Hagen Traut hat die Lösung - Hans-Heiner Drögemeier - E-Book

Hagen Traut hat die Lösung E-Book

Hans-Heiner Drögemeier

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Beschreibung

Hagen Traut, 14 Jahre, hat die Lösung der Energieversogung gefunden. Das glaubt sein Vater, eine in beruflicher Hinsicht gescheiterte Existenz, die jetzt mit seinem Sohn an das große Geld will. Dabei sieht die Firma Hamburg Strom die Möglichkeit, mit dieser Idee ihre Börsenkurs und damit ihre internen Probleme zu lösen. Am Ende sind mehrere Leute ermordet.

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Hans-Heiner Drögemeier

 

 

Hamburg 3

 

Hagen Traut hat die Lösung

 

 

 

Kriminalroman

Alle Rechte vorbehalten

© Hans-Heiner Drögemeier

E-Book-Erstellung: Satzweiss.com GmbH, Saarbrücken

Printed in Germany

ISBN 978-3-8450-1282-7

1. Klaus Schmahl

 

Sein Leben drohte in dem Augenblick aus dem Ruder zu laufen als sein Vater und seine Mutter sich trennten. Er war das einzige Kind und zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt. Es war eine Kindheit bis zu diesem Ereignis voller Geborgenheit und Wärme. Jedenfalls empfand er es so. Eine Harmonie auch zwischen seinen Eltern, die er schon damals als außergewöhnlich empfand gemessen an den den Schilderungen von Spielkameraden und später auch Schulfreunden, die manchmal beschämt oder trotzig von ehelichen Auseinandersetzungen gesprochen hatten, die er überhaupt nicht kannte. Deswegen kam die Trennung seiner Eltern umso überraschender und brach wie ein Tsumani ohne Ankündigung über ihn zusammen. Später erkannte er, dass das was er als Harmonie angesehen hatte nur der eisenharte Wunsch seiner Mutter war, das einzige Kind nach den gesellschaftlichen Regeln so zu erziehen wie sie es gelesen und für gut befunden hatte. Keine Streitigkeiten vor dem Kind und damit ein Anschwellen des emotionalen Druckes bei seinem Vater, der sich dann auch so abrupt in der plötzlichen und endgültigen Trennung entlud.

 

Er blieb bei der Mutter und deren ausgeprägte Neigung, alles zu beherrschen und zu bestimmen. Sein Vater, mit dem er sich bis dahin immer besser verstanden hatte, meinte, dass ein Kind bei der Mutter zu bleiben hätte. Mit dieser Äußerung flüchtete er aus seinem Blickfeld. Aber das war natürlich nur die halbe Wahrheit, er hatte sie beide nämlich manchmal belauscht in ihren unterdrückt geführten Unterhaltungen, die er als eine Besonderheit des Erwachsenenlebens gesehen hatte und nicht als Ausdruck ehelicher Kämpfe um Selbstbestimmung oder Vorherrschaft. Als dann die Kampfkraft beider in den ehelichen Auseinandersetzungen sich erschöpft hatte und beide Seiten nur noch nach einem halbwegs ehrenvollen Frieden suchten, kam es dann zur Trennung. Da hatte sein Vater gesagt, er konnte das belauschen weil er in seinem Zimmer war und nicht wie abgemacht beim üblichen Sport:

„Ich verstehe diesen Jungen nicht. Er ist so emotionslos in allen seinen Handlungen, dass man direkt Angst bekommen kann.“

Damit hatte er ihn bis ins Mark verraten. Seine Mutter allerdings hatte geschwiegen und damit zugestimmt. Für ihn ein ganz klares Schuldeingeständnis. Sie dachte also genauso. An diesem Abend begann er zum ersten Mal sein Kinderzimmer aufzuräumen und sauber zu machen. Nach einer Stunde war es klinisch rein und er hatte wieder Boden unter den Füßen.

 

Seine Mutter aber, die in diesen ersten beiden Jahren nach der Trennung an ihrem Exmann kein gutes Haar gelassen hatte, meinte dann öfter und damit auch die Maske einer erfolgreichen alleinerziehenden Mutter fallen lassend, dass dieser egoistische Feigling mit anderen Weibern rummacht und ein Kind dabei nur störend wirkt. Damit gab sie kapitulierend die ehernen Regeln auf, die sie sich selbst für die Kindererziehung auferlegt hatte. Das letzte Mal, an dem er seinen Vater gesehen hatte war nach dem Verlassen des Amtsgerichtes in Barmbek, das ein Jahr nach dem Auszug seines Vaters dann die Scheidung ausgesprochen hatte. Erziehungsberechtigte waren beide Eltern zu gleichen Teilen hatte der Scheidungsrichter dem dann schon elf Jahre alten Jungen erklärt und dabei gedanklich schon bei dem nächsten Fall zu sein schien. Er war stumm geblieben und hatte die schlaffe Hand seines Vaters auf dem Flur des Gerichtes vor dem Verhandlungssaal nur wortlos gedrückt, dabei zur Seite geblickt und ihn bei seinem fast fluchtartigen Verlassen des Gerichtsgebäudes hinterher gesehen. Seine Mutter hatte ebenfalls hinterher geblickt und achselzuckend gemeint, so sind sie, die Männer und Väter. Dabei kam ihm komischerweise der Gedanke, dass er selber irgendwann auch einmal ein Mann sein würde und damit auch unter dieses allgemein gültige Urteil seiner Mutter fallen müsste.

 

Die Wohnung konnte die Mutter dann behalten und natürlich auch er, da er ja bei der Mutter wohnte. Er erinnerte sich später noch ganz genau als er und die Mutter nach der Scheidung in die Wohnung zurückkamen. Es war eine eigentümliche Leere und Verlassenheit und das obwohl die Mutter und er doch schon ein Jahr lang dort ohne den Vater gewohnt hatte. Es war irgendwie die Endgültigkeit und das bestimmte Gefühl, dass er seinen Vater für immer verloren hatte. Er war in sein Zimmer gegangen und hatte mit Händen in den Hosentaschen aus dem Fenster geblickt. Im Hintergrund hörte er die Mutter telefonieren. Das Telefon stand auf dem Flur und sie erklärte einem Philipp, dass die Scheidung durch sei und er, der Sohn, natürlich Zeit braucht, um darüber hinweg zu kommen. Aber, Philipp, hörte er sie sagen, es wird schon mit der Zeit und dann die Frage, sehen wir uns noch heute, ich brauche etwas Zerstreuung und Entspannung, wenn du weißt was ich damit meine. Kurze Zeit nach diesem Gespräch war sie dann in sein Zimmer gekommen, das neue Kleid an, geschminkt und gut gelaunt. Sie hatte einen Kuss auf seine Wange gehaucht und gemeint, dass sie noch einmal kurz weg müsse, das Essen stünde im Kühlschrank und er solle seine Schularbeiten nicht vergessen. Dann war sie die erste Nacht nach der Scheidung nicht da gewesen und erst am Morgen gekommen. Er hatte wachgelegen und gewartet. Er war extra nicht zur Schule gegangen. Seine Mutter jedenfalls war ziemlich überrascht als er da noch an dem kleinen Esstisch in der Küche gesessen hatte und sie mit seinen dunklen Augen angesehen hatte. Was mit der Schule nun sei, hatte sie leichthin gefragt und den neuen eleganten Mantel an die Garderobe gehängt, er müsse doch zu Schule gehen. Er hatte damals nicht geantwortet und war dann doch noch in die Schule gegangen. Verschlafen hatte er gesagt auf die Frage des Lehrers obwohl er in der Nacht kein Auge zugemacht hatte. Aber in der großen Pause auf dem Schulhof in der Ecke unter den Bäumen hatte er sich dann überlegt, dass die Schule im Grunde seine einzige Chance wäre aus diesem verfluchten System von Abhängigkeiten und den damit verbundenen Betteleien herauszukommen. Er begann sich auf die Schule zu konzentrieren, in den Wochen und Monaten nach der Trennung seiner Eltern verbesserten sich seine Zensuren zunehmend. Seine Mutter hatte einen Job in einem Büro in der Innenstadt, sie war tagsüber und manchmal auch nachts nichts da. Es war ihm im Grunde egal, er hatte jetzt sein Ziel. Er wurde dann Klassenbester, Klassensprecher und dann sogar Schulsprecher. Aber er hatte keine Freunde in der Schule, er hatte niemanden, mit dem er seine Wünsche, Träume und Vorstellungen teilen konnte.

 

Dann kam ein weiterer Schock. Die Trennung seiner Eltern glaubte er gerade überwunden zu haben als seine Mutter ihn mitnahm zu einem Essen in einem Steakhaus am Gänsemarkt. Das, hatte dann seine Mutter erklärt, als sie beide auf einen Tisch zugingen, an dem ein Mann saß, das, hatte sie gesagt, ist Philipp. Und dann: er zieht jetzt zu uns. Er konnte nur stumm die Hand ergreifen, die sich ihm da wie eine Waffe entgegenstreckte. Trotz der Bemühungen seiner Mutter und dieses Philipps, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, war er an diesem Abend stumm geblieben. Alle Verlustängste, die er seit der Flucht seines Vaters verdrängt zu haben geglaubt hatte, waren wieder da. Sie hatten seinen Kopf, seinen ganzen Körper überschwemmt wie eine riesige Woge unter der er zu ertrinken drohte.

 

Dann zog Philipp tatsächlich ein, in die Wohnung da in Barmbek. Er behielt sein Kinderzimmer, Philipp zog natürlich in das Schlafzimmer zu seiner Mutter und er saß dann da, morgens beim Frühstück und abends beim Abendbrot und dann auch vor dem Fernseher. Philipp war bemüht, anfänglich wenigstens, ihn einzubeziehen in die Unterhaltungen, die er mit seiner Mutter führte. Aber er blieb meistens stumm und versuchte sich noch mehr als vorher auf die Schule zu konzentrieren. Da lief es gut. Seine Zensuren waren hervorragend, er war sogar, wie gesagt, Schulsprecher geworden und er wollte studieren nach dem Abitur. Stipendien wurden beschrieben und in Aussicht gestellt von dem Klassenlehrer und von dem Schulleiter. Exzellenzförderung wurde das genannt, nur die Besten kommen da herein.

 

Es war dann die Zeit unmittelbar vor dem Abitur als die Bemühungen Philipps ihm gegenüber eine Wendung bekamen. Seine Anstrengungen in dem Bemühen um ihn, den Sohn aus der ersten gescheiterten Ehe seiner Mutter, wurden weniger, hörten dann ganz auf und wenn er und Philipp mal allein in der Wohnung waren schlugen sie bei ihm, dem Jungen, langsam um in Verständnislosigkeit und in Hass. Er selber blickte Philipp dann nur aus seinen dunklen tiefgründigen Augen an und hörte wie Philipp im Schlafzimmer sich immer öfter über ihn beklagte. Er öffnete dann leise die Tür zu seinem Zimmer und hörte Wörter wie stur, undurchschaubar, uneinsichtig, zu keinem Zusammenleben in der Lage und dann er musste raus. Alt genug war er da schon. Wenn er das Abitur hat sollte er ausziehen, Studentenheim oder in irgendeine WG. Seine Mutter antwortete dann immer so leise, dass er Probleme hatte, sie zu verstehen. Aber ihr Ansinnen gegen diese Vorhaltungen von Philipp wurden weniger und neigten sich langsam in Richtung Zustimmung zu den völlig aus der Luft gegriffenen Vorschlägen von Philipp.

 

Dann begann er, obwohl die Abiturprüfungen begonnen hatten, Philipp zu beobachten. Philipp arbeitete bei dem Strom- und Hafenbauamt. Das wusste er. Am Anfang hatte er ihn sogar einmal dorthin eingeladen. Natürlich war er nicht hin gegangen. Jetzt aber konnte er ihm folgen. An einem schulfreien Tag begann es. Er ging vor Philipp aus der Wohnung und stellte sich hinter die Ecke von dem Tschiboladen vor dem Ubahneingang. Dann folgte er ihm langsam und vorsichtig bis in den Hafen. Dann ging Philipp in das Verwaltungsgebäude. Am selben Tag spätnachmittags stand er wieder da und wartete, dass Philipp herauskam und folgte ihm dann wieder bis zur Wohnung. In den Tagen danach wiederholte er diese Überwachungen, allerdings nur den Weg aus dem Hafen in die Wohnung. Seine Mutter hatte zu der Zeit besonders viel zu tun und ihr Chef hatte Überstunden angesetzt. Sie kam jedenfalls in diesen entscheidenden Tagen immer später als gewöhnlich nach Hause und immer später als Philipp. Bei ihm selber konnte man so leicht keine Regelmäßigkeit ausmachen. Auf Frage erklärte er dann immer vage, dass bei Mitschülern für die Abiturprüfungen gelernt werden müsse. Diese Erklärungen führten dann zu einer Akzeptanz seiner unregelmäßigen und auch nicht immer bemerkten Eintritte in die Wohnung. Im Wohnzimmer lief dann schon der Fernseher und manchmal schien seine Mutter wirklich überrascht gewesen zu sein, ihn im Bad vorzufinden.

Als alle schriftlichen Abiturprüfungen fertig waren und für ihn nur noch eine mündliche Prüfung ausstand, brachte er die Sache zu Ende. Sein Notendurchschnitt stand mit einskommadrei ohnehin fest, ein Stipendium aus der Hochbegabtenförderung der Bundesregierung war quasi fest zu gesagt und insofern stand dem nichts entgegen.

 

Philipp konnte nicht schwimmen. Er wusste das, weil seine Mutter einmal gleich nach dem Einzug von Philipp angeregt hatte, er solle doch gemeinsam mit Philipp zum Schwimmen in die Schwimmoper in der Nähe vom Berliner Tor gehen. Motto: dann lernt ihr euch besser kennen. Zu seiner eigenen Überraschung hatte Philipp erst so ein bisschen herumgedruckst und dann erklärt, dass er nicht schwimmen konnte. Er wäre sowieso nicht mitgegangen, hatte diese Äußerung aber auch nicht vergessen.

Er hatte die Stelle der Tat sich auch bei seinen Überwachungsgängen auch schon genau angesehen. In der Nähe der Oberbaumbrücke. Da ging er immer vorbei. Eine menschenleere Gegend auf dem Weg zum Baumwall. Eine in die Kaimauer eingelassene Treppe um von den dort festgemachten Schiffen bei unterschiedlichem Tidenstand nach oben zu kommen. Gesichert mit einer alten rostigen und einfach eingehängten Kette. Unten Beton auf einer schmalen engen Plattform, bei Ebbe, wie jetzt, sechs Meter tiefer, glatt, glitschig und hart. Leicht abfallend zum Wasser hin. Er sah ihn dann kommen und beobachtete gebannt wie sich Philipp dem Balken näherte, den er da in den Weg gelegt hatte. Es war bereits leicht dämmerig geworden und sonst eigentlich niemand zu sehen, er selber blieb hinter einem Vorsprung und als der begnadete und von seiner Mutter bewunderte Philipp genau neben dem Aufgang war, da trat er aus dem Halbdunkel des Vorsprungs hervor, Philipp blickte ihn und übersah den Balken dort auf der Erde. Dann stolperte Philipp in Richtung fehlender Kette und dann ein zunächst lautloser freier Fall und dann ein dumpfes Aufschlagen mit einem knackenden Begleitton. Er war dann einfach in entgegengesetzter Richtung weggegangen.

Den Abend hatte er dann zu Haus verbracht. Er war wie immer in sein Zimmer gegangen hatte gewartet. Unruhige Schritte seiner Mutter auf dem Flur, dann Anklopfen bei ihm und die Frage seiner Mutter nach Philipp? Ja nun, woher sollte er das wissen, sein Freund war er schließlich nicht.

Dann erst am nächsten Morgen die Polizei. Gefunden hatte man ihn, dort an der Oberbaumbrücke, hinunter gefallen sei er, über fünf Meter tief und auch gleich tot. Soweit jetzt erkennbar hatte er nicht gelitten, zum Glück. Fremdverschulden? Gnädige Frau, Fremdverschulden schließen wir aus nach dem derzeitigen Stand unserer Ermittlungen aus. Offenbar ein reines Unglück, eine Absperrkette war nicht vorgehängt und dann ist es passiert. Er selber stand dann neben seiner Mutter, genau dosiert betroffen und ist selbstverständlich trotzdem ausgezogen nach dem Superabi. Studentenheim in Horn, Einzelzimmer und ruhig. Zur Uni gemütlich mit der UBahn. Was Philipp und seine Mutter anging: Strafe schließlich musste sein. Bis auf die immer weniger werdenden Besuche hatte er seine Mutter irgendwann dann nicht wieder gesehen. Warum denn auch? Und Philipp, was geht dieser Idiot auch so dicht an der nicht abgesperrten Leiter vorbei? Der hat doch selber schuld. Und es war schön, sich wieder auf seine ureigenen Sachen konzentrieren zu können, der Störenfried war ja nun nicht mehr da.

2. Rainer Clausewitz

 

Am Abend seines Todes hatte Dr. Rainer Clausewitz seiner Mitarbeiterin, die er sich gemeinsam mit Dr. Klaus Schmahl, dem Vorstandsvorsitzenden, teilte, zugenickt als er das Büro der Hamburg Strom-Zentrale in der City Süd verließ.

 

Es war Spätherbst und ein Hauch von Winter lag bereits in der Luft. Die Tage wurden erkennbar kürzer und kälter und alle Menschen, die das zweifelhafte Vergnügen hatten, draußen sich aufzuhalten, zogen sich wärmer an als in den Wochen davor.

Er war extra früher gegangen, um sich außerhalb des Büros zu einem Gespräch zu treffen von dem niemand aus dem Büro etwas wissen sollte. Sein Gesprächspartner hatte darauf bestanden, obwohl er das schon etwas merkwürdig fand. Gespräche zu führen in einer vertraulichen Atmosphäre war ja nun wirklich nichts Ungewöhnliches. So etwas fand ja im Grunde täglich statt. Etwa wenn Kunden Sonderkonditionen erwarteten. In solchen Fällen wurde quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt. Es bestand schließlich sonst immer die Gefahr, dass bei derartigen Sachen Einzelheiten nach draußen dringen und man dann selber von anderen Kunden, die diese Vergünstigungen nicht hatten, unangenehme Fragen gestellt bekommt. Also, der Treff außerhalb, ungewöhnlich schon, aber im Hinblick auf eine möglicherweise verbesserte Vertragsgestaltung doch hinnehmbar. Also ging Dr. Rainer Clausewitz zum SBahnhof Hammerbrook und fuhr dann direkt zum SBahnhof Landungsbrücken. Treffpunkt war ausgemacht in dem kleinen Stehcafe neben der Treppe zum Fähranleger direkt auf dem Ponton gegenüber der beeindruckenden Kulisse des Hafens mit den Containerschiffen und den riesigen Entladekränen. Also stellte er sich dort hinein, es war, wie gesagt, schließlich schon unangenehm kalt, bestellte einen Cappuccino und dachte daran, dass doch die ganze Sache mit diesem Geheimtreff hier draußen drei Meter von einer sehr unruhigen Elbe etwas zu hoch aufgehängt war. Aber was sollte schließlich passieren? Es war bereits etwas dunkel als er das Büro verlassen hatte und es war sehr dunkel als er da in dem Café stand, auf die aufgewühlte Elbe schaute und auf seinen Gesprächspartner wartete. Sein Gesprächspartner kam dann und winkte ihn mit einer Kopfbewegung nach draußen. Er stellte achselzuckend seine ausgetrunkene Tasse in den Wagen für gebrauchtes Geschirr und ging nach draußen. Im Gehen redet es sich leichter, wurde ihm dann gesagt, ein kleiner Spaziergang im Freien klärte den Kopf. Er hatte das natürlich akzeptiert. Im Gespräch wurden dann Einzelheiten besprochen, die so direkt mit dem Thema eigentlich nichts zu tun hatten. Der Weg führte dann nicht in die Hafen City sondern mehr in Richtung Eingang alter Elbtunnel. Viel war draußen nicht los. Kaum Touristen bei diesem Wetter und eine diffuse Beleuchtung auf dem Weg hinter den Hochwasserwänden. Dann standen sie etwas verdeckt durch ein Lokal, lehnten beide die Ellbogen auf die Hochwasserschutzwände und dann wurde ihm ganz klar gesagt, dass er keinerlei Änderungen seines Vertrages zu erwarten hätte. Das waren dann die letzten Worte, die er seinem Leben hörte. Sein Gesprächspartner ging dann ohne ein weiteres Wort weg. Allerdings wurde beide beobachtet. Zu seiner großen Überraschung wurde Clausewitz als er so da stand und über weitere vertragliche Schritte nachdachte dann angesprochen. Zeit um sein Erstaunen zum Ausdruck zu bringen hatte er da allerdings nicht mehr denn unmittelbar danach wurden ihm mit einem Messer mehrere Stiche zugefügt von denen zwei allein tödlich waren.

 

An diesem Tag hatte er etwas früher dran als gewöhnlich die Firma verlassen, die Mitarbeiterin Frau Großmann machte sich darüber allerdings keine Gedanken wie sie dann Friedrich Marxx erzählte, der als ermittelnder Kommissar von Mord drei bei der Hamburger Polizei die Ermittlungen aufgenommen hatte. Es war fast schon Winter und das einzige woran sie gedacht hatte war, dass Clausewitz seinen Wintermantel unter dem Arm trug und nicht angezogen hatte.

„Er selber hat doch kein Auto,“ hatte sie zu Marxx gesagt bei der ersten Befragung und dabei etwas vorwurfsvoll geguckt, so als ob die Polizei daran schuld sei, „jung verheiratet, die Frau arbeitet mit und braucht den Wagen. Doppelverdiener, junge Familie, verstehen Sie Herr Kommissar, nicht soviel Geld.“

Marxx hatte genickt, klar, das verstand er. Obwohl, der Mann war ja Referent des Vorstandsvorsitzenden der Hamburg Strom, da muss doch schon Geld geflossen sein.

„Er lag hinter den Müllcontainern auf dem Fischmarkt am Hafen drunten, Frau äh Großmann. Haben Sie eine Vorstellung, wie er da gekommen ist? Zu Fuß ist es ja ein bisschen weit, nicht, von hier dorthin.“

„Öffentliche Verkehrsmittel, Herr Kommissar, die Firma hier hat mit dem Verkehrsverbund eine Sonderregelung für Monatskarten, mehr als dreißig Prozent der Mitarbeiter fahren mit dem Hamburger Verkehrsverbund. Herr Clausewitz hatte so eine Karte.“

Marxx hatte sich dann noch in dem Büro von Frau Großmann umgesehen. Nichts Besonderes, typisches Büro in einem typischen Bürokomplex in dem typischen Bürostadtteil in Hamburg City Süd. Es war der Tag danach. Der Mann wurde gefunden von einem Besoffenen, der sich hinter den Müllcontainern erleichtern wollte und dann buchstäblich über die Leiche gestolpert war. Zum Glück war er nicht soweit hinüber als das er nicht in die Kneipe zurückgetorkelt war und von dort von dem Wirt die Polizei informieren ließ. Marxx war dann mit Doren Schmidt und Paul Fliege mit seinem Team der Spurensicherung dort aufgetaucht. Zehn Minuten nach ihrer Ankunft dort war dann noch Dr. Schmelzer, der Gerichtsmediziner, gekommen, der aber auch nur vor der Leiche herumstand mit dem verbiesterten Gesichtsausdruck von jemandem, dem man nachts aus dem warmen Haus in die brutale Wirklichkeit des Hamburger Verbrecheralltags gerissen hatte. Mehr als achselzuckend den Tod feststellen konnte er natürlich auch nicht, hatte dabei Marxx und Doren vorwurfsvoll angesehen und war dann auch eine Viertelstunde später wieder nach Haus gedüst nachdem er sicher war, dass die Leiche von einem Bestattungsunternehmen in sein Institut auf dem Gelände des UKE gebracht wird. Doren war es noch gelungen, zusammen mit dem Wirt der Kneipe eine halbwegs vollständige Liste mit halbwegs stimmenden Namen der Gäste zusammen zu bekommen, die an diesem Abend ebenfalls in dem Lokal waren. Marxx hatte dann bei dem Bestattungsunternehmen aufgepasst, dass der Leichnam in die Gerichtsmedizin kommt wenn Paul Fliege mit seiner Spurensicherung fertig war.

 

Viel zu sehen gab es am Fundort der Leiche sonst auch nicht. Er war vor seinem Auffinden hinter dem Lokal offenbar nicht in dem Lokal selber gewesen. Ob er sich mit jemanden getroffen hatte draußen vor der Tür, dort mit jemanden gesprochen, mit jemanden dort entlang gegangen sei oder sonst irgendwie Kontakt hatte, konnte der Wirt nicht sagen.

„Was meinen Sie, was hier los war,“ hatte er achselzuckend gesagt. Marxx wurde, wie bei allen Ermittlungen, die er bisher geführt hatte, den Verdacht nicht los, dass bei zunehmender Nähe zur Reeperbahn das Gedächtnis von Befragten im selben Maß abnahm.

Verheiratet war das Opfer, leider und so musste Marxx und Doren noch am späten Abend, es war bereits nach dreiundzwanzig Uhr, der neuen Witwe die traurigen Ereignisse mitteilen. Zum Glück hatte er Doren mitgenommen, die mit Frauen, besonders mit gramgeprüften und möglicherweise unter Schock geratenen, wesentlich besser umgehen konnte. Erkennungsdienstlich hatte das natürlich nichts gebracht an diesem späten Abend. Eine junge Frau, fassungslos vor den Scherben einer gemeinsamen Zukunft und entsprechend wenig in der Lage zur Sache auszusagen. Marxx hatte dann hinter dem Rücken der Ehefrau mit den Schultern gezuckt und Doren das Zeichen zum Aufbruch gegeben. Doren fragte dann noch, ob sie jemanden informieren sollten, ob sie Frau Clausewitz irgendwohin fahren sollten, zu Bekannten oder Verwandten. Die Frau hatte nur schluchzend den Kopf geschüttelt. Doren hatte dann noch fragend zu Marxx geblickt und dann ihre Visitenkarte auf den Wohnzimmertisch gelegt.

„Sie können mich jederzeit erreichen, Frau Clausewitz, wenn es irgendetwas ist,“ hatte sie dann noch gesagt und war mit Marxx und einem schlechten Gewissen dann aus er Wohnung gegangen.

 

Friedrich Marxx war Kriminalhauptkommissar bei der Hamburger Polizei, fünfundvierzig Jahre alt und abgesehen von dem manchmal unregelmäßigen Dienst mit seinem Beruf im Grunde zufrieden. Er hatte sich eingerichtet in dem warmen Nest eines unkündbaren Beamten der Freien und Hansestadt Hamburg. Mit seinem Freund und Kollegen Paul Fliege, mit dem er manchmal an der UBahnstation Alsterdorf neben dem Polizeipräsidium ein Feierabendbier trank, ließ er dann auch hier und da ihre beruflichen Aussichten Revue passieren. Marxx hatte da im Gegensatz zu Paul Fliege eine ganz entspannte Einstellung.

„Viel Knete gibt es nicht, Paul,“ sagte Marxx dann meistens wenn das Gespräch auf das Thema kam, „aber regelmäßig und sicher. Was willst du mehr?“

Fliege dagegen war mehr der Typ des Klassenkämpfers. Es ging ihm um Aufstieg. „Um Ausgleich, verstehst du Friedrich. Zwanzig Prozent der Bevölkerung hat achtzig Prozent Vermögen, wenn das gerecht ist weiß ich alles.“ Paul Fliege hatte dabei durchaus klassenkämpferische Momente, die Marxx manchmal bewunderte aber meisten gingen sie ihm auf die Nerven. Klassenkampf, du meine Güte. Die Welt ist nun mal so.

Paul Fliege hatte sich auch früh auf die Schiene der Spurensicherung begeben. „Das ist die Zukunft, Friedrich,“ hatte er gesagt, damals als eine weitere der vielen Umorganisationen innerhalb der Polizei anstand, „die Beförderungsschlüssel werden besser eben weil man mit der Fachkenntnis dort auch vor Gericht viel besser bestehen kann, verstehst du?“ Marxx hatte verneint, dann Fliege weiter: „Wenn eine Indizienlage klar und sicher erarbeitet ist, dann wird kein Anwalt der Gegenseite so etwas entkräften können. Und dann gibt es mehr Knete, ein kleiner Ausgleich zwar nur, aber immerhin.“ Allerdings hatte diese Hoffnung bisher getrogen. Die Beförderungsmöglichkeiten waren nicht besser als in anderen Bereichen des Präsidiums und ein Wegbewerben aus der Spurensicherung hinaus in andere Bereiche waren Fliege trotz intensiver Bemühungen bisher nicht gelungen. „Sackgasse, Friedrich,“ hatte er sich viel später beklagt, „diese Schweine haben mich in die Falle gelockt.“ Friedrich Marxx hatte genickt und wieder seinen Spruch von der wenigen aber sicheren Knete angebracht.

 

Fliege war damals von der Bundeswehr gekommen und sich einen rustikalen, wie Marxx meinte, Sprachschatz erhalten, der manchmal bei der Polizei doch zu hochgezogenen Augenbrauen führt. So kommt zum Beispiel bei ihm ein Auto nicht von hinten sondern aus sechs Uhr und ein einfaches Nicken bei einem verstandenen Sachverhalt hieß bei ihm roger. Insofern war Paul Fliege gewöhnungsbedürftig, aber Marxx hatte sich nicht nur an ihn gewöhnt, er war sogar mit ihm befreundet. Fliege war wie er selber verheiratet, die Ehepaare waren sich auch gegenseitig sympathisch und so traf man sich in größeren Zeitabständen zu Canaster und zum Essengehen.

 

Als dann vor einigen Jahren eine Anwärterin für den gehobenen Kriminaldienst eingestellt und Marxx zugeordnet wurde meinte Fliege: „Jetzt ist das mit deiner schlampigen Dienstauffassung vorbei, mein Lieber, die wird dich mit ihrem Ehrgeiz noch auf Trab bringen. Jetzt sind Nerven angesagt.“ Marxx hatte nur mit den Schultern gezuckt.

 

In der Person dieser neuen Kollegin stand vor nunmehr drei Jahren Doren Schmidt dann vor seiner Bürotür und wurde von Kriminalrat Andresen begleitet, der sie dann vorstellte.

„Bringen Sie ihr alles bei, Herr Marxx,“ hatte er gesagt und ihn dabei etwas ironisch angesehen. Jedenfalls erwies sich Doren Schmidt als ein Gewinn für die Abteilung. Sie war jung, untersetzt, kräftig und hatte einen ausgesprochen wachen Verstand. Marxx und Fliege stellte Doren natürlich auch ihren Frauen vor mit dem Hauptgedanken, hier unsere neue Kollegin, nichts Gefährliches. Damit kam von Anfang kein schiefer Gedanke in die Zusammenarbeit der Männer mit einer jüngeren Kollegin. Doren Schmidt ließ jedenfalls nicht nur nichts vormachen, sie erfüllte die Vorhersage von Paul Fliege sofort. Jedes mal wenn Marxx sich mit Fliege während der Dienstzeit zu einem wichtigen Kaffeetrinken irgendwo in Hamburg treffen mussten, fragte sie penetrant nach dem warum und wieso. Zuletzt haben sie Doren denn auch mitgenommen wenn einmal im Dezernat nichts los war und ein Kaffeetrinken mit Blick auf eine sommerliche Elbe mehr Entspannung versprach. Aber Doren hatte beiden damit auch ein schlechtes Gewissen eingepflanzt so dass solche Ausflüge immer weniger wurden.

 

Jetzt stand Marxx am Tage nach dem Auffinden der Leiche zusammen mit Doren also in der Zentrale von Hamburg Strom. Viel wusste er nicht von dieser Firma. Irgendein neues Unternehmen auf dem Markt der Energieversorgung.

„Die Firma verkauft Strom,“ fragte er dann Frau Großmann. Er stand mit Doren in dem Büro von Frau Großmann, beide mit den blassen Gesichtern von Leuten mit zu wenig Schlaf.

„Energie,“ sagte Frau Großmann, „wir verkaufen Energie.“

„Aha,“ sagte Marxx ratlos.

„Haben Sie eigene Kraftwerke,“ fragte Doren und ließ ihren Blick über die kopierten Bilder moderner Maler gleiten, die überall in dem Büro an der Wand hingen.

„Wir kaufen an der Börse in Leipzig. Eigene Kraftwerke haben wir nicht.“ Frau Großmann wirkte irgendwie nervös. Sie war eine blasse, wenig geschminkte Frau, schlank, fast dürr und mit einer großen goldumrandeten Brille, die mit einer goldenen Kette um ihren Hals gegen Absturz gesichert war.

„Den Sektor Gas haben wir erst kürzlich in unser Portfolio genommen,“ fügte sie hinzu, „aber was das angeht sollten Sie mit unserem CEO sprechen.“ Sie sprach das wie zeeo aus.

„Ceo,“ fragte Marxx.

„Geschäftsführer,“ meinte Doren vorsichtig.

„Vorstandsvorsitzender,“ verbesserte Frau Großmann, „Herr Dr. Schmahl. Jetzt ist allerdings das meeting der oberen Zehn. Das geht aber in einer halben Stunde zu Ende. Sie könnten in der Zeit in unserer Cafeteria hier im Erdgeschoss...“

„Wir könnten natürlich auch im Interesse einer schnellen Aufklärung dieses Kapitalverbrechens...“ begann Marxx, brach dann aber nach einem Blick zu Doren ab und sagte dann: „Also gut, gehen wir in die Cafeteria.“

„Ich werde Dr. Schmahl diesbezüglich informieren,“ sagte Frau Großmann.

„Dr. Clausewitz,“ fragte Marxx im Hinausgehen, „was war seine Aufgabe hier in der Firma?“

„Er war Referent des CEO.“

„Er arbeitet ihm also zu, ohne eigenen Geschäftsbereich? Wäre er heute dabei gewesen bei den oberen Zwölf?“

„Oberen Zehn, Herr Kommissar,“ verbesserte Frau Großmann großzügig, „ja, er wäre dabei gewesen und als er heute nicht kam war schon etwas Unruhe. Der CEO hat zweimal auch nachgefragt bei mir. Aber ich wusste natürlich auch nichts, bis Sie denn schließlich kamen, nicht wahr?“

Dann beschrieb Frau Großmann noch den Weg zur Cafeteria. Treppe runter und dann gleich links, daneben ist auch das meeting der oberen Zehn, nicht wahr.

Marxx und Doren gingen eine helle breite Treppe hinunter, die in der großen Eingangshalle endete. Ein Pförtner- und Empfangstresen befand sich in der weitläufigen Halle wie eine kleine Insel auf einem weiten Meer. Die Cafeteria war ein offener Teil der Halle und von dem Pförtner, der hinter dem Tresen fünf Meter vor der Eingangstür Wache hielt, sehr gut einsehbar. Von der Halle gingen einige Türen ab, die Cafeteria befand sich im hinteren Teil der Halle und war zur Halle hin halboffen. Ein paar Tische mit Stühlen standen vor dem offenen etwa drei Meter breiten Durchgang, der dann direkt in den Gastraum führte. Der Gastraum bestand nur aus einem Tresen, hinter dem eine junge Frau hantierte und bei der man den Kaffee aus den Automaten holen konnte und den Kuchen aus den gläsernen Boxen bezahlen musste. Marxx holte zwei Tassen Kaffee aus dem Automaten, bezahlte und ging mit den beiden Tassen zu Doren, die sich bereits an einen der Tische vor der Cafeteria gesetzt hatte.

Die nächstgelegene Tür, die von der Halle abging, befand sich etwa fünf Meter von dem Eingang zur Cafeteria entfernt. Durch die Tür drang gedämpft, aber doch hörbar, das Geräusch einer erregten Diskussion.

Marxx deutete mit dem Kopf zu dieser Tür.

„Die oberen Zehn,“ sagte er und nahm einen Schluck Kaffee, „sie unterhalten sich etwas laut.“

„Vielleicht hat das mit dem jetzt fehlenden CEO-Assistenten zu tun, Friedrich,“ meinte Doren, „wir sollten da mithören können.“

3. Hamburg Strom

 

Durch die große gläserne Eingangstür kam ein Mann im mittleren Alter, große beulige Jeans, spitz zulaufende dreckige Cowboystiefel und eine wollene großkarierte Jacke, in der rechten Hand eine Zigarette. Der Mann betrat die Halle wie John Wayne einen Saloon betreten würde, hinter ihm dann ein etwa zwöfljähriger Junge, beide Hände tief in ebenfalls zu weite Jeans gesteckt, die ihm im Schritt bis fast auf Kniehöhe herunterhingen. Beide, der Mann und der Junge, wirkten trotz ihres krassen äußerlichen Gegensatzes zu der klaren sauberen Halle äußerst selbstbewusst. Der Mann blickte sich beim Betreten der Halle interessiert um, nickte beifällig und näherte sich dem Pförtner, der hinter seinem Tresen Stellung bezogen hatte. Marxx und Doren konnten jedes Wort hören, in der Halle herrschte, abgesehen von dem Unterhaltungsgeräusch aus dem Besprechungsraum der oberen Zehn absolute Stille.

„Meister,“ sprach der Mann den Pförtner an als er vor dem Tresen gelandete war und sich dabei suchend nach einem Aschenbecher für seine Zigarette umsah, „diesen Clausewitz aber hallo.“ Seine Zigarette warf er dann gedankenlos auf den makellosen Fußboden und trat sie mit einer drehenden Bewegung seines Cowboyfußes aus. In dieser Geste war nichts Provozierendes. Es war ihm offenbar völlig egal, er machte sich darüber keine Gedanken.

„Wen darf ich denn melden,“ fragte der Pförtner zurück, der mit seiner makellosen Erscheinung einen krassen Gegensatz zu dem Mann bildete, der Junge war weiter durch die Halle geschlendert, hatte sich alles angesehen und landete dann von Marxx und Doren. Er betrachtete beide dann mit einem offenen klaren und wachen Blick.

„Hör zu, Chef,“ sagte der Mann zu dem Pförtner fünf Meter weiter und lehnte sich dabei wichtig auf den Tresen, „wenn ich diesen Clausewitz sprechen will, dann geht dich das gar nichts an. Also mach hinne.“ Dann blickte er sich wichtig suchend nach dem Jungen um, weniger weil er sich etwa Sorgen machte sondern vielmehr weil er den Pförtner mit Nichtbeachtung strafen wollte.

Der Junge stand völlig unbeeindruckt von dem Geschehen beim Pförtner vor Marxx und Doren.

„Polente oder Steuer,“ fragte er dann und ließ seinen Blick von Marxx zu Doren wandern. Doren blickte ihn nachdenklich an. Ein blasser dünner Vierzehnjähriger, Pickel im Gesicht, eine Mütze aus Jeansstoff auf seinem Kopf mit dem Schirm nach links, zu große Hosen und eine fleckige graue Jacke aus Wolle.

„Ersteres,“ sagte Doren dann,“wie kommst du denn da drauf?“

„Ihr habt nicht diese Uniformen an wie die anderen hier. Die sehen alle gleich aus. Anzüge und so einen Scheiß, verstehste? Da bleiben eigentlich nur diese beiden Möglichkeiten.“

Doren nickte zu dem Mann, der jetzt lässig mit dem Rücken zum Pförtner an dem Tresen gelehnt stand, die Ellenbögen auf den Tresen abgestützt: „Dein Vater?“

Der Junge nickte. Er hatte immer noch den offenen wachen Blick.

„Die wollen mich hier bescheißen,“ erklärte er weder wichtigtuend noch beifallheischend sondern irgendwie nebenbei, „deswegen haut mein Alter hier jetzt mal auf den Tisch. Diese Arschlöcher werden sich noch wundern.“

Doren nickte.

„Um was geht es denn?“

„Energie, verstehste?“

„Nein.“

Der Mann am Tresen stieß sich vom Tresen ab und kam jetzt näher.

„Erzähle hier keinen Scheiß,“ sagte er und baute sich vor Doren und Marxx auf und blickte beide misstrauisch an, „sonst haue ich dir in die Fresse.“ Die Unterarme des Mannes waren tätowiert, behaart und offenbar eine Zeitlang nicht gewaschen worden.

„Polente,“ sagte der Junge unbeeindruckt und nickte zu Marxx und Doren, „die wollen den Laden bestimmt auch dichtmachen.“

„Polente, soso,“ nickte der Mann jetzt interessiert und ließ keinen Blick von den noch immer am Tisch Sitzenden als er fortfuhr, „wir regeln unsern Scheiß allein, verstehste. Wir brauchen keinen ist das klar.“

Die Fäkalsprache schien ein derartig fester Bestandteil in der Welt der beiden zu sein, dass sie offenbar darin den Normalzustand sahen.

Marxx betrachtete beide interessiert. Was wollten die hier? Ein Energieunternehmen und ein Menschenpaar scheinbar aus dem Prekariat. Wie passte das zusammen?

Der Mann stand, die Beine leicht auseinandergestellt und leicht in den Hüften hin und her wiegend da wie ein Boxer beim Taxieren seines Gegners.

„Warum sind Sie eigentlich so aggressiv,“ fragte Marxx mit sanfter Stimme, „wir haben Ihnen doch nichts getan.“

Der Mann beugte sich leicht vor.

„Wir werden hier ganz brutal über den Tisch gezogen, Meister, verstehste? Das sind hier die ganz ausgeschlafenen. Aber nicht mit Wilhelm Traut. Da haben sich schon ganz andere die Zähne ausgebissen. Ich nehme mir diesen Oberidioten persönlich vor, das könnse glauben.“

„Die Polizei,“ erklärte Marxx, der langsam Gefallen an dem Gespräch fand auch wegen der Überbrückung der Zeit bis zum Ende der Besprechung hinter der Tür dort vorn, „hat die Aufgabe, bei Straftatbeständen gegebenenfalls auch in Ihrem Interesse tätig zu werden, Herr Traut. Und dann gibt es noch das sogenannte Gewaltmonopol des Staates.“

„Das wüsste ich aber,“ heulte Wilhelm Traut lauthals und triumphierend los und stieß seinen neben ihm stehenden Sohn kumpelhaft in die Seite, „die Schmiere will uns helfen, ich lach mich tot.“

Er beugte sich wieder etwas vor und fügte verschwörerisch hinzu: „Sie sollte sich mal diese Verbrecher hier lieber genauer ansehen, Meister.“

„Was meinen Sie denn genau,“ mischte sich Doren ein.

„Aushorchen,“ heulte Traut wieder los, „das fehlte noch. Wir hier, mein Sohn und ich, sind der ganz großen Sache auf der Spur und ihr wollt hier auf die ganz plumpe Art alles wissen und dann selber abkassieren.“

„Sie wollen also,“ sagte Doren, „zu einem der leitenden Herrn hier, zu Dr. Schmahl?“

„Was,“ fragte Traut, „wer soll das sein? Wir haben bisher mit einem anderen Idioten hier hier zu tun gehabt. Wie heißt dieses Arschloch noch?“

Er stieß seinen neben ihm stehenden Sohn auffordernd in die Seite.

„Rainer Clausewitz,“ meinte der lässig und schien sich aber mehr Gedanken über die Polizei zu machen als an einer Teilnahme an dem Gespräch. Der Junge wirkte nachdenklich und auf eine bestimmte Weise klug und abgeklärt.

Jetzt wurden Marxx und Doren hellhörig. In diesem Augenblick wurde die Tür des Besprechungszimmers aufgemacht und eine Gruppe fast gleich angezogener uniformer Männer betrat, teilweise untereinander redend, teilweise offenbar mit eigenen Gedanken beschäftigt, die Halle.

„Wo ist der Sack,“ fragte Traut kommentierend das Bevölkern der Halle und blickte suchend die Gruppe ab.

„Das wird schwer,“ meinte Marxx und blickte dabei vom Vater zum Sohn. Beide schienen nicht beeindruckt.

„Der taucht schon noch auf,“ meinte Traut senior zuversichtlich, „dann aber hallo.“ Er stellte sich breitbeinig der flutenden Menge gleich aussehender Männer in den Weg, die dann irritiert um ihn herum strömten. Rainer Clausewitz war erkennbar nicht dabei.

„Wo ist die Sau,“ meinte Traut laut als die letzten der Gruppe sich in Richtung Aufzüge davon machten. Der letzte Mann blieb allerdings vor Traut stehen.

„Und Sie,“ sagte der Mann freundlich aber bestimmt, „wollen jetzt was?“

Dabei ließ er seinen Blick von Traut zu dessen Sohn und dann zu Marxx und Doren schweifen. Marxx stand dann auf. Doren stellte sich unauffällig neben den Sohn, der unerschrocken und außerordentlich interessiert dem Geschehen zusah.

„Ich will diesen...,“ Traut blickte auffordernd zu seinem Sohn. Der ergänzte dann auch prompt: “Rainer Clausewitz.“

„... sprechen und zwar hallo.“

„Warum,“ fragte der Mann höflich aber bestimmt.

„Das,“ meinte Traut überaus selbstgefällig, „geht dich einen feuchten Dreck an, verstehste?“

Wieder stand er da mit etwas auseinander gestellten Beinen und leicht wiegenden Hüften. Ganz der Boxer, der auf seinen Gong zum Einsatz wartet.

„Eine Moment,“ sagte der Mann dann und ging zum Pförtner. Dort sprach einen paar Sätze und kam dann zurück. Zu Traut und seinem Sohn sagte er dann: „Einen Moment bitte.“ Dann zu Marxx und Doren: „Mein Name ist Klaus Schmahl. Was kann ich für Sie tun?“

Klaus Schmahl war schlank, gekleidet mit einem dunklen Anzug, Massanzug vermutete Doren, schneeweißes Hemd und eine geschmackvolle Krawatte. Schmahl war jetzt ganz der aufmerksame Zuhörer. Sein Gesicht hatte fast keine Falten, er war glattrasiert, dunkles volles Haar und, wie Doren später zu Marxx gesagt hatte, merkwürdige dunkle stechende Augen.

Marxx stellte sich und Doren vor.

„Vielleicht können wir uns in einem Ihrer Besprechungsräume unterhalten?“

Bevor Schmahl jovial nicken konnte kam der Pförtner, stellte sich in Positur und sagte zu Traut und Sohn:

„Würden Sie bitte das Haus verlassen.“

Traut senior lief rot an. Er hob angreifend beide Hände.

„Bevor Sie jetzt etwas Verkehrtes sagen oder sogar tun,“ fuhr der Pförtner fort, „und sich im Ton vergreifen oder das Haus nicht verlassen, müssen wir die Polizei informieren. Das eine ist dann der Tatbestand einer Beleidigung das andere Hausfriedensbruch.“

Schmahl blieb interessiert aber untätig dabei.

„Wir sind die Polizei,“ meinte Marxx dann.

„Hört zu, ihr Säcke...,“ begann Traut senior.

„Herr Traut“, unterbrach Marxx und nickte Doren zu, „gehen Sie doch mit meiner Kollegin kurz vor die Tür. Sie können sich doch da auch weiter unterhalten, nicht.“ Marxx blickte Traut senior streng an. Der rollte noch einmal wichtig mit den Augen, bewegte seine Arme wie ein Boxer bei Lockerungsübungen vor einem großen Kampf und blickte dann Doren an.

„Die Sache ist nicht vorbei,“ sagte er drohend aber auch bereits auf dem Rückzug, „ihr werdet auf jeden Fall von mir hören.“ Doren trottete mit den beiden Trauts vor die Tür.

Schmahl blickte Marxx entschuldigend an und bat ihn mit einer Handbewegung in den Besprechungsraum, den er gerade verlassen hatte.

Schmahl bat Marxx an einen der Tische, die vom letzten meeting noch in Reihen aneinandergestellt waren, und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch.

„Helene Großmann hat mich bereits von dem Tod von Rainer Clausewitz informiert,“ begann Schmahl und fuhr auf Marxx fragenden Blick fort: „Im Meeting bereits hatte sie mir eine sms geschickt. Glauben Sie mir, ich kann es kaum fassen. Ich habe den Kreis der Teilnehmer darüber informiert. Es kann doch einen Grund dafür eigentlich nur im Privatleben von Rainer geben. Wir alle können es uns auch gar nicht anderes vorstellen. Ich habe dieses Thema auch im Führungskreis zur Sprache gebracht und auch meine Erschütterung gezeigt dabei.“

 

Marxx fragte dann nach den Aufgaben des Verstorbenen. Zuarbeit, erklärte dann Schmahl, supportmäßig, er war weisungsabhängig und zwar von mir. Wir haben eng zusammengearbeitet. Und irgendwelche Besonderheiten jetzt in dieser Zeit? Du meine Güte, Schmahl die Schultern hoch, wir leben in einer hektischen Zeit, die besteht nur aus Besonderheiten. Hamburg Strom ist der kleinste Energieanbieter und muss sich gegen die etablierten großen Player durchsetzen, Herr Kommissar, was glauben Sie was da täglich los ist. Also keine beruflichen Probleme, die als Ursache für den Mord, und Mord war es schließlich, Herr Schmahl, nicht wahr, herangezogen werden können? Schmahl überlegte sichtlich angestrengt, aber, nein, da ist eigentlich nichts, Herr Kommissar.

Marxx dann: und dieser Auftritt vorhin in der Eingangshalle? Dieses Geschrei von dem Traut nach diesem Rainer Clausewitz? Das hatte nichts zu bedeuten? Jetzt hob kapitulierend beide Hände.

„Herr Kommissar, ein Kunde, der mit uns Probleme hat und sich im Ton vergreift, beleidigend und ausfällig wird. Wir haben dreihunderttausend Kunden hier in Hamburg, Schleswig Holstein und auch Niedersachsen. Dreihunderttausend und einer fühlt sich nicht richtig behandelt. Was soll man dazu denn sagen?“

An der Tür klopfte es und Doren kam herein. Schmahl, ganz Gentleman, stand auf und gab ihr die Hand und wies auf einen Stuhl. Marxx blickte Doren auffordernd an.

„Also,“ sagte sie, schlug ihr kleines Notizbuch auf und blickte dabei von Marxx zu Schmahl, „dieser Traut behauptet, er hätte hier ein Energiekonzept vorgelegt bei Rainer Clausewitz, das die Welt vom Tisch haut, wie er sich ausdrückte. Ist Ihnen davon etwas bekannt?“

Schmahl lächelte ungläubig.

„Jemand wie dieser Herr vorhin entwickelt ein Energiekonzept. Ich glaube, der weiß gar nicht wie man so etwas schreibt geschweige denn versteht oder gar entwickelt.“

„Ich,“ sagte Doren unbeeindruckt, „hatte auch mehr den Eindruck, dass der Sohn da irgendetwas weiß. Der scheint jedenfalls nicht dumm zu sein und dieser Traut hat auch verhindert, dass sein Sohn sich äußert als wir da draußen standen.“

Schmahl schien jetzt wirklich erschüttert zu sein.

„Das glauben Sie doch nicht wirklich, Fau Kommissarin?“

„Inspektorin, ich bin Inspektorin, Herr Schmahl. Aber ich habe doch das Gefühl, dass da irgendetwas dran ist.“

„Im übrigen,“ meinte Schmahl nachdem er verstehend genickt hatte, „ist mir im Augenblick auch nicht klar, was dieser Herr mit dem bedauerlichen Ableben von Rainer Clausewitz zu tun haben könnte.“

„Wissen wir auch nicht,“ nickte Marxx zustimmend, „aber im Augenblick sind wir nur zufällig auf Herrn Traut nebst Sohn gestossen und da wird man doch fragen dürfen.“

Auch hier nickte Schmahl, klar war ja verständlich, Polizei muss ja fragen.

„Wir brauchen allerdings,“ sagte Marxx, „eine Auflistung aller Geschäftsvorgänge in die der Herr Rainer Clausewitz involviert war, wie man so schön sagt.“

„Aber,“ gab Schmahl mit leicht verkniffenem Mund zu verstehen, „das sind zum Teil höchst sensible Sachen.“ Er wirkte mit einem Mal nicht mehr wie der entgegenkommende Mann, der die Polizei bei ihren schweren Aufgaben unterstützt.

„Sind bei uns in guten Händen und vielleicht sind es gerade die, die uns weiterhelfen.“ Marxx blickte Schmahl jetzt abschätzend an.

„Ich sollte,“ meinte Schmahl dann schmallippig, „doch vielleicht unseren Hausjustitiar hinzuziehen.“

„Tun Sie das,“ nickte Marxx.

 

Sie vereinbarten einen Termin am Nachmittag und ließen sich von Frau Großmann das Büro von Clausewitz zeigen. Es lag direkt neben ihrem und hatte einen blitzsauberen Schreibtisch mit dem üblichen PC-Monitor in Form eines superflachen Bildschirms und einer kabellosen Tastatur und Maus. Ein kleiner Besprechungstisch und ein Aktenregal mit Türen, alles farblich in dezentem Grau gehalten, waren die einzigen Möbel. Steril und teuer dachte Marxx und blickte fragend Doren an, die dann auch nur mit den Schultern zuckte.

„Die Rechner hier,“ fragte Marxx dann unschlüssig während Doren die Türen zum Aktenschrank öffnete und er die Schreibtischschubladen aufzog, „sind alle über ein Netzwerk mit einem Server verbunden, Frau Großmann?“ Er selber stand der technischen Entwicklung in den neuen Büros immer etwas hilflos gegenüber. Daten auf Festplatten und Servern, auf Sticks und wer weiß wo noch. All das ist Marxx bisher im Grunde fremd geblieben.

Frau Großmann nickte pflichtschuldigst, schließlich hatte Schmahl sie zur Zusammenarbeit mit der Polizei gebeten. Wir haben schließlich nichts zu verbergen, nicht wahr.

„Wir haben keinen Server, Herr Kommissar, wir haben Speicherplatz im Rechenzentrum unseres Providers und sind damit verbunden.“

„Aha,“ sagte Marxx verständnislos, „wir werden dieses Büro zunächst versiegeln, Frau Großmann,“ sagte er dann, „es darf dann niemand betreten. Was den Server oder diesen Speicherplatz da angeht kommen wir noch mit einem unserer Experten zurück und werden uns die Laufwerke von Herrn Clausewitz ansehen. Hier dürfen natürlich auch keine Änderungen vorgenommen werden, Frau Großmann.“ Er zog dabei eine Klebebandrolle aus der Tasche und klebte zwischen Türblatt und Zarge ein etwa dreißig Zentimeter langes Stück davon. Dann deutete er auf die Schrift auf dem Klebeband und sagte:

„Versiegelung, Polizei Hamburg, Frau Großmann.“

Frau Großmann nickte ergeben. Die Polizei, was soll man dazu sagen. Nachdenklich blickte Marxx dann Frau Großmann an.

„Haben Sie Informationen über das Privatleben von Herrn Clausewitz? Irgendwelche Besonderheiten in der letzten Zeit, die sonst nicht üblich waren, so etwas in der Art?“

Frau Großmann war weit davon entfernt, ihre Loyalität aufzugeben. Sie setzte eine etwas empörte Miene auf.

„Ich habe keine Informationen über das Privatleben von Herrn Clausewitz,“ sagte sie weitaus empörter als man annehmen konnte, „wir hatten ausschließlich ein berufliches Interesse aneinander.“

Marxx nickte. Warum auch nicht.

4. Hagen Traut

 

Im Auto sagte er dann zu Doren, die auf dem Fahrersitz saß: „Zwei Sachen Doren. Erstens dieser Traut, da ist irgendetwas faul und dann die Firma. Dieser Schmahl ist mir einfach zu glatt.“

„Ich habe die Namen und Anschrift von Traut, wir können dahin.“

„Schulzeit,“ meinte Marxx, „der Junge ist schulpflichtig, in Hamburg sind keine Ferien und der treibt sich hier herum.“

„Es ist vielleicht sowieso besser, wir sprechen mit dem Jungen ohne den Vater.“

„Du bekommst heraus wo der zur Schule geht und wir fahren morgen früh dahin. Vielleicht wissen die Lehrer auch etwas.“

Auf dem Weg zurück ins Präsidium telefoniert Marxx dann mit dem Gerichtsmediziner Dr. Schmelzer und mit Paul Fliege von der Spurensicherung. Das Ergebnis war, dass Clausewitz mit einem Messer von hinten erstochen wurde und zwar zwischen zweiundzwanzig und dreiundzwanzig Uhr. Insgesamt fünf Stiche, dicht nebeneinander, so als jemand da mit sinnloser Wut zugestochen hatte. Dabei, sagte Dr. Schmelzer, war der erste Stich schon tödlich. Weder Messer noch sonst irgendwelche Spuren waren allerdings festgestellt worden. Zeugenaussagen auch nicht, abgesehen von dem Besoffenen, der sich selber auch an kaum etwas erinnern konnte. Resigniert legte Marxx dann auf.

„Viel haben wir nicht Doren.“

 

Nachdem sie den Dienstwagen abgestellt hatten ging sie zu Andresen, Leiter Mord drei in Hamburg und ihr gemeinsamer Vorgesetzter. Andresen war ein Mann, der bis zur Zerstörung seiner eigenen Karriere ehrlich war und ein ausgeprägtes Befremden gegenüber der raubeinigen und nachtragenden Art von Polizeipräsident August Fryer empfand. Andresen war, so schien es Marxx, das typische Opfer bei den Besprechungen zu sein, die Fryer mit seinen Dezernatsleitern regelmäßig abhielt und dabei die bevorzugten Opfer vor allen anderen abkanzelte..

Er und Doren erklärten ihm in seinem Büro kurz den dürftigen Stand der Ermittlungen.

„Mehr haben wir nicht, Herr Andresen,“ sagte Marxx dann, „aber Frau Schmidt vermutet in diesem Traut, den wir ja mehr oder weniger zufällig getroffen haben, doch mehr als es den Anschein hat.“

Andresen blickte dann Doren fragend an. Doren mit den Schultern.

„Wenn wir kein Motiv im privaten Bereich finden,“ meinte sie dann, „dann müssen wir uns die Firma genauer ansehen und da ist dieser fulminante Auftritt dieses Traut doch vielleicht ein Anlass. Wir wollen morgen in die Schule und mit dem Jungen sprechen.“

Andresen nickte. Er war informiert, da konnte Fryer ruhig anrufen.

„Diese Firma Hamburg Strom,“ fragte er dann noch, „was macht die eigentlich? Ich meine früher hatten wir die Hamburger Elektrizitätswerke und jetzt? Da steigt man ja gar nicht mehr durch.“

Marxx wiederholte, dass was Frau Großmann gesagt hatte, man verkaufte den Strom, den man auf der Leipziger Strombörse eingekauft hatte an die Kunden weiter.

„Jetzt will die Firma allerdings expandieren, Herr Andresen, und auch in den Gasmarkt. Aber mehr wissen wir auch nicht. Wir untersuchen morgen morgen mit der Spurensicherung das Büro von dem Opfer und natürlich auch die Laufwerke auf dem Server. Vielleicht finden wir etwas.“

Andresen nickte.

„Beantragen Sie sicherheitshalber einen Durchsuchungsbeschluss. Ich unterschreibe dann und leite ihn an die Staatsanwaltschaft weiter. Den haben Sie dann nachher noch. Nur zur Sicherheit, falls da jemand Schwierigkeiten macht.“

Marxx nickte dankbar. Ihm fiel dabei wieder ein, dass dieser Schmahl seinen Rechtsanwalt informieren wollte. Vielleicht gibt es ja aus dieser Richtung dann Probleme.

 

Nach dem Gespräch informierte Marxx Paul Fliege von der Spurensicherung und beantragte über seinen Rechner den Durchsuchungsbeschluss und schickte den Antrag dann über das Netzwerk an Andresen. Dann rief er Markus Schnell an. Er erklärte ihm, dass morgen früh ab neun Uhr der Rechner von Clausewitz bei Hamburg Strom untersucht werden musste und das dieser Rechner an einem betriebsinternen Server hing, dann fiel ihm zum Glück noch ein, was Frau Großmann gesagt hatte und fügte hinzu, nicht Server, Markus, Speicherplatz beim Provider, was immer das ist. Markus Schnell ist der IT-Experte des Präsidium mit dem Marxx schon öfter zusammengearbeitet hat. Ein untypischer Beamter. Er hatte langes bis auf sie Schulter fallendes Haar, das nur ganz manchmal mit einem Gummiband zusammengehalten wurde, und meistens auch gewöhnungsbedürftige Kleidung an. Paul Fliege mit seiner Militärvergangenheit konnte da nur schwer mit umgehen. „Mann, Markus,“ sagte er manchmal genervt wenn Markus Schnell sich zu ihnen in der Kantine mit an den Tisch setzte, „wir repräsentieren auch irgendwie den Staat, nicht. Da kann sich doch wenigstens etwas anpassen.“ In solchen Situationen grinste Markus dann nur und sagte dann manchmal: „Ist es die fehlende Uniform, die dir zu schaffen macht, Paul?“ Wenn Marxx und Doren bei solchen Frotzeleien dabei waren versuchten beide, die Lage zu entspannen. Aber Markus Schnell war ein auch von Paul Fliege anerkannter Experte auf seinem Gebiet.

„Das Ding knack ich in drei Minuten, Friedrich,“ hatte er dann großspurig geantwortet auf die Frage von Marxx geantwortet. Marxx hatte dann noch gesagt, dass die Passwörter und PIN´s wahrscheinlich über die Mitarbeiterin zur Verfügung gestellt werden.

„Und was soll ich dann noch da,“ hatte er geantwortet.

Doren hatte inzwischen die Schule herausgefunden, die Hagen Traut besuchte, wenn er von seinem Vater nicht von diesem Besuch abgehalten wird wie an diesem Tag. Es war in Wilhelmsburg, die August Reutter-Schule.

„Wilhelmsburg,“ hatte Doren dann noch zu Marxx gesagt als sie sich zur Feierabendzeit in Richtung UBahn aufmachte, „Wilhelmsburg, Friedrich, ein ganz heißes Viertel.“

„Dann steck´ ein Ersatzmagazin ein, Doren, falls wir uns den Weg freischießen müssen.“

Bevor sich Marxx dann mit der UBahn nach Hause aufmachte rief er bei Hamburg Strom an und bat Frau Helene Großmann Klaus Schmahl darüber zu informieren, dass die Polizei das Büro von Clausewitz ab neun Uhr untersuchen wird.

„Wenn Herr Schmahl dann seinen Rechtsbeistand dabei haben möchte, es wäre uns genauso lieb,“ fügte er dann noch hinzu.

 

Den Abend verbrachte Marxx in trauter und gemütlicher Zweisamkeit mit seiner Frau. Lisa hatte das Einfamilienhaus geerbt aber vorher allerdings schon mit Friedrich Marxx im Dachgeschoss zusammen mit ihrer zwei Jahre nach der Hochzeit geborenen Tochter Dörte bewohnt. Unten waren dann seine Schwiegereltern, Albert und Emmi Trautwein. Albert verzog sich vor der Hyperaktivität seiner Frau gerne und oft in den Garten und Emmi fuhrwerkte dann im Haus herum. Nach zwei Jahren allerdings hatten Friedrich und Lisa ihr klargemacht, dass sie nur unten herumtoben konnte. Die ist verrückt hatte Marxx dann manchmal bei einem abendlichen Bier mit Paul Fliege am Ubahnhof Alsterdorf erklärt. Paul Fliege hatte dann meistens verständnisvoll genickt und dann irgendwann erklärt, dass Frauen sieben Prozent weniger Gehirnmasse haben als Männer. „Im Durchschnitt, Friedrich, und diese sieben Prozent, verstehst du...?“ Marxx hatte dann auch genickt und hinzugefügt: „Wir sollten Doren mal befragen, die muss das doch eigentlich wissen, nicht?“ Dann hatten beide sich halb kaputtgelacht und gemeint, dass man Doren bei dieser Frage außen vor lassen sollte. „Aus Selbsterhaltung, Friedrich, verstehst du?“

 

Als beide, Albert und Emmi Trautwein, dann kurz hintereinander starben, zog endgültig ein harmonischer Frieden in das Haus. Dörte studierte und wohnte oben in der ehemaligen Wohnung, die Marxx bis dann bewohnt hatte, Friedrich und Lisa jetzt unten. Nach einem halben Jahr nach dem Ableben von Albert stellte Marxx allerdings bei einem flüchtigen Blick in den Garten fest, dass dieser unübersehbare Anzeichen von Verwilderung zeigte. Und nun, hatte er dann Lisa mit einem Kopfnicken in Richtung Garten gefragt. Männersache, hatte Lisa dann lakonisch geantwortet und sich ihrem Hobby, dem Studium von Kochbüchern und dem Nachempfinden der dort beschriebenen Rezepte, zugewandt. Das war aber auch das einzige Problem. Jetzt jedenfalls war Winterzeit, Ruhe beim Wachstum im Garten und Harmonie im Hause.

 

Am nächsten Morgen machte sich eine kleine Kolonne von Marxx mit Doren in einem Wagen, die Spurensicherung in zwei weiteren Fahrzeugen und Markus Schnell in einem weiteren Fahrzeug, einem dreiundzwanzig Jahre alten komplett verdreckten und mit merkwürdigen Platinen und anderen PC-Ersatzteilen vollgemüllten Honda Jazz, auf den Weg in die City Süd zu der Firma Hamburg Strom. Marxx hatte den Durchsuchungsbeschluss in der Tasche.

 

Die Zentrale von Hamburg Strom befand sich in der Wendenstrasse in einem riesigen modernen Verwaltungsbau mit viel Glas und Aluminium in der Fassade und der riesigen Eingangshalle. Der Pförtner, der am Tage vorher noch so elegant Traut und seinen Sohn auf die Straße geleitet hatte, stand wieder hinter dem Tresen. Er nickte Marxx und Doren zu wie alten Bekannten. Er deutete auf die Aufzuggruppe.

„Dritter Stock,“ sagte er dann, „Frau Großmann erwartet Sie oben.“

Im dritten Stock erwartete sie Frau Großmann, die Marxx dann mit allen Mitgliedern des Trupps bekanntmachte. Sie gingen zu der Bürotür mit dem, wie Marxx feststellte, unbeschädigten Siegel. Auf dem Flur noch fragte Marxx Frau Großmann nach dem Passwort und und dem PIN von Clausewitz. Sie drückte ihm einen verschlossenen Briefumschlag in die Hand.

„Wenn ich den dann wieder zurück haben könnte, Herr Marxx.“

Marxx nickte und verabschiedete sich von Frau Großmann.

„Ich komme heute Nachmittag noch einmal vorbei,“ sagte er dann noch.

Dann wies er die Leute noch kurz ein und drückte dann Paul Fliege den Durchsuchungsbeschluss in die Hand.

„Nur für den Fall, dass hier einer rumzickt, Paul.“

Fliege nickte. Marxx sagte dann zu Markus Schnell.

„Am besten die ganze Festplatte kopieren.“

Markus Schnell drehte übertrieben genervt die Augen gegen die Zimmerdecke.

„Die Teile haben keine Festplatte, Mann. Das läuft alles auf dem Server des Providers.“

„Dann lutscht du den eben leer,“ meinte Marxx und schlug Markus Schnell leicht auf die Schulter.

„Und was ist mit Datenmissbrauch, Friedrich,“ fragte Markus Schnell leise als er den Rechner schon hochfahren ließ.

„Gefahr im Verzuge, Markus,“ sagte Marxx ebenso verschwörerisch, „nimm alles was du kriegen kannst. Unser Opfer heißt Dr. Rainer Clausewitz, Frau Großmann ist seine Mitarbeiterin gewesen. Nimm lieber zu viel als zu wenig.“

„Wer das mit der Gefahr im Verzuge man glaubt,“ antwortete Schnell und machte sich an die Arbeit.

 

Marxx fuhr dann mit Doren nach Wilhelmsburg. Von der City Süd war es nicht weit. Doren hatte die Anschrift der Schule in das Navi eingegeben und so waren sie ohne Umwege eine Viertelstunde später vor der Schule. Es war erkennbar keine Pause und doch standen vereinzelt Jungen und Mädchen vor dem Eingang der Schule herum. Die meisten rauchten.

„Schulpflicht,“ fragte Doren als sie dem Schild mit der Aufschrift Sekretariat folgten, „ist die eigentlich erfüllt wenn man das Schulgelände betritt oder erst wenn man am Unterricht teilnimmt?“