hatte. So viele gottverdammte, vertane Jahre, in denen er Kilo, ach was, Tonnen von Fisch aus der Leine hätte ziehen können, statt sie immer wieder freitags teuer vom ambulanten Fischhändler zu erstehen.

Die Dörfer der Samtgemeinde Gronau wurden nach wie vor an mehreren Wochentagen von verschiedenen Lebensmittelhändlern angefahren; Bäcker Maas aus Betheln machte sogar dreimal in der Woche seine Runde, damit auch ältere Menschen, die kein Fahrzeug hatten, in den Genuss frisch gebackenen Brotes und Kuchen kamen. Von den kleinen Tante-Emma-Läden, die es früher in jeder noch so winzigen Ortschaft des Leineberglandes gegeben hatte, hatte sich kaum einer gegen die schnell wachsenden Supermarktketten durchsetzen können.

Wie Pilze schossen die in den letzten Jahren aus dem Boden, hatte Wilhelm gedacht, als er am Morgen von Roßbach kommend auf seinem Rad in die Kleinstadt eingefahren war und entsetzt hatte feststellen müssen, dass dort, wo der schöne Gebäudekomplex der Genossenschaft gestanden hatte, dessen hellgrüner Turm für ihn nicht weniger als ein Wahrzeichen der Stadt gewesen war, eine riesige Baugrube gähnte. Ein Holzschild vor dem dunkelbraunen Loch informierte die Passanten, dass auch an dieser Stelle eine Lebensmittelkette einen Ableger plante.

Traurig schüttelte der alte Mann jetzt den Kopf, als er sich an die so mir nichts, dir nichts plattgemachte Genossenschaft erinnerte. Wie oft hatte er dort günstig Hafer für seine Kaninchen geholt. In dem neuen Baumarkt an der Bethelner Landstraße war das Tierfutter doch viel zu teuer. Nur einmal hatte Wilhelm sich dort nach Kaninchenstreu erkundigt. Der Preis hatte ihn schockiert. Den konnte man vielleicht bezahlen, wenn man einen einzigen Zwerghasen als Haustier hielt, aber doch nicht, wenn man die Nager züchtete, um sie selbst einmal zu verspeisen. Da lohnte ja die ganze Haltung nicht!

Wilhelm holte sich seinen Hafer nun gratis in Betheln, wo kürzlich ein für das Dorf recht eleganter Reiterhof seine Tore geöffnet hatte. Dem Pferdeknecht dort genügte eine gelegentlich zugesteckte Flasche Lockstedter als Gegenleistung für den abgezwackten Hafer. Und die Besitzer der untergestellten Ponys und Pferde merkten gar nicht, dass sie die Knackstedtsche Kaninchenzucht mit durchfütterten.

Trotz der unerwarteten Ersparnis in der Tierfutterbeschaffung gefielen Wilhelm die Veränderungen in seiner Heimat wenig. Zwar sah er ein, dass manche vermutlich unumgänglich waren, dennoch glaubte er, dass die Gegend mehr und mehr an Gesicht verlor. Irgendwann sehen hier alle Kleinstädte gleich aus, dachte er, das wird noch so kommen wie in Amerika.

In den frühen Achtzigerjahren hatte er einmal einen Kriegskameraden besucht, den es nach Nevada verschlagen hatte. Damals hatte er diesen Eindruck gehabt, nicht wirklich von der Stelle zu kommen, obwohl er Hunderte von Kilometern zurücklegte. Ein Ort hatte ausgesehen wie der andere: ein Supermarkt, eine Tankstelle, ein Videoverleih und ein Hamburgerrestaurant an der Hauptkreuzung, drumherum endlos scheinende Reihen gleich aussehender Einfamilienhäuser mit Vorgärten von der Größe eines Badehandtuches. In einem Neubaugebiet in Hildesheim hatte Wilhelm erst kürzlich ähnlich uniformierte Behausungen entdeckt.

Verächtlich spuckte er ins Wasser. Prüfend zog er dann an seiner Angel, aber noch hatte kein Fisch angebissen. Er holte das Seil ein und wechselte den Köder.

Am Ostufer suchten die Vögel noch immer nach Würmern oder Larven. Wie lange sie schon an immer derselben Stelle picken, wunderte sich der alte Mann. Er kniff die Augen zusammen, um besser erkennen zu können, woran seine gefiederten Freunde sich labten, aber ohne Brille konnte er nur einen hellen Fleck erkennen.

Sieht fast aus wie ein Schweinebauch, dachte Wilhelm und wandte dann seine ganze Aufmerksamkeit erneut dem Fischfang zu. Seiner Schwester Else hatte er versprochen, mindestens vier Äschen aus der Leine zu ziehen.

Vermutlich bin ich nicht eher zum Angeln gekommen, weil ich erst jetzt die Muße dafür habe, sinnierte er vor sich hin. Es gab ja immer so viel zu tun und kein bisschen Zeit zu verlieren. Allein die Fahrt von seinem Heimatdorf Roßbach bis an seine Lieblingsangelstelle, die zum Glück noch kein anderer entdeckt hatte, dauerte auf dem klapprigen Hollandrad eine knappe halbe Stunde. Er hatte zwar auch noch ein altersschwaches Moped in einer nicht mehr benutzten Schweinebox im Stall stehen, aber das war seit Jahren nicht mehr angemeldet. Wilhelm benutzte es nur noch nachts und auch dann ausschließlich auf Strecken, zumeist Feldwegen, auf denen er sicher sein konnte, nicht in eine Kontrolle zu geraten.

»Ist doch merkwürdig«, murmelte er vor sich hin, als er nun hörte, wie zwei Elstern sich zeternd am gegenüberliegenden Ufer stritten. Die beiden großen, schwarzweißen Vögel mussten gerade erst angeflogen gekommen sein. Sie führten ein regelrechtes Spektakel auf. Bei dem Lärm würde sicher kein Fisch anbeißen.

Resigniert beschloss Wilhelm, doch einmal genauer nachzusehen, um welchen Leckerbissen die Vogelschar so lautstark buhlte. Seine erste Assoziation, dass es sich um einen Schweinebauch handeln könnte, hatte er schnell wieder abgetan, obwohl der Fleck, wie Wilhelm fand, durchaus die Farbe von gammelndem Fleisch hatte. Doch wie sollte ein Stück Schweinefleisch auf das andere Ufer gekommen sein? Das war doch völlig unberührt, über die Kuhmasch näherte sich nie jemand dem Fluss. Es schien dem alten Mann auch unwahrscheinlich, dass ein Bauer einen Tierkadaver ausgerechnet in dem unzugänglichen Gelände des Ostufers entsorgt hätte. Da gab es doch ganz andere Möglichkeiten, den Futternapf eines Hofhundes zum Beispiel.

Vorsichtig legte er seine Angel auf einer zuvor besorgten und in das weiche Erdreich gebohrten Astgabel ab. Langsam mühte er sich dann das glatte Ufer hinauf und näherte sich vorsichtig seinem an dem dicken Stamm einer Pappel angelehnten Fahrrad. Er wollte die Vögel möglichst nicht verschrecken, denn er war sich nicht sicher, ob er den merkwürdigen Fleck auch vom anderen Ufer kommend würde ausmachen können. Die sich zankenden Vögel würden ihm den genauen Punkt zeigen.

Entschlossen schob er sein Rad den Bantelner Weg entlang, bis er an die Weggabelung vor der Friedhofsmauer kam. Erst da saß er auf. Der Bantelner Gottesacker lag etwas außerhalb der Ortschaft. Wilhelm trat kräftig in die Pedale, die Neugier hatte ihn gepackt. Er wollte nun unbedingt wissen, was es mit diesem hellen Fleck auf sich hatte. Die geteerte Landstraße führte ihn rechter Hand an den letzten Ruhestätten der Bantelner vorbei bis zur Burganlage. Gleich hinter der weiten Burgwiese lagen die Brücken. Die erste führte über einen kurzen, gekrümmten Seitenarm der Leine, die zweite überquerte den Fluss selbst.

Am anderen Ufer endete der Weg in der Oberen Masch. Von hier aus würde Wilhelm sich zu Fuß durch das Dickicht schlagen müssen. Wie er später den Seitenarm in der Kuhmasch überqueren würde, wusste er noch nicht. Er hoffte, auf einen gefallenen Baumstamm zu treffen.

Wilhelm Knackstedt hielt an, stieg ab und lehnte sein Fahrrad gegen die Hecke. Zunächst wollte er es wie gewohnt ohne es abzuschließen stehen lassen, aber dann besann er sich eines Besseren. Schließlich lag die Stelle, an die er wollte, gut einen Kilometer flussabwärts. Am Lenker seines Rades baumelte eine ziemlich große, lederne Tasche, in der er die Sicherheitskette aufbewahrte. Er hatte sie seit Monaten nicht mehr benutzt.

»Ja, da schau her!«, rief er erfreut, als er die mit den Jahren brüchig gewordene Tasche aufknöpfte und die Kette herausholte. »Das habe ich ja schon ewig gesucht!« Unter den rostigen Gliedern der Sicherheitskette kam sein kleines, altes Fernglas zum Vorschein. »Das kommt ja wie gerufen!« Er legte die Kette zurück, schnappte sein Rad und fuhr dann die ganze Strecke retour, die er gerade erst gekommen war.

******

Keine zwanzig Minuten später stand Wilhelm erneut an dem steilen Westufer der Leine, gleich neben seiner abgelegten Angel. Im Dickicht gegenüber zankten sich die Vögel noch immer. Auch schien es so, als seien Nager, Wanderratten vielleicht, zu dem Festmahl gestoßen. Wilhelm sah bräunliche Flecken über das fleischfarbene Etwas huschen. Rasch drehte er die Optik seines wiedergefundenen Fernglases scharf und konnte nicht fassen, was er mit einem Mal deutlich erkennen konnte.

Zunächst brachte er vor lauter Schock keinen Ton hervor. Der Mund stand ihm offen, aber wie in einem dieser furchtbaren Träume, in denen man schreien will, aber nicht kann, kam kein Laut über seine Lippen. Entsetzt ließ er sein Fernglas sinken. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Plötzlich glaubte er, direkt neben sich ein Rascheln zu hören. Er zuckte zusammen, atmete aber gleich darauf erleichtert auf, als er sah, dass es nur ein zierliches Rotkehlchen war, das zu seinen Füßen im modernden Laub stocherte.

Endlich fand Wilhelm Knackstedt seine Sprache wieder: »Da soll mich doch der Teufel …«, fluchte er und rannte so schnell es ging die glitschige Böschung hinauf zu seinem Fahrrad. In der Aufregung vergaß er sogar seine Angel. Er war sich sicher, dass das, was er am gegenüberliegenden Ufer entdeckt hatte, ein Fall für die Kriminalpolizei war!

1

10 Tage zuvor

Dienstag, 17. April

»Oh, Mist, ist es wirklich schon so spät?« Kornelia Lorenz blickte ungläubig auf ihre Armbanduhr. Sie saß bei ihrer besten Freundin Petra Hunze in der Küche. Eigentlich hatte sie so früh am Morgen gar keine Pause machen wollen - schließlich hatte sie erst einen einzigen Termin auf ihrer heute sehr langen Patientenliste abgearbeitet - aber Petras Stimme hatte so verschnupft geklungen und auch irgendwie gepresst. Sie müsse unbedingt jetzt sofort mit ihr reden, aber auf gar keinen Fall am Telefon, hatte sie so flehentlich gesagt, dass Kornelia kurzerhand Nikolaus Schrader, ihren zweiten Kunden auf der Liste, angerufen und ihn mit einer dünnen Ausrede auf den Samstagvormittag verschoben hatte.

Normalerweise versuchte sie, ihre Wochenenden frei zu halten, aber das war nicht immer möglich. Wenn es zum Beispiel einen Notfall wie einen äußerst schmerzhaft eingewachsenen Nagel gab, oder eine entzündete Stelle, einen blutenden Riss am Hacken, oder, ja, oder eben einen Notfall anderer Art wie die aktuellen Sorgen ihrer besten Freundin.

Der Termintausch hatte ihr genau eine Dreiviertelstunde eingebracht, die sie nun, wie ihr der rasche Blick auf ihre Uhr bestätigte, auch schon wieder überzogen hatte.

»Musst du wirklich schon los?«, fragte Petra ihre Freundin mit zittriger Stimme. Sie sah ziemlich verheult aus. Ihre Augen waren gerötet, die Lider verquollen. Mit einem Papiertaschentuch wischte sie sich immer wieder über die Nase. Das lag aber nicht an der Frühjahrsgrippe, mit welcher Petra sich für den Tag bei ihrem Arbeitgeber entschuldigt hatte. Die Ursache für ihr mitgenommenes Aussehen lag vielmehr tief in ihrer Vergangenheit versteckt. So tief, dass sie selbst kaum glauben mochte, dass nun vielleicht alles ans Licht kommen würde. Sie hatte den einen Ausrutscher so gut verdrängt und auch nie über ihn gesprochen - selbst mit Konny nicht, was etwas heißen wollte - dass sie manchmal selbst daran zweifelte, dass es ihn tatsächlich gegeben hatte. Die Ereignisse damals auf dem Schützenfest, als sie sich mit Horst verkracht hatte und allein … nein! Sie mochte sich auch heute nicht an die Einzelheiten erinnern!

Kornelia nickte, um ihren hübschen Mund spielte ein Ausdruck des tiefen Bedauerns, während sie bereits im Stehen hastig den letzten Schluck Kaffee aus ihrer Tasse trank.

»Ja, Hildegard Beck steht als Nächstes an, du weißt doch, wie die ist. Tut mir leid.« Sie mochte ihre Freundin jetzt nur ungern allein lassen, wollte aber auch nicht zu spät zu ihrer schwierigsten Kundin kommen. Schnell verabschiedete sie sich mit einer festen Umarmung von Petra.

Kornelia Lorenz arbeitete als ambulante freie Fußpflegerin im Leinebergland; Schneewittchenland nannte sie ihre Heimat manchmal liebevoll, denn die weiten Leineauen lagen direkt zu Füßen der Sieben Berge, hinter welche die Gebrüder Grimm ja ihre Märchengestalt mit dem ebenholzschwarzem Haar, der schneeweißen Haut und dem blutroten Mund hatten fliehen lassen. Es war gerade jetzt, in diesem ungewöhnlich sonnigen Frühjahr, eine wunderschöne Gegend. Überall schossen Wildblumen in die Höhe: knallroter Mohn wechselte sich mit dunkelblauen Kornblumen und leuchtend gelben Rapsblüten ab. Die strahlenden Rapsanpflanzungen waren sozusagen die Ölfelder des Leineberglandes.

Zartrosa Apfelblüten schimmerten in Obstgärten und entlang vieler Landstraßen. Manche trudelten bereits bei kräftigeren Windstößen zu Boden, so früh hatte die Obstblüte in diesem Jahr eingesetzt. Die Kirschen standen ebenfalls in voller Blütenpracht, dabei war es doch erst Mitte April.

Durch ihre Arbeit war Kornelia viel unterwegs und konnte aus ihrem Auto heraus dem abwechslungsreichen Schauspiel der Natur folgen. Fast täglich entdeckte sie etwas Neues, das sie lächeln machte. Sie liebte diese kurzen Momente für sich, wenn sie von Termin zu Termin fuhr. Sie konnte dabei fast so gut entspannen wie in ihrer extrabreiten Badewanne zu Hause.

Ihre Patienten lebten weitverstreut in den kleinen Dörfern des Landkreises. Für viele war Kornelia mehr als nur eine Frau, die ihre Füße pflegte, für manche der alten Leute war sie die einzige Vertraute. Ein Mensch, dem sie ihre Sorgen und Kümmernisse erzählen konnten. Oft war Kornelia sogar der einzige regelmäßige Besuch, den manche empfingen. Sozusagen der zuverlässige Kontakt zur Außenwelt, von Fernsehen und Radio einmal abgesehen. Aber die Medien brachten selten Neuigkeiten aus der ruhigen − um nicht zu sagen, verschlafenen − Landschaft zwischen Harz und Heide.

Heute hatte Kornelia jedoch wenig Muße bei der langsamen Fahrt über den Barfelder Berg. Sie hatte die Schotterpiste gewählt, die von Roßbach in das Nachbardorf führte, denn Frau Beck wohnte gleich am nördlichen Ortsrand von Barfelde. Die Sorgen ihrer besten Freundin beschäftigten Kornelia zu sehr. Konnte es wirklich sein, dass Petra sich über die Vaterschaft ihrer einzigen Tochter nicht im Klaren war? Kornelia mochte nicht glauben, dass ihre Freundin vor knapp fünfzehn Jahren, also als sie bereits mit Horst verheiratet war, eine kurze Affäre gehabt haben sollte. Das heißt, wenn sie es recht überlegte, traute sie Petra den Seitensprung sogar zu, ihre Freundin war ja schon immer ein wilder Vogel gewesen. Viel draufgängerischer als sie selbst in ihrer Jugend. Aber die Tatsache, dass ihre angeblich beste Freundin in all den Jahren kein einziges Wort darüber verloren hatte, irritierte Kornelia. Wozu waren sie denn dann eigentlich beste Freundinnen? Konnte es sein, dass noch mehr hinter Petras Schweigen steckte, dass die Freundin in all den Jahren einen triftigen Grund gehabt hatte, lieber nichts von ihren Zweifeln zu erzählen?

******

»Sie kommen aber wieder mal ganz schön spät!« Hildegard Beck empfing ihre Fußpflegerin laut und mürrisch. Die alte Dame hatte stets einen Befehlston an sich, der alle erzittern ließ, die mit ihr zu tun bekamen. »Ich will heute noch zum Seniorentreff, nun machen Sie mal hin!«, schimpfte sie weiter, während sie vor Kornelia durch den Flur schlurfte.

Das Treffen würde erst am Nachmittag im Altersheim stattfinden, das wusste Kornelia nur zu gut, weil sie selbst in dem freundlichen Gebäude fast täglich ein und aus ging. Viele ihrer Patienten lebten in dem Seniorenheim in Gronau, das direkt an einen großen Park mit uraltem Baumbestand grenzte. Frau Beck hatte noch Stunden Zeit bis zu ihrem Termin, aber Konny sagte lieber nichts. Stumm folgte sie ihrer schlecht gelaunten Kundin.

In der Küche ließ Frau Beck sich auf einen Stuhl plumpsen und wartete ab. Nie half sie bei den Vorbereitungen für die Fußpflege. Andere Patienten hatten immer schon die Schüssel mit warmem Wasser aufgestellt, wenn Kornelia kam, aber Hildegard Beck gehörte zu den wenigen, die sich gern von hinten bis vorn bedienen ließen. Schließlich zahlte sie teuer dafür, oder etwa nicht?

Kornelia seufzte und machte sich an die Arbeit. Konzentriert schnitt und hobelte sie an den besonders verhornten Stellen. Es durfte nie zu viel abgetragen werden, denn sonst tat der ungewohnte Druck auf die weicheren Schichten beim Gehen weh. Erst wenn alle überschüssige Hornhaut abgetragen und die Zehennägel zurückgeschnitten wären, würden beide Füße mit einer wohlig nach Kiefern duftenden Creme eingerieben werden.

»Finden Sie nicht, dass der sich in letzter Zeit etwas zu sehr herausputzt, wenn da mal nicht mehr dahinter steckt. Also ich sage ja immer …« Konny schenkte dem nasalen Singsang ihrer Kundin wenig Aufmerksamkeit. Durch ihre Angewohnheit, leicht durch die Nase zu sprechen, wirkten Hildegard Becks Worte immer auch etwas nörglerisch. Selbst dann, wenn sie mal nichts zu beanstanden hatte. Das hatte die ältere Dame nämlich meistens: mal waren es die Nachbarn, die zu laute Musik hörten, mal der Bäckermeister, der das Brot verspätet ausfuhr. Die Fußpflegerin hörte gar nicht mehr hin, sondern hing stattdessen ihren eigenen Gedanken nach.

Petra hatte gar nicht gesagt, wer als möglicher Vater von Stefanie außer ihrem Mann Horst infrage käme. Überhaupt hatte sie sich, wenn ihre Freundin Einzelheiten wissen wollte, sehr bedeckt gehalten, das fiel Kornelia erst jetzt richtig auf. Was den Seitensprung anging, hatte Petra eigentlich nicht einmal vage Andeutungen gemacht. Sehr stockend und immer wieder von Schluchzen unterbrochen hatte sie einzig von ihrem gestrigen Streit mit ihrem Mann berichtet. Horst Hunze war allgemein für seine Eifersucht bekannt. Eine Meinungsverschiedenheit unter den Eheleuten, selbst eine der heftigeren Art, war also nichts Besonderes. Meistens glätteten sich die Wogen sogar sehr schnell wieder. Aber gestern musste irgendetwas anders gewesen sein. Jedenfalls habe Horst beschlossen, so viel hatte Kornelia aus ihrer verzweifelten Freundin herausgebracht, einen Vaterschaftstest machen zu lassen.

Als die überraschte Kornelia ihre Freundin gefragt hatte, ob es dafür denn überhaupt einen Grund geben könnte, hatte diese nur mit den Achseln gezuckt.

»Wo sind Sie denn nur wieder mit Ihren Gedanken?« Hildegard Beck schaute tadelnd auf ihre Fußpflegerin, die seit Stunden, so jedenfalls schien es der älteren Frau, ihren rechten Fuß eincremte. »Meinen Sie nicht, jetzt wäre langsam mal der andere Fuß dran? Ich habe zwei davon, falls Sie das vergessen haben sollten.« Bei ihren schneidenden Worten bemühte Frau Beck sich vergeblich, nur eine ihrer Augenbrauen in die Höhe zu ziehen. Sie fand, dass eine einzige emporgehobene Augenbraue etwas Aristokratisches habe. Seit sie diesen Ausdruck vor einigen Tagen bei einem englischen Lord gesehen hatte − in einem äußerst interessanten Dokumentarfilm über Rosenzucht, im richtigen Leben war sie bedauerlicherweise noch nie einem Vertreter des englischen Adels begegnet −, übte sie mindestens eine halbe Stunde täglich vor dem Spiegel. Bislang jedoch ohne den gewünschten Erfolg. Auch jetzt erinnerte ihr leicht verkrampfter Gesichtsausdruck eher an eine venezianische Maske als an die distinguierte Ironie, die sie ihren Zügen hatte geben wollen.

»Oh, Entschuldigung!« Kornelia schaute gedankenverloren auf und hätte bei der merkwürdigen Grimasse ihrer Kundin beinahe laut losgelacht. Frau Becks Augenbrauen wippten schön gleichmäßig auf ihrer Stirn hoch und runter, sie erinnerten Kornelia an die alten Hampelmänner aus Holz, mit denen ihre Söhne früher gespielt hatten. Die Lippen der alten Dame dagegen sahen aus wie ein Frachter mit Schlagseite, sie zog den linken Mundwinkel unnatürlich einseitig nach unten.

»Ist Ihnen nicht gut?« Nur mit Mühe gelang der Fußpflegerin ein besorgter Tonfall.

Frau Becks Gesichtszüge schnellten sofort auf Normalposition zurück, was bei ihr tief zusammengezogene Augenbrauen und ein Mund wie ein schmaler Strich bedeutete.

»Selbstverständlich geht es mir gut, aber es würde mir bedeutend besser gehen, wenn Sie endlich auch den zweiten Fuß einreiben und mich dann aus Ihrer Pflege entlassen würden. Ich verplempere meine Zeit nicht gern.«

Die restliche Behandlung verbrachte Hildegard Beck in frostigem Schweigen. Dabei hätte sie die Fußpflegerin nur allzu gern nach dem alten Schrader ausgehorcht. Sie wusste, dass der zu Kornelia Lorenz’ Patienten gehörte.

Doch sie hatte nicht ganz zu Unrecht den Eindruck, die jüngere Frau habe ihr während der gesamten Behandlung nicht ein einziges Mal richtig zugehört. Deshalb biss sie sich jetzt lieber beleidigt auf die Zunge. Vielleicht würde sich schon beim nächsten Termin die Gelegenheit ergeben, etwas über Schraders Gefühlswelt in Erfahrung zu bringen.

Schon seit einigen Wochen hatte Hildegard Beck den Eindruck, Nikolaus Schrader befände sich auf Freiersfüßen. Er duftete neuerdings immer sehr stark nach Rasierwasser, wenn sie sich während der Seniorennachmittage begegneten.

Insgeheim hegte sie die Hoffnung, selbst das Ziel dieser ungewohnten Duftstoffattacken des älteren Herrn zu sein.

2

Dienstag, 17. April

»Ja, dammich! Da soll mich doch …«, verblüfft betrachtete Nikolaus Schrader den Hörer seines altmodischen Fernsprechapparates, aus dem nur noch ein Tuten zu vernehmen war und legte ihn schließlich mit Nachdruck auf. Am liebsten hätte er das Ding auf die Gabel geschmettert, so sehr brodelte es in ihm. Aber dass körperliche Gewalt gegen Gegenstände letztendlich nur seinem Geldbeutel schadete, hatte er in den knapp acht Jahrzehnten seines bisherigen Lebens lernen müssen.

»Einfach aufgelegt«, brummelte er missmutig. Seine schlechte Laune richtete sich allerdings eher gegen sich selbst als gegen Kornelia Lorenz, die das Gespräch recht einseitig und viel zu schnell, wie Nikolaus fand, geführt und beendet hatte. »Und statt den Mund aufzukriegen und zu protestieren, grinse ich wie ein Honigkuchenpferd!« Schrader schimpfte mit sich selbst.

Seine liebe, verehrte Konny war einmal mehr furchtbar in Eile gewesen. Dass die jungen Frauen heutzutage aber auch alle einem Beruf nachgehen mussten, statt es sich zu Hause gemütlich zu machen! Schrader konnte einfach kein Verständnis für die neuen Gesellschaftsstrukturen aufbringen. Er war ein Kavalier der alten Schule und hätte es seiner Elfi nie erlaubt, anderswo zu arbeiten als in ihrem Haushalt. Da allerdings hatte er sehr darauf geachtet, dass sie nicht nachlässig wurde. »Wer rastet, der rostet«, hatte er ihr vorgehalten, wenn sie wieder einmal vorschlug, statt selber einzukochen doch lieber Konserven im Supermarkt zu kaufen. Das sei sehr viel preiswerter, als das frische Obst erst teuer zu erstehen, um es dann zu Einweckfrüchten oder Mus zu verarbeiten. Doch Schrader hatte für solche Rechnungen kein offenes Ohr gezeigt. Schließlich war es ihm auch ums Prinzip gegangen! Er hatte das Geld verdient, und Elfis Part war es eben gewesen, ihr bisschen Haushalt zu erledigen.

Ob Dieter Lorenz als Malermeister tatsächlich so wenig Einkommen hatte, dass seine Frau mitverdienen musste?

Der ehemalige Polizist hatte eine Schwäche für die hübsche Fußpflegerin, die sich stets gut gelaunt zeigte. Er bewunderte ihr sonniges Gemüt schon immer, aber seit sie beide vor etwa einem halben Jahr zusammen mit seiner Zimmernachbarin Amalie Pfingsten einem echten Mörder das Handwerk gelegt hatten, vergötterte Schrader die jüngere Frau geradezu. Deshalb fiel es ihr auch so leicht, ihn um den kleinen Finger zu wickeln. Gar nicht zu Wort kommen hatte sie ihn lassen. »Also abgemacht, ja, Klaus? Ich komme dann am Sonnabend. Tschühüss!« Sie war eine der wenigen, auserwählten Personen, die ihn bei der schönen Abkürzung seines Vornamens nennen durften, die seine Mutter immer gebraucht hatte. Selbst Elfi hatte sich seinem Wunsch getreu stets darum bemüht, ihn Nikolaus zu rufen. Eine gewisse Distanz gehörte Schraders Meinung nach zu einer guten Ehe.

Erst als das Tuten aus dem Hörer schon eine ganze Weile lang an sein Ohr gedrungen war, war ihm siedendheiß eingefallen, dass er am Sonnabend ja gar nicht konnte. Das war doch der große Tag, dem er seit Wochen entgegenfieberte! Wie hatte er auch nur einen einzigen Moment lang nicht daran denken können? Endlich würde er Heike persönlich gegenüberstehen, sie vielleicht sogar in seine Arme schließen dürfen! Sagte man nicht, dass die Frauen heutzutage, was den direkten Körperkontakt betraf, viel freizügiger waren als die von früher?

Der pensionierte Polizist hatte im Januar eine Kontaktanzeige in einem dieser Gratisblätter aufgegeben, die wöchentlich im Landkreis verteilt wurden. Gleich am Neujahrsmorgen hatte er den Entschluss dazu gefasst, denn trotz erheblicher Mengen Pfirsichbowle, die er seiner Zimmernachbarin Amalie Pfingsten während der Silvesterfeier im Altersheim ausgegeben hatte, hatte diese sich seinen verschiedensten Verführungsversuchen gegenüber als resistent erwiesen. Schrader fand es nicht korrekt, dass er für seine finanziellen Anstrengungen und sentimentalen Mühen nicht mehr als einen flüchtigen Kuss zum Jahreswechsel hatte ergattern können. Noch dazu einen mit gespitzten Lippen auf die Wange gesetzten, der in ihm Erinnerungen an die Abschiedsküsse geweckt hatte, die er als Kind von diversen Tanten aufgedrückt bekommen hatte. Er schüttelte sich, als er an seine Niederlage am Silvesterabend dachte. »Wenigstens auf den Mund hätte sie mich küssen können«, murmelte er.

Schrader wollte noch einmal, ehe er ins Gras beißen würde, mit einer Frau die Nacht verbringen. Dieses erhebende Gefühl, nackte Haut zu streicheln, die nicht seine eigene, welke Körperhülle war. Manchmal, wenn er nicht schlafen konnte und sich einsam fühlte, berührte er sich selbst. Selbstverständlich nur an Armen und Beinen! Er war schließlich nicht degeneriert! 

Der alte Mann hatte nicht wirklich an einen Erfolg seiner Anzeige geglaubt, doch schon nach nur zweimaligem Erscheinen hatte er von der Redaktion drei Briefe weitergeleitet bekommen, von denen ihm ganz besonders der von Heike gefallen hatte. Nie hätte er zu träumen gewagt, von einer solch jungen und attraktiven Frau Post zu erhalten. Sie war nicht einmal fünfzig!

»Ja dammich!«, fluchte er zum zweiten Mal an diesem Morgen, als er in der Brusttasche seines Hemdes nach Heikes Foto suchte. Er hatte einen Blick auf ihr hübsches Konterfei werfen wollen, eine Schwäche, der er nur einmal pro Woche nachgab, schließlich war er ein Mann von Prinzipien − doch das Bild war nicht da.

»Ich bin mir doch ganz sicher, dass ich es hier …« Wiederholt griff er in die enge Tasche, brachte aber außer einem noch in Klarsichtfolie eingewickelten Zigarillo und einigen Stoffflusen nichts hervor.

»So dösbaddelig kann ich doch wohl noch nicht geworden sein …«

Das Zigarillo sah trotz der Folie recht mitgenommen aus, so als sei es mit recht viel Feuchtigkeit in Kontakt gekommen. Er legte es auf der Fensterbank ab. Da erst fiel Schrader ein, dass er das Hemd ja am letzten Donnerstag mit in die Wäsche gegeben hatte. Jetzt erklärte sich auch der seltsame bräunliche Fleck gleich unter der Brusttasche, der ihm schon früher aufgefallen war. Das Hemd musste samt Zigarillo in der Wäscherei gelandet sein. Ja, träumte das Personal denn dort? Die waren doch in einem Altersheim geradezu dazu verpflichtet, sämtliche Kleidungsstücke vor dem Reinigen genau nachzusehen. Bei der Alzheimerquote! Was, wenn jemand aus lauter Schusseligkeit seinen Hamster, sein Gebiss oder größere Geldscheine in den Taschen stecken hatte?

»Wenn bloß nicht auch Heikes Bild mitgewaschen wurde!« Schon stürzte Schrader aus seinem Zimmer; zwar nicht gerade Hals über Kopf, aber doch etwas schneller, als es ihm seine von der Gicht geplagten Knochen normalerweise erlaubten. Noch ehe er die Aufzugtür im Treppenhaus erreicht hatte, stöhnte er laut auf und verlangsamte seinen Schritt.

Dass er so oder so zu spät kommen würde, war ihm schmerzlich bewusst. Er würde die Katastrophe nicht mehr verhindern können. Wenn das Zigarillo nicht vor dem ersten Waschgang entfernt worden war, hatte sicher auch niemand rechtzeitig das Passbild entdeckt. Aber vielleicht würde er in der Trommel oder im Trockner fündig werden. Ein Foto löste sich schließlich nicht in Luft auf, selbst wenn es mit Wasser und Waschpulver in Kontakt kam! Allerdings würde es bis zur Unkenntlichkeit verwaschen sein können. Und die zweideutige Widmung auf seiner Rückseite, welche er in euphorischen Momenten als eindeutige Einladung auszulegen wagte, wäre mit Sicherheit unlesbar. Bei dieser Vorstellung stöhnte Schrader erneut.

3

Dienstag, 17. April

Margarethe Pradera stand auf dem schmalen Balkon, der wie ein Schwalbennest zwei Stockwerke über dem Hagentorwall an der Hauswand klebte und blickte in den Abendhimmel. Die ersten Sterne waren an dem dunkeltürkis schimmernden Firmament auszumachen. Obwohl der Tag wärmer gewesen war als es für die Jahreszeit üblich ist, kühlte es nun draußen rasch ab. Margarethe fröstelte, sie zog ihr Negligé enger um ihre Schultern, doch der zarte Stoff vermochte dem kühlen Atem der Nacht nichts entgegenzusetzen. Auf der anderen Straßenseite malte der schmale Grünstreifen des Liebesgrundes einen schwarzen Fleck in das Lichtermeer der Kreisstadt Hildesheim. Von dort wehte eine klamme Brise zum Hagentorwall hinauf.

Margarethe bückte sich zu dem kleinen Klapphocker aus Holz, der zwischen dem rechten, angelehnten Flügel der gleichzeitig als Fenster dienenden Glastür und der gusseisernen Umrandung des Balkons gezwängt war und griff nach einem auf dem wackligen Sitzmöbel abgestellten Glas. Das hohe, dünnwandige Trinkgefäß war bis zur Hälfte mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt, die wie Wasser aussah, es aber nicht war.

Auch wenn es merkwürdig klingen mochte, der schmale Balkon, auf dem neben dem Hocker kaum ein Mensch Platz hatte, war es gewesen, der Margarethe veranlasst hatte, vor einem Jahr den Kaufvertrag für die Wohnung zu unterzeichnen. Er hatte, und das fand sie noch immer, etwas Südländisches und erinnerte sie an ihre Zeit in Madrid; dort gab es solche Balkone, die im Grunde nichts anderes waren als etwas verbreiterte Fenstersimse, zuhauf.

Margarethe, deren Name damals noch Marion Steede gewesen war, hatte die Achtziger- und einen Teil der Neunzigerjahre in der spanischen Hauptstadt verbracht, die damals als eine der angesagtesten Städte Europas gegolten hatte. Mit einem Interrail-Ticket war die gerade 22-jährige junge Frau in den Sommersemesterferien 1983 auf die iberische Halbinsel gereist und sofort der Madrider Movida verfallen. Hals über Kopf hatte sie sich in das wilde, ungezügelte Nachtleben und in eine nicht weniger stürmische Liebesgeschichte mit einem glutäugigen Spanier gestürzt. Dass dieser sie nach den ersten leidenschaftlichen Wochen an einen Bekannten weitergereicht und noch dazu dafür kassiert hatte, hatte Margarethe, oder besser gesagt Marion, blind vor Liebe mit sich geschehen lassen. Sie war Javier vollkommen verfallen, ja geradezu hörig gewesen und hatte ihm geglaubt, als er ihr vorgehalten hatte, sie sei viel zu deutsch in ihrem Empfinden und müsse sich neuen Erfahrungen gegenüber aufgeschlossener zeigen.

So war sie schließlich zu ihrem Beruf gekommen, den sie noch immer ausübte.

Fast ein Jahrzehnt hatte sie in Madrid verbracht, dann hatte Javier sie kaltherzig ausgemustert. Seine Kunden seien ihrer überdrüssig, hatte er ihr eines Morgens offenbart und sie vor die Tür gesetzt. Sie könne froh sein, überhaupt so lange im Geschäft gewesen zu sein. Die meisten Mädchen schafften es nicht einmal ein paar Jahre.

So war sie schließlich nach Deutschland zurückgekehrt und hatte sich selbstständig gemacht. Zunächst hatte sie in den Großstädten gearbeitet. Sie hatte ihren Wohnsitz und später auch ihren Namen aus Sicherheitsgründen oft wechseln müssen, denn eine Prostituierte, die auf eigene Rechnung arbeitete, war nirgends gern gesehen. Was, wenn die anderen Frauen sich ein Beispiel an ihr nähmen?

Die immer wiederkehrenden Probleme mit den Zuhältern hatten Margarethe dazu gebracht, vor gut einem Jahr nach Hildesheim zu ziehen. Sie hatte geglaubt, die Domstadt an der Innerste sei unbedeutend genug, um hier in Ruhe ihrem Geschäft nachgehen zu können. Außerdem wurde sie alt, und die Männer in der Provinz waren, so hatte sie gehofft, weniger wählerisch. Doch da hatte sie sich getäuscht. Seit Monaten musste sie, um ihr spärliches Einkommen aufzustocken, von dem Berg ihrer Ersparnisse zehren. Der glich durch den Kauf der kleinen Wohnung jetzt schon einem recht abgewirtschafteten Tagebau.

Margarethe seufzte und nahm einen langen Zug Wodka aus ihrem Glas. Der Alkohol brannte sich seinen Weg durch ihre Speiseröhre bis in ihren Magen. Ihr wurde wärmer.

Dass sie die Wohnung in bar bezahlt hatte, hatte den Kaufpreis zwar gedrückt, war aber vielleicht ein Fehler gewesen. Sie lebte nicht gern ohne finanzielles Polster. Das brachte sie in die unangenehme Situation, auch solche Freier empfangen zu müssen, um die sie in ihren guten Jahren einen großen Bogen geschlagen hätte. So wie dieser Istvan, der sich heute schon wieder verspätete. Ungläubig hatte sie vor wenigen Minuten die Turmuhr der nahegelegenen Michaeliskirche zu einer weiteren vollen Stunde schlagen hören. Vor zweieinhalb Stunden hätte Istvan eintreffen sollen, hatte aber bisher noch kein Lebenszeichen von sich gegeben. Wenigstens anrufen hätte er können, damit ich nicht die ganze Zeit in diesem dünnen Hemdchen dasitze, dachte Margarethe verärgert. Wieder zerrte sie an dem hauchfeinen Stoff ihres Negligés, aber der Abendwind war einfach zu frisch geworden, sie konnte nicht länger auf dem Balkon bleiben.

Entschlossen setzte sie das Wodkaglas erneut an ihren Mund und trank die verbliebene, durchsichtige Flüssigkeit in einem Zug. Am liebsten hätte sie das Glas danach zu Boden geschmettert, so wie sie es in einem russischen Spielfilm gesehen hatte, aber das würde doch nur wieder Scherereien mit ihrer Nachbarin Frau Schulz bringen. Die alte Hexe fand immer etwas zu meckern.

Margarethe drehte sich halb um und ging in ihre Wohnung. »Ich hätte nicht schlecht Lust, ihn, wenn er jetzt noch auftauchen sollte, vor verschlossenen Türen stehen zu lassen«, murmelte sie, während sie auch den linken Flügel ihrer Balkontür zudrückte und die beidseitig angebrachten, schweren Vorhänge vor die Scheiben zog.

Sie knipste eine Stehlampe an, dimmte deren Leuchtkraft etwas und setzte sich dann wartend auf ihre Chaiselongue.

So sehr sie Istvan auch verabscheute, ebenso sehr hoffte sie, er möge doch noch kommen. Sie brauchte die fünfzig Euro, die er ihr für eine halbe Stunde lustlosen Beischlaf zahlen würde.

Vielleicht ist ja auch bei dem Alten einiges zu holen, überlegte Margarethe nun. Der Gedanke lenkte sie von der endlos scheinenden Warterei ab und tröstete sie.

Bereits im Januar hatte sie auf die Kontaktanzeige eines älteren, nicht unvermögenden, kultivierten Herrn geantwortet. Selbstverständlich unter einem falschen Namen, sie wollte keine unnötigen Spuren hinterlassen. Heike Hollander nannte sie sich in ihren Briefen an den älteren Herrn.

Wie sich herausgestellt hatte, lebte der Mann in einem Seniorenheim im Landkreis, keine fünfzehn Kilometer von Hildesheim entfernt. Trotz der örtlichen Nähe hatte Margarethe ein Treffen immer wieder hinausgezögert, um so das Interesse des Alten wie ein eben entfachtes Feuer zu schüren. Schließlich war sie keine Anfängerin im Spiel mit Männerwünschen. Wenn sie es darauf anlegte, waren die Herren − und besonders die kultivierten − noch immer Wachs in ihren Händen.

Erst in ihrem letzten Schreiben hatte sie eingewilligt, sich von ihm zu Kaffee und Kuchen einladen zu lassen. Sie würde sich, wenn alles nach Plan verlaufen würde, von dem nicht unvermögenden Herrn zu noch ganz anderen Dingen einladen lassen, Dingen, die der alte Mann, hätte er eine Wahl, vermutlich gar nicht würde verschenken wollen.

4

Dienstag, 17. April

»Also, erlauben Sie mal!« Amalie Pfingsten guckte empört in das gerötete Gesicht des Mannes, der sie soeben nahezu umgerannt hatte. Mehr als ein paar buschige Augenbrauen über tief liegenden Augen konnte sie dabei in dem schlecht beleuchteten Kellergang allerdings nicht erkennen. Vor Schreck über den unerwarteten Zusammenstoß in Räumen, die ihr auch ohne Kollisionen mit eiligst schlurfenden Heiminsassen nie ganz geheuer schienen, hatte sie das Körbchen mit ihren Nylonstrümpfen fallen lassen.

»Die kann ich jetzt grade noch einmal waschen«, maulte sie, während sie sich bückte, um die von der Handwäsche noch feuchten Beinkleider von dem staubigen Fußboden aufzuheben. »Tatsächlich, wieder völlig verdreckt«, stellte sie wütend fest, als sie einen ihrer Strümpfe ganz dicht vor ihre Brille hielt. »Haben Sie denn keine Augen im Kopf?« Von ihrer gebückten Stellung am Boden aus hatte sie den Mann noch immer nicht als ihren Zimmernachbarn Nikolaus Schrader erkannt. »Was ist, hat es Ihnen die Sprache verschlagen?« Amalies Tonfall konnte, wenn sie es darauf anlegte, recht schneidend werden. Hastig klaubte sie die restlichen Strümpfe auf. »Wie wäre es denn mit einer Entschuldigung?« Schnaufend richtete sich die alte Dame auf. Da sie dabei ihr Strumpfkörbchen mit einer Hand ganz dicht vor ihren Bauch gedrückt hielt, verlangte diese Übung eine gewisse Konzentration. Amalie stützte sich mit ihrer freien Hand gegen die Kellerwand und hatte trotzdem Mühe, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Also, ich höre!« Auffordernd blickte sie nun auf den Mann, dem es die Sprache verschlagen zu haben schien. Da endlich erkannte sie ihn. »Ja, sagen Sie mal, Schraderchen, was machen Sie denn hier unten?« Ihre Stimme klang nun viel weicher, fast schon charmant.

Seit Schrader nicht mehr ständig versuchte, sie in aller Öffentlichkeit anzufassen, fehlte ihr etwas. Selbstverständlich würde sie das nie zugeben, denn stets hatte sie sich über Schraders Annäherungsversuche beschwert. Amalie fühlte, dass der alte Mann seit einigen Wochen nicht mehr daran interessiert war, sie zu erobern. Das passte ihr nicht. Es beleidigte ihre Ehre. So war sie nun ihrerseits darum bemüht, sein Interesse durch kleine Schmeicheleien erneut zu wecken.

»Haben Sie etwa auch Handwäsche«, fragte sie nun, obwohl ihr Zimmernachbar ganz offensichtlich mit leeren Händen vor ihr stand. »Das hätten Sie doch ruhig mir …« Weiter kam sie nicht.

»Quatsch«, grunzte Schrader einfach und schob Amalie aus dem Weg. Er hatte schon viel zu viel Zeit mit ihr verloren. Schließlich stand die alte Frau zwischen ihm und dem, was es von Heikes Foto vielleicht noch zu retten gab. Entschlossen und ohne ein Wort der Entschuldigung schlurfte Schrader auf die Waschküche zu.

Sprachlos blickte Amalie ihm hinterher. Dann folgte sie ihrem Zimmernachbarn.

»Was suchen Sie denn da?« Neugierig sah sie mit an, wie Schrader sich stöhnend vor der offenen Tür des Trockners auf die Knie begab. »Scheißgicht!«, fluchte er dabei. Dann versuchte er, seinen Kopf so weit wie möglich in das dunkle Innere der Maschine zu schieben.

»Das geht Sie gar nichts an!« Schraders Worte klangen gedämpft, trotzdem konnte Amalie ganz deutlich seine Ungeduld heraushören.

Vorsichtig ging sie neben ihm in die Hocke und versuchte, über seinen gebeugten Oberkörper hinweg in den Trockner zu schauen.

Vergebens, Schraders Schultern waren einfach zu breit.

»Ich glaube nicht, dass es da etwas zu finden gibt«, versuchte Amalie erneut, ihren Zimmernachbarn in ein Gespräch zu verwickeln. »Das Personal kontrolliert doch schon vor dem Waschen sämtliche Hosen- und Jackentaschen. Oder fehlt Ihnen etwa ein Wäschestück? Nein, nicht wahr, dafür würden Sie nicht extra in den Keller kommen. Aber finden tun Sie da sicher nichts. Also erst neulich habe ich mit angehört, rein zufällig selbstverständlich, wie Anna Ranke gerügt wurde, weil bei ihr ständig was in den Taschen steckt, wenn sie ihre Wäsche zum Reinigen gibt. Ich persönlich schaue ja immer …«

Schrader, dem Amalies Geplapper ziemlich auf den Geist ging und der einsehen musste, dass in der dunklen Trocknertrommel nichts zu finden war, zog seinen Kopf wieder hervor und blickte grimmig auf seine Zimmernachbarin.

»Könnten Sie vielleicht einfach mal die Klappe halten? Ich muss nachdenken!« Suchend blickte er sich in der Waschküche um. Wo würde das Personal wohl am ehesten die Dinge ablegen, die es in der abgegebenen Wäsche fand? Auf den ersten Blick fiel ihm nichts auf. Auf einem schmalen Regal befanden sich verschiedene Plastikflaschen mit Weichspülern und Wollwaschmitteln, gleich darunter standen zwei große Packungen Universalwaschmittel. Unwahrscheinlich, dass jemand auf die Idee kommen würde, ein Foto zu dem Waschpulver zu legen. Schrader sah sich weiter um.

In dem großen Raum war es heller als im Kellergang, denn er verfügte über drei vergitterte Fenster, die an etwa einen halben Meter hohe Lichtschächte grenzten. Das hereinfallende, gelbliche Tageslicht brach sich an den Gitterstäben, traf auf einen mitten in der Waschküche aufgestellten Arbeitstisch und wirkte durch seine Streifen fast wie Gotteslichter am Himmel. Die Oberfläche des Tisches war bis auf Amalies Strumpfkörbchen leer.

Schraders während jahrzehntelanger Tätigkeit als Polizist geschulter Spürblick konnte nichts entdecken, was auch nur entfernt einem Foto glich. Er kniff seine tief liegenden Augen zusammen und schaute sich weiter um.