Heiner - Fritz Stiegler - E-Book

Heiner E-Book

Fritz Stiegler

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Beschreibung

Heiners Welt reicht vom Stall bis zum Ackerrand, doch er will hoch hinaus. Einmal einen Alpengipfel besteigen und in Afrika beim Aufbau der Landwirtschaft helfen. Dazu müsste er studieren und das kostet Geld - für einen einfachen Knecht in den 1920er Jahren eine aussichtslose Sache. Aber dann will er wenigstens Herr auf dem eigenen Bauernhof sein. Heiner ist bereit, dafür den höchsten Preis zu zahlen. Fritz Stiegler erzählt die Lebensgeschichte eines Knechts, der seine Liebe verkauft, um Bauer zu werden, und öffnet dabei das Tor zur großen Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Sprachgewaltig, berührend und gespickt mit valentineskem Humor.

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Seitenzahl: 441

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Fritz Stiegler

Heiner

Roman

Volk Verlag München

Heiner entstand unter Mitarbeit von Marion Voigt, folio · Lektorat | Texte | Agentur

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de/ abrufbar.

2. Auflage 2022

© 2021 by Volk Verlag München

Neumarkter Straße 23; 81673 München

Tel. 089 / 420 79 69 80; Fax: 089 / 420 79 69 86

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

Titelmotiv: Matthias Schäfer; mauritius images / Bernd Ritschel Alle Rechte, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks sowie der photomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

ISBN 978-3-86222-467-8

www.volkverlag.de

Inhalt

Ungenügend

Fort

Verliebt

Lumpiger Knecht

Feuer und Eis

Wintersdorf

Max

Anna

Wilhermsdorf

Kirchweih

Der Ausflug

Nürnberg

Bewerbung

Tina

Oktobernacht

Die Hochzeit

Der unrichtige Zeitpunkt

Keine Verwendung

Neunzehnhundert Siebenundvierzig

Neue Zeit

Pfingstgemeinde

Der Handel

Enzensbergerweg

Der Blasebalg

Im Hühnerstall

Der Unfall

Allein

Der Besuch

Hedwig und Jenny

Nachwort

Danke

»Unerfüllte Liebe ist schlimmer als ein eitriger Zahn.«

UNGENÜGEND

Regen prasselt auf das Dach des Bauernhauses. Die verwitterten Ziegel leiten das Wasser in die Rinne. Zwischen vermoosten Biberschwänzen dringt es in die Hohlräume und sammelt sich unter der Schräge der Schlafkammer. Kleine und große Tropfen reihen sich wie Perlen aneinander, lösen sich abwechselnd von den Brettern und tropfen in den steinernen Krug, den blechernen Teller, die giftgrüne Vase.

Heiner beobachtet die Tropfen. Er stellt den Plastikeimer zwischen Krug und Teller. Er wartet. Als der erste Tropfen am Boden des Eimers aufschlägt, schnauft er zufrieden. »Erwischt, erwischt, erwischt …«

Neben dem Blechteller bildet sich ein Rinnsal. Mit dem Fuß schiebt Heiner das Gefäß eine Weile hin und her, da wischt ein Schatten durch die offene Tür herein.

»Ja, Katz, bist auch schon da! Deine Bemberli warten auf dich.«

Das magere Tier schmiegt sich an sein Bein. Er streicht über das rot-weiß gescheckte Fell. »Musst mehr fressen.« Die Katze schnurrt, läuft zum Bett, springt hinein und rollt sich in die Kuhle zu ihren vier Jungen.

Heiner zieht den Stuhl an die Bettstatt und setzt sich. Am liebsten würde er sich zu den Katzen in die Kissen legen, müde, wie er ist.

Der Regen nimmt zu. Donner grollt und kracht und Wasser peitscht gegen das Sprossenfenster am Giebel. Heiner steht auf und geht an die Scheibe. Eine Wand aus grauer Gischt versperrt den Blick auf den nahen Waldrand. Er schlurft zurück und sinkt wieder auf den Stuhl, dann faltet er die Hände und betet das Vaterunser. Sein Blick wandert zur Katzenmutter, die mit ihren Kleinen spielt. Er bittet den Herrgott um Beistand für seine Katzen, die Hühner, Tauben und Schwalben und schließlich für seinen Acker und seinen Wald.

Die ersten dicken Tropfen landen auf dem Kopfkissen. Seufzend steigt er die Treppe hinab, zieht sich den Mantel über den Kopf und tritt auf den mit Feldsteinen gepflasterten Hof. Umständlich lockert er ein Stück Dachrinne über dem Wasserfass und nimmt es mit ins Haus.

Heiner lehnt die zwei Meter lange Rinne ans Treppengeländer und geht in den angrenzenden Kuhstall. Ständer aus Metall ragen aus dem Betonboden, daneben liegen rostige Ketten. Kälberstricke hängen an der Wand, von Spinnweben überzogen, die Mistgabel lehnt unter dem Stallfenster.

Er nimmt die Gabel, einen Kälberstrick und die Rinne mit hinauf in die Schlafkammer, öffnet das wetterabgewandte Fenster in der Gaube, legt die Rinne auf den Sims. Dann schiebt er den Stuhl unter die Lampe, wickelt den Strick zweimal um die Halterung und befestigt die Rinne am Seil. Zwischen die Zinken der Mistgabel legt er das gewölbte Blech, fixiert den Holzstiel und schließt mit dem anderen Ende des Stricks das Fensterchen bis zum Anschlag.

Ping, ping, ping … Blechern schlagen die Tropfen in der Rinne auf. Artig vereinen sie sich und folgen dem Weg durch das Fenster nach draußen.

Heiner blickt sich um. Der Dielenboden ist blank gescheuert. Die leichte Unebenheit bei der Tür fällt kaum auf. Er geht daneben in die Hocke und sackt auf die Knie.

Mit zittrigen Fingern zieht er sein Taschenmesser aus der Hosentasche, klappt die Schneide auf und setzt sie an dem breiten Spalt an. Er hebt das Brett aus dem Boden und greift in die Lücke neben dem Balken. Die Blechschachtel findet den Weg heraus von allein. Er nimmt sie mit dem Bauernbuch und der Bibel in beide Hände und rappelt sich mühsam hoch. Am Tisch holt er aus der Schachtel sein Arbeitsheft und den Musterungsbescheid, dann das Bündel Briefe, er streift den Gummiring ab, öffnet die Umschläge und entfaltet jedes einzelne Blatt. Neben- und übereinander breitet er sie auf der Tischplatte aus.

Heiner verschränkt die Arme vor der Brust und schaut. Sein halbes Leben liegt da vor ihm, und für so manches würde ihm der Herrgott wohl ein Ungenügend geben.

FORT

Heiner legte den Kopf in den Nacken. Ein letztes Mal studierte er die Kühe auf dem Bild an der Wand, wie sie auf ihren fetten Wiesen weideten, umrahmt von Graten und Klüften, die sich vom Kar bis zur höchsten Spitze in den wolkigen Himmel reckten. Er dachte an den Verrückten aus Fürth, der ihn und seinen Bruder ein paar Mal in den Stadtwald zu den Steinbrüchen mitgenommen hatte. Alle paar Wochen kam der spindeldürre Mann mit dem Fahrrad nach Steinbach und deckte sich bei der Nachbarin ein, mit ein paar geräucherten Blut- und Leberwürsten, einem Kännchen Buttermilch, mit Äpfeln und Sauerkraut im Herbst und mit Kirschen im Frühsommer, wenn die Städter scharenweise heraus in die Cadolzburger Obstgärten strömten. Heiner und Peter halfen ihm beim Pflücken und er erzählte den Buben von den Bergsteigern, die durch die Alpenwände stiegen, todesmutig, Helden gleich.

Gespannt hatten sie ihm zugesehen, als er wie eine Katze die Sandsteinwände nahe dem Felsenkeller hochgeklettert war. Bald werde auch er zu den Helden gehören, hatte er gemeint, denn die schwierigen Routen seien noch längst nicht alle erobert.

In der Stube war es kalt. Das Kanapee und der Eichentisch mit den schlichten Stühlen waren festlichen Anlässen vorbehalten, dem Besuch am Sonntagnachmittag, der Hochzeitsgesellschaft, den Taufpaten. Aber seit der Vater im Krieg geblieben war, wurde nicht mehr gefeiert.

Heiners Mutter kramte zwei lange Unterhosen aus dem Schrank, Unterwäsche für den Sommer, zwei Paar wollene Strümpfe, eine Arbeitshose, einen Wollpullover, zwei blaue Schürzen, drei Taschentücher, ein Sonntagshemd, Vaters braunen Anzug. Zusammen mit den Schnürschuhen steckte sie alles in den Getreidesack. Sein Gesangbuch und die Bibel mit dem festen schwarzen Einband, die ihm der Pate zur Konfirmation geschenkt hatte, legte sie obendrauf, dazu ein leeres Schulheft und einen Bleistift.

»Hose und Schürze sind am Saum eingerissen«, sagte Mutter. »Das wird dir die Bäuerin nachsehen. Ich bringe den Faden einfach nicht mehr durchs Öhr.«

»Wie alt war die Großmutter, als ihre Augen nachgelassen haben?«, fragte Heiner.

»Ende fünfzig«, antwortete sie. »Ist schlimm, wenn dir der graue Nebel das Licht stiehlt. Aber der Herrgott wird schon wissen, was er den Menschen aufbürdet.« Sie richtete sich auf. »Merk dir eines«, sagte sie nun streng und faltete die Hände. »Fang den Tag mit dem Herrgott an und hör den Tag mit dem Herrgott auf.«

Dann zog sie aus dem oberen Fach ein Handtuch heraus und stopfte es zu den Kleidern. »Und noch was, Bub«, sagte sie. »Zu Lichtmess kommen die Knechte, zu Lichtmess gehen die Knechte. Dazwischen gibt es nichts, so hart es auch sein mag. Ich will nichts Schlechtes hören.«

Mutter drückte ihm den Sack in die Hand, dabei suchte sie seinen Blick. Er wich ihr aus, senkte den Kopf. Würde sie ihn noch erkennen, wenn er das nächste Mal vor ihr stand?

»Jetzt musst los«, sagte sie. »Sonst kommst in die Nacht. Also, sei fleißig und spare.«

An der Tür reichten sie sich die Hand, Mutter verzog keine Miene. Er schulterte den Sack und ging die sandsteinernen Stufen hinab.

Im Hof wartete Peter. »Na, Kleiner, jetzt wird’s ernst.«

Der Tabakbeutel ragte aus der Brusttasche seines blauen Kittels. In die Manchesterhose passte der Bruder zweimal rein, Hosenträger hielten sie am schlaksigen Körper. Die knöchelhohen Schuhe hatten anständige Schnürsenkel, Heiners Latschen wurden dagegen von Hanfschnüren zusammengehalten. Mit seinem Seitenscheitel und dem Schnurrbart sah Peter stattlich aus, gar nicht wie ein Bauer. Aber beim Armdrücken hatte er gegen Heiner keine Chance.

Der Bruder war also wieder da, und er selbst musste fort. So hatte es Mutter mit Peter abgesprochen, als sie ihn vor drei Jahren ins Sägewerk schickte, er war eben der Ältere.

»Ich schreibe dir«, rief er, als Heiner zur Straße schlenderte. »Warte!«

Der Bruder eilte die Stufen hoch ins Haus, kam kurz darauf mit seinem Bauernbuch zurück und überreichte es Heiner. »Halte es in Ehren«, sagte er. »Da steht alles drin, was ein gescheiter Bauer wissen muss.«

Heiner sah zur Mutter hin. Nun hatte sie einen Nimmersatt weniger.

Weiße Flocken mischten sich unter die Regentropfen, die wie von einer Schnur gezogen auf die Erde fielen. Der Wind frischte auf, nasser Schnee sammelte sich auf den Ästen der Kiefer zwischen Misthaufen und Scheune.

Heiner ging die Dorfstraße hoch, die Zipfelmütze über die Ohren gezogen. Vaters Sonntagsmantel reichte ihm fast bis zu den Knöcheln, er taugte nicht für solches Wetter und ließ schon die Feuchte an den Schultern durch.

In Cadolzburg marschierte er über den verschneiten Marktplatz. Vor einem der Wirtshäuser erleichterte sich ein Mann an der Linde. Aus den Gaststuben drangen Licht und Wortfetzen nach draußen, ansonsten wirkte der Ort verlassen. Das Gesinde feierte Lichtmess, der zweite Februar war der wichtigste Tag im Jahr, der Tag des Kommens und Gehens.

Heiner folgte dem Weg an der Burg vorbei und durch den Wald in Richtung Langenzenn. Er hatte die Handschuhe vergessen. Die Finger, die den Sack über der Schulter festhielten, wurden klamm. Immer wieder wechselte er und steckte die freie Hand in die Manteltasche. Der nasse Wind strich ihm über die Wangen und Heiner dachte an den rauen Waschlappen der Mutter, mit dem sie ihm einst Gesicht und Ohren geputzt hatte.

Unablässig wehten die Flocken zur Erde. Äcker, Wiesen, Wege wurden eins. An den Böschungen teilten Böen den Schnee und formten ihn zu Stromlinien.

Jetzt kannst ein Großer werden, ein richtiger Bauer, hatte Peter gestern gesagt. Und der Viehhändler hatte gemeint, dass Heiner auf seinem neuen Hof viel lernen und gutes Geld verdienen werde. Der Lohn müsse locker reichen für die Landwirtschaftsschule.

Ein Windstoß peitschte die Kiefern, eine Ladung Schnee platschte ihm in den Nacken. Heiner bückte sich und schüttelte sich wie ein Hund.

Studieren war laut Peter nur etwas für Gescheite und solche mit dem nötigen Kleingeld. Immerhin hatte der Lehrer zur Mutter gesagt, als er sich beim Saustechen ein Paar Bratwürste und einen Tiegel Metzelsuppe abholte: »Gute Frau. Euer Bub ist bei Weitem nicht so dumm, wie er aussieht.«

Der schneeverwehte Weg führte hinab zum Langenzenner Kloster. Es dämmerte bereits, als Heiner die Sandsteinbrücke über die Zenn passierte. Wieder dachte er an die Schule und ans Studieren. Landwirtschaftlicher Missionar könne er werden, hatte der Pfarrer zu ihm gesagt und versichert, solche Leute suchten sie in Afrika. Die Menschen dort bräuchten jemanden, der ihnen das Ackern und Säen zeige, dann müssten sie keinen Hunger mehr leiden, es sei ja auch im Winter warm im Urwald.

Eine stattliche Kirche und viele Gehöfte: Endlich erreichte Heiner das Dorf, von dem er noch nie vorher in seinem Leben gehört hatte. Dürrnbuch. Die Bauern schafften in den Ställen. Eine alte Frau, die gerade die Schweine fütterte, wies ihm den Weg am Milchhaus vorbei zum Hussnätterhof.

Die Hofstelle war eng und abschüssig, spärliches Licht fiel aus den Fenstern hinter dem Misthaufen. Ans Wohnhaus grenzte der Stall, gegenüber befand sich ein windschiefer Stadel. Ein Paradehof, hatte der Viehhändler geprahlt, wo man was lernen könne. Heiner spürte, wie es ihm den Magen zusammenzog.

Die Stalltür schwang auf, eine füllige junge Frau schob den voll beladenen Mistkarren die schmale Rampe hoch und kippte den Inhalt auf den dampfenden Haufen. Misstrauisch blickte sie auf. »Was willst denn du, mitten in der Nacht?«

»Ich soll zum Hussnätter«, antwortete Heiner mit klappernden Zähnen.

Ohne ihn weiter zu beachten, ging die Frau zurück in den Stall. »Mutter, da ist einer draußen.«

Mit großen Schritten kam die Bäuerin heraus, das Kopftuch in die Stirn gerutscht, den Mantel zugeknöpft bis zum Hals. »Was willst, Bub?«, rief sie. »Die Leute bei der Arbeit aufhalten?«

»Bin der neue Knecht.«

»Hat dich der Viehhändler geschickt?«

Heiner nickte.

»Wenn das so ist«, meinte sie nun etwas freundlicher. »Hab nur gedacht, der Viehtreiber besorgt uns einen kräftigen Burschen und keinen Zwerg. Geht ja gut los.«

Sie winkte ihn zu sich und ließ ihn den Stall anschauen. Fünf magere Kühe standen da, dazu drei Kalbinnen und zwei Kälber. In einem Bretterverschlag grunzte eine Muttersau. Es roch nach Ammoniak. Die Fensterluken zwischen den Sandsteinquadern waren mit gräulichem Stroh zugestopft. An der Wand klebten feine Wassertropfen. Der hölzerne Barren wurde mit Helmkörben umständlich von hinten befüllt. Eine Treppe führte in die Futterkammer, eine Leiter zum angrenzenden Heuboden. Am Balken war eine elektrische Lampe befestigt.

Selbst wenn ihm der Schnee bis an die Brust gereicht hätte, Heiner wäre am liebsten gleich wieder auf und davon, so groß war die Enttäuschung. Doch stattdessen folgte er der Frau über den Hof ins Haus. Ihre Schritte knirschten im Schnee, vom Misthaufen stieg eine Dunstwolke auf.

Ein breiter Gang führte zur Küche, zur guten Stube, zum Waschhaus. Weiter hinten standen am Boden Schuhe ordentlich nebeneinander, darüber hingen Schürzen und blaue Kittel, auf der Ablage ein Hut. Es roch wie bei den Kühen.

Am Ende des Gangs öffnete die Bäuerin die Tür zum Stall. »Die Wärme vom Vieh tut uns gut«, meinte sie, »und wenn es im Haus wärmer ist, freut es auch das Vieh.«

Heiner ging hinter der Frau die Stiege hoch in den oberen Stock. »Da kannst schlafen. Unterm Bett steht der Nachttopf.« Sie zeigte ihm seinen Schrank und mahnte: »Vergiss das Licht nicht, Strom ist teuer.«

Leise schloss die Bäuerin die Tür. Ihre Schritte auf der Treppe knarzten bis zur untersten Stufe, dann hörte Heiner nur noch die rasselnden Ketten der Kühe unter ihm.

Nach einer Weile kam die Hussnätterin zurück. Sie stellte ihm eine Kanne Tee samt Becher, dazu einen Teller mit Brot und einer Scheibe Presssack auf den Tisch und ging wieder. Fremdartig breitete sich der Duft von Pfefferminze in der miefigen Kammer aus. Heiner trank den Tee gerade so heiß, dass die Lippen nicht rebellierten, dankbar spürte er die Wärme im Bauch. Das Essen schlang er gierig hinunter.

Das kleine Fenster zum Hof war blind von Eiskristallen, durch die Ritzen zwischen den Dachziegeln hatte es Schneestaub hereingeweht, der Bretterboden war an manchen Stellen überzuckert.

Heiner kniete sich hin und betete. Beginne deinen Tag mit dem Herrgott und höre ihn mit dem Herrgott auf, hatte ihm Mutter aufgetragen.

Es wurde ein kurzes Gebet. Todmüde krabbelte er unter das Bettzeug auf die mit Stroh gefüllte Matratze, aber leises Knistern hielt ihn wach. Er schaltete das Licht ein und lauschte eine Weile. Eine Maus huschte aus dem Bettzeug und verschwand in einem Spalt am Boden. Eine zweite folgte ihr, dann war endlich Ruhe.

Am nächsten Morgen war der Urin im Topf gefroren, das Leder der Schnürschuhe steif, draußen war es noch finster wie Ruß.

Die Kühe brummten bei seinem Eintreten. Heiner mistete aus und verteilte Futter. Immer wieder hielt er den Atem an, denn das Heu roch widerlich nach Schimmel. Auf einem Mauervorsprung entdeckte er einen Striegel. Über die gescheckte Kuh hinweg nahm er den Holzgriff mit dem gerippten Blech und begann, ihr schmutziges Fell zu bearbeiten. Genüsslich streckte die Kuh den Schwanz und reckte ihm den Hintern zu. Eine fingerdicke Kruste schälte sich ab, und je mehr Heiner das Tier striegelte, desto lustvoller wurde es. Die Kuh schnalzte mit der Zunge und blickte ihn erwartungsvoll an, sobald er innehielt.

Freilich, wie gut tat es, wenn ihn selbst beim Haferdreschen der Rücken juckte, die Arme aber zu kurz und ungelenk waren und er sich am Sandstein rieb. Die Kühe hingen an ihren Ketten, verdammt dazu, das Übel zu ertragen. Heiner zerbrach die Eisschicht im Wassereimer und tauchte den zotteligen Schwanz der Gescheckten in den Behälter. Mit der Hand streifte er die harten Kotkugeln von den Haaren, das Wasser färbte sich braun.

Als die Kirchenglocke das sechste Mal schlug, stand die Bäuerin mit kleinen Augen an der Türschwelle. »Haben ja noch nicht mal die Hühner ausgeschlafen«, sagte sie statt eines Grußes. »Gemolken hast auch schon?«

»Nein, aber die Kühe hab ich geputzt.«

»Werden eh wieder dreckig.«

Er schluckte den Ärger hinunter und schnappte sich den Melkschemel. Mit jedem Sprutz aus dem Euter, jedem Aufschäumen im Milcheimer ließ seine Anspannung nach. War das Heimweh, was ihn so schmerzte? Wenn Vater auf Fronturlaub gekommen war, hatte er oft von dieser Krankheit gesprochen. Sie fresse den Menschen von innen her auf. Heiner wollte ihn damals nicht verstehen. Eine Krankheit, die sich nicht zeigte, war auch keine. Aber nun wusste er es besser, und das bereits nach so kurzer Zeit in der Fremde.

Missmutig ging er nach dem Melken hinüber zur Küche.

»Komm rein und mach die Tür zu«, sagte die Bäuerin. Sie zog einen Hocker unter dem Tisch vor und wies ihn auf seinen Platz. Heiner schaute sich ungeniert um. Auf dem Schürherd stand eine verrußte Wasserkanne, daneben ein Topf. An der Wand hingen Pfannen, Töpfe und ein paar Handtücher. Stickige Luft hing unter der Decke. Der Kamin zog schlecht, die Holzprügel am Boden waren nicht gespalten, gaben keine Hitze. Heiner fröstelte.

Die Frau stellte den Topf mit Milch und eingebrockten Brotstücken auf den Tisch. Ihr Blick fiel auf seine Hände. »Solche Pratzen und so ein kleiner Kerl«, staunte sie. »Wie passt denn das zusammen?«

Heiner schwieg.

»Das Besteck hängt neben dir.«

»Wo?«

Die Bäuerin langte an die Tischkante und drückte ihm eine Gabel und ein Messer mit je einer dünnen Lederschlaufe am Griff in die Hand. Den Löffel wischte sie noch an ihrer Schürze ab. »Wenn du fertig bist, nimmst deinen Kittel, machst dein Werkzeug sauber und hängst es zurück an den Nagel.« Sie tauchte den Zeigefinger in die Suppe. »Jetzt verbrennst dir auch nicht mehr das Maul.«

Die Tochter kam gähnend zur Tür herein. Sie setzte sich auf die Bank, holte ihr Besteck hervor und schlenkerte ihre schwarzen Zöpfe auf den Rücken. »Wieder Milchsuppe«, meckerte sie, ohne Heiner oder die Mutter anzusehen.

Die Köpfe berührten sich, als sie sich über die Schüssel neigten und die Löffel in die Milch senkten. Dann schmatzten die Mäuler und der Tisch ächzte unter dem Druck der Arme, die sich auf ihn stützten.

»Bist satt, Bub?«, fragte die Bäuerin.

Heiner konnte kaum antworten, schon hatte sie die Schüssel abgeräumt. »Vater braucht auch noch was.«

»Welcher Vater?«, fragte Heiner.

»Den lässt lieber in Ruhe«, meinte die Bäuerin barsch. »Der ist in seiner Kammer gut aufgehoben. Er wird bös, wenn sich Fremde um ihn scheren.« Sie deutete zur Tür und sah Heiner mit strengem Blick an.

Heiner schluckte, dann legte er die Hände gefaltet in den Schoß, der Blick streifte die junge Frau neben ihm, die zum Fenster hinausstarrte und an ihren Haaren zupfte.

Nun wandte sie sich ihm zu.

Heiner spürte, wie das Blut seine Wangen wärmte. Ihr rundlicher Kopf saß fast auf den Schultern, die Zöpfe zierten das hellblaue Kleid über der fülligen Brust, die Augen funkelten.

»Wie alt bist denn?«, fragte sie, nachdem die Mutter mit einem Teller Suppe hinausgegangen war.

»Achtzehn.«

»Ich werde bald neunzehn.«

»Ich auch«, sagte Heiner. Beide lachten.

Heiner deutete zur Tür und verzog das Gesicht. »Ist dort wirklich einer drinnen?«

Annelie nickte. »Mein Großvater. Mir zittern jedesmal die Beine, wenn ich rein muss. Wir müssen ihn einsperren, weil er alles durcheinander bringt und sich überhaupt nichts merken kann.« Sie flüsterte nun.

»Da kann man gar nix machen?«

Annelie schüttelte den Kopf. »Krank ist er halt. Wenn er ruhig bleibt, kann man es aushalten, aber oft wird er unleidlich.«

Die Bäuerin kam zurück, einen Korb Wäsche unterm Arm. »Annelie, halt den Burschen nicht auf, der will was arbeiten.«

Mit dem Zeigefinger tippte sie Heiner auf die Schulter. »Kannst mit der Axt umgehen?« Sie deutete zuerst auf den Herd, dann auf die leere Kiste daneben.

Heiners Magen knurrte schon wieder, als er hinter der baufälligen Scheune Brennholz machte. Er holte die meterlangen Stücke unter einer dicken Schneeschicht hervor und trieb die Klötze mit dem Spaltkeil auseinander. Das Kleinholz, das er in die Küche schaffte, war feucht und brannte schlecht.

Zu Hefeklößen mit eingeweckten Kürbisstücken reichte das Feuer am Mittag, am Abend blieb der Herd kalt. Eine dünne Scheibe Presssack und ein steinharter Kanten Brot lagen auf dem Tisch. Sauerkraut gab es nicht. Auch keine Essiggurken, kein Gemüse, keine gedörrten Zwetschgen und Birnen, keine getrockneten Haselnüsse wie zu Hause bei Mutter.

Nach dem kargen Mahl saß er im Aborthäuschen neben dem Misthaufen und plagte sich. Der gehobelte Balken unter seinem Hinterteil war eiskalt, der Wind blies durch die Bretterritzen, die Luft strömte aus dem offenen Kanal, der in die Jauchegrube führte. Heiner hasste diesen Ort.

Mit der Zeit wurde die Bäuerin redseliger und neugieriger. Beim Mittagessen fragte sie ihn oft aus und Heiner erzählte vom Hof daheim. Bereitwillig blieb er dann in der warmen Küche länger sitzen als nötig, doch ständig wanderte sein Blick zur verbotenen Tür und immer wieder ertappte er sich dabei, wie er nach unheimlichen Geräuschen lauschte, und ihm war, als triebe hinter der Wand der Teufel sein Unwesen.

Draußen herrschte eine schneidende Kälte, die der Wind aus dem Osten noch verstärkte. Der Frost kroch in den Boden, bald waren die Wasserleitungen zugefroren und die tiefen Brunnen auf den Höfen wieder in Gebrauch. Heiner reparierte den abgebrochenen Kipphebel der Handpumpe und kümmerte sich ums Wasser für das Vieh und für den Haushalt.

Eine geschlagene Woche gingen sie zusammen in den Wald, schafften dürre Bäume aus dem vernachlässigten Bestand und karrten sie mit dem Wagen und einer eingespannten Kuh nach Hause.

An einem trüben, feuchtkalten Tag kam die Bäuerin aus der Futterkammer gelaufen und gestikulierte aufgeregt mit den Armen. »Das Licht«, rief sie. »Das Licht fängt an zu rauchen.«

Heiner ließ Triebschlegel und Spaltkeil fallen und rannte in den Stall.

»Dort«, schrie die Frau und deutete auf das Kabel, das zur Lampe führte.

Heiner sah kleine Funken auf der mit einer Stoffbahn ummantelten Leitung. Er schnappte sich einen Eimer mit Wasser, schüttete ihn über die defekte Stelle. Plötzlich war es stockfinster. Im fensterlosen Raum hatte die Lampe, die einem umgestülpten Einweckglas ähnelte, das einzige Licht gegeben.

»Das hast gekonnt«, schimpfte die Bäuerin. Sie überlegte kurz, murmelte ein paar unverständliche Worte und tastete sich zur Stalltüre vor. Dort schraubte sie mühselig den schwarzen Kasten neben der Türe auf. Heiner kam ihr nach, seine Augen gewöhnten sich ans Dämmergrau. Die Frau drehte eine kaputte Sicherung aus dem Kasten, hielt sie Heiner unter die Nase und deutete auf das silberfarbene Sichtplättchen, das sich von der Porzellanfassung gelöst hatte. »Zehn Pfennig sind kaputt – nur wegen dir.« Sie ließ ihn stehen.

Eine Minute später kam sie mit einem Karton zurück, aus dem sie eine neue Sicherung kramte. Sie schraubte sie in die Fassung und wieder begann das Licht zu flattern.

»Die Dinger, wo der Strom fließt, die kommen zusammen«, rief ihr Heiner zu. »Die Mäuse haben den Stoff gefressen. Schau, da.« Er zog sein Taschenmesser aus der Hosentasche und fuhr mit der Schneide zwischen die Drähte.

Ehe er sichs versah, landete er unsanft am Boden, dabei hatte der heftige Schmerz so schnell nachgelassen, wie er gekommen war. Heiners Herz pochte genauso heftig wie damals als kleiner Bub, als ihn Nachbars Spitz ins Bein gebissen hatte.

»Los, auf.« Die Bäuerin zog ihn hoch.

Ratlos standen beide neben der Stalltüre im Finstern.

Die Bäuerin schickte schließlich Annelie zum Bader, einem quirligen kleinen Mann, der mitten im Dorf neben der Kirche sein Geschäft betrieb und dafür bekannt war, in kniffligen Situationen, etwa bei einer schwierigen Geburt im Stall oder einem vereiterten Zahn, weiterhelfen zu können.

Heiner staunte, mit welcher Gewandtheit der Bader alle Sicherungen herausdrehte und dann bei Kerzenlicht die verrußten Leitungen mit Heiners Messerschneide vorsichtig trennte, damit sie sich nicht mehr berühren konnten. »Das lasst ihr jetzt mal schön offen«, meinte er, »dann wird den Mäusen der Appetit schon vergehen.«

Die Bäuerin bezahlte mit einer Bratwurst und Heiner entdeckte an seinem Zeigefinger eine klitzekleine verkohlte Stelle.

Ende Februar drehte der Wind, die Wolken kamen von Westen, es wurde milder. In der Früh erwachte Heiner vom Zwitschern der Amseln und beim Gang über die Felder sah er die ersten braunen Kämme durch die Schneedecke spitzen. Alles hungerte nach Wärme, nach Licht. Heiner zog es hinaus, endlich mit der Natur hantieren, mit seinen Händen den Boden bearbeiten, den feinen Duft der Erde atmen. Er feuerte die Tage an, schneller zu vergehen, er wollte seinen Wünschen und Zielen nicht weiter hinterherhecheln wie seinem eigenen Schatten, sondern sie endlich einholen und packen. Hier am Hof hatte er das Gefühl, dass die Zeit für ihn stehengeblieben war, und immer wenn sich die Zeiger seiner Uhr vorsichtig in Bewegung setzten, trieb die Bäuerin einen neuen Keil ins Getriebe.

Zuhause hatte er im Winter die wenigen Maschinen hergerichtet, Zinken geschnitzt für den Holzrechen und undichte Stellen am Scheunendach ausgebessert. Aber hier hielt das Moos die verfaulten Ziegel zusammen, die verfaulten Ziegel hielten die morschen Latten fest, auf denen sie lagen, und die morschen Latten versteiften die wurmstichigen Balken, mit denen sie vernagelt waren. Heiner fürchtete, das Gebäude würde in sich zusammenstürzen, wenn er auch nur einen Biberschwanz austauschte. Er redete sich also ein, dass Moos auch ein Recht auf Leben habe, und hielt sich allein an die ihm aufgetragenen Arbeiten.

Was die Hussnätterin anschaffte, erledigte er gewissenhaft, kümmerte sich ums Brennholz und verbrachte einen großen Teil der dunklen Jahreszeit im noch dunkleren Stall. Heiner unterhielt sich mit den Kühen, pflegte ihnen das Fell und schaufelte so oft wie nötig die Fladen vom Beton, damit das Vieh nicht im eigenen Dreck liegen musste, denn mit der Einstreu sparte die Bäuerin; das wenige Heu war bald verbraucht, also bekamen die Kühe Stroh zum Fressen. Bei den Tieren war es warm. Und warum sollte er sich draußen in der Kälte plagen, während die beiden feinen Damen in der Küche den Faden durchs Nadelöhr schoben?

Am ersten Sonntag im März tischte die Bäuerin einen Happen gekochtes Fleisch mit Klößen auf, dazu gab es eine dampfende Schüssel Blaukraut. Heiner wunderte sich, wo das Grünzeug plötzlich herkam.

»Wie groß ist euer Hof?«, fragte die Hussnätterin mit vollem Mund, obwohl Heiner ihr das schon zweimal erzählt hatte.

»Sieben Tagwerk Acker, vier Tagwerk Wiesen, drei Tagwerk Wald.«

»Wie viel Kühe?«

»Vier.« Heiner räumte sich zwei Schöpfer Blaukraut auf den Teller.

»Gäule habt ihr keine?«

Heiner schüttelte den Kopf. »Dafür einen Ochsen«, sagte er stolz. »Den habe ich angelernt.«

»Wir schaffen mit den Kühen«, mischte sich Annelie ein. »Kühe sind gescheiter als Ochsen.«

Ihre Mutter stand auf, zwickte den Brotlaib mit einem Arm zwischen Bauch und Brust und hobelte mit dem großen Messer eine Scheibe davon ab. Dann richtete sie aus den Essensresten einen Teller her und schob ihn zu Annelie. »Trägst es dem Vater rüber. Was er heute Morgen nicht gefressen hat, gibst den Säuen.«

Annelie protestierte: »Warum immer ich?«

»Du gehst«, bestimmte die Mutter.

Widerwillig schnappte sich die Tochter den Teller, die Tür fiel laut hinter ihr ins Schloss.

»Vergiss nicht, abzusperren«, schrie die Bäuerin ihr nach. »Weißt«, sagte sie zu Heiner. »Der ist nicht mehr dicht. Zuerst hat er sich nichts mehr merken können und jetzt macht er überall hin.« An der Schürze putzte sie ihr Besteck ab und hängte es zurück an den Nagel.

Heiner nickte. Er wollte nicht weiter fragen, das Geschehen hinter der Tür war ihm unheimlich.

»Den Hof kriegt dein Bruder?«, wollte sie nun wissen.

Heiner nickte.

»Du bist also der Jüngere. Müsst sparen daheim, gell?«

Heiner senkte den Kopf. »Vater ist nicht zurückgekommen.«

Die Frau seufzte. »Der ist nicht der Einzige.« Sie räumte die Schüsseln ab. »Und wir stehen jetzt da und werfen Hosenknöpfe in den Klingelbeutel.«

Heiner wartete noch immer auf seinen ersten Lohn. Er faltete die Hände, rieb die Daumen aneinander und fragte sich zum x-ten Mal, wie er mit der Hussnätterin dran war.

»Am Montag wird Hafer gesät«, gab sie an. »Nach dem langen Frost fällt das Erdreich auseinander wie Puderzucker.«

Heiner leckte sich die Lippen. Er schmeckte augenblicklich die Küchle, die Mutter zu seiner Konfirmation gebacken und mit Puderzucker überzogen hatte. Ein seltener Gaumenschmaus.

Die Bäuerin riss ihn aus den wohligen Erinnerungen: »Heute Nachmittag bist allein im Haus. Sind zu Besuch bei meiner Schwester.«

Er sah den beiden eine Weile nach, als sie die Dorfstraße hochmarschierten. Die Mutter mit dem Sonntagsmantel und der braunen Handtasche, die Tochter bummelte hinterher. Und er wunderte sich, dass die beiden nicht den Weg durch den Garten wählten, der hinter den Gehöften vorbeiführte. Gewöhnlich ging die Bäuerin den Leuten aus dem Dorf aus dem Weg, grüßte nur, wenn es gar nicht anders ging, und auch am Milchhaus stellte sie ihre Kanne auf die Rampe, sah dem Milchhauswart über die Schulter, ob er die richtigen Zahlen in sein Ringbuch eintrug, und verschwand so schnell wie sie gekommen war.

Der Scheuenstuhl, ein kräftiger Mann mit Schnurrbart, der seinen Hof schräg gegenüber zusammen mit seiner tüchtigen Frau bewirtschaftete, hatte Heiner neulich auf dem Weg in den Wald angesprochen: Ob er sich in den Weiberhaushalt schon eingewöhnt hätte.

»Na ja«, hatte Heiner gemeint. »Daheim war’s ja zuletzt auch nur die Mutter.«

Heiner ging in seine Kammer, holte Bleistift und Papier aus dem Schrank und setzte sich an den Tisch am Fenster. Er stützte den Kopf auf die linke Hand, dann schrieb er.

Werter Bruder

Bald zwei Monate bin ich schon fort und genauso gescheit wie zuvor. Die Bäuerin zahlt mich nicht aus, wie soll ich da studieren. Aber die Bäuerin hat glaub ich selber nichts. Vielleicht tue ich ihr auch Unrecht, weil das Geld nichts mehr wert ist. Zahlt sie heute 100 Mark,sind es morgen tausend und bald schon eine Million. Was willst da viel verlangen.

Wie geht es daheim? Mir geht es nicht gut und auch nicht ganz schlecht. Man wird grad so satt, weil ich beim Melken früh und abends vom Eimer trinke. Da bring ich schon gleich einen Liter zusammen, und die Milch ist gut fürs Wachsen, das siehst bei den Kälbern, wie schnell die größer werden, wenn sie lang genug am Euter dranhängen. Ich schau, dass ich so viel wie möglich erwisch. Die Bäuerin hat noch nichts gemerkt.

Kannst dir vorstellen, dass es jeden Abend bloß eine dünne Scheibe Pressack gibt? Aber irgendwann muss doch der mal gar sein und dann müssen doch auch die Bratwürste und der Schinken kommen.

Lieber Peter. Daheim ist es am allerschönsten und fort ist es nicht schön. Aber der Herrgott wird schon sorgen, dass ich mein Geld krieg. Ich lese jeden Abend im Bauernbuch, dann ist die Zeit nicht ganz für die Katz. Ich freu mich auf die Landwirtschaftsschule und auf die Mission in Afrika.

Grüß die Mutter von mir und sag, dass es mir gut geht. Sonst macht sie sich Sorgen, und jetzt muss ich aufhören, weil sonst der Bleistift zu kurz wird.

Hochachtungsvoll dein lieber Bruder Heiner

Heiner faltete das Blatt und steckte es in ein Kuvert. Er überlegte einen Moment, zog es wieder heraus und las sich den Inhalt laut vor. Dabei streifte er sich zufrieden mit den Fingern durch die Locken. Schließlich zog es ihn ins Bett. Müde war er zwar nicht und schlafen, sagte er sich, konnte er genug, wenn er mal gestorben war. Aber kaum hatte er sich hingelegt, schlief er doch ein.

Plötzlich schreckte er hoch. Im Erdgeschoss polterte etwas laut gegen die Wand. Das Poltern wiederholte sich in kurzen Abständen.

Heiner schlich die Stufen hinab, lauschte, schlich sich in die Küche, wartete eine Weile, wagte sich in die Stube und lauschte wieder. Vor der abgeschlossenen Tür im Gang blieb er stehen. Der Schlüssel steckte. Heiner starrte auf die Klinke. Er hörte lautes Schnaufen, ein röchelndes Geräusch, dann polterte es erneut. Die Neugierde besiegte die Angst. Langsam drehte er den Schlüssel zweimal um, dann drückte er die Tür auf. Verbrauchte Luft stieg ihm in die Nase. Es roch nach Schweiß, Kot, säuerlichem Urin. Durch das von innen mit Brettern vernagelte Fenster drang wenig Licht in den Raum. Vor einem Kanapee lag ein umgekippter Nachttopf, eine Lache versickerte zwischen den Dielen.

Ein unrasierter Greis mit zerzausten Haaren, oben mit einem gestreiften Schlafanzugoberteil, untenherum nackt, musterte den Eindringling, in der einen Hand hielt er seinen Pantoffel, in der anderen einen Löffel, dabei stand er stocksteif auf seinen dürren Beinen und rührte sich nicht.

Heiner hielt den Atem an, klammerte sich an den Türgriff.

Der Alte wandte sich zum Fenster und schlug mit dem Pantoffel gegen die Bretter. Dann ließ er den Schuh fallen, drehte sich um, kam mit Trippelschritten auf Heiner zu. Der sprang panisch vor die Tür, knallte sie zu und drehte den Schlüssel um bis zum Anschlag.

Er lief zurück in die Küche und geradewegs der zurückkehrenden Bäuerin in die Arme. »Wo kommst denn du her, Bursche?«, rief sie unwirsch.

Heiner stutzte. »Da hinten …«

»Warst drinnen?«

Heiner nickte.

Die Frau schlug sich die Hände vors Gesicht, fasste sich aber schnell wieder. »Erst war er wenigstens noch friedlich, aber jetzt wird er böse.«

»Und was sagt der Doktor?«

»Der Doktor.« Die Frau winkte ab. »Schwindsucht, hat er gemeint. Zwei Bratwürste hätte der jedes Mal verlangt, für nichts und wieder nichts.«

VERLIEBT

Zwischen kaputten Speichenrädern im Stadel suchte die Bäuerin das Kummet, die Halteriemen und das Pendel. Ketten und Lederzeug legte sie vor die Stalltür. Gemeinsam spannten sie die gescheckte Kuh ein, zogen den Leiterwagen aus der Scheune, luden Eggenfelder und Zubehör auf die Plattform, dazu ein Fass mit Wasser und eine Portion Heu aus dem Stall. Ein paar Hafersäcke und die Streuwanne holte Heiner aus der Futterkammer und verstaute alles im Wagen.

»Hast du eine Kraft«, staunte die Bäuerin. »Stemmst die Säcke umher als wären Gänsefedern drinnen. Annelie«, rief sie. »Wir sind so weit.«

Die junge Frau lehnte an der Hauswand, vor ihren Füßen stand ein Weidenkorb.

»Vesper hast dabei?«

Annelie nickte. Ihr Blick streifte Heiner, der das Halfter der Gescheckten in der Hand hielt.

»Hast zugesperrt?«, fragte die Mutter.

»Freilich.«

Die Kuh plagte sich an der ersten Steigung im Dorf, aufmerksam beobachteten die Leute von ihren Höfen aus das Gespann. Heiner dachte an daheim. Wegen ihrer sandigen Böden hatten sie immer zu den Ersten gehört, die sich aufs Feld wagten. Und dann war das Gleiche passiert wie im Spätherbst, wenn der Schäfer mit seiner Herde über die Wiesen zog. Fand ein Schaf eine besonders saftige Stelle, folgten alle anderen dem Leithammel. Lange würde es nicht mehr dauern, bis auch hier die Bauern ihre Zugtiere einspannen und mit der Feldarbeit beginnen würden.

»Kurz bevor du gekommen bist, ist er abgehauen«, sagte Annelie. Den ganzen Tag haben wir gesucht.« Kichernd drehte sie sich zu Heiner. »Weißt, wo er war?«

»Wer denn?«

»Der Großvater! Im Stall ist er gewesen und …«

»Im Barren ist er gelegen«, fiel ihr die Mutter ins Wort. »Ist nicht mehr aufgekommen. Die Kühe haben ihm mit ihrer rauen Zunge den Schädel abgeschleckt.«

»Geschrien hat der«, sagte Annelie. »Der Kopf war ganz rot.«

Ihre Mutter hob den Zeigefinger. »Was da alles hätte passieren können. Hätten wir die Kriminaler auch noch im Haus gehabt.«

Der holprige Weg führte sie an Feldstücken vorbei zu einem Acker, den an zwei Seiten eine dichte Hecke umgab.

Nachdenklich blickte Heiner auf den Boden. »Schaut nass aus.«

Die Bäuerin machte ein paar Schritte in den Acker, wippte mit den Füßen auf und ab. »Passt schon«, sagte sie.

Kopfschüttelnd holte Heiner die Eggenfelder vom Wagen, fädelte die Ketten durch die Ösen und spannte die Kuh in die Riemen. Annelie führte das Tier am Halfter, ihre Mutter hielt die Zügel. Stellenweise sumpften die Klauen ein. Die Eisenzinken kratzten dünne Striche in das lehmige Erdreich. Nur stockend kamen sie voran.

»Daheim haben wir so ein lehmiges Feld in Ruhe gelassen«, rief Heiner.

»Bist aber nicht daheim.« Die Bäuerin wendete das Gespann und reichte ihm die Zügel. »Kannst das?«

Heiner übernahm die Riemen. »Hüh.«

Das Tier setzte sich in Bewegung, Annelie ging mit dem Führstrick in der Hand voraus, während ihre Mutter das Saatgut über dem Erdreich ausstreute.

»Schau, eine Lerche.« Heiner deutete nach oben.

Annelie blickte sich um. »Wo?«

»Dort, hörst sie nicht singen?«

Annelie kniff die Augen zusammen und suchte den Vogel im weiten Blau.

»Lerchen können in der Luft stehenbleiben und am Boden bauen sie ihr Nest«, erklärte Heiner.

Gemächlich zog die Kuh die Egge hinter sich her.

»Was willst eigentlich werden, wenn du mal groß bist?«, fragte Annelie.

»Bin groß genug.« Die Zügel klatschten hart auf das Hinterteil der Kuh.

»Du weißt schon, was ich meine.« Ihre Stimme klang plötzlich warm.

Heiner atmete langsam aus. »Bauer will ich werden, studieren auf der Landwirtschaftsschule.« Dann setzte er feierlich an: »Die Erde, auf der wir wandeln, ist die Mutter, die uns alle nährt und kleidet und in unermesslicher Fülle darbietet, was zur Notdurft und zum Genusse des Lebens gehört.«

»Das ist philosophisch«, sagte Annelie.

»Steht in meinem Buch.« Heiner fuhr fort: »Der Mutter Erde ihren Segen abgewinnen und sie so pflegen, dass sich dieser ununterbrochen erneuert, das will ich lernen.«

»Hast aber noch viel vor.«

»Und später will ich zur Mission nach Afrika.«

Annelie blickte ihn unsicher an.

»Dann gebe ich alles weiter, was ich gelernt habe. – Hüh.«

Schweigend bearbeiteten sie den Boden Bahn um Bahn. Annelie trottete voraus, die Kuh hinterher und Heiner hintennach. Als die Bäuerin fertig gesät hatte, eggten sie ein zweites Mal, um den Samen mit Erdreich zuzudecken. Ein lauer Südwind strich über den Acker.

»Haben viel geschafft heute.« Die Hussnätterin legte eine Leberwurst auf Heiners Teller, da polterte es in der hinteren Kammer an die Wand.

Sie lauschten. Es blieb still. Die Bäuerin faltete die Hände und sprach ein leises Stoßgebet.

Nach dem Abendbrot ging Heiner in den Hof, mit der Hand streifte er am rauen Sandsteinsims entlang. Der Mist dampfte wie der Schlot einer Fabrik. Heiner holte tief Luft. Es war ein guter, ein fruchtbarer Duft. In den kahlen Baumkronen und unter den Wetterbrettern der Scheunen nutzten die Spatzen laut zwitschernd das Dämmerlicht für eine letzte Mahlzeit.

Von weither hörte er Stimmen, Gesangsfetzen. Neugierig schlenderte Heiner die Straße hoch zum Wirtshaus. Durch das offene Fenster sah er Männer aus dem Dorf um den gekachelten Ofen sitzen. »Im schönsten Wiesengrunde« sangen sie zweistimmig, geführt vom Chorleiter. Mutters Lieblingslied, der reinste Engelsgesang. Wenn sie das hören könnte, dachte Heiner.

Die meisten Sänger kannte er dem Namen nach, aber richtig geplaudert hatte er bisher mit den wenigsten. Am Milchhaus, wenn die Bäuerin ihn schickte, stellte er sich ein wenig abseits und hörte den Männern gerne zu, wenn sie vom Vieh erzählten, vom Ärger mit ihren Frauen, wenn sie über andere herzogen oder über die schlechten Preise schimpften. Kam er mit den Kannen dann etwas später nach Hause, wurde die Bäuerin unpässlich und mahnte, dass er seine Zeit lieber mit der Arbeit am Hof zubringen solle und nicht mit dem dummen Gerede der Mannsbilder, die doch nur auf ihren Frauen herumhacken konnten.

Das Fensterbrett, an dem Heiner sich festhielt, war glatt und der Mauervorsprung, auf dem er stand, schmal. Eine Weile hörte er noch zu, dann ging er zurück zum Hussnätterhof. Aber er fand die Haustür verschlossen. Auch der Hintereingang durch den Stall war verriegelt, alle Lampen erloschen. Also machte er es sich im Heuhaufen bei den Tieren bequem. Das Rasseln der Ketten störte ihn nicht, doch statt zu schlafen, malte er sich aus, wie er Annelie erklärte, warum gegorener Mist ein Festschmaus für Regenwürmer und ein Segen für das Erdreich war, und während er für sie »Im schönsten Wiesengrunde« summte, fiel er in den schönsten Schlummer.

Am Sonntagnachmittag wanderte Heiner durch Dürrnbuch und dann in die Flur. Er freute sich an den Hausgärten, die bis an die geschotterte Straße reichten und bald mit den schönsten Blumen blühen würden, mit Rosen, Dahlien und Veilchen. Längst hatten die Bäuerinnen ihre Mistbeete angelegt, damit sie ihren Männern frühzeitig Rettiche und Radieschen auftischen konnten. Der erste Schnittlauch fand sich in den Nischen, eingegrenzt von akkurat markierten Kräuterbeeten, Bohnen und Frühkartoffeln.

Ein paar der Frauen schlenderten über ihre Höfe, einen Korb in der Hand und eine Weste um die Schultern gelegt, denn der frische Märzenwind sorgte rasch für einen rauhen Hals. Heiner blieb dann stehen und wechselte einen Gruß mit ihnen, machmal kam er sogar ins Plaudern. Alle wussten, dass er der Knecht der Hussnätterin war, und alle fragten durch die Blume, wie es ihm bei den beiden Frauenzimmern gefalle. Er antwortete, dass die Arbeit als Knecht eben kein Zuckerschlecken sei, und die Bäuerinnen nickten dazu.

Am Ende des Dorfes schlängelte sich der Weg in die kleinräumige Landschaft, durchsetzt von Hecken und noch kahlen Laubbäumen. Heiner beobachtete die Lerchen hoch über ihm. Er schlug sein Buch auf und bestimmte die Unkräuter auf dem Feld der Hussnätterin. Vogelmiere, Melde, Klettenlabkraut, Ackerfuchsschwanz, Ackerschachtelhalm. Zu Hause hätte er jedes einzelne Kräutlein suchen müssen. Hier standen sie dicht an dicht.

Auch an den folgenden Sonntagnachmittagen zog es ihn hinaus. Er verglich den Weizen und den Hafer der Nachbarn mit den Ackerfrüchten der Hussnätterin. Mit dem mitgebrachten Zollstock maß er einen Quadratmeter auf dem guten und einen auf dem schlechten Feld ab. Er zählte die Halme des Weizens, die Hafertriebe, die Unkräuter und trug die Anzahl in sein Heft ein. Dabei ging er sparsam um mit seinem Stift, er drückte kaum auf. Doch das Stück Holz mit der Bleimine wurde zusehends kürzer und die leeren Seiten in seinem Heft wurden weniger.

Im Gras sitzend dachte er an Annelie, beobachtete die kleinen Mücken, wie sie um die Halme schwirrten, in der Luft tanzten und sich auf seine Beine setzten. Annelie. Sie war wechselhaft wie das Aprilwetter, abwesend, hochnäsig, grob. Einmal gab sie die Bauerntochter und er war der Knecht. Dann wieder lachte sie und scherzte mit ihm. Sie half ihm bei der Arbeit und wie zufällig berührten sich ihre Hände, Schultern, Knie.

Was, wenn sie seine Bäuerin wäre? Die Hochzeit würde nicht viel kosten. Annelies Verwandtschaft war spärlich, seine noch spärlicher. Genug Geld müsste übrig bleiben, um die Felder zu bestellen, den Stall zu richten, das Haus zu verschönern, eine gescheite Wasserleitung zu installieren, den schwindsüchtigen Großvater in ein helleres Zimmer zu stecken. Wenn er erst Bauer wäre, könnte er sich auch die Landwirtschaftsschule leisten. Die Mission müsste dann allerdings warten.

Heiner taxierte den Hafer, den sie gesät hatten. Die Halme waren ebenso mager wie der Beutel mit seinem Ersparten.

Der Durst und das Blöken der Kühe lockten ihn zurück zum Hof und er verwarf alle Gedanken an die ungewisse Zukunft.

Beim Abendessen streifte Annelies Fuß sein Bein. Heiner hielt still, vor Anspannung wurde ihm heiß und kalt, das Herz pochte schnell, der Druck nahm zu.

»Schmeckt es nicht?«, fragte die Bäuerin.

Heiner verschluckte sich. Er musste husten. Annelies Fuß war weg. Millimeter für Millimeter bewegte sich sein Schenkel zu ihrem. Erst fühlte er die Falten ihres Kleids, dann ihre Wade. Seine Augen fixierten den Fensterrahmen gegenüber.

»Fehlt dir was, Bub?« Die Bäuerin machte ein besorgtes Gesicht.

»Ich geh dann mal in meine Kammer.« Annelie stand auf. Bevor sie die Tür schloss, warf sie Heiner einen vielsagenden Blick zu.

Die Bäuerin räumte das Brot weg, dann setzte sie sich wieder. »Gefällt es dir bei uns?«, fragte sie beiläufig.

Heiner nickte höflich.

Sie schob die Gabel unter einen Teller, hob ihn an, ließ ihn ein paar Mal wippen. Die Gabel rutschte ab, der Teller sackte auf die Tischplatte. »Du willst in die Landwirtschaftsschule?« Sie ließ ihn nicht aus den Augen.

»Wenn das Geld reicht.«

»Deine Mutter wird dir was geben?«

»Mutter muss sparen.«

Die Bäuerin strich sich mit der Handfläche über den Hals. »Sie gibt dir also gar nichts?«

»Ich verdiene es mir selbst.«

»Man muss froh sein, wenn man nicht verhungert«, sagte sie mit frostiger Miene. Ihre Hand griff nun nach dem Teller und drehte ihn langsam im Uhrzeigersinn.

Heiner räusperte sich. »Ein guter Bauer verhungert nicht«, sagte er. »Wenn die Mutter Erde was Gescheites kriegt, gibt sie auch was Gescheites her.«

Die Hussnätterin blickte auf. »So was wissen doch nur Studierte.«

Heiner schob sich ein Stück Brot in den Mund. »Der Boden braucht Stickstoff, Phosphor und Kali. Fehlt eines davon, richtet sich die Frucht nach dem Fehlenden, auch wenn das andere im Überfluss da ist.«

»Lauter Siebengescheite«, meinte sie abfällig. »Ein Bauer gilt nur was, wenn er was hat.« Sie zog den Zipfel ihrer Schürze hoch und putzte sich damit die Nase. »Du bist ein kleiner Knecht und wirst es für immer bleiben.« Ihre Augen starrten ins Leere. »Was sein tut nur, wer hat. Aus, fertig.«

Wortlos stand Heiner vom Tisch auf und ging in seine Kammer, dabei hielt er sich so aufrecht wie nur möglich. Er holte sein Schreibpapier hervor, zögerte, dann legte er es zurück.

Er kämmte sich, ging hinaus. Von der Straße aus blickte er zu Annelies Stubenfenster, seufzte, dann spazierte er zur Wirtschaft. Heute war Samstag. Schon von Weitem hörte er den Gesang. Er stieg auf den Sockel, zog sich hoch und spitzte durch das offene Fenster.

Diesmal standen die Sänger auf einem Podest, einheitlich gekleidet in schwarze Hosen und weiße Hemden, einen braunen Janker darüber, ein rotes Tuch um den Hals. Die Frauen in ihrer Festtagskluft saßen dabei und hörten zu. Der Vorstand trat vor die Sänger und heftete einem älteren Mann einen Orden an die Brust. Zu seinen Ehren erklang wieder das Lied vom schönsten Wiesengrunde.

Als Heiner der Fuß eingeschlafen war und er seine Arme nicht mehr spürte, ging er heim. Noch eine Weile verfolgte ihn die wehmütige Melodie.

Abends saß er oft in seiner Kammer auf seinem Stuhl und grübelte. Er war nicht zufrieden mit seinem Los. Hier war er nur der Knecht, der alles besser wusste. Er machte sich so viele Gedanken, wie sich der harte Alltag am Hof erleichtern ließe, wie man den Mist leichter auf den Haufen bekäme. Mit einer Luke direkt über dem Futtergang könnte man die Fütterung erleichtern. Die Kühe bräuchten besseres Futter und nicht diesen verstaubten Dreck. Aber die Bäuerin ließ sich nichts sagen, sie blieb stur wie ein Esel. Den ganzen Tag hieß es: Heiner, mach das. Heiner, du musst das machen und weil du’s so gut kannst, darfst es jetzt immer machen. Als er gekommen war, hatte die Bäuerin noch gemolken, nun musste er die Kühe allein versorgen.

Letztens hatte ihn der Milchwart angesprochen und ihm auf die Schulter geklopft: Seit er am Hof sei, werde die Milch stetig ein bisschen mehr. Solches Lob gab ihm Kraft und spornte ihn an, sich immer wieder in sein Bauernbuch zu vertiefen. Er rechnete durch, wie viel Gras eine gute Kuh fressen musste, damit sie ordentlich Milch geben konnte, und er fand heraus, dass der Stier die Milchleistung genauso vererbte wie die Kuh.

Jetzt, wo das Frühjahr die ersten warmen Tage spendete und auch der Regen nicht ausgeblieben war, färbten sich die Wiesen dunkelgrün und die Luzerne fing an zu sprießen. Täglich spannte Heiner eine der Kühe vor den Wagen und fuhr mit den beiden Frauen aufs Feld, um mit der Sense frisches Gras zu mähen. Mit der Gabel hob er es auf den Wagen und in der Graskammer neben dem Stall wieder herunter. Schaffte die Bäuerin später am Tag im Haus, schlich er sich heimlich in den Stall, gabelte das alte Futter, das die wählerischen Kühe verschmähten, zu den Kalbinnen und gab den Kühen das frische Gras.

Der Milchwart hatte recht: Die Kannen vom Hussnätterhof wurden voller. Mit sichtlichem Stolz lieferte die Bäuerin die Milch wieder selbst ans Milchhaus. Im Dorf hatte es sich da längst herumgesprochen, dass der neue Knecht was von der Viehzucht verstand, und Heiner spürte, dass die Menschen ihn achteten.

Aber was nützte es, wenn die Tiere nur im Sommer, wenn sie Grünfutter bekamen, Milch gaben und im Winter das schimmlige Heu fressen mussten. Dann war es mit der neu gewonnenen Achtung schnell wieder vorbei. Heiner fieberte den heißen Erntetagen entgegen und überlegte, wann das Wetter passen würde für gutes Heu.

Er erschrak und sein Herz klopfte bis zum Hals, als die Bäuerin in aller Herrgottsfrüh an die Tür klopfte. »Aufstehen. Heu wird gemäht.«

Heiner ging ans Fenster und sah hinaus. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber es war bereits taghell und schwül. Als die Schwalben hoch geflogen waren und der frische Wind aus dem Osten geblasen hatte, hatten die anderen Bauern ihr Gras gemäht und auch Heiner hatte ihr ins Gewissen geredet, dass der richtige Zeitpunkt für ein gutes Heu gekommen sei. Das war der Bäuerin zu früh gewesen. Das Futter sollte noch wachsen. Und jetzt, wo das Heu der anderen zu trocknen begann, jetzt, wo sich der Ostwind gelegt hatte, pressierte es der Bäuerin.

Nach der Stallarbeit machten sie sich auf den Weg.

Das Gras war sperrig, die Sensen rupften. Die Bäuerin versuchte vergeblich, die Scharten am Sensenblatt mit dem Wetzstein zu glätten. Schweigend mühten sie sich ab.

Mittags rasteten sie am Rain unter der alten Eiche. Sie aßen ein paar Scheiben Brot und weichen Käse, dem die Wärme zugesetzt hatte. Das Brunnenwasser aus der blechernen Milchkanne schmeckte schal. Annelie lehnte am Stamm, träge schlug sie nach einer Mücke, die sich ihr auf die Nase gesetzt hatte.

»Wie alt ist der wohl?« Heiners Blick wanderte den mächtigen Stamm hinauf.

Annelie gähnte. »Weiß nicht.«

»Dreihundert ist der gewiss.«

»Woher willst das wissen?«

Die Bäuerin sagte schläfrig: »Von der Eiche hat angeblich schon Vaters Großvater erzählt.«

Annelie reckte den Kopf. »Wie hoch ist sie wohl?«

Heiner kratzte sich in den Haaren. »Dreißig Meter?«

»Musst halt rauf und von oben schauen. Traust dich eh nicht.« Sie blinzelte ihn an.

»War schon auf höheren Bäumen.«

Die Bäuerin schlief nun tief. Ihr rasselnder Atem strömte leise durch den halb geöffneten Mund.

»Wetten, dass ich raufkomme«, sagte Heiner übermütig.

»Was willst denn wetten?«

»Einen Kuss?«, flüsterte er ihr ins Ohr.

»Aber nur auf die Backe«, kicherte sie.

Heiner spuckte in die Hände und rieb sie aneinander. »In den Alpen klettern die Leute die steilsten Felswände hoch wie nichts.« Er griff mit den Fingern in die raue Rinde, presste den linken Fuß in ein Astloch, zog sich langsam hoch. Nach zwei Metern rutschte er ab und landete auf dem Hinterteil.

Annelie lächelte mitleidig. »So kommst nie zu was.«

»Weitermachen.« Die Bäuerin war aufgestanden. Sie gähnte und streckte den Körper durch. Dann nahm sie die Sense in die Hand, ging zurück ins hoch stehende Gras und holte kraftvoll aus. Knirschend arbeitete sich das dünne Blech durch die trockenen Halme.

Am frühen Nachmittag war die Wiese gemäht. Mit dem Rechen wendeten sie das welke Gras, sie redeten kaum, in den wenigen Pausen teilten sie sich das lauwarme Brunnenwasser.

In der Nacht erhellte heftiges Wetterleuchten den Himmel. Heiner schälte sich aus seiner Decke und blickte aus dem Fenster, dabei betete er: »Lieber Gott, lass es doch noch zwei Tag trocken bleiben und lass mich bitte, bitte auf die Eiche raufkommen.« Eine Weile sah er dem Schauspiel am Himmel zu, dann gab er der Müdigkeit nach und schlief bis zum Morgen durch.

Die Luft war dampfig wie in einem Wurstkessel, als der weiße Hahn auf dem Misthaufen krähte und die Hennen aus dem Stall lockte. Die Blätter am Hofbaum bewegten sich keinen Millimeter. Mit nacktem Oberkörper mistete Heiner die Kühe aus, dabei rieben die Hosenträger unangenehm auf seinen Schultern.

Bereits am Vormittag ratterten die Bauern mit den Fuhrwerken über die Feldwege zu ihren Wiesen. Die Helfer rechten das dürre Heu auf Rangen und gabelten es auf die Gatterwägen. Frauen und Kinder stapelten das Futter, Ochsen, Kühe und Pferde transportierten es in die Tennen, von wo es die Männer durch große Luken auf die Heuböden schafften.

Die Menschen beeilten sich, erste Wolkenberge türmten sich im Westen auf, die Schwalben flogen nicht höher als bis zu den Dachfirsten.

Das Futter der Hussnätterin war noch feucht. Mit den Rechen wendeten sie das Heu, damit die Sonne es von der anderen Seite trocknen konnte. Die Schleierwolken aber verschluckten die Strahlen, die drückende Luft stand wie eine Decke über den Feldern.

»Heute kommt noch was«, sagte Heiner sorgenvoll.

»Heut kommt nichts«, brummte die Alte, »weil wir unser Heu noch nicht daheim haben.« Trotzdem hielt sie inne und beschloss: »Ich hol mit der Annelie die Böcke, wir hängen das Zeug auf. Mach schon mal die Rangen fertig.«

Annelies Brust wogte auf und ab, als sie der Mutter hinterherrannte. Heiner stützte sich auf den Rechen und sah ihr nach, bis sie hinter der Hecke verschwunden war. Dann schmiss er den Stiel ins Heu und lief hinüber zur Eiche. Die Rinde war rau und trocken. Die Finger krallten sich in den Riefen, der linke Schuh fand in einer Wölbung Halt. Rasch gewann Heiner an Höhe. Ast um Ast gelangte er weiter hinauf. Das schwierigste Stück war gemeistert und bald auch der höchste Punkt erreicht.

Ein ängstlicher Blick nach unten, die Waden zitterten. Heiner schloss einen Moment die Augen und schnaufte durch. Durch das Laub erkannte er die Dächer im Dorf, die Ackerstreifen, die Feldwege. In der Ferne, irgendwo dort drüben, stellte er sich die Alpengipfel vor. Und er dachte an den Kuss, der ihm nun gewiss war.