Harlem Shuffle - Colson Whitehead - E-Book

Harlem Shuffle E-Book

Colson Whitehead

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Beschreibung

Harlem, 60er Jahre: die Geschichte eines einfachen Mannes, der so ehrlich wie möglich versucht aufzusteigen. Der neue Roman des zweifachen Pulitzerpreisträgers und Bestsellerautors Colson Whitehead

Eigentlich würde Ray Carney am liebsten ohne Betrügereien auskommen, doch die Einkünfte aus seinem Laden reichen nicht aus für den Standard, den die Schwiegereltern erwarten. Cousin Freddy bringt gelegentlich eine Goldkette vorbei, die Ray bei einem Juwelier versetzt. Doch was tun mit dem Raubgut aus dem Coup im legendären „Hotel Theresa“ im Herzen Harlems, nachdem Freddy sich verdünnisiert hat? Als Polizei und Gangster Ray in seinem Laden aufsuchen, steht sein waghalsiges Doppelleben auf der Kippe. Der mitreißende Roman des zweifachen Pulitzer-Preisträgers Colson Whitehead ist Familiensaga, Soziographie und Ganovenstück, vor allem aber eine Liebeserklärung an New Yorks berühmtestes Viertel.

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Über das Buch

Eigentlich würde Ray Carney am liebsten ohne Betrügereien auskommen, doch die Einkünfte aus seinem Laden reichen nicht aus für den Standard, den die Schwiegereltern erwarten. Cousin Freddy bringt gelegentlich eine Goldkette vorbei, die Ray bei einem Juwelier versetzt. Doch was tun mit dem Raubgut aus dem Coup im legendären »Hotel Theresa« im Herzen Harlems, nachdem Freddy sich verdünnisiert hat? Als Polizei und Gangster Ray in seinem Laden aufsuchen, steht sein waghalsiges Doppelleben auf der Kippe. Der mitreißende Roman des zweifachen Pulitzer-Preisträgers Colson Whitehead ist Familiensaga, Soziographie und Ganovenstück, vor allem aber eine Liebeserklärung an New Yorks berühmtestes Viertel.

Colson Whitehead

Harlem Shuffle

Roman

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Der Laster

Dorvay

Es reicht

Für Beckett

Der Laster

1959

»Was krumme Dinger anging, war Carney eher ein kleines Licht …«

1

Für den Raubüberfall holte ihn sein Cousin Freddie eines heißen Abends Anfang Juni ins Boot. Ray Carney hatte einen seiner umtriebigen Tage — uptown, downtown, quer durch die City. Hielt die Maschine am Laufen. Als Erstes in die Radio Row, um die letzten drei Musiktruhen, zwei RCAs und eine Magnavox, loszuwerden und den Fernseher zu holen, den er dort gelassen hatte. Die Radios hatte er aufgegeben, hatte seit anderthalb Jahren keins mehr verkauft, ganz gleich wie sehr er mit dem Preis runtergegangen war und gebettelt hatte. Jetzt beanspruchten sie im Keller Platz, den er für die neuen Ruhesessel brauchte, die nächste Woche von Argent reinkamen, und für alles, was er heute Nachmittag aus der Wohnung der toten Lady mitnahm. Drei Jahre zuvor waren die Radios noch Spitzenprodukte gewesen; jetzt verhüllten gepolsterte Decken ihre glatten, mit Ledergurten an der Ladefläche festgezurrten Mahagonigehäuse. Der Pick-up hüpfte über die unselige Fahrspur des West Side Highway.

Erst heute Morgen hatte die Tribune wieder einen Artikel darüber gebracht, dass die Stadt die Hochstraße abreißen lassen wollte. Schmal und mit minderwertigem Kopfsteinpflaster belegt, war sie von Anfang an Flickwerk gewesen. An den besten Tagen ging es dort nur Stoßstange an Stoßstange vorwärts, ein erbitterter, mit Gehupe und Flüchen geführter Streit, und an Regentagen waren die Schlaglöcher tückische Lagunen, ein einziges trostloses Schwappen. Letzte Woche war ein Kunde in den Laden spaziert, den Kopf eingewickelt wie bei einer Mumie — von einem heruntergefallenen Stück Geländer getroffen, während er unter dem verdammten Ding durchging. Sagte, er würde deswegen klagen. Carney sagte: »Das ist Ihr gutes Recht.« In der Gegend der 23rd Street sackten die Räder des Pick-ups in einen Krater, und er dachte schon, eine der RCAs würde von der Ladefläche in den Hudson springen. Er war erleichtert, als er sich ohne Zwischenfall an der Duane Street verdrücken konnte.

Carneys Abnehmer in der Radio Row hatte sein Geschäft auf halber Länge der Cortlandt Street, in einer Nebenstraße der Greenwich, mittendrin im Getümmel. Er fand eine Parklücke vor Samuel’s Amazing Radio — REPARATUR ALLER MARKEN — und ging nachsehen, ob Aronowitz da war. Letztes Jahr war er zweimal die ganze Strecke hierhergekommen, nur um festzustellen, dass der Laden mitten am Tag geschlossen hatte.

An den vollgestopften Schaufenstern vorbeizugehen war noch vor ein paar Jahren so gewesen, als drehte man am Skalenknopf eines Radios — ein Laden plärrte aus Trichterlautsprechern Jazz auf die Straße, der nächste deutsche Symphonien, dann Ragtime und so weiter. S & S Electronics, Landy’s Top Notch, Steinway the Radio King. Inzwischen hörte er, als verzweifelten Köder für die Teenager-Szene, häufiger Rock and Roll und fand die Auslagen vollgestopft mit Fernsehgeräten, den neuesten Wundern von DuMont, Motorola und den anderen. Truhen in hellem Hartholz, die schlanken, neuen Koffergeräte und Hi-Fi-Kombinationen mit Bildröhre, Tuner und Plattenteller in ein und demselben Gehäuse, sehr schick. Nicht verändert hatte sich Carneys Slalom über den Bürgersteig, um die wuchtigen Kästen und Eimer voller Vakuumröhren, Audio-Transformatoren und Kondensatoren herum, die Tüftler aus dem gesamten Großraum New York anlockten. Jedes Teil, das Sie brauchen, sämtliche Marken, sämtliche Modelle, günstige Preise.

Ein Loch klaffte in der Silhouette, wo die Ninth-Avenue-Hochbahn verkehrt hatte. Dieses verschwundene Ding. Als er klein gewesen war, hatte sein Vater ihn ein, zwei Mal auf einem seiner geheimnisvollen Gänge dorthin mitgenommen. Manchmal meinte Carney immer noch, hinter der Musik und dem Getöse der Straße die Bahn rumpeln zu hören.

Eine Juwelierlupe in die Augenhöhle geklemmt, frickelte Aronowitz, über die Thekenvitrine gebeugt, an einem seiner elektrischen Teile. »Mr. Carney.« Er hustete.

Es gab nicht viele Weiße, die ihn Mister nannten. Jedenfalls nicht downtown. Als Carney das erste Mal geschäftlich in die Row gekommen war, hatten die weißen Angestellten so getan, als sähen sie ihn nicht, und Hobbybastler bedient, die nach ihm gekommen waren. In einem Laden nach dem anderen hatte er sich geräuspert, hatte durch Gesten auf sich aufmerksam gemacht und war ein schwarzer Geist geblieben, hatte die üblichen Demütigungen einstecken müssen, bis er die schwarze Eisentreppe zu Aronowitz & Söhne hinaufgestiegen war und der Besitzer gefragt hatte: »Kann ich Ihnen helfen, Sir?« Kann ich Ihnen helfen, wie in Kann ich Ihnen helfen?. Im Gegensatz zu Was hast du hier zu suchen?. Ray Carney hatte im Lauf der Jahre ein Gespür für die verschiedenen Variationen entwickelt.

An jenem ersten Tag hatte Carney ihm gesagt, er habe ein Radio, das repariert werden müsse; er hatte gerade angefangen, nebenher mit gut erhaltenen gebrauchten Geräten zu handeln. Aronowitz hatte ihn unterbrochen, als er versucht hatte, das Problem zu erklären, und sich darangemacht, das Gehäuse aufzuschrauben. Bei nachfolgenden Besuchen hatte Carney sich die Worte gespart, die Radios lediglich vor den Maestro gestellt und ihn machen lassen. Der übliche Verlauf: müdes Seufzen und Ächzen, während er das Problem gründlich untersuchte und dabei mit silbern blitzenden Werkzeugen hantierte. Sein Diagnometer prüfte Sicherungen, Widerstände; er maß Spannung, durchwühlte unbeschriftete Schubladen in den stählernen Aktenschränken entlang der Wände des düsteren Ladens. Wenn etwas Großes anlag, wirbelte Aronowitz auf seinem Stuhl herum und wuselte unter weiterem Ächzen in die hintenliegende Werkstatt. Er erinnerte Carney an ein Eichhörnchen im Park, das Hals über Kopf verlorenen Nüssen hinterherflitzte. Vielleicht verstanden die anderen Eichhörnchen der Radio Row dieses Verhalten, aber für ihn, den Normalsterblichen, war es animalische Tollheit.

Oft ging Carney auf ein Käse-Schinken-Sandwich die Straße hinunter, damit der Mann in Ruhe arbeiten konnte.

Aronowitz gelang es stets, die Reparatur auszuführen, das Teil aufzutreiben. Die neue Technik jedoch ärgerte den Alten, und bei Fernsehgeräten ließ er Carney normalerweise am nächsten Tag oder auch in der nächsten Woche wiederkommen, sobald die neue Bild- oder Radioröhre eingetroffen war. Auf keinen Fall wollte er sich damit blamieren, dass er eine Straße weiter ging und einen Konkurrenten anhaute. So kam es, dass sich Carney an jenem Morgen dort einfand. Er hatte vorige Woche den 21-Zoll-Philco abgegeben. Wenn er Glück hatte, würde ihm der Alte die Radios abnehmen.

Carney trug eine der großen RCAs in den Laden und ging die nächste holen. »Normalerweise könnte der Junge Ihnen helfen«, sagte Aronowitz, »aber ich musste ihm die Arbeitszeit kürzen.«

Jacob, der Junge, ein griesgrämiger, pockennarbiger Teenager aus einer Mietskaserne in der Ludlow Street, arbeitete hier noch kein Jahr lang, soweit Carney sagen konnte. Das »& Söhne« auf dem Ladenschild war immer bloßer Anspruch geblieben — Aronowitz’ Frau war schon lange wieder zu ihrer Schwester nach Jersey gezogen —, aber Maulheldentum und Angeberei waren für Geschäfte der Radio Row ein Leitmotiv. Top of the City, House of Values, Cannot be Beaten. Jahrzehnte zuvor hatte der Elektronik-Boom das Viertel zu einem Schauplatz von Einwandererambitionen gemacht. Man eröffnete ein Geschäft, spulte seine Sprüche ab und arbeitete sich aus der Mietshausmisere heraus. Wenn es gut lief, eröffnete man eine Filiale, expandierte in den pleitegegangenen Laden nebenan. Übergab das Geschäft an seine Söhne und setzte sich in einer der neuen Vorstädte auf Long Island zur Ruhe. Wenn es gut lief.

Carney fand, Aronowitz sollte das Söhne-Dings aufgeben und sich eine schmissigere Bezeichnung zulegen: Atomic TV & Radio, Jet Age Electronics. Aber das wäre eine Umkehrung ihrer Beziehung, denn unter dieser Adresse war es Aronowitz, der sozusagen von Unternehmer zu Unternehmer Ratschläge erteilte, im Allgemeinen solche der Sorte »Arzt, hilf dir selbst«. Carney brauchte die Tipps des Alten zu Buchführungspraktiken und Warenplatzierung nicht. Sein Betriebswirtschaftsdiplom des Queens College hing in seinem Büro neben einem signierten Foto von Lena Horne.

Carney schaffte die drei Radios in den Laden. Auf den Bürgersteigen der Row war auch nicht mehr so viel los wie früher.

»Nein, die sind nicht kaputt«, sagte Carney, während Aronowitz seine Werkzeugrolle auseinanderklappte. Die Rolle bestand aus grünem Filz mit Steckfächern. »Ich dachte, Sie wollen sie vielleicht haben.«

»Nichts dran kaputt?« Als wäre etwas, das einwandfrei funktionierte, ein abwegiges Angebot.

»Ich habe mir gedacht, wo ich sowieso herkomme, um den Fernseher abzuholen, frage ich mal nach, ob Sie Interesse haben.« Einerseits: Warum sollte ein Radiomensch ein Radio brauchen? Aber andererseits hatte jeder Händler einen Nebenerwerb. Er wusste, das galt auch für Aronowitz. »Vielleicht zum Ausschlachten oder so?«

Aronowitz ließ die Schultern sinken. »Zum Ausschlachten. Ich habe zwar keine Kunden, Mr. Carney, aber Ersatzteile habe ich.«

»Sie haben mich, Aronowitz.«

»Ich habe Sie, Mr. Carney. Und Sie sind sehr zuverlässig.« Er erkundigte sich nach Carneys Frau und Tochter. Ein Kind unterwegs? Masel tov. Er fuhr mit dem Daumen an seinen schwarzen Hosenträgern hinunter und überlegte. Im Licht wallte Staub. »Ich kenne jemanden in Camden«, sagte Aronowitz, »der ist darauf spezialisiert. Mag RCAs. Vielleicht ist er interessiert. Oder auch nicht. Sie lassen sie da, und wenn Sie das nächste Mal kommen, sage ich Ihnen, was dabei herausgekommen ist.« Da war noch die Frage der Magnavox. Walnussgehäuse, Achtzehn-Zoll-Tieftöner, Collaro-Plattenwechsler. Und vor drei Jahren ein Spitzenprodukt. »Lassen Sie die auch da, wir schauen mal.«

Der Alte war schon immer kraftlos im Gesicht gewesen, mit ausgeprägten Hängebacken, schlaffen Ohrläppchen und Augenlidern, und kraftlos auch in seiner jämmerlichen Haltung. Als würden ihn, wenn er sich über die Geräte beugte, all die Stunden in sich einsaugen. Der Abwärtssog hatte sich in letzter Zeit beschleunigt, Aronowitz’ Unterwerfung unter die Gegebenheiten seines Lebens. Die Ware hatte sich verändert, die Kundschaft hatte sich in neue Geschöpfe verwandelt, und mit dem Anspruch war es auch nicht mehr sehr weit her. Aber er hatte auch den einen oder anderen Zeitvertreib, die ihn in diesen Dämmerzeiten beschäftigten.

»Ich habe Ihren Fernseher«, sagte er. Er hustete in ein verblichenes gelbes Taschentuch. Carney folgte ihm nach hinten.

Der Name des Geschäfts — markante Buchstaben in Goldfarbe auf dem Schaufenster — verhieß etwas Bestimmtes, der schäbige Ladenraum etwas anderes, und dieser Raum hier bot etwas Drittes, das vollkommen spirituell war. Die Atmosphäre war anders, trübe und doch ehrfurchtsvoll, der Lärm der Radio Row gedämpft. Zerlegte Receiver, Bildröhren in unterschiedlichen Größen, Eingeweide von Geräten lagen auf vollgepackten Metallregalen. In der Mitte des Raums erleuchtete ein Punktstrahler den Arbeitstisch, wo eine freie Stelle auf dem zernarbten Holz auf den nächsten Patienten wartete, drum herum säuberlich angeordnete Werkzeuge und klobige Messinstrumente. Fünfzig Jahre zuvor hatte es das meiste Zeug in diesem Raum noch gar nicht gegeben, war es bloß eine vage, am Rand der Einbildungskraft eines Erfinders umherhuschende Vorstellung gewesen — und plötzlich gab es solche Räume, wo Menschen die Geheimnisse dieser Dinge bewahrten.

Bis das nächste Ding kam.

Wo der Arbeitstisch des Jungen gestanden hatte, stand jetzt ein zusammenklappbares Feldbett, darauf eine karierte, zu einem S verknäuelte Wolldecke. Hatte er dort geschlafen? Während der Radiomann ihm voranging, sah Carney, dass er noch stärker abgenommen hatte. Er überlegte, sich nach seiner Gesundheit zu erkundigen, tat es jedoch nicht.

Neben der Eingangstür präsentierte Aronowitz eine staubige Kollektion von Transistorradios, doch die Stücke im Hinterzimmer unterlagen einem beständigeren Wechsel. Carneys Philco 4242 stand auf dem Boden. Freddie hatte ihn auf einer quietschenden Sackkarre in Carneys Laden bugsiert und geschworen, er sei in »Eins-a-Zustand«. An manchen Tagen verspürte Carney das Bedürfnis, bei einer Lüge seines Cousins nachzubohren, bis sie in sich zusammenfiel, dann wieder war seine Zuneigung so groß, dass die leiseste Regung von Misstrauen ihn beschämte. Als er den Fernseher angeschlossen und eingeschaltet hatte, belohnten ihn ein weißer Punkt in der Mitte der Bildröhre und ein gereiztes Brummen. Er fragte nicht, wo Freddie ihn herhatte. Er fragte nie. Die Fernseher verließen die Gebrauchtwarenabteilung rasch wieder, wenn Carney sie mit dem richtigen Preis versah.

»Noch im Karton«, sagte Carney.

»Was? Ach so, die da.«

Neben der Toilettentür befand sich ein Stapel von vier Silvertone-Fernsehern, niedrige Hellholztruhen, sämtliche Kanäle. Sears stellte sie her, und Carneys Kunden verehrten Sears von Kindesbeinen an, als ihre Eltern aus Katalogen bestellt hatten, weil die Weißen in ihren Heimatstädten im Süden ihnen nichts verkauften oder überhöhte Preise nahmen.

»Ein Mann hat sie gestern vorbeigebracht«, sagte Aronowitz. »Sind von einem Lastwagen gefallen, angeblich.«

»Die Kartons sehen gut aus.«

»Also kein sehr tiefer Fall.«

Hundertneunundachtzig im Einzelhandel, mit dem Harlem-Zuschlag von einem weißen Laden vielleicht nochmal zwanzig obendrauf; Wucherpreise wurden nicht nur südlich der Mason-Dixon-Line verlangt. Carney sagte: »Für einen davon hätte ich wahrscheinlich schon einen Interessenten.« Hundertfünfzig auf Ratenzahlung, und den Dingern würden Füße wachsen, und sie würden zum Laden rausmarschieren und dabei »The Star-Spangled Banner« singen.

»Zwei kann ich abgeben. Die Arbeit an dem Philco gebe ich gratis dazu. Das war bloß ein lockerer Anschluss.«

Sie kamen ins Geschäft. Auf dem Weg zur Tür hinaus fragte Aronowitz: »Können Sie mir helfen, die Radios nach hinten zu tragen? Der Laden soll möglichst vorzeigbar bleiben.«

Uptown nahm Carney die Ninth Avenue, weil er mit seinen neuen Fernsehern dem Highway nicht traute. Drei Radios weniger, drei Fernseher mehr — kein schlechter Start in den Tag. Er wies Rusty an, die Fernseher in den Laden zu tragen, und fuhr weiter zum Haus der toten Lady in der 141st Street. Sein Mittagessen waren zwei Hotdogs und ein Kaffee im Chock Full o’Nuts.

Broadway 3461 hatte einen kaputten Fahrstuhl. Das Schild hing schon eine ganze Weile da. Carney zählte die Stufen bis in den dritten Stock. Wenn er etwas kaufte und es zum Laster runterschleppte, wusste er gern, wie viele Stufen er auf dem Weg nach unten verfluchen musste. Im ersten Stock kochte jemand Schweinefüße und im zweiten, nach dem Geruch zu urteilen, alte Socken. Die ganze Aktion fühlte sich nach Zeitverschwendung an.

Die Tochter, Ruby Brown, ließ ihn ein. Das Haus hatte sich gesetzt, und die Tür von 4 G ratschte beim Öffnen über den Boden.

»Raymond«, sagte sie.

Er wusste nicht, wo er sie unterbringen sollte.

»Wir waren zusammen auf der Carver High School, ich war ein paar Jahre unter dir.«

Er nickte, als fiele es ihm wieder ein. »Mein Beileid.«

Sie bedankte sich und senkte einen Moment lang den Blick. »Ich bin hergekommen, um mich um alles zu kümmern, und Timmy James hat mir gesagt, ich soll dich anrufen.«

Wer das war, wusste er genauso wenig. Als er den Pick-up bekommen und angefangen hatte, ihn zu verleihen und dann Möbel zu kaufen, hatte er noch jeden gekannt. Inzwischen war er schon so lange im Geschäft, dass es sich außerhalb seines alten Kreises herumgesprochen hatte.

Ruby schaltete das Licht im Flur ein. Sie kamen an der Küchenzeile und an den beiden vom Flur abgehenden Zimmern vorbei. Die Wände waren zerschrammt, stellenweise bis auf den Putz zerkratzt — die Browns hatten lange hier gewohnt. Nichts als verschwendete Zeit. Wenn es um eine Haushaltsauflösung ging, hatten die Leute im Allgemeinen seltsame Vorstellungen davon, wonach er suchte. Als würde er jeden Plunder mitnehmen, die durchgesessene Couch mit kraus herausstehenden Sprungfedern, den Ruhesessel mit durchgeschwitzten Armlehnen. Er war nicht der Müllmann. Die guten Funde waren es wert, aber er verschwendete zu viel Zeit mit falschen Fährten. Wenn Rusty Verstand oder Geschmack hätte, könnte Carney solche Aufträge seinem Gehilfen überlassen, aber Rusty hatte weder das eine noch das andere. Würde irgendwelchen Kram anschleppen, der aussah, als hätten sich in der Rosshaarpolsterung Waschbären eingenistet.

Diesmal lag Carney falsch. Das helle Vorderzimmer ging auf den Broadway, und durchs Fenster stahl sich das Sirenengeräusch eines Krankenwagens. Die Essgruppe in der Ecke war aus den Dreißigern, abgestoßen und verfärbt, und der verblasste ovale Teppich zeigte Gebrauchsspuren, aber das Sofa und der Sessel waren in fabrikneuem Zustand. Heywood-Wakefield in dieser champagnerfarbenen Ausführung, auf die jetzt alle flogen. Und mit durchsichtigen Schonbezügen aus Vinyl.

»Ich wohne jetzt in D. C.«, sagte Ruby. »Ich arbeite in einem Krankenhaus. Aber ich habe meiner Mutter seit Jahren gesagt, sie soll die Couch loswerden, so alt war das Ding. Vor zwei Monaten habe ich ihr die beiden da gekauft.«

»D. C.?«, sagte er. Er zog den Reißverschluss der Plastikhülle auf.

»Mir gefällt es. Davon gib es dort weniger, weißt du?« Sie deutete in Richtung des Broadway-Chaos unten.

»Klar.« Er strich mit der Hand über das grüne Samtpolster: makellos. »Ist das von Mr. Harold’s?« Bei ihm, Carney, hatte sie das Sofa nicht gekauft, und Blumstein’s führte die Linie nicht, also musste es von Mr. Harold’s sein.

»Ja.«

»Gut gepflegt«, sagte Carney.

Nach erledigter Arbeit warf Raymond erneut einen Blick auf Ruby. Hatte ein graues Kleid an, war rundlich und mollig. Müde Augen. Trug die Haare jetzt in einem lockigen italienischen Schnitt, und dann ein Flimmern — Ruby Brown als Teenager mit stockdünnen Gliedern, zwei langen Indianerzöpfen und einer hellblauen Bluse mit Bubikragen. Sie steckte damals mit einer Clique fleißiger Mädchen zusammen. Strenge Eltern, dieser Typ.

»Stimmt, die Carver High School«, sagte er. Er fragte sich, ob man Hazel Brown schon beigesetzt hatte und wie es wohl war, an der Beerdigung der eigenen Mutter oder des eigenen Vaters teilzunehmen, was für ein Gesicht man bei solchen Gelegenheiten aufsetzte. Die Erinnerungen, die einem kamen, dieses kleine oder jenes große Ereignis, was man mit seinen Händen anfing. Seine beiden Eltern waren tot, und diese Erfahrung fehlte ihm, also machte er sich seine Gedanken. »Mein Beileid«, sagte er erneut.

»Sie hatte ein Herzproblem, hat der Arzt ihr letztes Jahr gesagt.«

Er war im vierten Jahr gewesen, sie im zweiten. Vor elf Jahren, 1948, als er damit zu tun gehabt hatte, sein Leben in den Griff zu bekommen. Sich zu etwas Vorzeigbarem aufzumöbeln. Niemand sah sich veranlasst, ihm dabei zu helfen, also musste er es allein tun. Lernen, wie man eine Mahlzeit kochte, die Rechnungen bezahlen, wenn Mahnungen kamen, eine Geschichte parat haben, wenn der Vermieter vorbeischaute.

Es gab eine Bande jüngerer Burschen, die ihm ständig im Nacken saßen, Rubys Klassenkameraden. Die rauen Kerle in seinem Alter ließen ihn zufrieden, sie kannten ihn von früher und ließen ihn in Ruhe, weil sie miteinander gespielt hatten, aber Oliver Handy und seine Gruppe, die waren von dieser wilden Sorte, waren Straße. Oliver Handy — zwei seit wer weiß wann ausgeschlagene Vorderzähne — ließ ihn nie vorbeigehen, ohne etwas anzufangen.

Oliver und seine Gruppe machten sich lustig über die Flecken auf seiner Kleidung, die nicht richtig passte, worüber sie sich ebenfalls lustig machten, sie sagten, er rieche wie ein Müllwagen. Wer war er damals gewesen? Dürr und schüchtern, alles, was aus seinem Mund kam, ein halbes Stottern. Im dritten Jahr schoss er fünfzehn Zentimeter in die Höhe, als wüsste sein Körper, dass er mal lieber aufholte, wenn er seine Erwachsenenaufgaben bewältigen wollte. Carney in der alten Wohnung in der 127th, keine Mutter, der Vater auf Fischzug oder dabei, seinen Rausch auszuschlafen. Morgens brach er zur Schule auf, schloss die Tür hinter den leeren Räumen und wappnete sich gegen das, was auch immer ihm bevorstand. Aber die Sache war die, als Oliver sich über ihn lustig machte — vor dem Süßwarenladen, im hinteren Treppenhaus der Schule —, da hatte er sich längst beigebracht, wie man einen Fleck richtig auswusch, eine Hose umsäumte, vor der Schule gründlich duschte. Oliver machte sich über den lustig, der er gewesen war, bevor er seinen Scheiß geregelt kriegte.

Der Sache setzte schließlich ein Ende, dass er Oliver ein Eisenrohr ins Gesicht knallte. Ein U-förmig gebogenes, wie vom Ausguss eines Spülbeckens. Das Rohr war, so kam es ihm vor, plötzlich in seinen Händen gewesen, aus dem Schutt des unbebauten Grundstücks Ecke Amsterdam und 135th, wo sie ihm auflauerten. Die Stimme seines Vaters: So macht man das mit einem Nigger, der einem blöd kommt. Er hatte ein schlechtes Gewissen, wenn er Oliver in der Schule sah, mit dick geschwollenem Gesicht und eingezogenem Schwanz. Später erfuhr er, dass sein Daddy Olivers Daddy bei irgendeiner Gaunerei mit gestohlenen Reifen übers Ohr gehauen hatte, und vielleicht erklärte das die ganze Sache.

Es war das letzte Mal, dass er gegen jemanden die Hand erhob. So wie er es sah, lehrte einen das Leben, dass man nicht so leben musste, wie es einen gelehrt worden war. Man kam von einem bestimmten Ort, aber wichtiger war, wo man landen wollte.

Ruby hatte sich für eine neue Stadt und Carey hatte sich für ein Leben in der Möbelbranche entschieden. Für eine Familie. Das lief zwar allem zuwider, was er als Kind gekannt hatte, aber es sagte ihm zu.

Er und Ruby quatschten über ihre frühere Schule, die Lehrer, die sie nicht gemocht hatten. Da gab es Überschneidungen. Sie hatte ein hübsches, rundes Gesicht, und wenn sie lachte, hatte er das Gefühl, dass D. C. eine gute Wahl gewesen war. Gab reichlich Gründe, sich aus Harlem zu verdrücken, wenn man es geschaukelt kriegte.

»Dein Vater hat in der Autowerkstatt um die Ecke gearbeitet«, sagte sie.

Miracle Garage hieß der Laden, in dem sein Vater manchmal arbeitete, wenn in seinem Hauptgeschäft Flaute herrschte. Stundenweise, regelmäßige Arbeit. Der Besitzer, Pat Baker, war ein Kumpan seines Vaters gewesen, ehe er den geraden Weg gegangen war. Oder vielmehr den weniger krummen; man konnte nicht behaupten, dass bei sämtlichen Fahrzeugen auf dem Gelände die Papiere in Ordnung waren. In der Werkstatt herrschte Fluktuation, wie Carney das nannte, genau wie bei Aronowitz. Und wie in seinem Laden. Ware kam rein und ging raus, wie die Gezeiten.

Pat hatte seinem Daddy noch von damals einiges zu verdanken und gab ihm Arbeit, wenn er welche brauchte. »Stimmt«, sagte Carney und wartete auf die kalte Dusche. Wenn jemand seinen Vater erwähnte, war das normalerweise die Einleitung zu einer anrüchigen Geschichte. Ich habe gesehen, wie ihn zwei Polizisten vor dem Finian’s weggeschleppt haben oder Er hat den Blödmann mit einem Mülleimerdeckel verdroschen. Dann musste er überlegen, was für ein Gesicht er aufsetzen sollte.

Aber sie erzählte keine schäbige Anekdote. »Die Werkstatt hat vor ein paar Jahren zugemacht«, sagte Ruby.

Sie einigten sich auf einen Preis für das Sofa und den dazu passenden Sessel.

»Was ist mit dem Radio?«, fragte sie. Es stand neben einem kleinen Bücherregal. Obendrauf hatte Hazel Brown eine rote Vase mit einem Strauß künstlicher Blumen gestellt.

»Das Radio muss ich leider dalassen«, sagte er. Er zahlte dem Hausmeister ein paar Dollar, damit er ihm half, das Sofa zum Laster hinunterzutragen; morgen würde er Rusty nach dem Sessel schicken. Vierundsechzig Stufen.

Schon ehe er den Mietvertrag übernommen hatte, und auch schon davor, war Carney’s Furniture ein Möbelgeschäft gewesen. Mit den fünf Jahren, die er nun schon da war, hatte Carney länger durchgehalten als Larry Early, eine abstoßende, für den Einzelhandel ungeeignete Persönlichkeit, und Gabe Newman, der sich mitten in der Nacht aus dem Staub gemacht und eine Schar wutschäumender Gläubiger, seine Familie, zwei Freundinnen und einen Basset zurückgelassen hatte. Ein abergläubischer Mensch wäre vielleicht zu dem Schluss gekommen, auf dem Standort laste ein Fluch, was Möbel anging. Der Laden machte nicht viel her, aber er könnte ein Vermögen einbringen. Carney fasste die gescheiterten Pläne und fehlgeschlagenen Träume seiner Vormieter als eine Art Dünger auf, der zum Gedeihen seiner eigenen Ambitionen beitrug, so wie eine umgestürzte Eiche, wenn sie verrottet, den Ahorn ernährt.

Die Miete war für die 125th Street angemessen, die Geschäftslage günstig.

Wegen der Junihitze hatte Rusty die beiden großen Ventilatoren laufen. Er hatte die lästige Angewohnheit, das Wetter in New York mit dem seiner Heimat Georgia zu vergleichen, seinen Geschichten zufolge ein Land monströser Regenfälle und mörderischer Hitze. »Das ist doch gar nichts.« Rusty bewahrte sich in allem ein kleinstädtisches Zeitgefühl, dem jede Dringlichkeit abging. Obwohl als Verkäufer kein Naturtalent, hatte er im Verlauf seiner zwei Jahre im Laden eine Form von Hinterwäldler-Charisma kultiviert, das einige von Carneys Kunden ansprach. Rustys frisch geglättetes Haar, rot und üppig — dank Charlie’s in der Lenox —, verlieh ihm ein neues Selbstbewusstsein, das zu einer Belebung des Geschäfts beitrug.

Glatte Haare hin oder her, an jenem Montag tat sich im Laden nichts. »Keine Menschenseele«, sagte Rusty, während sie Hazel Browns Sofa in die Gebrauchtwarenabteilung trugen, seine Stimme klagend, was Carney liebenswert fand. Auf alltägliche Umsatzverläufe reagierte Rusty wie ein Farmer, der den Himmel nach Gewitterwolken absucht.

»Es ist heiß«, sagte Carney. »Da haben die Leute anderes im Kopf.« Sie platzierten das Heywood-Wakefield an prominenter Stelle. Die Abteilung für gut erhaltene Gebrauchtware nahm zwanzig Prozent der Ausstellungsfläche ein — Carney kalkulierte auf den Zentimeter genau —, eine Steigerung von zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die Umstellung war langsam erfolgt, sobald Carney bemerkt hatte, welche Anziehungskraft die Gebrauchtware auf die Pfennigfuchser ausübte, die Zahltag-Flaneure, die Will-mich-nur-mal-umsehen-Typen, die hereinschneiten. Die neuen Sachen waren Spitzenklasse, er war Vertragshändler für Argent und Collins-Hathaway, aber das Zeug aus zweiter Hand besaß dauerhaften Reiz. Es war schwer, sich einen Handel entgehen zu lassen, wenn man vor der Wahl stand, auf eine Lagerlieferung warten zu müssen oder noch am selben Tag mit einem Ohrensessel zur Tür hinauszuspazieren. Carneys achtsames Auge bedeutete, dass sie schöne Möbel bekamen, und die gleiche Achtsamkeit verwandte er auch auf die Lampen, elektronischen Geräte und Teppiche aus zweiter Hand.

Vor dem Öffnen machte Carney gern einen Gang durch seinen Verkaufsraum. In jener halben Stunde Morgenlicht, das sich durch die großen Fenster und über die Bank auf der anderen Straßenseite ergoss. Er stellte eine Couch um, sodass sie nicht direkt an der Wand stand, rückte ein SONDERANGEBOT-Schild gerade, ordnete ein Arrangement von Herstellerprospekten. Seine schwarzen Schuhe klackten auf Holz, wurden vom plüschigen Nachgeben eines Teppichs gedämpft, setzten ihr Geräusch fort. Er hatte eine Theorie über Spiegel und deren Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf verschiedene Bereiche des Ladens zu lenken; bei seiner Inspektion überprüfte er sie. Dann öffnete er den Laden den Bewohnern von Harlem. Es war alles seins, sein merkwürdiges Königreich, zusammengescharrt dank seiner Findigkeit und seinem Fleiß. Sein Name vorn auf dem Schild, damit jeder Bescheid wusste, auch wenn es nachts wegen der ausgebrannten Birnen so einsam wirkte.

Nachdem er im Keller nachgesehen hatte, ob Rusty die Fernseher auch wirklich dorthin gestellt hatte, wo sie hingehörten, zog er sich in sein Büro zurück. Eigentlich achtete Carney auf ein professionelles Erscheinungsbild und trug ein Jackett, aber es war zu heiß. Er trug ein weißes, kurzärmeliges Hemd, die Sharkskin-Krawatte zwischen die mittleren Knöpfe gesteckt. Er hatte sie dorthin gesteckt, als er die Radios weggepackt hatte, damit sie nicht im Weg war.

An seinem Schreibtisch ging er die Zahlen durch: im Minus mit dem, was er vor Jahren für die Radios bezahlt hatte, im Minus mit dem Geld für die Fernseher und die Möbel der Brown-Lady. Der Barbestand war nicht erfreulich, falls die Hitze anhielt und die Kunden wegblieben.

Der Nachmittag schwand dahin. Die Zahlen hauten nicht hin, das taten sie nie. Weder an diesem noch an irgendeinem anderen Tag. Er überprüfte zweimal, wer mit seinen Raten im Verzug war. Zu viele. Er dachte schon eine ganze Weile darüber nach und hatte beschlossen, dem ein Ende zu machen: keine Ratenzahlung mehr. Die Kunden waren davon begeistert, klar, aber er konnte sich die Rückstände einfach nicht mehr leisten. Eintreiber zu beauftragen machte ihn fertig. Als wäre er ein Gangsterboss, der irgendwelche Schläger losschickte. Sein Vater hatte manchmal solche Arbeit übernommen, an die Haustür gehämmert, sodass alle auf der Etage nachsehen kamen, was das Theater sollte. Ab und zu auch nach einer Drohung Ernst gemacht … Carney bremste sich. Er hatte genügend säumige Schuldner und war, was Zahlungsaufschub und zweite Chance anging, leicht herumzukriegen. Im Augenblick hatte er einfach nicht das Geschäftsaufkommen, um sich zu verausgaben. Elizabeth würde ihn beruhigen und dafür sorgen, dass er deswegen kein schlechtes Gewissen hatte.

Dann war fast schon Ladenschluss. In Gedanken war er nur noch einen Häuserblock von zu Hause entfernt, als er Rusty sagen hörte: »Das ist einer unserer Verkaufsschlager.« Er schaute durch das Fenster über seinem Schreibtisch. Die ersten Kunden des Tages waren ein junges Paar — die Frau schwanger, der Mann angesichts von Rustys Sprüchen mit ernsthaftem Nicken. Kaufwillig, auch wenn ihnen das vielleicht nicht klar war. Die Frau saß auf dem neuen Heywood-Wakefield-Sofa und fächelte sich. Das Baby war jederzeit fällig. Sah aus, als könnte sie gleich hier auf den schmutzabweisenden Polstern entbinden.

»Kann ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten?«, fragte Carney. »Ray Carney, ich bin der Inhaber.«

»Ja, bitte.«

»Rusty, holst du der jungen Dame bitte ein Glas Wasser?« Er zog seine Krawatte zwischen den Knöpfen seines Hemdes hervor.

Er hatte Mr. und Mrs. Williams vor sich, Neuzugänge in der Lenox Avenue.

»Wenn Ihnen das Sofa, auf dem Sie da sitzen, bekannt vorkommt, Mrs. Williams, dann liegt das daran, dass es letzten Monat in der Donna Reed Show war. Die Szene in der Arztpraxis? Es hat richtig eingeschlagen.« Carney zählte die Merkmale der Melody-Produktlinie auf. Eleganter, zukunftsweisender Stil, wissenschaftlich geprüfte Bequemlichkeit. Rusty gab Mrs. Williams das Glas Wasser — er hatte sich Zeit gelassen, um Carney den Übergang in das Verkaufsgespräch zu erleichtern. Sie trank von dem Glas, legte den Kopf schräg und lauschte gedankenvoll entweder Carneys Platte oder dem Geschöpf in ihrem Leib.

»Um ehrlich zu sein«, sagte der Ehemann, »es ist so heiß, Sir, dass Jane sich einen Moment lang setzen musste.«

»Auf Sofas sitzt es sich gut — dafür sind sie schließlich da. Was machen Sie beruflich, Mr. Williams, wenn ich fragen darf?«

Er unterrichtete Mathematik an der großen Grundschule in der Madison, war das zweite Jahr dort. Carney log und sagte, er sei nie besonders gut in Mathe gewesen, worauf Mr. William davon anfing, wie wichtig es sei, die Kinder früh dafür zu interessieren, damit sie nicht davon eingeschüchtert würden. Auswendig gelernt, als stammte es aus irgendeinem neuen Unterrichtshandbuch. Jeder hatte seine Masche.

Mit dem Baby, ihrem ersten, war es in zwei Wochen so weit. Ein Junikind. Carney versuchte, sich irgendeine Volksweisheit über Junikinder einfallen zu lassen, kriegte es aber nicht hin. »Meine Frau und ich, wir erwarten im September unser zweites«, sagte er. Was stimmte. Er zog das Bild von May aus seiner Brieftasche. »Das ist ihr Geburtstagskleid.«

»Die Wahrheit ist«, sagte Mr. Williams, »es wird noch eine ganze Weile dauern, bis wir uns ein neues Sofa leisten können.«

»Macht nichts. Wenn ich Ihnen vielleicht alles zeigen dürfte«, sagte Carney. Nach einem Glas Wasser kein Interesse zu heucheln wäre unhöflich.

Ein richtiger Rundgang war schwierig, wenn eine Kundin japsend an einem Fleck verharrte. Der Ehemann schreckte vor der Ware zurück, wenn er ihr zu nahe kam, als zöge ihm die Nähe das Geld aus der Tasche. Carney erinnerte sich an diese Zeit, als alles gleichzeitig zu teuer und absolut notwendig gewesen war und er und Elizabeth sich als Frischverheiratete in der Welt behaupten mussten. Er hatte damals schon den Laden gehabt, die Farbe war noch frisch; kein Mensch glaubte, dass er damit Erfolg haben würde, außer ihr. Wenn sie ihn am Ende des Tages aufmunterte und ihm sagte, dass er es schaffen konnte, rätselte er über die seltsamen Dinge, die sie ihm bot. Zuneigung und Vertrauen, in welche Schublade er die stecken sollte, wusste er nicht.

»Dank des modularen Aufbaus nutzen Sie jeden Zentimeter Ihres Wohnraums«, sagte Carney. Er trommelte für die Vorteile von Argents neuer Couchgarnitur, an die er auch tatsächlich glaubte — dank der eleganten Sattlernähte und der sich verjüngenden Beine scheint es in der Luft zu schweben, sehen Sie —, während er mit den Gedanken woanders war. Diese jungen Leute, und wie sie sich abmühten. Schauspieler, schätzte er, taten das jeden Abend, sogar die besten, sprachen ihren Text, während sie den Streit vom vergangenen Abend noch einmal durchgingen oder plötzlich an fällige Rechnungen erinnert wurden, weil ein Mann in der fünften Reihe das gleiche Gesicht hatte wie der Mann von der Bank. Man müsste jeden Abend kommen, um einen Fehler in ihrer Darbietung zu entdecken. Oder selbst zu der Truppe gehören und zur gleichen Zeit seine eigenen Ablenkungen und Wiedererkennungseffekte erleben. Er dachte, es ist schwer, in dieser Stadt einen Start hinzukriegen, wenn man keine Hilfe hat —

»Zeigen Sie mal«, sagte Mrs. Williams. »Ich möchte einfach mal kurz sehen, wie es sich anfühlt.«

Sie war plötzlich aufgetaucht. Die drei standen vor dem Argent, die türkisfarbenen Polster wie kühles, an einem heißen Tag lockendes Wasser.

Sie hatte die ganze Zeit zugehört und an dem Glas genippt. Mrs. Williams zog die Schuhe aus und ließ sich gegen die geschwungene linke Armlehne sinken. Sie schloss die Augen und seufzte.

Sie einigten sich auf eine Anzahlung, die geringer war als üblich, und auf einen großzügigen Ratenzahlungsplan. Lachhaft, das Ganze. Nachdem sie den Papierkram erledigt hatten, schloss Carney hinter ihnen ab, um einen weiteren Rückfall zu verhindern. Die Metropolitan-Linie von Argent war eine vernünftige Anschaffung mit ihren chemisch behandelten Bouclé-Polstern und ihrem Airform-Kern, den vier von fünf Teilnehmern bei einem Blindversuch auf den ersten Platz in puncto Bequemlichkeit gewählt hatten. Sie würde lange halten, über das erste und auch das zweite Kind hinaus. Er war froh, dass er Rusty und Elizabeth nichts davon gesagt hatte, dass er keine Ratenzahlungen mehr gewähren wollte.

Rusty machte Feierabend, und dann war bloß noch er da. Heute mal wieder im Minus nach dem ganzen Geld, das er losgeworden war. Er wusste nicht, wo die Miete herkommen sollte, aber es war noch früh im Monat. Man wusste nie. Die Fernseher waren schick, und die beiden waren ein hübsches Paar, und es tat gut, etwas für sie zu tun, was kein Mensch für ihn getan hatte, als er jung gewesen war: behilflich sein. »Ich bin vielleicht pleite, aber ich bin kein krummer Hund«, sagte er sich, wie er es bei solchen Gelegenheiten oft tat. Wenn er sich so fühlte. Müde und ein bisschen verzweifelt, aber auch großherzig. Er machte das Licht aus.

2

»Ach so, Ruby — ja. Die war nett«, sagte Elizabeth. Sie reichte den Wasserkrug weiter. »Wir haben zusammen Volleyball gespielt.«

Ihrer gemeinsamen Geschichte entsprechend, erinnerte sich seine Frau zwar an die Tochter der toten Lady, hatte aber keinerlei Highschool-Erinnerungen an den Mann, den sie später heiraten sollte. Carney und seine Frau hatten zusammen Biologieunterricht und Gemeinschaftskunde gehabt, und eines Donnerstags, es schüttete wie aus Kübeln, hatte er sie unter seinem Regenschirm vier Häuserblocks weit gebracht, für ihn sogar ein Umweg. »Bist du sicher?«, fragte Elizabeth. »Ich dachte, das wäre Richie Evans gewesen.« Ihr Teenager-Gedächtnis gab ihn als Leerstelle wieder, wie die, die geblieben war, nachdem sie eine Papierpuppe für May ausgeschnitten hatte. Carney musste sich noch eine Retourkutsche auf ihre spöttische Bemerkung zu seiner damaligen Unauffälligkeit ausdenken: »Ich kann schließlich nichts dafür, dass du so warst, wie du warst.« Eines Tages würde sie ihm einfallen.

Zum Essen gab es Caw-Caw-Hähnchen. Das Rezept stammte aus dem McCall’s, aber May sprach es caw aus, und das blieb hängen. Es war fade — das Hauptgewürz schien Paniermehl zu sein —, aber sie aßen es gern. »Und wenn das Baby kein Hähnchen mag?«, fragte Elizabeth eines Abends. »Hähnchen mag jeder«, antwortete er. Sie hatten es gut hier, sie drei, von den wackeligen Rohrleitungen mal abgesehen. Der Neuankömmling würde die Dynamik im Haus vielleicht verändern. Vorderhand schmälerte nichts ihre Freude an Elizabeths Hauptgericht, das es heute Abend mit Reis und gedünsteten grünen Bohnen gab, im Topf treibend blasse Speckbänder.

May quetschte eine grüne Bohne zu Brei. Die Hälfte landete in ihrem Mund, der Rest auf ihrem getüpfelten Lätzchen. Unter ihrem Hochstuhl war das Linoleum von Flecken gesprenkelt. May geriet nach ihrer Mutter und ihrer Großmutter, hatte die großen, braunen Augen der Jones-Frauen, die alles aufnahmen und nur das preisgaben, was sie zu zeigen beschlossen. Außerdem hatte sie deren Willen — störrisch und unüberwindlich — geerbt. Man brauchte sich nur die Bohnen anzusehen.

»Alma früh nach Hause gegangen?«, fragte Carney. Da Elizabeth Bettruhe halten musste, kam ihre Mutter an den meisten Tagen vorbei, um ihr zur Hand zu gehen. Bei May war sie eine große Hilfe, in der Küche allerdings nicht. Allein die Tatsache, dass es sich bei dem Essen um eines der typischen Gerichte seiner Frau handelte, war Hinweis genug, außerdem schmeckte es noch gut, also konnte Alma nicht daran beteiligt gewesen sein. Elizabeths Mutter kochte so, wie sie das meiste tat, nämlich mit einer herzhaften Prise Bosheit. In der Küche machte sich das auf der Zunge bemerkbar.

»Ich habe ihr gesagt, dass wir sie heute nicht brauchen«, sagte Elizabeth. Ein Euphemismus dafür, dass Alma sich zu sehr einmischte, was eine Abkühlungsphase erforderte, nachdem Elizabeth der Kragen geplatzt war.

»Du hast nicht zu viel getan?«

»War bloß im Laden. Ich musste mal raus.«

Er würde deswegen kein Theater machen. Nachdem sie vor einem Monat in Ohnmacht gefallen war, hatte Dr. Blair ihr gesagt, sie solle sich Urlaub von der Arbeit nehmen, nicht so viel auf den Beinen sein. Ihr Körper solle sich der dringendsten Aufgabe widmen. Untätigkeit lief ihrem Charakter zuwider; je mehr sie um die Ohren hatte, desto wohler fühlte sie sich. Sie hatte sich mit ein paar Monaten Langeweile abgefunden, aber es machte sie wahnsinnig. Almas ständige Leier verschlimmerte alles nur noch.

Er wechselte das Thema. Im Laden habe sich den ganzen Tag nichts getan, außer am Ende, sagte er. »Sie wohnen in der Lenox Terrace. Er hat gesagt, er meint, dort seien noch ein paar Vierzimmerwohnungen frei.«

»Wie viel kosten sie?«

»Ich weiß nicht, mehr, als wir jetzt bezahlen. Ich dachte, ich schaue mir mal eine an.«

Einen Umzug hatte er seit über zwei Wochen nicht mehr aufs Tapet gebracht. Konnte nichts schaden, mal vorzufühlen. Ein Anlass von Almas ständiger Nörgelei war die Größe ihrer Wohnung, und in diesem Punkt war Carney ausnahmsweise einmal ihrer Meinung. In den Augen von Elizabeths Mutter zeigte sich auch an ihrer kleinen Wohnung, dass ihre Tochter sich mit weniger zufriedengegeben hatte, als sie eigentlich verdiente.

Alma verwendete das Wort zufriedengegeben so, wie die weniger Vornehmen Motherfucker verwendeten, nämlich als Meißel, um ein bestimmtes Gefühl freizulegen. Elizabeth hatte sich mit ihrer Stelle im Reisebüro zufriedengegeben, und das nach den umsichtigen Manövern ihrer Eltern, etwas Besseres aus ihr zu machen, eine aufrechte schwarze Ärztin, aufrechte schwarze Anwältin. Hotels und Flüge buchen — das war nicht das, was sie für sie vorgesehen hatten.

Sie hatte sich mit Carney zufriedengegeben, das war klar. Mit dieser Familie von ihm. Noch immer bekam Carney von Zeit zu Zeit mit, wie sein Schwiegervater ihn als »diesen Teppichhändler« bezeichnete. Elizabeth hatte ihre Eltern einmal in das Geschäft mitgenommen, um damit anzugeben, und das zufällig an einem Tag, an dem eine Lieferung von Moroccan Luxury gekommen war. Die Teppiche waren wunderschöne Stücke, leider konnte er sie nicht als Lagerware vorrätig halten, aber die Ausfahrer waren an jenem Tag ungepflegt und verkatert gewesen — das waren sie eigentlich immer —, und als Mr. Jones gesehen hatte, wie sie die Teppiche über die Rutsche in den Keller beförderten, hatte er geknurrt: »Was ist er, so eine Art Teppichhändler?« Dabei wusste er sehr wohl, welches Sortiment Carney führte, alles erstklassige Qualität. Brauchte nur downtown in einen weißen Laden zu gehen, dort gab es die gleichen Sachen. Moroccan Luxury wurde überall verkauft. Und davon mal abgesehen — was war eigentlich am Teppichhandel auszusetzen? Immer noch anständiger, als die Stadt um die Steuern zu bescheißen, Mr. Jones’ Spezialität, ganz egal wie er es schönredete.

Und ihre süße Elizabeth hatte sich mit einer dunklen Wohnung zufriedengegeben, mit einem hinteren Fenster, das in einen Luftschacht spähte, und einem vorderen, das der Hochbahn Nr. 1 schräg gegenüberlag. Immerzu kamen aus einer Richtung komische Gerüche und aus der anderen das Gerumpel von Zügen. Mitten in genau dem Milieu, von dem sie sie ihr Leben lang hatten fernhalten wollen. Oder wenigstens auf Abstand. Die Strivers’ Row, wo Alma und Leland Jones sie großgezogen hatten, war eine der schönsten Gegenden von Harlem, aber sie war eine kleine Insel — ein kurzer Spaziergang um die Ecke reichte, um die Bewohner daran zu erinnern, dass sie mittendrin waren, nicht darüberstanden.

An die Subway gewöhnte man sich. Das sagte er ständig.

Mit Almas Einschätzung ihrer Nachbarn war Carney nicht einverstanden, aber es stimmte, Elizabeth — sie alle — verdiente eine schönere Bleibe. Das hier kam dem, worin er groß geworden war, zu nahe.

»Hat keine Eile«, sagte Elizabeth.

»Sie hätten ihr eigenes Zimmer.«

In der Wohnung war es heiß. Während Elizabeth Bettruhe halten musste, blieb sie oft den ganzen Tag in ihrem Hausmantel, warum auch nicht? Es war eine der wenigen Freuden, die ihr geblieben waren. Sie trug das Haar in einem Knoten, aber ein paar Strähnen hatten sich gelöst und klebten an ihrer schweißbedeckten Stirn. Müde, die Haut an den Wangen unter dem Braun rot angelaufen. Dann ein Flimmern, wie am Vormittag bei Ruby, und er sah sie wie damals an jenem Regennachmittag unter seinem Schirm: mandelförmige dunkle Augen unter langen Wimpern, zart in ihrer rosa Strickjacke, die Mundwinkel hochgezogen, wenn sie einen ihrer seltsamen Scherze machte. Ohne sich der Wirkung bewusst zu sein, die sie auf andere hatte. Auf ihn, all die Jahre später.

»Was?«, sagte Elizabeth.

»Nichts.«

»Schau mich nicht so an«, sagte sie. »Die Mädchen können teilen.« Sie hatte beschlossen, dass das Baby ein Mädchen war. Da sie meistens recht hatte, trug sie diese Fifty-fifty-Prophezeiung mit einer gewissen Forschheit vor.

»Nimm was von ihrem Caw-Caw, dann wirst du schon sehen, wie gern sie teilt.« Zum Beweis langte er zu May hinüber und pflückte ein Stück Hähnchen von ihrem Teller. Sie schrie, bis er es ihr in den Mund steckte.

»Gerade hast du mir erzählt, du hättest einen flauen Tag gehabt, und jetzt willst du umziehen. Wir kommen schon zurecht. Wir können warten, bis wir es uns leisten können. Habe ich nicht recht, May?«

May lächelte, wer weiß worüber. Irgendein Jones-Mädchen-typisches Vorgehen, das sie geplant hatte.

Als Elizabeth aufstand, um das Bad für die Kleine einzulassen, sagte Carney: »Ich muss nochmal kurz weg.«

»Ist Freddie aufgetaucht?« Sie hatte darauf hingewiesen, dass er nur dann nochmal kurz weg sagte, wenn er sich mit seinem Cousin traf. Er hatte versucht, seine Formulierung zu variieren, es jedoch aufgegeben.

»Er hat bei Rusty eine Nachricht hinterlassen, dass er mich sehen will.«

»Was treibt er denn so?«

Freddie hatte sich rar gemacht. Gott weiß, in was er die Pfoten drinhatte. Carney zuckte die Achseln und gab den beiden einen Abschiedskuss. Er brachte den Müll nach draußen, kleckerte den ganzen Weg bis zum Bürgersteig fettige Flecken.

Carney nahm den langen Weg zum Nightbirds. So wie der Tag gewesen war, hatte er Lust bekommen, sich das Gebäude anzusehen.

Diese erste Hitzewelle des Jahres war ein Probelauf für den bevorstehenden Sommer. Alle ein bisschen eingerostet, aber das kam schon wieder, ihre Partien in der Symphonie und die ihnen zugewiesenen Soli. An der Ecke drehten zwei weiße Polizisten fluchend den Hydranten wieder zu. Kinder waren seit Tagen durch den Strahl gerannt. Fadenscheinige Decken säumten Feuertreppen. Die Aufgänge wimmelten von Männern in Unterhemden, die Bier tranken und quatschten, zum Lärm von Transistorradios, aus denen sich zwischen den Songs die DJs zu Wort meldeten wie Freunde mit schlechten Ratschlägen. Alles, um die Rückkehr in brütend heiße Zimmer hinauszuzögern, zu den kaputten Spülbecken und verklebten Fliegenfängern, dem ganzen Kram, der einen daran erinnerte, wo man hingehörte. Unsichtbar auf den Dächern, zeigten die Bewohner von Teerstränden auf die Lichter von Brücken und nächtlichen Flugzeugen.

In letzter Zeit hatte es eine Menge Überfälle auf offener Straße gegeben, eine alte Lady mit ihren Einkäufen, die eins auf den Kopf kriegte, die Art von Nachrichten, über die sich Elizabeth aufregte. Er nahm eine gut beleuchtete Strecke zum Riverside Drive. Er ging um den Tieman Place herum, und da war es auch schon. Diesen Monat hatte sich Carney für Riverside 528 entschieden, sechs Stockwerke aus rotem Backstein mit schicken weißen Gesimsen. Auf der Dachlinie steinerne Falken oder Habichte, die die menschlichen Gestalten unten beobachteten. Zurzeit bevorzugte er die Wohnungen im dritten Stock oder höher, nachdem ihn jemand darauf hingewiesen hatte, dass man von weiter oben über die Bäume des Riverside Park hinwegsah. Daran hatte er gar nicht gedacht. Also: Diese Wohnung im dritten Stock von Riverside Drive 528, in seiner Vorstellung ein schönes, aus sechs Zimmern bestehendes Bienenhaus, ein richtiges Esszimmer, zwei Bäder. Ein Hausbesitzer, der an schwarze Familien vermietete. Die Hände auf der Fensterbank, würde er an solchen Abenden auf den Fluss hinausblicken, die Stadt hinter sich, als existierte sie gar nicht. Dieses rauschende, wehklagende Ding aus Menschen und Beton. Oder sie existierte doch, und er stand da, während sie gegen ihn anbrandete, hielt das alles durch schiere Charakterstärke im Zaum. Er wurde damit fertig.

Riverside, wo sich das ruhelose Manhattan endlich doch verausgabt fand, seine gierigen Hände außerstande, über den Park und den heiligen Hudson hinauszugreifen. Eines Tages würde er am Riverside Drive wohnen, in diesem ruhigen, sanft geneigten Abschnitt. Oder zwanzig Blocks weiter nördlich, in einem der großen neuen Apartmenthäuser, in einer Wohnung mit einem hohen Buchstaben, J oder K. All die Familien hinter den Türen zwischen ihm und dem Fahrstuhl, freundlich oder nicht, sie wohnten am selben Ort, keine besser oder schlechter, sie waren alle auf derselben Etage. Oder weiter südlich, zwischen der 90th und der 100th, in einem der stattlichen Vorkriegshäuser oder in einer Kalksteinfestung in der Gegend der 105th, die dahockte wie eine störrische alte Kröte. Wenn er das große Los zog.

Carney ging abends auf Erkundung, überprüfte die Flucht der Gebäude aus unterschiedlichen Winkeln, spazierte über die Straße, ließ den Blick nach oben wandern, spekulierte über die Aussicht bei Sonnenuntergang, entschied sich dann für ein Haus und darin für eine einzelne Wohnung. Die mit den blauen Fensterdekorationen oder die mit dem halb heruntergelassenen Rollo, dessen Schnur wie ein unfertiger Gedanke herabbaumelte. Flügelfenster. Unter diesen breiten Traufen. Er malte sich die Szenen im Inneren aus: die zischenden Heizkörper, den Wasserfleck an der Decke, wo der komische Mieter eine Etage höher das Bad einlaufen ließ, und der Eigentümer unternahm deswegen einfach nichts, aber das war schon in Ordnung. Es war schön. Er hatte es verdient. Bis er die Wohnung überhatte und seine Suche nach dem nächsten Apartment fortsetzte, das seiner Aufmerksamkeit wert war, die Avenue rauf oder runter.

Eines Tages, wenn er das Geld hatte.

Die Atmosphäre im Nightbirds war immer so wie fünf Minuten nach einem großen Krach, ohne dass einem jemand sagte, was passiert war. Alle in ihren neutralen Ecken, wo sie K. o. und Tiefschläge durchspielten und, zu spät, Paraden ausheckten. Man wusste nicht, worum es gegangen war oder wer gewonnen hatte, bloß dass niemand darüber reden wollte, alle schossen bloß Blicke und kneteten den Groll in ihren Fäusten. In seiner Blütezeit war der Laden ein Tummelplatz für allerlei Zwielichtiges gewesen — an jenem Tisch irgendeine Spezies von Schwindlern, am nächsten ihre Bosse und dazwischen das Gewimmel der Gimpel. Sperrstunde hieß gewahrte Geheimnisse. Jedes Mal wenn Carney über die Schulter blickte, runzelte er die Stirn über den schäbigen Pomp. Rheingold-Bier vom Fass, Rheingold-Neonreklame an zwei, drei Stellen an der Wand, die Brauerei versuchte seit einiger Zeit, auf dem Markt der Schwarzen Fuß zu fassen. Die Risse in den roten Vinylbezügen der alten Bänke waren so steif und scharf, dass man sich daran schneiden konnte.

Weniger windig nach dem Wechsel in der Geschäftsführung, das musste Carney zugeben. Die Stadt seines Vaters verschwand allmählich. Letztes Jahr hatte Bert, der neue Besitzer, die Nummer des Bezahltelefons ändern lassen und damit eine Unmenge halbseidener Geschäfte und Alibis unterminiert. Früher standen Männer ohne Geld wie geprügelte Hunde gebeugt am Telefon und warteten auf das Klingeln, mit dem ihre Pechsträhne ein Ende haben würde. Bert ließ einen neuen Deckenventilator einbauen und schmiss die Nutten raus. Die Zuhälter waren okay, die gaben gutes Trinkgeld. Er hängte das Darts-Brett ab, dies Letztere eine unerfindliche Neuerung, bis Bert erklärte, sein Onkel habe in der Army »ein Auge verloren«. Er hängte stattdessen ein Bild von Martin Luther King Jr. auf, drum herum eine schmuddelige Gloriole im Umriss des vorherigen Wandschmucks.

Einige Stammgäste verzogen sich in die Bar ein paar Häuser weiter, aber Bert und Freddie verstanden sich auf Anhieb, denn Freddie war ein Naturtalent darin, die Verhältnisse einzuschätzen und sich entsprechend anzupassen. Als Carney hereinkam, unterhielten sich sein Cousin und Bert gerade über die Rennen des Tages und wie sie gelaufen waren.

»Ray-Ray«, sagte Freddie und umarmte ihn.

»Wie geht’s denn so, Freddie?«

Bert nickte ihnen zu, wurde dann stumm und taub und tat so, als überprüfte er, ob vorn genug Rye da war.

Freddie machte einen gesunden Eindruck, wie Carney zu seiner Erleichterung sah. Er trug ein orangefarbenes Camp Shirt mit blauen Streifen und die schwarze Hose von seinem kurzlebigen Auftritt als Kellner vor ein paar Jahren. Er war schon immer schlank gewesen und wurde, wenn er nicht auf sich aufpasste, rasch auf ungesunde Art dünn. »Nun schau dir meine beiden Hänflinge an«, hatte Tante Millie immer gesagt, wenn sie vom Spielen auf der Straße ins Haus kamen. Wenn Carney seinen Cousin nicht gesehen hatte, dann hieß das auch, dass Freddie sich nicht bei seiner Mutter hatte blicken lassen. Er wohnte immer noch bei ihr in seinem alten Zimmer. Sie sorgte dafür, dass er nicht vergaß zu essen.

Sie waren Cousins, von fast aller Welt fälschlich für Brüder gehalten, aber an vielen Persönlichkeitsmerkmalen zu unterscheiden. Wie etwa gesunder Menschenverstand. Carney besaß welchen. Freddies gesunder Menschenverstand rutschte ihm sehr leicht durch ein Loch in der Hosentasche — er behielt ihn nie lang. Der gesunde Menschenverstand sagte einem beispielsweise, man solle keinen Job bei der Zahlenlotterie von Peewee Gibson annehmen. Er sagte einem außerdem, dass es, wenn man einen solchen Job annahm, im eigenen Interesse lag, ihn nicht zu vermasseln. Freddie hatte beides getan und irgendwie trotzdem seine Finger behalten. Glück machte wett, was ihm in anderer Hinsicht fehlte.

Freddie äußerte sich nur vage darüber, wo er gewesen war. »Bisschen Arbeit, bisschen untergekrochen.« Arbeit hieß für ihn irgendein krummes Ding, »untergekrochen« bedeutete eine Frau mit einem anständigen Job und einem vertrauensseligen Wesen, die, was Indizien anging, keine allzu geschickte Detektivin war. »Wie läuft der Laden?«

»Wird sich schon berappeln.«

Sie tranken Bier. Freddie fing mit seiner Schwärmerei für das neue Soul-Food-Restaurant ein Stück weiter an. Carney wartete darauf, dass er damit herausrückte, was er auf dem Herzen hatte. Es brauchte Dave »Baby« Cortez in der Musikbox mit diesem verdammten Orgelstück, laut und irre. Freddie beugte sich vor. »Du hast mich doch schon ab und zu von diesem Nigger reden hören — Miami Joe?«

»Was macht er, Zahlenlotterie?«

»Nein, er ist der Typ in diesem lila Anzug. Mit dem Hut.«

Carney meinte sich vielleicht an ihn zu erinnern. Immerhin waren lila Anzüge in der Gegend keine Seltenheit.

Miami Joe hatte es nicht mit Zahlenlotterie, er drehte Dinger, sagte Freddie. Hatte letzte Weihnachten in Queens einen Laster voller Staubsauger hochgenommen. »Dieses Fisher-Ding damals, das war angeblich auch er.«

»Was war das?«

»Er hat im Gimbels einen Tresor geknackt«, sagte Freddie. Als müsste Carney das wissen. Als hätte er die Criminal Gazette oder so was abonniert. Freddie war enttäuscht, fuhr jedoch fort, Miami Joe hochzujubeln. Er hatte ein großes Ding vor, und er hatte Freddie deswegen angesprochen. Carney runzelte die Stirn. Bewaffneter Raubüberfall war komplett verrückt. Früher hatte sein Cousin von so großen Sachen die Finger gelassen.

»Es geht um Bargeld und einen Haufen Schmuck, den man dann absetzen muss. Sie haben mich gefragt, ob ich jemanden dafür weiß, und ich habe gesagt, ich weiß genau den Richtigen.«

»Wen denn?«

Freddie hob die Augenbrauen.

Carney schaute zu Bert hinüber. Könnte man glatt in einem Museum aufhängen — der Barkeeper war ein dickbäuchiges Inbild von »Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen«.

»Du hast denen meinen Namen genannt?«

»Musste ich doch, sobald ich gesagt hatte, ich weiß jemanden.«

»Du hast denen meinen Namen genannt. Du weißt doch, dass ich so was nicht mache. Ich verkaufe Einrichtungsgegenstände.«

»Hab keine Klagen gehört, als ich dir letzte Woche den Fernseher gebracht habe.«

»Der war in gutem Zustand. Gab keinen Grund zur Klage.«

»Und die anderen Sachen, nicht bloß Fernseher. Du hast nie gefragt, woher die kamen.«

»Das geht mich nichts an.«

»Kein einziges Mal hast du gefragt — und ich habe dir oft Sachen gebracht, Mann —, weil du genau weißt, woher sie kommen. Verschon mich jetzt bloß mit: ›Du meine Güte, Officer, das ist mir völlig neu.‹«

Wenn man es so formulierte, könnte ein außenstehender Beobachter auf die Idee kommen, dass Carney ziemlich oft mit gestohlenen Waren handelte, aber das sah er ganz anders. Es gab einen natürlichen Strom ein- und aus- und durch das Leben von Menschen gehender Waren, von hier nach dort, eine Fluktuation von Eigentum, und Ray Carney erleichterte diese Fluktuation. Als Zwischenhändler. Völlig legal. Jeder, der sich seine Bücher ansah, käme zu dem gleichen Schluss. Der Zustand seiner Bücher war für Carney eine Frage des Stolzes, den er kaum je mit anderen teilte, weil offenbar niemand sonderlich interessiert war, wenn er von seinem Betriebswirtschaftsstudium und von den Kursen erzählte, in denen er sich hervorgetan hatte. Wie zum Beispiel Buchführung. Das erzählte er seinem Cousin.

»Zwischenhändler. So was wie ein Hehler.«

»Ich verkaufe Möbel.«

»Mach mal halblang, Nigger.«

Es stimmte, dass sein Cousin ab und zu mal eine Halskette vorbeibrachte. Oder ein, zwei Uhren, erstklassige Ware. Oder ein paar Ringe in einer Silberschatulle mit eingravierten Initialen. Und es stimmte, dass Carney in der Canal Street einen Partner hatte, der diesen Stücken auf die nächste Etappe ihrer Reise verhalf. Ab und zu. Jetzt, wo er alle diese Gelegenheiten zusammenzählte, kamen mehr zusammen, als er gedacht hatte, aber darum ging es nicht. »Jedenfalls hat es nichts mit dem zu tun, wovon du da redest.«

»Du weißt gar nicht, was du draufhast, Ray-Ray. Hast du noch nie gewusst. Deswegen hast du auch mich.«

Ein paar Ganoven mit Kanonen, und was sie sich mit diesen Kanonen holten, war verrückt. »Das ist was anderes, als bei Mr. Nevins Süßigkeiten zu klauen, Freddie.«

»Es geht nicht um Süßigkeiten«, sagte Freddie. Er lächelte. »Sondern um das Hotel Theresa.«

Zur Tür hereingetaumelt kamen zwei Typen, die sich in den Haaren hatten. Bert griff nach dem Baseballschläger, den er neben der Kasse liegen hatte.

Der Sommer war nach Harlem gekommen.

3

Eigentlich waren ihm die Tische zur Straße hin lieber, aber im Chock Full o’Nuts war viel los. Vielleicht eine Tagung im ersten Stock. Carney hängte seinen Hut an die Garderobe und setzte sich an den Tresen. Sandra war mit ihrer Kanne auf Streife und goss ihm eine Tasse ein. »Was kann ich dir noch bringen, Baby?«, fragte sie. In jüngeren Jahren hatte sie in den Spitzenrevuen getanzt, im Club Baron und im Savoy, Solotänzerin im Apollo. So wie sie über das billige graue Linoleum glitt, würde man meinen, sie tanzte immer noch professionell. Das Showbusiness hatte sie jedenfalls nicht aufgegeben, denn als Kellnerin arbeitete man in einem Beruf, in dem man auch für die billigsten Plätze spielen musste.

»Bloß den Kaffee«, sagte er. »Wie war der Besuch deines Sohns?« Das Chock Full o’Nuts gehörte zu seinem Morgenprogramm, seit er das Geschäft eröffnet hatte.

Sie sog an den Zähnen. »Gekommen ist er immerhin. Nicht, dass ich ihn zu Gesicht gekriegt hätte. Hat die ganze Zeit mit seinen Freunden zusammengesteckt.« Sie ließ die Kanne baumeln, ohne einen Tropfen zu verschütten. »Hat mir eine Nachricht hinterlassen.«

Die Hitzewelle hielt an, zum Leidwesen aller. Die heiße Luft aus der Küche machte es noch schlimmer. Von seinem Hocker aus hatte Carney einen Blick auf die Seventh Avenue, wo der Hoteleingang von abreisenden Gästen wimmelte. Pagen bliesen in Pfeifen, in gestaffelter Folge fuhren gelbe Taxis vor.

An den meisten Tagen würde Carney das Geschehen vor dem Hotel gar nicht beachten, doch die Begegnung mit Freddie machte ihm zu schaffen. Er war mit seinem Cousin zusammen gewesen, als er die Bürgersteig-Choreographie vor dem Hotel Theresa zum ersten Mal gesehen hatte, bei einem Ausflug mit ihm und Tante Millie. Carney musste damals zehn oder elf gewesen sein, wenn sie auf ihn aufpasste. Diese unstete Phase in seinem Leben.

»Mal sehen, um wen da alle so viel Wirbel machen«, hatte Tante Millie gesagt. Sie hatte sie zu Eiscreme-Sodas ins Thomforde eingeladen, um irgendetwas zu feiern — was, wusste Carney nicht mehr —, und sie waren auf dem Nachhauseweg. Die Menschenmenge vor dem blauen Vordach des Hotel Theresa zog sie an. Junge Männer in Hotel-Uniformen hielten Gaffer im Zaum, und dann fuhr der große Bus vor. Sie gingen hinüber, um es sich anzusehen.

Der rote Teppich vor dem Waldorf von Harlem war Schauplatz täglicher, manchmal auch stündlicher Spektakel, ob es sich nun um den Anblick des Schwergewichtschampions handelte, der Anhängern zuwinkte, während er in einen Cadillac stieg, oder um eine fix und fertige Jazzsängerin, die um drei Uhr morgens mit den Teufelsversen im Mund aus einem Taxi purzelte. Das Theresa hob die Rassentrennung 1940 auf, nachdem die von Juden und Italienern beherrschte Gegend gekippt war und zur Domäne von Einwanderern aus der Karibik und Schwarzen aus dem Süden wurde. Jeder, der uptown kam, hatte irgendeine Art von stürmischem Ozean überquert.

Der Geschäftsführung blieb keine andere Wahl, als ihre Türen zu öffnen, und wohlhabenden Schwarzen blieb keine andere Wahl, als dort abzusteigen, wenn sie die Luxusbehandlung wollten. Sämtliche berühmten schwarzen Sportler und Filmstars übernachteten dort, die Spitzensänger und Geschäftsleute, sie aßen im Orchid Room im zweiten Stock zu Abend und gaben Soireen im Skyline Ballroom. Von den Fenstern der Skyline in der zwölften Etage aus konnte man in die eine Richtung die Lichter der George Washington Bridge, in die andere die der Triborough Bridge und im Süden das Wahrzeichen des Empire State Building sehen. Obenauf. Dinah Washington, Billy Eckstine und die Ink Spots wohnten in der obersten Etage. So jedenfalls die Überlieferung des Hotels.

Jener Nachmittag im Thomforde mit seiner Tante stand im Zeichen der Rückkehr von Cab Calloways Bigband. Eine Public-Relations-Firma — oder ein Portier, der von einer Boulevardzeitung bezahlt wurde — hatte Fotografen einen Tipp gegeben, um für angemessenen Rummel zu sorgen. Der Name des Bandleaders schwang sich in riesigen weißen Buchstaben über die Seite des Tourneebusses, leicht fleckig, wo Weißbacken in irgendeinem Kuhkaff ihn mit Eiern beworfen hatten, hätte schlimmer sein können. Die Schaulustigen kreischten, als die Musiker, in ihren taubenblauen Anzügen und übergroßen Sonnenbrillen lässig und elegant, auf den Bürgersteig traten. Freddie stellte sich dazu — Leute, die sich schick anzogen, beeindruckten ihn schon damals. Cab kam erst später am Abend. Er hielt sich in D. C. eine Lady, die ein Händchen für bodenständiges Frühstück und andere frühmorgendliche Freuden hatte, jedenfalls dem Vernehmen nach.

Die Bigband betrat die Lobby in Hepcat-Formation, hintereinander, als erschienen sie auf der Bühne, denn dieser Auftritt war ebenso sehr ein Gig wie jedes ihrer abendlichen Konzerte, eine Zurschaustellung von Glamour, eine Bekräftigung schwarzer Exzellenz. Wenn die Show vorbei war, zerstreute sich das Publikum, und auf dem Bürgersteig kehrte Ruhe ein, bis die nächste Berühmtheit landete. Tante Millie las gern laut Theresa-Artikel aus den Klatschspalten vor: Wie wir hören, sorgte ein bestimmter Casanova mit Samtstimme vergangene Woche im berühmten Hotel Theresa mit einer der kaffeebraunen Schönheiten des Savoy für ziemlichen Rabatz. Anscheinend wollte seine Frau ihn zum Geburtstag überraschen und blies dem kleinen Törtchen sämtliche Kerzen aus … Carney wohnte nach dem Tod seiner Mutter ein paar Jahre lang bei seiner Tante und Freddie. Er war in der Küche, als seine Tante angesichts der Berichterstattung des Courier über die Ankunft der Calloway-Bigband begeistert aufkreischte, obwohl der Bericht selbst sie nicht überzeugte. »Ich glaube nicht, dass Hunderte von Menschen da waren, oder findet ihr?«

An dem Abend, an dem Carney den Mietvertrag für den Laden unterschrieb, veranstaltete das Filmstudio Twentieth Century-Fox seine Premierenparty für Carmen Jones im Hotel. Drei Blocks weiter auf der Seventh Avenue kippten und schwenkten die wuchtigen Scheinwerferstrahlen. Der Verkehr auf der 125th war ein hupendes Gedränge, mittendrin wütend fuchtelnde Cops. Das weiße Licht, das um die Ecke kam, war so hell, dass es einem vorkam, als hätte die Erde sich aufgetan, als wäre irgendein wundersamer Ausbruch im Gang. Um Carneys neue Vereinbarung mit Salerno Properties Inc. wurde weniger Trara gemacht. Sie schaffte es nicht in die Zeitungen, doch er zog es vor zu glauben, dass sie auf ihre Weise auch bedeutsam war. Als gälten alle diese hellen Lichter ihm.