Heinz Strunk in Afrika - Heinz Strunk - E-Book + Hörbuch

Heinz Strunk in Afrika Hörbuch

Heinz Strunk

0,0

Beschreibung

Sonne, Palmen, Black Jack, Burgerkrieg Seit Jahren reist Heinz Strunk zu Weihnachten mit einem Freund in die Fremde. Wohin, ist eigentlich egal, Hauptsache Meerblick, gepflegte Anlage und in der Nähe ein Spielcasino. Die beiden bevorzugen nämlich Reisen, bei denen die Erho-lung nicht durch tolle Erlebnisse, neue Anregungen oder interessante Urlaubsbekanntschaften erfolgt, sondern durch Nicht-Erkrankung, körperliche Ruhe und keine Gewichtszunahme. Anders gesagt: Den größten Erholungswert haben Reisen, auf denen nichts passiert. Diesmal soll es nach Mombasa gehen. Die erste Woche verläuft wie geplant. Doch am zweiten Weihnachtsfeiertag sind in Kenia Wahlen angesetzt, und plötzlich hallen Gewehrschüsse durch die Nacht. Allen Warnungen zum Trotz sind die beiden nicht davon abzuhalten, das nächste Taxi nach Mombasa City zu nehmen ... «Es ist die Melancholie vorweggenommener Erinnerung, die Heinz Strunk am Ende dieses zutiefst tröstlichen, wahrhaftigen Buchs als seine gefährlichste Waffe einsetzt.» Frankfurter Allgemeine Zeitung

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:3 Std. 44 min

Sprecher:

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Heinz Strunk

Heinz Strunk in Afrika

 

 

 

Über dieses Buch

Sonne, Palmen, Black Jack, Burgerkrieg

 

Seit Jahren reist Heinz Strunk zu Weihnachten mit einem Freund in die Fremde. Wohin, ist eigentlich egal, Hauptsache Meerblick, gepflegte Anlage und in der Nähe ein Spielcasino. Die beiden bevorzugen nämlich Reisen, bei denen die Erho-lung nicht durch tolle Erlebnisse, neue Anregungen oder interessante Urlaubsbekanntschaften erfolgt, sondern durch Nicht-Erkrankung, körperliche Ruhe und keine Gewichtszunahme. Anders gesagt: Den größten Erholungswert haben Reisen, auf denen nichts passiert. Diesmal soll es nach Mombasa gehen. Die erste Woche verläuft wie geplant. Doch am zweiten Weihnachtsfeiertag sind in Kenia Wahlen angesetzt, und plötzlich hallen Gewehrschüsse durch die Nacht.

Allen Warnungen zum Trotz sind die beiden nicht davon abzuhalten, das nächste Taxi nach Mombasa City zu nehmen …

 

«Es ist die Melancholie vorweggenommener Erinnerung, die Heinz Strunk am Ende dieses zutiefst tröstlichen, wahrhaftigen Buchs als seine gefährlichste Waffe einsetzt.» Frankfurter Allgemeine Zeitung

Vita

Der Schriftsteller, Musiker und Schauspieler Heinz Strunk wurde 1962 in Bevensen geboren. Seit seinem ersten Roman Fleisch ist mein Gemüse hat er elf weitere Bücher veröffentlicht. Der goldene Handschuh stand monatelang auf der Bestsellerliste; die Verfilmung durch Fatih Akin lief im Wettbewerb der Berlinale. 2016 wurde der Autor mit dem Wilhelm-Raabe-Preis geehrt. Mit seinen Romanen Es ist immer so schön mit dir und Ein Sommer in Niendorf war er zwei Jahre in Folge für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2011

Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH,

Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

Coverabbildung Umschlagabbildungen: (c) Ulf K.

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-90021-9

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für C., wen sonst.

Die ganze Welt bereist und nichts gesehen

TEIL 1

Kein-Erlebnis-Reisen

Dem ersten Satz eines Buches wird für gewöhnlich eine viel zu hohe Bedeutung beigemessen. Der erste Satz, der erste Satz muss stimmen! Genial soll er sein, überraschend, exaltiert oder gerade zurückgenommen, Grundlage und Material für enthusiasmierte Rezensionen. Monatelang schrauben und schwitzen und feilen die Autoren am verdammten ersten Satz, der einfach nicht gelingen will. (Manfred wuchs in den Eingeweiden seines Vaters auf.) Da ich keine Lust habe, mich diesem Unfug anzuschließen, lasse ich ihn weg und beginne mit dem zweiten:

 

C.s Anruf erreicht mich in den frühen Nachmittagsstunden des 14. November 2007. Er wisse selbst, dass es etwas kurzfristig sei, aber ob ich mir vorstellen könne, mit ihm über Weihnachten zu verreisen. Meine Frage, wohin es denn gehen soll, beantwortet er knapp:

«Kenia.»

Kenia? Wie kommt er denn darauf? Ich weiß noch nicht einmal genau, wo Kenia liegt. Als einziges, wohl nicht so bedeutendes Wissenspartikel fällt mir ein, dass Ernst August von Hannover dort einen österreichischen Hotelier krankenhausreif geprügelt haben soll. Ansonsten weißer Fleck. Keine Ahnung, ob dort demokratische Verhältnisse herrschen, ein irrer Diktator rumfuhrwerkt oder das Land gar von Bürgerkriegen zerrissen wird. Obwohl, dann würde C. es wohl kaum als Reiseziel vorschlagen.

Das wäre bereits der dritte gemeinsame Urlaub, zweimal schon haben wir die Dominikanische Republik bereist, beide Male im gleichen Hotel. Da weiß man dann wenigstens, wo alles ist.

«Wieso kommst du denn ausgerechnet auf Kenia?»

«Wieso sagst du ausgerechnet Kenia? Das ist ein schönes Land, und du warst doch sowieso noch nie in Afrika, soweit ich weiß. In Kenia herrschen stabile politische Verhältnisse, mehr oder weniger Wettergarantie. Und die Flugzeit beträgt nur siebeneinhalb Stunden.»

Ich finde Weihnachten in der Heimat eigentlich ganz schön. Die ideale Zeit für eine Fernreise ist für mich ein, zwei Monate später, wenn sich der Winter in Deutschland langsam zu ziehen beginnt.

«Januar oder Februar geht gar nicht?»

«Nein, ausgeschlossen.»

Na dann. Warum nicht Weihnachten in Afrika, mal eine neue Erfahrung. Ganz so leicht will ich es C. aber auch nicht machen.

«Prinzipiell geht das in Ordnung, aber so aus dem Stegreif kann ich nicht zusagen. Ich muss prüfen, ob da noch Termine liegen.»

«Prüfen, aha, denkbar langweilige Antwort. Dann prüfe. Ich melde mich in 48 Stunden wieder; bis dahin musst du dich entschieden haben.»

Auf meine Frage, wie es ihm sonst so gehe, verweist er auf Termine; er habe jetzt keine Zeit für Plaudereien. «Also dann, bis in 48 Stunden.»

48 Stunden. Affige Formulierung, denke ich, behalte das aber für mich.

Ob der feine Herr mir denn wenigstens die genaue Länge der Reise verraten könne, will ich abschließend wissen.

C., knapp, bellend: «Vierzehnter bis achtundzwanzigster Zwölfter.»

«Das ist ja schon in vier Wochen! Naja, also, dann rufst du mich wieder an.»

C. legt grußlos auf.

 

Der Umgangston zwischen uns beiden wirkt für Außenstehende möglicherweise etwas befremdlich. Ruppig, gespreizt, gestelzt, sonderbar, schrullig. Aber das hat sich in den zehn Jahren, in denen wir uns mittlerweile kennen, eben so ergeben. Wir haben Erfahrung im gemeinsamen Urlauben. Die Dick & Doof der Pauschalreise, ein total verrücktes Ferienpaar, zwei Halunken im Bumsbomber oder was einem sonst noch so an witzigen Formulierungen einfällt. Dabei herrscht ernstes und stillschweigendes Einverständnis über unsere gemeinsame Idee vom Urlaub: Es gilt nicht, besonders viel zu erleben, sondern gerade möglichst wenig, das allerdings in der immer gleichen zeitlichen Abfolge: 8 Uhr 15 Aufstehen, 8 Uhr 30 Frühstück, von neun bis elf Lesen/gute Gespräche/Dösen, 11 bis 11 Uhr 15 Abkühlung im Pool, Freizeit bis 13 Uhr 30, anschließend Mittagstisch. Danach Umzug vom Pool ans Meer, 14 Uhr 30 bis 16 Uhr Lesen/gute Gespräche/Dösen, Abkühlung, Kaffeepause, Ruhe auf dem Zimmer, 19 Uhr Aperitif an der Poolbar, anschließend Abendbrot. Danach ist Feierabend, heißt: Teilnahme am Entertainmentprogramm (wahlweise Casino oder Disco). Handschweißtreibender Höhepunkt jeder Reise ist ein Tagesausflug in die nächstgelegene Stadt.

 

Weihnachten in Afrika. Wie es sich wohl anfühlt? Heiligabend in Badehose, Blick auf den Ozean (welchen eigentlich?). Wenn Anfang November überhaupt noch was frei ist. Weihnachten bedeutet Hochsaison, da ist doch immer alles ausgebucht. Wie man so hört. Oder hat C., in der festen Annahme, dass ich mitkomme, gar schon reserviert? Mir ist eigentlich eher nach Hierbleiben zumute. Mein Gemütszustand befindet sich seit geraumer Zeit im Sink-, um nicht zu sagen: Steilflug, ich weiß auch nicht genau warum. Ein seltsames Phänomen, dass ich nie genau sagen kann, warum ich mich wie fühle. Ob das anderen Leuten auch so geht? Egal. Ich habe das ungute Gefühl, dass sich daran bis zum Reiseantritt nicht mehr großartig etwas ändern wird. Sich als betongesichtiger Trauerkloß in einem fremden Kontinent einzuigeln und vierzehn Tage in Angst davor zu leben, dass man die Rückfahrt nicht übersteht oder man von einer Psychose erwischt wird, sind denkbar schlechte Voraussetzungen für eine Fernreise. Reisen sollten gut gelaunt und mit starken Nerven angetreten werden, damit sie einen nicht schon bei der Sicherheitskontrolle gleich wieder zurückschicken. Gerade in Zeiten seelischer Schieflagen bedeutet ja jede Veränderung auch eine Überforderung; schon ein Ausflug in den Vogelpark Walsrode oder ähnliche Schmalspurunternehmungen verlangen mir dann das Äußerste ab. Und wenn ich mich gar ohne die gewohnten Strukturen, ohne geordnetes Koordinatensystem in einem völlig fremden Land durchsetzen muss, laufe ich Gefahr, einzugehen wie eine Primel. Geht nicht nur mir so: Ich kann mich noch gut dran erinnern, wie meine unter Angststörungen leidende Nachbarin Kathrin totale Panik vor dem anstehenden Erholungsurlaub schob. Alleiniges Kriterium (Alleinstellungsmerkmal, wie die Idioten heute sagen) für die Wahl ihres Urlaubsortes war das Vorhandensein eines Krankenhauses mit psychiatrischer Abteilung in der Nähe.

 

Naja, während den einen Höchstschwierigkeitsreisen (Apnoetaucher, die mit einem einzigen Atemzug ganze Ozeane durchqueren; Weltumrunder ohne einen Cent in der Tasche; Extremsportler, die in einer Saison sämtliche Achttausender erklimmen) leicht von der Hand gehen, sie dafür aber im Alltag oft scheitern, ist es bei mir genau umgekehrt. Daheim top, woanders Flop. Damit habe ich mich abgefunden, ich habe meine Defizite als zu mir gehörig begriffen und sie, wenn auch notgedrungen, akzeptiert. Wenn ich meine Restlebenszeit darauf verwenden würde, mir meine Neurosen abzutrainieren, bliebe kaum noch Zeit für andere Sachen. Beispiel Höhenangst. Anstatt eine mehrjährige Therapie anzutreten, meide ich Berge und hohe Gebäude, geht auch.

Wenn ich mich recht erinnere, bin ich zu keinem Zeitpunkt meines Lebens irgendwie erholt aus einem Urlaub zurückgekehrt. Batterien/Akkus/irgendwelche Speicher aufladen – Fehlanzeige. Außerdem, und das ist das Entscheidende: Ich bin kein Stück neugierig. Leider. Überhaupt nicht. Peinlich. Ach, irgendwie auch nicht. Man kann in seinem Leben eh nur eine begrenzte Anzahl Eindrücke sammeln, also sollte man sich gleich auf die wichtigen Dinge konzentrieren und den großen faden Rest auslassen. Und weder die Zahl der Abenteuer noch die Geschwindigkeit, mit der das Leben abläuft, ändern etwas an der Tatsache, dass man sterben muss. Seltsam übrigens, dass ausgerechnet die fadesten Menschen am längsten leben wollen. Keiner der wirklich interessanten Menschen, denen ich begegnet bin, wünscht sich, mehr Zeit zu haben. Die vorhandene ist völlig ausreichend.

In nicht allzu ferner Zukunft wird es sicher möglich sein, sich einen Chip transplantieren zu lassen, auf dem Erinnerungen und Erlebnisse gespeichert sind. Wie in dem Arnold-Schwarzenegger-Schocker Total Recall. Städte, Landschaften, Flüsse, Berge, Ozeane, all die Orte, an denen ich nie gewesen bin. Und ich bräuchte dort nicht mehr hin. Das größte Abenteuer des Lebens ist die Abwesenheit von Abenteuer.

 

Naja, da ich heute überhaupt noch nicht draußen war, könnte ich einen Spaziergang unternehmen und mir dabei zur Abwechslung auch mal die schönen Seiten des Reisens vor Augen halten. Draußen ist es kalt, nass und ungemütlich, um die vier, fünf Grad. Seit Tagen schon fällt der Regen in dünnen Schnüren, Himmel und Erde haben sich zu einer einzigen Farblosigkeit aufgelöst. Alles andere als ideale Bedingungen für einen Spaziergang, aber was soll ich machen, das ist eben Deutschland. Dafür gibt es hier Jahreszeiten, auch nicht selbstverständlich.

Latsch, latsch, latsch. Echt kalt. Einen Flash gibt es auf Reisen in den Süden sicher: der Moment, wenn man aus dem Flieger steigt und einem Sonne und Wärme entgegenschlagen. Dauert ungefähr fünf Minuten, dann hat man sich dran gewöhnt, meistens wird es einem dann auch schon wieder zu viel. Egal, ich wollte mir die schönen Seiten vor Augen halten: Ich werde endlich mal wieder zum Lesen kommen. Seit einem Jahr fristet Abbitte, ein moderner Klassiker aus der Feder des renommierten englischen Autors Ian McEwan, auf meinem Nachttischchen ein ausgesprochenes Schattendasein. Zur Abwechslung und reinen Unterhaltung werde ich auch noch White Line Fever mitnehmen, die Autobiographie von Motörhead-Chef Lemmy Kilmister.

Guter Plan: Vormittags lasse ich mich von Meister McEwan inspirieren, und nachmittags arbeite ich an meinem eigenen Buch. Es soll so eine Art Kindheitsroman werden, mein persönliches The Catcher in the Rye werden, mehr weiß ich noch nicht. Das erste Bild hab ich schon: Ich gehe die Treppe runter, und es riecht nach Klo und kalter Zigarre, das ist der früheste Geruch, an den ich mich erinnern kann. Kindheit, das bedeutet Sehnsucht, Wehmut, Glück, Sommer, Tiere! Ich habe den Sound genau im Kopf oder vielmehr im Gefühl. Mit dem Titel bin ich mir noch nicht ganz sicher. «Erinnerungsräume». Vielleicht. Obwohl: zu verquast. Vorsicht, Literatur! «Mein Kampf». Gibt’s leider schon. «Die Wurstvitrine». Nicht schlecht. «Der Mehlgnom». Besser, gut, ich glaub, der wird’s. Der Mehlgnom. Titel ist sogar noch wichtiger als der erste Satz. Ich habe übrigens vor, mich auf der biographischen Zeitachse rückwärtszutasten, bis zum Urschrei bzw. Urknall. Vielleicht gelingt der Literatur, was der Physik bisher verwehrt blieb: die erste trilliardstel Sekunde nach dem großen Bumms zu entschlüsseln.

 

Warm ist es um diese Jahreszeit auf den Kanarischen Inseln auch. Und der Flug dauert nur vier Stunden. Wenn man eh den ganzen Tag am Pool abhängt, ist es schließlich egal, wo man ist. Und Casinos gibt’s auf den Kanaren sicher auch. Was gegen die Kanaren spricht: Ich habe als halbwegs junger Mann Teneriffa bereist, genauer gesagt die Playa de las Americas, und dort war es ganz und gar und durch und durch furchtbar. Als ich mich kurz nach der Ankunft an der Hotelrezeption erkundigte, wo in etwa sich der Ortskern befände, habe ich nur verständnislose Blicke geerntet. Die Playa de las Americas hat nämlich keinen Kern, sie ist vielmehr eine sinnlose Aneinanderreihung von Fress-, Sauf-, Piss- und Bumsbuden. Ortskern, da lachen ja die Hühner und noch nicht mal die. Zudem ist der Ort, als Vorgriff auf das, was uns in naher Zukunft überall auf der Welt erwarten wird, fest im Griff der Rentner. Eine Seniorendiktatur. Steinalte, verkohlte Truthähne, so weit das Auge reicht. Erst Teneriffa, dann den Rest der Welt. Der Lebensabend kann heutzutage ja sehr lange dauern, unter Umständen länger als Morgen und Mittag zusammen. An der Playa de las Americas ziehen sie jedenfalls in Kohorten über die Promenade, Greise, die ohne Nutzen für irgendjemanden und ohne nennenswerte Erfahrung ihren endlosen Abendfrieden, die sinnlose Lebensverlängerung, den frech nach hinten geschobenen Tod genießen.

Eigentlich sollte ich bei dem Thema mal ganz still sein, denn auch ich falle demnächst aus der Zielgruppe, dann heißt es ab ins Hansaland oder in den Europapark Rust, den Lebensabend bei einem schönen Stück Erdbeerkuchen und einem Kännchen Kaffee ausklingen lassen.

Fuerteventura ist die andere Kanareninsel, die ich bereist habe. Fuerteventura heißt, wörtlich übersetzt: Insel der Winde, und das nicht ohne Grund: Tag und Nacht ein einziges Pfeifen und Stürmen und Ziehen und Blasen und Pusten, wer sein Nervenkostüm freiwillig ruinieren will, bitte schön. Ich musste mich auf dem Rücktransfer vor Erschöpfung mehrmals nacheinander übergeben. Die restlichen Kanaren bestehen meinen Informationen zufolge aus reiner Asche-/Lavamischung.

Andere Optionen: Mallorca – kann im Dezember bitterkalt sein. Ägypten – zu unsicher. Marokko – zu schmutzig. Usw. Ich werde erst mal alles sacken lassen und mich dann spontan aus dem Bauch heraus entscheiden.

So, eine Stunde, das reicht, Spaziergang beendet. Eine Stunde ist die Grenze; wenn ich länger unterwegs bin, fängt der Rücken an zu zwacken. Abends wie meistens Zeit totschlagen vor dem Fernseher, zu etwas anderem kann ich mich nicht aufraffen.

 

Ich schlafe schlecht und unruhig. Gegen Morgen habe ich einen total bescheuerten Traum: Ich sitze in der schönen, heißen Badewanne und blättere in der Fernsehzeitung, als mir auffällt, dass ich versehentlich die Ausgabe der Vorwoche erwischt habe. Ich steige aus der Wanne und begebe mich klatschnass auf die Suche nach der aktuellen Ausgabe. Mir ist kalt. Davon werde ich wach. Meine Güte! Wer nachts solche Träume hat, braucht gar keinen langweiligen Alltag mehr. Und nun? Aufstehen, Kaffee. Ich hab keinen Bock, aus dem Haus zu gehen, überhaupt keinen. Einkaufen, grässlich. Grässlich! Auf der Suche nach Nahrung werde ich schließlich in irgendeinem entlegenen Fach meiner Küchenzeile fündig: ein eingeschweißtes Paket Pumpernickel. Wann hab ich das denn gekauft? Egal. Haltbar bis 1/98. Gerade eben noch so. Warum nicht mal Pumpernickel zum Frühstück? Ist bestimmt gesund und hat nicht so viele Kalorien. Ich muss abnehmen, und wenn es klappt mit der Reise, sowieso. Schmeckt gar nicht so schlecht, mit Frischkäse und Zwergtomaten, zufällig hab ich auch noch etwas Schnittlauch im Haus. Salz, Pfeffer. Köstlich, wirklich köstlich.

Wieso zieht es C. nur nach Kenia? Ich könnte Gegenvorschläge unterbreiten, Australien zum Beispiel. Bestimmt ganz schön, aber viel zu weit weg. Amerika interessiert mich aus alten, verschorften, politischen Antigründen kein Stück, selbst Las Vegas nicht, obwohl ich passionierter Spieler bin. In Frage kommen sowieso nur Asien, Afrika und die Karibik, weil: Warm soll es sein. Was noch? Ich horche in mich hinein und bilde spontane Assoziationsketten.

Asien: endlose, schlohweiße, menschenleere Strände, kristallklares, grünblaues Wasser. Gesundes, schmackhaftes, kalorienarmes Essen. Hütten, Bambus, Gewürze. Fingerfood, Perlen, Fische, gute, klare Luft.

Karibik: Wellblechhütten, Mopeds, Palmen, Schiffe. Eintöniger Singsang, träg-sinnlose Grundstimmung, Casinos, Golfanlagen. Marode Flughäfen, kenternde Boote, Korruption, Papa Doc.

Afrika: drückend, brodelnd, eng, schwül. Wildtiere, Dschungel, Orakel, Ritualmorde. Opferblut/-tod/-gabe/-tier, Altäre. Hottentotten, Schamanen. Zulukaffer, Voodoo, schwarzes Wasser, Fehden. Feuer, Seuchen. Krieg. Von herannahenden Herden zitternder Boden.

 

Eigentlich spricht nichts für Afrika, wenig für die Karibik und alles für Asien. Naja, naja, Assoziationen können auch Quatsch sein. Das meiste ist eh Quatsch.

 

Warum lasse ich mich eigentlich nicht in einem Reisebüro professionell beraten? Die sind schließlich für Typen wie mich da. In meiner Straße gibt es zwei, sie heißen Kolibri und Panorama. Ich wohne schon sehr lange hier, und im Vorübergehen bot sich mir das immer gleiche Bild: Das Panorama hält dem Kundenansturm kaum stand, während im Kolibri ein südländisch aussehender Mann entweder traurig aus dem Fenster oder noch trauriger auf seinen Computermonitor starrt. Telefonieren habe ich ihn auch noch nie sehen. Vielleicht ist das Kolibri auch eine Geldwaschanlage, was weiß ich. Trotzdem gebe ich ihm jetzt den Vorzug, einerseits aus Solidarität, bei mir lief es schließlich auch nicht immer wie geschnitten Brot, andererseits aber auch der Hoffnung auf fehlende Wartezeiten wegen. Mein Anliegen ist schließlich denkbar einfach: Ich will keine komplizierte Rundreise mit Kreuzfahrt, Inselhopping oder Safari inklusive Großwildjagd buchen, sondern eine Pauschalreise ohne alles.

Also Jacke an und hin. Im Chefsessel des Kolibri hockt jedoch nicht der melancholische Inhaber, sondern eine verquollene Frau, die gerade damit beschäftigt ist, das Silberpapier von einem Karton mit chinesischem Essen abzupulen. Sie trägt ein grau-braun-dunkelgrünes Sweatshirt und schwarze Leggins. Alles, was sie ausstrahlt: Vorfreude aufs Essen. Ungelegener als ich kann ein Mensch nicht kommen. Das Happa sieht schrecklich aus und riecht auch so, es wird Tage dauern, bis sich der Gestank verzogen hat. Nicht mein Problem. Ich setze mich unaufgefordert hin und warte, dass sie sich nach meinen Wünschen erkundigt. Sie starrt abwechselnd mich und den Karton an und hat dabei nur einen einzigen Gedanken: MEIN GOTT, JETZT WIRD DAS ESSEN KALT! Ich könnte «Guten Appetit» oder so was sagen, aber ich will ja nicht, dass es ihr schmeckt, sondern dass sie mir eine Reise bucht. Mein Leben lang habe ich Rücksicht genommen, irgendwann ist auch mal Schluss. Ich werde ihr ein paar Fragen stellen und mich nach diversen, mit einer Reise zusammenhängenden Versicherungen erkundigen. Bis alle Fragen beantwortet sind, ist das Essen eiskalt. Ich weiß es, und sie weiß es auch.

«Hallo. Guten Tag und guten Hunger», beginne ich fröhlich das Beratungsgespräch.

«Danke. Was kann ich für Sie tun?» Sie klingt nicht sehr serviceorientiert.

«Ich möchte kurz entschlossen über Weihnachten weg. Irgendwohin, wo es warm ist, Afrika, Asien, Karibik, so was, und jetzt wollte ich mal fragen, was es da so gibt und was Sie mir empfehlen können.»

«Aujeh.»

«Wie, aujeh?»

«Können Sie nicht am Montag wiederkommen? Da ist der Chef wieder da, ich kann im Moment gar nichts machen, weil ich nicht an den Computer rankomm.»

Sie schaut mich aus trüben Augen an. Ihre Haut hat eine leicht gelbliche Pigmentierung.

«Ach so. Aber Montag ist schlecht bei mir. Außerdem habe ich Angst, dass es bis dahin nichts Vernünftiges mehr gibt.»

«Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Und wie gesagt, jetzt kann ich auch nichts machen. Montag ist der Chef wieder da.»

«Und Sie können wirklich nichts machen?»

«Nein, ich komm an den Computer nicht dran.»

Wenn der Chef seine Aushilfen noch nicht mal an den Computer lässt, kann er das Büro doch gleich ganz abschließen. Die lügt doch.

«Vielleicht sollte ich im Netz schon mal vorrecherchieren.»

Hoffnung keimt in ihrer Miene. «Schaden kann’s auf jeden Fall nichts.»

Pause. Mit jeder weiteren Minute kühlt das Essen weiter aus.

«Und wegen möglicher Impfungen erkundige ich mich wohl am besten im Tropeninstitut?»

«Das weiß ich nicht so genau. Wie gesagt, ich komm an den Computer nicht ran.»

«Aber das hat doch jetzt nichts mit den Impfungen zu tun.»

«Ich kann Ihnen das nicht sagen. Ich bin auch nicht vom Fach, ich soll hier nur aufpassen.»

Aufpassen, aufpassen! Worauf denn? Egal, sie schaut jetzt ebenso traurig drein wie der Chef. Mitleid verdrängt in mir die Verärgerung. Ich beschließe, Gnade vor Recht ergehen zu lassen und das Reisebüro Kolibri seinem schwermütigen Schicksal zu überlassen.

«Na gut, dann will ich mal nicht weiter stören. Und Montag ist der Chef wieder da?»

«Montag ab späten Vormittag. Montag ist der Chef wieder da.»

«Vielleicht komm ich. Oder ich probier’s mal woanders.»

«Ganz, wie Sie meinen. Montag ab elf, so was.»

«Guten Appetit und tschüüs.»

«Danke. Schönen Tag noch.»

Jetzt kann sie essen und danach wieder in ihren Dämmerzustand verfallen. Morgen werde ich das Panorama aufsuchen und den heutigen Abend dazu nutzen, Informationen aus dem Netz zu saugen.

 

Am Abend googeln: KENIA, MOMBASA, HOTEL. Schnell wird klar, dass der entscheidende Parameter auf den Urlaubswebsites die sog. Weiterempfehlungsquote ist:

«Früher gut, jedoch schwer in die Jahre gekommen.»

«Zimmer voller Kakerlaken.»

«Durchschnittsalter zwischen 55 und 80.»

«Menükarte wiederholt sich sehr schnell.»

Und, mysteriös: «Nichts für Menschen mit Gehbehinderungen.»

Ich schalte den Computer aus und gehe ins Bett. Traumloser Schlaf.

 

Am Morgen geht es mir etwas besser. Vielleicht liegt es an der Ernährungsumstellung. Antidepressivum Pumpernickel. C. meldet sich Punkt 17 Uhr.

«Und? Ja oder nein?»

«Ich glaub, ich komm mit.»

«Also ja. Es geht nach Mombasa, liegt direkt am Indischen Ozean.»

«Aha.»

«Flugmäßig wird übrigens auch die sog. Comfort Class angeboten, die liegt irgendwo zwischen Holz und erster, kostet 200 Euro mehr, hat dafür aber deutlich mehr Beinfreiheit.»

«Wie viel mehr denn?»

«Vier Zentimeter.»

«Wie, vier Zentimeter bloß? Das sind für jeden Zentimeter 50 Euro.»

«Du wirst schon sehen, vier Zentimeter sind mehr, als du denkst.»

«Und was ist das für ’ne Anlage?»

«Nyali irgendwas. Angeblich das Beste, was es gibt. Also, soll ich jetzt buchen?»

«Ja, buch mal. Aber mit Reiserücktritt.»

«Hätte ich sowieso getan. Und mach dir schon mal Gedanken über ein Drehbuch.»

«Wie, Drehbuch?»

«Wir sollten die gemeinsame Zeit nutzen, um ein Treatment für einen Kinofilm zu schreiben. Hatten wir doch eh vor, und dort wäre es ideal.»

«Von mir aus. Wenn uns was einfällt.»

«Natürlich fällt uns was ein. Es muss weitergehen, immer weitergehen.»

«Gut, ich überleg mal. Aber dann ist das ja kein Urlaub im strengen Sinn, sondern eine Dienstreise.»

«Nenn es, wie du willst.»

«Und wie geht’s dir sonst so?»

«Ich hab jetzt keine Zeit. Ich melde mich, wenn ich die Tickets habe.»

«Jaja. Servus.»

«Ahoi.»

Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Mombasa. Klingt irgendwie gut, da hört man die Buschtrommel gleich mit. Trommel, Häuptling, Neger, Dschungel, Gnu, verbotene Begriffe einer Roten Liste. Afrika, Kontinent des Staunens. Asien, Kontinent des Reis. Reis, Beilage der Langeweile. Das sagt doch schon alles.

Die kommenden Wochen werden in bangem Warten verstreichen.

Bleierne Zeit

Dienstag, 20. November

Wieder werde ich von einem idiotischen Traum geweckt. Arbeitstitel: Falsche Waschmaschinenprogrammierung. Ich sitze auf dem Sofa, plötzlich fällt mir siedend heiß ein, dass ich Strümpfe und T-Shirts versehentlich bei 90 Grad wasche. In Panik stürze ich ins Bad und versuche, die drohende Katastrophe in letzter Sekunde abzuwenden, kann jedoch den Ausschaltknopf nicht finden. Das war’s schon. Ende, aus, wachwerd. Meine Güte, andere träumen wenigstens was Aufregendes, während ich im Schlaf von Geschirrspülern und TV-Zeitschriften heimgesucht werde. Fortschreitende Sinnerosion. Draußen drückt der Wind in Böen Regen gegen das Fenster.

 

Ein Treatment will C. also verfassen. Treatment ist ein Exposé in lang. Soso. Wenigstens eine brauchbare Idee sollte ich einbringen. Grübel, Kopf zerbrech, nachdenk.

Vielleicht so: Chile neunzehnhundertschießmichtot, das Land ächzt seit vielen Jahren unter der Knute einer ultrabrutalen Militärdiktatur. Hunderte von Kilometern südlich der Hauptstadt Santiago de Chile existiert ein vergessener Lebensborn, dessen Mitglieder im festen Glauben verharren, die Welt stünde unter der Regentschaft der Nazis. Die Junta versorgt die Borns mit allem, was gut und teuer ist. Doch plötzlich wird der Frieden von einer Gruppe internationaler Ökoaktivisten gestört, die sich im Dschungel verirrt haben … Geil. Aber teuer. Was noch? Ein Privatsanatorium, irgendwo in der norddeutschen Pampa, eine Art moderner Zauberberg. Ich bin Chefarzt. Thema Gags und Psychosen. So was.

 

Noch drei Wochen bis zum Reiseantritt, höchste Zeit für eine Bestandsaufnahme. Ich stelle mich nackt vor den Spiegel: massig. Trotz Pumpernickel. Massig, das erste und einzige Wort, das mir in den Sinn kommt, noch vor speckig. In letzter Zeit beschleicht mich immer wieder das beunruhigende Gefühl, dass ich mehr und mehr einem Erdkundelehrer gleiche. Ich kenne zwar keinen und habe auch nichts gegen sie, trotzdem möchte ich nicht wie einer aussehen: schwer atmender Pädagoge, der sich nach mehreren schlechtverheilten Leistenbrüchen in Hüfthosen zwängt.

Die Waage zeigt 82,5, auweia, das sind mindestens vier Kilo zu viel. In drei Wochen zur Bikinifigur, Traumfigur, Strandfigur, Traumkörper, Bikinikörper, Strandkörper, Traumbody, Strandbody, Bikinibody, das wird natürlich nix, aber vielleicht wenigstens ein bisschen. Mir fällt auf, dass es speziell meinem Hals irgendwie an Spannkraft mangelt. Wie heißt nochmal der abschätzige Begriff für den schlaffen Hals in die Jahre gekommener Männer? Pelikanhals? Hühnerhals? Storchenhals? Irgendein Vogel jedenfalls. Schrottvogel.

Die verbleibende Zeit bis zum Reiseantritt gilt es, sich reiseantrittsfähig zu machen. Wenigstens jeden zweiten Tag Sport, wenigstens! Als flankierende Maßnahme ein Solarium aufsuchen, denn ich bin vollkommen ausgeblichen, weiß wie Oskar. Mein Hauttyp muss erst noch erfunden werden. Doppel A: Sieht aus wie ein Türke und brennt wie ein Däne, haha. Die ersten drei Sitzungen Vierhunderter Ergoline, ab Woche zwei in den Booster, Voiceguide aus, ich weiß Bescheid. Nächste Maßnahme: bis zum Abflug den Alkoholkonsum deutlich einschränken. Erlaubt sind ab sofort nur noch Kinderportionen: täglich maximal eine Flasche Wein oder Sekt, also praktisch nichts. Langweilig. Öde. Freudlos. Das ureigenste Gefühl der Deutschen: Freudlosigkeit.

Rauchen brauch ich mir nicht abzugewöhnen, hab ich mir schon abgewöhnt. Leider. Leiderleider. Wieder eine Freude weniger. Aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen (Rauchen schadet der Gesundheit) habe ich es vor vier Jahren unter Aufbietung aller Kräfte eingestellt, und jetzt ist der Rückweg offenbar auf ewig versperrt, da mein Körper auf jeden Versuch mit hartnäckigen Anfängerbeschwerden wie Schwindel, Husten, Schweißausbrüchen, Übelkeit und allgemeinem Unwohlsein reagiert. Ich müsste richtig lange durchhalten, bis es wieder geht. Ich lege großen Wert darauf, Nichtraucher zu sein. Haha, was sonst, höre ich schon den vorlauten Zwischenruf. Also, Folgendes: Ein Nichtraucher ist einer, der gern rauchen möchte, es aber nicht tut, im Gegensatz zum Nieraucher, der, wie das Wort schon sagt, nie geraucht hat und auch kein Bedürfnis danach verspürt. Gerade in Suchtfragen ist Genauigkeit oberstes Gebot. Nieraucher vs. Alkoholiker. Vom Klang hört sich Alkoholiker doch ganz gut an, könnte fast eine wissenschaftliche Disziplin sein. Alkoholiker: einer, der Ahnung von Alkohol hat. Besser noch: Morphinist.

Mittwoch, 21. November, Buß- und Bettag

A-Temp 7 Grad. 82,7 Kilo, über Nacht explosionsartige Gewichtszunahme um dreihundert Gramm! Ich muss dringend etwas tun. Laufen. Traben. Joggen. Minimum 12 Kilometer. Draußen ist es grau wie Blei, ausgelaugtes Licht, trübes, diffuses Regenwetter. Hoppel, keuch, schwitz, stolper. Heftige Regenschübe durchnässen mich binnen kurzem bis auf die Knochen. Egal. Hunger. Das Pumpernickel kommt mir zu den Ohren raus, ich schwenke um auf Knäckebrot, genauer gesagt Wasa Break. Funktionsessen, Vernunftessen. Beim Essen füllt das Break den Schallraum meines Kopfes mit einem gleichmäßigen, mahlenden Geräusch.

Mir ist langweilig, aber ich kann mich beim besten Willen zu nichts aufraffen. Außerdem bin ich dauernd müde. Ich bin ja davon überzeugt, dass es an den Verhältnissen liegt. Unsere Verhältnisse (die westlichen) produzieren unablässig Erschöpfung. Vorzeitige Ermüdung. Langeweile. Und Verbitterung. Interessantes Thema. Das Jahr soll endlich vorbeigehen. Zum Glück geht’s bald in Urlaub, das ist dann die dringend benötigte Zäsur.

 

Am Abend wieder googeln: URLAUBSOPFER. Nur so.

«Hallo, ihr lieben Urlaubsopfer. Ich hoffe, ich bin hier richtig. Wem ging es nicht auch schon mal so: schönes Hotel im Katalog gefunden und dann anstatt Spaß und Erholung nur Frust. Aber tröstet euch, anderen geht es auch nicht anders. Da gibt es ganz viele witzige Bilder und Videos von Urlaubern, die auch nicht so viel Glück hatten», schreibt Cindy 79. «Fast immer, wenn man verreist, gibt es unvorhergesehene Erlebnisse mit unfreiwilliger Komik, die nach dem Urlaub gerne erzählt werden. Wer möchte, kann hier ein (oder mehrere) Erlebnis(se) kurz niederschreiben.»

Und das lassen sich die lieben Urlaubsopfer nicht zweimal sagen:

«Morgens um ca. 6.00 Uhr geht im Dolphin de Luxe so alle drei bis vier Tage das Notstrom-Aggregat an. Und läuft dann so ca. 15–20 min. Nachtruhe ade, und das im Urlaub!!!!»

Sehr witzig. Nächster Begriff: LUSTIGE URLAUBSERLEBNISSE. Rechtschreibfehler habe ich mal dringelassen:

 

«Im Februar 2002 waren wir für eine Woche auf Gran Canaria. Wir hatten einen Ausflug gebucht und stellten unser Handy auf 7.00 wecken. Nachdem wir frühs schon geduscht und fast angezogen waren zeigte ein Blick auf die Uhr, dass es erst 6.25 früh war. Wir hatten die Zeitverschiebung um 1 Stunde nicht berücksichtigt, als wir am Handy die Weckzeit einstellten.»

 

«Hei Ich packe heute noch etz is es 03.41 meinen Rucksack mit dem Nötigsten und meinen Schlafsack und fahre heute noch zum Bahnhof ich habe mir schon das Jugendticket gekauft damit kann man ganz Österreich bereisen. Ich steige in irgendeinen Zug ein und lasse mich überraschen wo ich lande. I muss schon sagen das ist ein Nervenkitzel den ich benötige OK Ciao Ciao vielleicht treffen wir uns einmal unterwegs;)»

 

«Vom 24. 6. 2008 bis zum 26. 6. 2008 war ich ja in Lloret de mar. Der Gang auf die Toilette von McDonalds machte mich ein wenig wirr, denn da stand eine Frau die mich mit großen Augen anschaute, ganz klar dachte ich, die will 50 Cent fürs benutzen. Kein Ding, nur stellte sich raus, das sie gar keine Toi-Frau war, sondern nur bei den Damen anstand . Ich hab mich natürlich hundertmal entschuldigt. Sorry liebe Tante Nochmal .»

 

Kommentar von Moni: «loooool die Geschichte mit der Toiletten-Frau ist ja klasse . Das wär mir so peinlich gewesen.»

 

Kommentar von Fighter: «Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was so ein Thema in einem Bodybuilding-Forum zu suchen hat. Hinzu kommt, wie niveaulos und kindisch das ganze geschrieben ist. Am besten redet ihr über solchen Bullshit in einem eigenen Forum.»

Versteh ich irgendwie nicht.

Donnerstag, 22. November

Es ist feucht und ungemütlich, sehr ungemütlich sogar. Ich schaue aus dem Fenster. Der Regen verschleiert in eiskalten Fäden den Blick auf das Nachbarhaus. Seltsam, dass C. sich nicht meldet. Vielleicht ist alles ausgebucht, und er traut sich nicht, mir die Wahrheit zu sagen. Laut Statistik wären eigentlich mal wieder weiße Weihnachten fällig, die Wetterdienste stellen bereits die ersten entsprechenden Prognosen an. In meiner Erinnerung hat es immer ein paar Tage vor Heiligabend zu schneien begonnen, die Festtage inklusive Silvester und Neujahr wurden unter einer dicken Schicht jungfräulichen Pulverschnees begraben. Und einer noch dickeren Schicht aus Geschenken. Vielleicht würden sich die alten Gefühle wieder einstellen, wenn man in die Berge führe oder einen anderen Ort mit Schneegarantie. Einen Weihnachtsmann engagieren. In die Mitternachtsmette gehen. Kekse backen. Irgendwas basteln. Stattdessen unsportliche Flucht nach Afrika.

Samstag, 24. November

4 Grad, Sprühregen, trübe, kalte Nässe, aber: 81 Kilo, eineinhalb Kilo weniger. Der regelmäßige Sport zeigt Wirkung, und ich sehe irgendwie entschlackt aus. Mich beunruhigt, dass C. sich nicht meldet. Als ich vom Laufen zurückkehre, kaufe ich das Hamburger Abendblatt. Nur so, einer Eingebung folgend. Ich blättere und blättere und will die samstäglich dicke Langeweilerpastille schon wieder weglegen, als ich über eine Schlagzeile stolpere:

«Kein-Erlebnis-Reisen» am erholsamsten

Nicht tolle Erlebnisse, neue Anregungen oder Urlaubsbekanntschaften bewirken die Erholung bei einer Urlaubsreise, sondern die Nicht-Erkrankung, die körperliche Ruhe und keine Gewichtszunahme.

Den größten Erholungswert haben demnach Reisen, auf denen nichts passiert. Zu diesem überraschenden Ergebnis kommt ein amerikanischer Forscher. «Meine Ergebnisse widersprechen der allgemeinen Annahme, dass Freizeitreisen die Lebenszufriedenheit eines Menschen wegen der positiven Gefühle heben, die einen Bezug zu Gesundheit und Sicherheit haben», erklärt Joe Sirgy von der Virginia Tech. «Stattdessen ist die Zufriedenheit nach der Urlaubsreise stark davon beeinflusst, ob man sich nicht oft zu müde und zu erschöpft gefühlt hat, ob man nicht an Gewicht zugenommen hat und ob man sich keine Gedanken wegen einer Krankheit hat machen müssen.» Dass im Hotelzimmer keine Kakerlaken waren, dass man von «Montezumas Rache» verschont wurde, dass man sich mit Aktivitäten nicht übernommen hat und auch nicht an Gewicht zugelegt hat, war nach seiner Studie der eigentliche Erholungsgewinn der Reise.

Ein Wahnsinn. Den Artikel hätte ich schreiben können. Schreiben müssen. Natürlich besser, aber man weiß ja, was gemeint ist.

Mittwoch, 28. November

Werde bereits um sieben vom Piepen meines Weckers aus dem Schlaf gerissen. Dabei hatte ich ihn gar nicht gestellt! Rätselhaft, sehr, sehr rätselhaft. Pieppieppieppieppiep. Eine Abfolge von Piepstönen, wie alles heutzutage. Kann nicht mehr einschlafen, daher Spaziergang. Blasses Morgenlicht, dünne zerrissene Wolkenschicht mit vielen schwarzen Rinnsalen darin. Wetterdepressionen.

Jetzt habe ich schon vierzehn Tage nichts von C. gehört. Vielleicht ist ja tatsächlich etwas passiert. Kurze, schwere Krankheit. Oder er hat es sich anders überlegt. Oder Ärger mit der Steuer.

Ich stelle den Fernseher an. Fernsehen geht zum Glück immer. Mein Lieblingsprogramm sind Dauerwerbesendungen oder AstroTV mit Starmoderator Malkiel Rouven Marx. Das einzige Medium in siebter Generation empfiehlt sich durch erstklassige Wahrsagen und prognosestarke Astrologie.

Typischer Gesprächsverlauf:

«Hallo, wer hat es zu mir geschafft?»

«Helga.»

«Ich grüße Sie, Helga. Wie alt sind Sie?»

«Neunundfünfzig.»

«Gibt es einen Partner oder Wunschpartner?»

«Nein. Aber das wäre schön.»

«Aha.»

Der Meister deckt schweigend einige Karten auf. Dann:

«Ich sehe noch in diesem Jahr eine neue Partnerschaft.»

«Wann denn?»

«September. Spätestens Oktober. Etwas Festes.»

«Ach, das wäre so schön.»

Und jetzt kommt’s:

«Etwas wirklich Festes. Helga, ich sehe die LEBENSENDPARTNERSCHAFT!»

Wie das klingt! Lebensendpartnerschaft. Dann doch lieber gar keine. Umschalten:

TV Shop 24. «Captain Cook und seine singenden Saxophone sind von ihrer langen Reise zurückgekehrt und haben viele neue Lieder mitgebracht.» Da meine Gutgläubigkeit häufig Züge von Schwachsinn trägt, glaube ich das Wort für Wort: Captain Cook und seine singenden Saxophone haben TATSÄCHLICHauf einem Viermaster die Welt bereist und von jeder Station ihrer entbehrungsreichen Weltreise (Skorbut, Seuchen, Hunger, Piraten) ein neues Lied mitgebracht.

Tja, so bin ich drauf.

Freitag, 30. November

Schnatterkalte 3 Grad, dafür herrlichster Sonnenschein. Ich bräuchte dringend eine neue Waschmaschine, meine habe ich noch zu D-Mark-Zeiten für zwei Blaumänner gebraucht gekauft. Man kann förmlich zusehen, wie die Waschleistung nachlässt. Deshalb wahrscheinlich die beknackten Träume. Außerdem könnte ich mal wieder den Keller entrümpeln. Die Wohnung soll sich mal so richtig auskotzen. Huch, wie bin ich denn drauf?

Sonntag, 2. Dezember

2 Grad, regnerisch, mit gelegentlichen Aufheiterungen, Schnee liegt in der Luft. 79,4 Kilo. Heute ist der erste Advent. Der Stadtpark ist voller Spaziergänger, die meisten von ihnen dick eingemummelte, rotbackige Pärchen, die die Vorweihnachtszeit in vollen Zügen genießen, während ich verbissen meine Runden ziehe. Streber. Arme Sau. Trotz Sport werde ich von Trübsinnsattacken und Sinnfragen durchgerüttelt. Je länger ich darüber nachdenke, desto weniger bin ich in der Lage, den Hauptkonflikt meiner Existenz überhaupt noch ausfindig zu machen. Es ist eben so, wie es ist, denn bei Licht besehen hatte ich in meinem Leben bisher nicht mehr Unglück und nicht mehr Glück als die meisten anderen auch. Kann man nix machen. Jeder Mensch hat eben einen persönlichen Identitätskern, einen Kern, dessen wesentliche Merkmale nicht veränderbar sind.

Punkt.

Unwiderlegbar.

Montag, 3. Dezember

Temperatursturz auf den Gefrierpunkt! Gewicht stagniert. Mit dem Film beschäftige ich mich überhaupt nicht mehr. Wozu soll ich in Vorleistung treten? C. rührt bestimmt auch keinen Finger. Abgesehen davon, dass er sich überhaupt nicht rührt. Aber ihm hinterherzutelefonieren kommt nicht in die Tüte, ich hab schließlich auch meinen Stolz. Ob es einen einzigen Kenianer gibt, der schon mal von Heinz Strunk gehört hat? Das wäre doch mal eine Herausforderung, die Marke HS am anderen Ende der Welt populär zu machen. Irgendwo hab ich mal gelesen, dass es eine Milliarde Dollar kostet, einen völlig Unbekannten weltweit bekannt zu machen.

Mittwoch, 5. Dezember

79,1 Kilo. Seit den Morgenstunden Dauerregen, zusätzlich bläst ein eisiger Wind polaren Ursprungs. Wenn das so weitergeht, bin ich pünktlich zum Reiseantritt zermürbt. Winter in Deutschland: Zermürbungstaktik. Führt IKEA mittlerweile eigentlich Waschmaschinen? IKEA, Kapitalismus zum Duzen, fällt mir ein. Es gibt bestimmt Kabarettisten, die das lustig finden und in ihr Bühnenprogramm aufnehmen würden. Bitte, hier, für lau. IKEA ist ein Scheißladen wie jeder andere auch, aber ich finde zumindest sympathisch, dass Gründer, Chef und Multimilliardär Kamprad öffentlich zugibt, depressiver Alkoholiker zu sein. Ich gehe zu einem kleinen Elektrofachgeschäft in der Nähe, wo mir Herr Wolpert, ein schwitziger Mittdreißiger, dringend zur Anschaffung einer Waschmaschine der deutschen Traditionsmarke Miele rät. Sie verfüge sogar über das Programm dunkle Wäsche, ich wusste gar nicht, dass es so was überhaupt gibt.

Donnerstag, 6. Dezember

Kurz vor der Tagesschau klingelt das Telefon.

«Bursche, ich grüße dich: Wie geht es dir?»

Er nennt mich fast ausschließlich Bursche oder Burschi.

«So lala. Warum hast du denn nichts gesagt?»

«Gesagt? Was sollte ich denn gesagt haben?»

«Dass es nichts geworden ist mit der Reise. Auch nicht die feine englische Art. Bald ist Weihnachten, und ich steh ohne Plan B da.»

«Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Zwei Tage nach unserem letzten Telefonat habe ich die Tickets besorgt, inklusive Reiserücktrittsversicherung.»

«Aha, das ist ja interessant. Und wieso sagst du mir das nicht? Wenigstens ’ne SMS hättest du schreiben können. Ich bin davon ausgegangen, dass es aus irgendwelchen Gründen nicht geklappt hat.»

«Also, folgendermaßen: Wenn tatsächlich etwas dazwischengekommen wäre, hätte ich dich sofort informiert. Du hast mich als Ehrenmann kennengelernt, der Absprachen einhält. Bist du eigentlich ausreichend geimpft?»

«Wie geimpft, was geimpft? Wogegen denn?»

«Malaria. Gelbfieber. Tropenkrankheiten.»

«Was denn noch alles? Natürlich nicht. Impfen, impfen, wo denn überhaupt?»

«Ihr habt doch in Hamburg das Tropeninstitut. Da musst du hin.»

«Ach Scheiße, auf Safari gehen wir eh nicht, und man kann man ja wohl erwarten, dass Speisen und Getränke im Hotel nicht hepatitisverseucht sind.»

«Ich darf dich darauf aufmerksam machen, dass sich die Malariamücke auch von einem Fünf-Sterne-Hotel nicht abweisen lässt.»

«Ja, ja. Ich überleg’s mir.»

«Ich kann’s dir nur dringend ans Herz legen.»

«Ich sag doch, ich überleg’s mir.»

«Nun gut. Ich habe dich darauf hingewiesen, jetzt bist du selbst verantwortlich.»

«Und was ist sonst so passiert?»

«Das Übliche. Viel zu tun.»

«Ach so, ja. Und irgendwas Neues?»

«Umzug.»

«Ach so.»

«Ja. Kommende Woche. Und, freust du dich auf unsere Reise?»

«Geht so. Eigentlich schon.»

Pause. Ich höre, wie er sich eine Zigarette ansteckt.

«Dann sehen wir uns am Vierzehnten in Frankfurt.»

«Hä, wieso denn Frankfurt?»

«Von Wien oder Hamburg aus gibt es keine Direktflüge.»