Herzmörder: Knisternde Dark Fantasy Romance (Ashitara-Chroniken 1) - Nika S. Daveron - E-Book
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Herzmörder: Knisternde Dark Fantasy Romance (Ashitara-Chroniken 1) E-Book

Nika S. Daveron

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Beschreibung

Drachen gibt es nur in Legenden, das weiß jeder. Doch in jeder Legende steckt ein Hauch Wahrheit - das muss auch die magische Geologin Vanjura lernen, als sie bei einem ihrer Streifzüge auf eine Kreatur unter dem Berg trifft: Herzmörder. Ein uralter Drache, der auf Rache sinnt. Weil er in den Gesteinsschichten feststeckt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als Vanjura um Hilfe zu bitten. Die schlaue Geologin denkt gar nicht daran, eine Kreatur zu befreien, die Verderben über die gierigen Clans von Ashitara bringen will, bis sie erfährt, dass die Nachtmahre ihren Verlobten Karai entführt haben. Vanjura lässt sich auf einen gefährlichen Handel mit dem Drachen ein, der nicht nur sie und Karai, sondern auch ganz Ashitara zu zerstören droht und Vanjura dem Herzmörder ganz nah bringt. Viel näher, als sie es je gewollt hat.

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Impressum:

Texte: Nika S. Daveron

Umschlag: Nika S. Daveron (Bilder unter Lizenzierung von Adobe Stock und Shutterstock genutzt)

Lektorat: Jess A. Loup

Korrektorat: Tamara Weiß

Für eine Auflistung der Triggerwarnungen im Buch »Herzmörder«, können Sie Nika S. Daveron gerne per Mail unter: [email protected] oder über ihre Facebookseite https://www.facebook.com/NikaSDaveron/ kontaktieren.

Nika S. Daveron

HERZMÖRDER

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1: EIN ÜBERBEZAHLTER KANARIENVOGEL

KAPITEL 2: DER LETZTE DRACHE

KAPITEL 3: NACHTLILIE

KAPITEL 4: DER PAKT

KAPITEL 5: DER HERRSCHER DER MAGIE

KAPITEL 6: DER VERRÄTER

KAPITEL 7: SCHLECHTES GEWISSEN

KAPITEL 8: DAS KLOSTER DER TAUSEND SEELEN

KAPITEL 9: DER MECHANISCHE DRACHE

KAPITEL 10: DIE ASCHEKRIEGERIN

KAPITEL 11: NURHANA

KAPITEL 12: DER VORLETZTE DRACHE

KAPITEL 13: EIN ANDERES GESICHT

KAPITEL 14: DAS PORTAL ZUM TRAUM

KAPITEL 15: KARAI

KAPITEL 16: DER ANGRIFF

KAPITEL 17: DER URDRACHE

KAPITEL 18: FREIHEIT

ÜBER DIE AUTORIN

KAPITEL 1: EIN ÜBERBEZAHLTER KANARIENVOGEL

»Es ist alles bereit, Lady Trent.« Der Mann von der Wächter-Gilde macht einen Schritt zurück und stellt seinen Speer auf dem Boden ab.

Ich nicke ihm zu und lasse mir von dem anderen eine Fackel reichen. Vorsichtig hebe ich den Saum meines Rockes und steige die frisch geschlagenen Treppen hinunter, um den neuen Gang zu inspizieren, den die Minenarbeiter geschlagen haben. Schon seit einigen Monden wurde gesprengt und gegraben, damit wir nun endlich in die tieferen Ebenen der Mine vordringen können. Meine Aufgabe ist es, sie zu überprüfen – auf Goldvorkommen, Diamanten und was man noch so alles unten in den Gesteinsschichten finden kann. Fossilien, Drachenglas, Junirs Klauen. Einmal habe ich eine ganze Stadt freigelegt, die anscheinend von einem Vulkanausbruch verschluckt wurde. Allerdings muss dieser Jahrtausende her sein, denn unter den Nachtbergen gibt es keine Magmakammern mehr.

Ich steige tiefer und man schließt die Tür hinter mir. So steht es im Protokoll und an das halte ich mich. Wenn ich nicht zurückkomme, dann wissen sie, dass sie diesen neuen Arm schnellstmöglich sprengen müssen, um zu verhindern, dass das, was mich holte, an die Oberfläche dringt.

Anjali sagt dazu: Du bist ein ziemlich überbezahlter Kanarienvogel. Aber ich bin die Gilden-Geologin der Flammenträger und damit ist es meine Pflicht, diese Aufgabe zu übernehmen. Dann bin ich eben ein überbezahlter Kanarienvogel. Na, und?

Und streng genommen bin ich auch nicht die Erste, die hinuntersteigt. Die Arbeiter erledigen das, wenn sie die Stollen ausbauen. Ich bin nur dafür da, Proben zu nehmen und das Gestein nach Auffälligkeiten zu durchsuchen. Zwei Tage und zwei Nächte nehme ich mir dafür. Ich schlafe in dem neuen Stollen und markiere anschließend wichtige Gesteinsadern und gebe den Weg für die tieferen Ebenen hervor. So ist die Honlai-Mine unter meiner Leitung schon hunderte Meilen in die Tiefe gewachsen und darauf bin ich sehr stolz.

Ich liebe diese Momente. Wenn ich allein mit dem Herz der Berge bin und die Schwingungen wahrnehme, die sich um mich herum entfalten. Es ist, als ob das Gebirge zu mir spricht. Klar, das liegt an meiner Magie, aber trotzdem glaube ich manchmal mit einem selbstständigen Wesen zu reden. Es ist, als wenn man einen guten Freund besucht und ihn jedes Mal ein bisschen besser kennenlernt.

Ich entzünde zwei der Honigfackeln an der Treppe und stehe dann unten auf einem Plateau, das gut und gerne zwei riesige Dampfmaschinen fassen könnte, die in den Minen wertvolle Rohstoffe abzutransportieren. Hier werde ich auch mein Lager aufschlagen und heute Abend meine ersten Zeichnungen beginnen, um den Ausbau voranzutreiben.

Die Zukunft der Flammenträger hängt von unseren Erfolgen in den Minen ab und ich will, dass wir unabhängig von den anderen Clans bleiben und vor allem konkurrenzfähig. Es dreht sich vieles nur um Gold, aber die Clans von Ashitara streiten seit jeher um die Vorherrschaft und ich will nicht schuld daran sein, wenn die Flammenträger ins Hintertreffen geraten.

Ich werde heute Nacht im Traum die ersten Skizzen übergeben, damit die Clanältesten eine Ahnung davon haben, was unter den Nachtbergen lauert. Meine fertige Karte erhalten sie erst nach meinem Aufenthalt in den Honlai-Minen.

Ich erreiche ein kleines Lager, das man mir bereitgemacht hat. Ein Feldbett, eine Feuerstelle, ein paar Lebensmittel, meine Zeichenutensilien und geologische Messinstrumente befinden sich dort fein geordnet, so wie ich es haben möchte. Die Wächter-Gilde hat es mit mir und meinen Anordnungen manchmal nicht einfach. Und da ist sie auch – die Sanduhr, die angibt, wann ich wieder oben sein muss, um den Teil der Mine als sicher zurückzumelden.

Ich drehe sie vorsichtig um und beachte sie dann nicht mehr, auch wenn sie ein wahres Kunstwerk mit verschnörkelten Abbildern der Schwarzen Göttin ist, die ihre Flügel über das Glas spannt. Aber ich bin nicht sehr gläubig, daher erstarre ich nicht in Ehrfurcht.

Ich lege meine Tasche auf dem Feldbett ab. Darin befinden sich ein paar persönliche Dinge, sowie Wechselkleidung. Einen Eimer Wasser von oben hat man mir ebenfalls bereitgestellt, sowie einen Nachttopf. Das ist das Unschöne daran, wenn man unter Tage wohnt. Allerdings haben sie mir auch ein Säckchen Kalk hingestellt und ein Unrat-Loch gebohrt, damit ich es nachher hineinkippen kann.

Ich stelle alle meine Sachen ab und mache mich daran, mein neues Heim für zwei Tage zu erkunden. Von dem Plateau aus sehe ich mehrere Stollen rechts abgehen, einer ist mit einem roten X aus Farbe markiert, hier ist Vorsicht geboten. Offenbar haben die Minenarbeiter seltsame Schwingungen gespürt oder etwas gefunden, was sie nicht zuordnen konnten, aber für gefährlich hielten. Warum nicht also gleich mit dem Schwierigsten anfangen?

Ich gehe hinüber. Die Decke über mir ist trocken und so dunkel wie der schieferhaltige Boden. Doch rechts von der Tür mit dem X wuchert ziemlich frischer Dolomit, den die Bergarbeiter nicht anrühren wollten. Man sieht die Bruchkante, die sie hinterlassen haben. Dort wurde nicht weitergegraben.

Ich greife nach dem Hammer an meinem Gürtel und ziehe zwei Nägel aus einem Säckchen, um sie jeweils rechts oder links neben der Tür anzubringen. Sollte ich darin etwas finden, das zwar nicht die gesamte Mine gefährdet, aber doch zu riskant ist, werde ich mit einem roten Band darauf hinweisen. Die Arbeiter werden den Stollen dann zuschütten und versiegeln. Ich habe schon einige versiegelte Stollen hinterlassen. Einer war mit riesigen Leuchtwürmern gefüllt, die sich bei näherer Betrachtung als giftig erwiesen. Ein anderer bestand im Inneren aus ziemlich löchrigem Aktinolith, sodass ich die Sicherheit der Minenarbeiter nicht hätte gewährleisten können.

Bisher lag ich immer richtig, seitdem ich in den Nachtbergen eingesetzt werde. Noch nie ist ein Minenarbeiter wegen meiner Weisung umgekommen. Keine verschütteten Männer und Frauen, keine vergifteten Grubenarbeiter. Das heißt nicht, dass wir nicht auch Unfälle haben, aber sie sind zumindest nicht auf mich zurückzuführen, sondern auf Übereifer, müde Bergarbeiter und … nun ja … Mutproben. Bei den Flammenträgern lieben sie Mutproben. Ich selbst bin nicht davor gefeit, was mir einige kritische Kommentare meiner großen Schwester Anjali eingebracht hat, aber was soll ich machen? Ich bin eben eine von ihnen.

Als ich fertig mit den Nägeln bin, betrachte ich kurz mein Werk und stecke dann den Hammer weg, nehme aber dafür das rote Band schon einmal in die Hand. Vorsichtig greife ich wieder nach der Fackel, die ich dafür auf dem Boden abgelegt habe und betrete den schmalen Gang. Mehr als ein Mann hat hier keinen Platz, sie werden ihn vergrößern müssen, wenn sie arbeiten wollen – und das wollen sie auf jeden Fall, denn ich sehe bereits die ersten feinen schimmernden Adern. Was ist das? Meine Finger streichen darüber, ich versuche dem Gestein zu lauschen. Aber diese Stimme habe ich noch nie gehört. Es muss etwas Seltenes sein, vielleicht kenne ich seinen Namen nicht – noch nicht. Doch wirklich merkwürdig ist, dass ich eine klare Stimme vernehme: »Verschwinde.«

Ich schrecke fürchterlich zusammen und drehe mich um. Meine Fackel wirbelt umher, während ich mich umdrehe, doch da ist niemand. Weder vor noch hinter mir.

Bei allen Höllen, erlauben sich die Arbeiter einen Streich? Noch lieber als Mutproben mögen die Flammenträger nämlich Streiche …

Ich atme tief durch. Auf keinen Fall werde ich ihnen zeigen, dass ich mich fürchte. Aber sie können sich schon mal auf den Anpfiff ihres Lebens gefasst machen. Niemand öffnet die versiegelte Tür, solange das Stundenglas nicht abgelaufen ist. Ich werde …

»Du wirst gar nichts«, sagt die Stimme ziemlich laut.

Ich halte den Atem an und versuche, nicht in Panik auszubrechen. Ich fixiere die Stollenwand vor mir. Hier ist nichts. Nur ich und das Gestein.

»Wer ist da?«, raune ich.

Nichts. Gar nichts.

Ich taste vorsichtig den schimmernden Stein entlang, doch es geschieht nichts mehr. Vielleicht gibt es hier drinnen halluzinogene Stoffe? Ich sollte den Stollen lieber mit einem roten Band markieren, kein Wunder, dass die Arbeiter das X aufgemalt haben.

Dafür brauche ich auch nicht bis zum Ende zu gehen, ganz gleich, welche Schätze hier warten könnten. Wenn ich eins weiß, dann ist es, dass Gier tötet. Wer sollte das besser wissen als ich?

Vorsichtig taste ich nach dem Pendulum an meiner Brust, das mich mit seiner Magie unterstützt. Es ist ein Talisman, den jeder Magier in Ashitara trägt. Ein Erkennungszeichen und eine Hilfe, mit der wir die Magie besser kanalisieren können.

Ich schüttle den Kopf, um die finsteren Gedanken zu vertreiben, und drehe mich um. Nicht weitergehen. Nichts riskieren. Wenn das Phänomen in mehreren Gängen auftritt, werde ich den gesamten Abschnitt wieder zuschütten und an anderer Stelle graben lassen. Daran ist nichts Verwerfliches.

Meine Schritte hallen durch den Stollen, als ich dem Weg zum Ausgang folge und schließlich wieder auf das Plateau trete. Die Stimme ist nicht mehr da. Oder hat es sie gar nicht gegeben? War ich vielleicht zu lange unter Tage? Denn ich bin bestimmt schon drei Tage in den oberen Ebenen der Minen unterwegs. Ich schaue mir Stellen an, an denen man weitergraben könnte. Wer weiß, ob ich vielleicht den Tiefenkoller bekomme …?

Trotzdem ziehe ich das rote Band von meinem Gürtel und befestige es zwischen den beiden Nägeln. Sicher ist sicher. Ein schlechtes Gefühl bleibt ein schlechtes Gefühl und ein erster Instinkt ist meist der Richtige. Und alles in mir hat in diesem Stollen geschrien: Lauf!

Zur Sicherheit versiegle ich das Band mit einer Faser Magie, damit ich gewarnt bin, falls, was immer sich darin befindet, hinauswill. Auch das habe ich schon einmal erlebt und es war gar nicht schön. Dabei habe ich mir üble Verbrennungen an der rechten Hand zugezogen, weshalb ich an meinem kleinen Finger keinen Nagel mehr besitze. Die ganze Haut ist vernarbt.

Ich betrachte im Licht der Fackel die alte Verletzung und lausche noch einmal. Nichts mehr. Rein gar nichts. Anjali würde jetzt sagen: Du träumst mit offenen Augen. Aber das stimmt nicht. Wir alle träumen dasselbe. Das liegt uns im Blut. Und wenn ich es wahrgenommen habe, dann müssten es andere auch bemerkt haben. Vielleicht würde man dann nach mir sehen. Eine Stimme in den Minen habe ich noch nie gehört – so etwas würde Konsequenzen nach sich ziehen. Vermutlich würden die Oberen der Flammenträger höchstpersönlich in mein Refugium kommen, um zu sehen, wer dort spricht. Nein, ich halte es für ausgeschlossen, dass es sich um einen Traum handelt – der mich noch dazu am helllichten Tag befällt. Wir träumen nur in der Nacht.

Ich beruhige meinen Atem und lasse mich auf dem Hocker neben dem Tisch nieder. Meine Arbeit erledigt sich nicht von selbst, also werde ich es wohl oder übel erst einmal ignorieren müssen und mir die anderen Stollen vornehmen.

Vorsichtig rolle ich eines der Pergamente auf, um meine ersten Skizzen der Karte zu fertigen. Ruhig, Vany. Diese Stimme existiert nur in deinem Kopf. Nicht im Stollen. Warum sonst sollte sie jetzt ruhig sein? Mein Kopf hat mir einen Streich gespielt. Das hoffe ich zumindest.

Wie spät es ist, kann ich nur anhand der Sanduhr sagen. Es sind mittlerweile zwölf Stunden vergangen, es ist draußen mitten in der Nacht, doch hier unten gibt es keine Tageszeiten und ich liebe alles daran. Ich bin ein nachtaktiver Mensch und warte meist sehnsüchtig auf den Sonnenuntergang. Erst dann fühle ich mich freier, glücklicher und vor allem aktiver.

Ich habe bereits drei Stollen kartografiert, die äußerst vielversprechend wirken und auch schon einen gesalzenen Brief verfasst, weil die Minenarbeiter ziemlich nachlässig durch den Schiefer gesprengt haben, obwohl sich darin eine Kupferader befand.

Ich bin hochkonzentriert auf meine Arbeit, alle Sinne geschärft, ich kann an zwanzig Dingen gleichzeitig arbeiten, wenn es nötig ist, und hier unten tue ich es auch manchmal. Ich halte beim Schreiben des Briefes inne, mache an meinen Skizzen weiter und durchforste meine Notizen, um weitere Vorschläge für ein Vorankommen im Gebirge einzuzeichnen. Ein Blick auf die Kerze – sie ist fast erloschen, und ich werde nachlegen müssen. Oder vielleicht ein bisschen schlafen? Nein. Ich bin immer noch nicht müde. Und ich erlaube mir unter Tage nie mehr als fünf Stunden Schlaf. Es gibt zu viel zu entdecken und zu sehen.

Ich trinke einen Schluck von meinem kalten Tee und zeichne schwungvoll eine Gesteinsader auf der Karte ein, die, durch meine Magie sichtbar geworden, an den Wänden des Plateaus pulsiert. Das müssen wir auf jeden Fall vergrößern.

Der Tee schwappt über und hinterlässt einen Fleck auf dem Pergament, als sich meine Nackenhaare aufstellen und eine Stimme den Boden erbeben lässt: »Ich weiß, dass du hier bist.«

Ich springe auf, dabei wird noch mehr Flüssigkeit über die Karte verschüttet, und ich muss sie vermutlich neu zeichnen. Aber darauf kann ich nun wahrlich keine Rücksicht nehmen. In den Minen spricht etwas mit mir.

Ich nehme all meinen Mut zusammen und frage: »Wer ist da?«

»Immer noch derselbe wie zuvor, Dummchen. Also was ist? Kommst du nun runter? Oder muss ich noch ein bisschen mehr plappern, damit du neugierig wirst?«

Was zum …? Normalerweise sprechen unheimliche Stimmen gruselige Worte, nicht aber, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist.

»Komm schon«, sagt die Stimme nachdrücklicher. Sie ist tief und wohlklingend, wie ich jetzt bemerke. Also entweder bin ich dem Tiefenkoller anheimgefallen oder irgendetwas sitzt in diesem Stollen und wartet auf meine Antwort. Aber will ich wirklich eine geben?

»Wer bist du?«, frage ich nachdrücklicher, während ich immer noch die Tasse umklammere.

»Ein Freund. Keine Sorge, ich kann dir nichts tun.«

»Freunde treiben sich eher selten in Minenschächten herum«, antworte ich vorsichtig.

Es muss ein Streich der Arbeiter sein. Vielleicht von Vorarbeiter Zukal, der ist für solche Dinge berüchtigt. Ich stelle entschlossen die Tasse ab und gehe zur Tür, die hinauf in die oberen, erschlossenen Bereiche der Mine führt. Doch der Zauber dort ist ungebrochen, niemand hat die Tür durchschritten, seitdem ich hinuntergegangen bin.

Ich lausche kurz, aber ich kann auf der anderen Seite keine Regung hören. Kein Wunder, ich weiß, dass die Jungs von der Wächter-Gilde gerne schlafen, wenn sie mich bewachen. Bräuchte ich einmal wirklich Hilfe von ihnen, wäre ich sowieso aufgeschmissen.

»Falsche Richtung«, sagt die Stimme. »Ich kann deine Schritte hören. Komm schon, ich beiße nicht. Ich will nur reden.«

»Klar. Reden. Reden können wir auch hier«, erwidere ich.

»Ich will sehen, mit wem ich spreche.« Die Stimme klingt tatsächlich ein wenig genervt. Und frech.

Meine Angst ist zumindest aktuell ziemlich leise. Dafür wächst meine Empörung. Wie redet das Ding mit mir?

»Du hättest nur noch ein bisschen weitergehen müssen, dann wären wir uns bereits begegnet«, sagt die Stimme. »Nun komm. Dir kann nichts passieren.«

»Ich kenne Märchen, die genauso abliefen – allerdings geschah den Protagonisten darin sehr wohl etwas«, antworte ich vorsichtig.

»Ich bin … kein Märchen. Glaube ich. Ich weiß nicht. Gibt es ein Märchen über mich? Ich habe lange geschlafen. Wer weiß, was zwischendurch in Ashitara passiert ist?«

»Keine Ahnung«, gebe ich zurück.

Sie Sache ist so surreal, dass ich gar nicht weiß, wie ich reagieren soll.

»Schau, du nimmst jetzt deine zwei Beine und dann kommst du runter. Zu mir. Ich weiß, dass du zaubern kannst, also bist du nicht wehrlos. Ich will nur reden. Mehr verlange ich nicht. Weißt du, wie lange ich nicht mehr mit jemandem gesprochen habe? Bestimmt vierhundert Jahre.«

»Und was bist du?«, frage ich hilflos.

»Das verrate ich dir nicht, es würde die Überraschung verderben.«

Vielleicht ist es doch der Traum. Und den anderen geschieht genau dasselbe. Wahrscheinlich bin ich über den Plänen eingenickt und vorhin … da war es Einbildung.

Trotzdem gehe ich auf das rote Band zu und nehme eine der Honigfackeln aus der Halterung. Vorsichtig streiche ich mit dem Zeigefinger über das Band, und der Eingang ist wieder frei. Ob das eine kluge Idee war, kann ich nicht sagen, allerdings scheint die Kreatur nicht direkt feindselig zu sein. Sonst hätte sie mich einfach heimtückisch ermorden können, während ich über den Plänen saß.

Ich betrete den Gang erneut, aus dem ich vor wenigen Stunden noch so hastig geflohen bin. Alles sieht so aus wie zuvor, ich sehe den Schimmer des Gesteins, der mich tiefer hinab führt.

»Hast du nicht vorhin noch gesagt, ich solle verschwinden?«, lasse ich die erste Begegnung mit der Stimme Revue passieren.

»Ich habe es mir anders überlegt«, grollt das Ding.

Es klingt fast ein bisschen trotzig. Was mag sich am Ende dieses Stollens befinden?

Ich muss mich bücken, um die nächsten Meter zu überwinden, denn der Stollen ist nicht einmal groß genug für mich. Die Fackel beleuchtet nur schwarzen Schiefer und dieses schimmernde Metall, das meine Haut prickeln lässt. Ansonsten sehe ich nichts als die Schwärze der Nachtberge. Und dann bemerke ich, dass die Luft sich verändert. Sie riecht feurig. Als hätte man ein Streichholz entzündet. Alarmiert sehe ich mich um, doch meine Sinne vibrieren vor Magie, und ich kann nichts Gefährliches feststellen. Mein Zauber ist so eine Art zusätzlicher Sinn, mit dem ich andere Dinge wahrnehme als die Gefühllosen. So nennen wir magisch Begabte die anderen, die keine Magie verspüren können.

»Du musst tiefer gehen. Dorthin, wo die Arbeiter nicht waren«, weist mich die Stimme an.

Seltsam, ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass es so tief in den Honlai-Minen keine weiteren Schächte gibt. Aber tatsächlich betrete ich nun an einer Abzweigung etwas, das nicht aussieht, als hätten unsere Männer es gegraben. Es wirkt älter. Und man kann es leicht übersehen, wenn man nicht die Magie darin bemerkt. Es ist ein grünes Leuchten, das mich an einen sommerlichen Wald in voller Pracht erinnert. Ein merkwürdiges Summen geht davon aus, und die Pforte zum Gang scheint nur im Lichtkegel meiner Fackel überhaupt sichtbar zu sein.

Es dauert eine ganze Weile, bis ich nicht mehr mit dem Kopf an die Decke stoße, und der Gang wird breiter. Altertümliche Treppen weisen mir den Weg. Hier gab es einst eine blühende Zivilisation. Ich bin im Begriff eine große Entdeckung zu machen. Weiter und weiter taste ich mich hervor, während die Magie mir ihre beruhigenden Schwingungen vermittelt. Es ist alles gut.

»Kannst du meine Gedanken lesen?«, frage ich.

»Nein. Aber Magie fühlen. Und bekanntlich spricht die zu allen Begabten dasselbe.«

Ich betrete einen größeren Raum, ein Hohlraum, in dem einst das Wasser gestanden haben muss, denn Stalaktiten wachsen von der Decke, und darunter befinden sich die verräterischen Wasserkränze. Offenbar hat jemand die Stalagmiten zerschlagen, überall liegen Brösel davon herum.

Erstaunt erkenne ich, dass eine merkwürdige Pflanze gegenüber an der Wand wächst. Ich habe sie noch nie gesehen, doch als ich sie mit Hilfe der Magie abtaste, kann ich nichts Merkwürdiges daran feststellen. Es ist eine Art Farn, so wie er auch in den Wäldern von Ashitara rund um das Nachtgebirge wächst. Komisch. Wie mag er bloß hierhergekommen sein?

Vorsichtig taste ich mich an ihn heran und berühre die Blätter, die sich in dem Moment sofort zusammenrollen. Erschrocken trete ich einen Schritt zurück, kann nun aber erkennen, was dahinter liegt. Es ist ein riesiges Auge. Es schimmert golden, als wäre ich auf eine Ader getroffen, aber am Rand beginnt es grün zu werden wie die Farne. Und für einen kurzen Moment schließt es sich.

»Wurde ja auch Zeit«, sagt die Stimme, nun ganz nah.

»Wer bist du?« Die Frage habe ich so oft gestellt, aber nun muss ich der Tatsache ins Auge sehen – wortwörtlich – das hier ist ein Drache. Was sonst sollte so riesig sein, dass sein Auge so groß ist wie die Spanne meiner Arme? Aber es gibt keine Drachen mehr in Ashitara. Die Clans haben sie vor Jahrhunderten ausgerottet. Das kann unmöglich sein.

»Ich bin Herzmörder«, sagt der Drache und schließt das Auge abermals. Die Nickhaut wischt hinterher.

»Ich bin …«

»Du solltest mir deinen Namen niemals sagen, Mensch. Es ist besser, wenn ich ihn nicht kenne.«

Seine Stimme scheint aus den Wänden und dem Boden zu kommen.

»Kannst du ihn nicht herausfinden?«, frage ich misstrauisch. Vorhin kam es mir so vor, als ob der Drache Gedanken lesen könnte.

»Die Magie trägt keine Namen. Sie sendet nur Farben und Gefühle.«

Das stimmt. Er muss offensichtlich magiekundig sein.

»Seit wann bist du hier?«

»Seit einer Ewigkeit.«

Wir schauen einander einfach nur an. Wobei ich den Nachteil habe, dass ich ihn nicht vollständig sehen kann. Allerdings weiß ich auch nicht, ob das so eine kluge Idee wäre. Ich kenne keine Drachen. Ich weiß, dass es sie gegeben haben muss, denn in der Honlai-Mine findet man hin und wieder eine ihrer Schuppen, allerdings sind sie seit Jahrhunderten ausgestorben.

»Kannst du mir helfen?«, fragt der Drache.

»Wobei?«

»Ist das nicht offensichtlich? Wärst du gerne im Gestein gefangen?«

»Wie ist das passiert?«, stelle ich eine Gegenfrage.

Das Auge schließt sich wieder. Dieses Mal länger.

»Man hat mich eingesperrt.«

»Wer ist: man?«

»Die Flammenträger.«

Ich weiß überhaupt nicht, wie ich auf diesen Vorwurf reagieren soll. »Davon weiß ich nichts«, gebe ich zu.

»Das habe ich auch nicht erwartet, Menschlein. Aber was ich mich frage: Kannst du nicht deine Magie benutzen, um mein Gefängnis ein wenig zu öffnen? Ich sitze schon sehr lange hier fest und mein Kinn juckt. Ich komme nicht dran.«

Moment …

»Nein«, antworte ich entschlossen. »Du hast mir gerade selbst verraten, dass die Flammenträger dich eingesperrt haben. Wenn ich dich jetzt herauslasse, dann wirst du vermutlich die ganze Mine in Schutt und Asche legen.«

Das Auge rollt hin und her, bis es mich wieder fixiert. »Das würde ich nicht«, behauptet der Drache. »Ich will nur frei sein.«

Ich schüttle den Kopf. »Ich kann das nicht alleine entscheiden.«

»Dann geh wieder. Geh und lass mich hier. Ich brauche Hilfe. Und wenn du mir nicht helfen kannst, bist du nutzlos.«

Von seiner Warte aus stimmt das vermutlich. Er hat sich an mich gewandt, und ich muss ihm die Bitte abschlagen. Doch auch, wenn ich mich nicht mit Drachen auskenne, kann ich wohl erahnen, was passiert, wenn ich sein Gefängnis aufbreche. Er ist ein wildes Ungeheuer. Man hat ihm sicher nicht umsonst den Namen Herzmörder gegeben und wenn er einer ist, dann verrate ich alles, wofür ich stehe, sobald ich ihn befreie. Nein, das geht nicht.

»Schau, ich kann deinen Wunsch verstehen«, sage ich. »Und du klingst zumindest, als wärst du ein zivilisiertes Wesen. Aber ein Versprechen kann schnell gebrochen werden.«

Das Auge schließt sich abermals, und kurz denke ich, dass der Drache eingeschlafen ist, denn es dauert sehr, sehr lange, bis es sich wieder öffnet. Dieses Mal ist es nur ein verengter Schlitz, nicht so groß wie vorher, als er mich erneut fixiert.

»Gut, Menschlein, dann schlage ich dir etwas vor. Du lernst mich kennen und denkst dann darüber nach, ob du mir den Wunsch vielleicht doch erfüllen willst. Dafür verrate ich dir die Geheimnisse des Gesteins. Du suchst doch nach genau diesen, oder? Sonst würdest du dich nicht in so entlegenen Gegenden herumtreiben.«

Ich verschränke die Arme vor der Brust und versuche zu ergründen, ob er mich hereinlegen will. Verdammt, warum weiß ich nichts über Drachen? Sind sie listige Kreaturen? Können sie friedlich sein? In allen Geschichten, die ich über Drachen kenne, sind sie bösartig. Und sie sprechen nicht. Sie rauben, stehlen und plündern und ansonsten horten sie Schätze. Dass einer spricht … das ist neu für mich.

»Ich werde darüber nachdenken«, erwidere ich langsam.

»Versprich mir, dass du niemandem von mir erzählst.«

»Das sind jetzt zwei Versprechen.«

»Du bist ganz schön spitzfindig, weißt du das?«

»Das muss man als Geologin sein«, entgegne ich.

»Dann erzähle ich dir im Gegenzug, was die Flammenträger mit mir angestellt haben. Vielleicht wirst du die Geschichte deines Clans dann mit anderen Augen sehen. Ich weiß, dass ihr alle stolze Flammenträger seid. Also? Kann ich auf dich zählen?«

»Ich muss mir nur einen Weg überlegen, wie ich den Stollen so glaubhaft versiegle, dass niemand für eine Mutprobe hineinkriecht.«

Das wird schwierig. Und überhaupt. Sollte ich dieses Geheimnis wirklich für mich behalten? Ich bin mir unsicher …

»Einer Magierin wie dir wird sicher etwas einfallen.«

Er schmeichelt mir. Da ist er an der falschen Adresse. Karai hat das am Anfang bei mir probiert und ist krachend gescheitert. Vielleicht finden mich einige Clanmitglieder arrogant, aber ich weiß um meine Stärken, die muss ich nicht von anderen vorgebetet bekommen. Allerdings weiß ich auch um meine Schwächen – auf die mich tunlichst ebenfalls niemand hinweisen braucht. Ich kenne mich schließlich selbst am besten.

»Ich denke darüber nach und werde morgen zurückkommen«, sage ich fest.

»Ich bin gespannt, Menschlein. Wer weiß? Vielleicht kommst du mit dutzenden Bewaffneten wieder und versuchst mich zu töten. Ich bin quasi in deiner Hand. Ist das nichts wert?«

»Keine Ahnung«, gestehe ich. »Momentan weiß ich nicht mal, ob das wirklich passiert. Vielleicht wache ich später auf und stelle fest, dass mein Wasser kontaminiert war. Oder dass ich Leuchtpilzsporen eingeatmet habe. In den Minen ist alles möglich.«

»Komm näher«, sagt der Drache. »Ganz nah.«

Ich zögere für einen Moment, doch ich folge seinem Befehl.

»Sehe ich aus wie eine Illusion?«

»Weiß nicht.«

»Würde eine Illusion das sagen?«

»Vermutlich. Um mich zu überzeugen, dass sie echt wäre.«

Ein tiefes Knurren geht durch den Berg. »Du hast Humor, Menschlein, das muss ich dir lassen.« Das ist wohl seine sehr eigene Variante eines Lachens.

»Komm wieder«, sagt er. »Und wir unterhalten uns. Mit dir wird es zumindest ein wenig erträglicher hier.«

»Darf ich … darf ich dich einmal anfassen?« Ich weiß selbst nicht, warum ich das frage. Aber vor mir hat sicher noch nie jemand vom Flammenclan oder irgendeinem der anderen Clans einen Drachen berührt.

»Solange du mir nicht ins Auge piekst«, erwidert der Drache ruhig.

Ich strecke meine Hand aus. Ganz langsam. Halb erwarte ich, dass er mich in eine Falle gelockt hat und ich vielleicht Schmerzen erleide oder einen Schlag bekomme. Mich verbrenne oder irgendetwas. Doch tatsächlich fühle ich nur die warmen Schuppen unter meinen Fingerspitzen, die über seinem Augenlid sitzen. Sie sind hart und kantig, aber es fühlt sich nicht unangenehm an. Die Wärme ist so intensiv, dass sie die feuchte Kühle des Raumes komplett aus meinen Knochen vertreibt. Verrückt, denn eigentlich ist oben Winter und ich trage einen dicken Pelzumhang, um der Kälte zu trotzen. Zwar ist es in manchen Teilen der Honlai-Mine wirklich warm, doch dieser Stollen gehört nicht dazu.

»Und? Bist du jetzt überzeugt?«, fragt er mich.

»Es fühlt sich zumindest echt an«, muss ich zugeben.

»Es ist echt. Die Magie flüstert es dir doch bereits. Kannst du es nicht hören?«

KAPITEL 2: DER LETZTE DRACHE

Als ich erwache, brauche ich einen Moment, um zu begreifen, wo ich mich eigentlich befinde. Ich bin immer noch in den Honlai-Minen, im Nachtgebirge. Ich bin Vanjura Trent, und ich bin einem Drachen begegnet. Erschrocken springe ich auf, stolpere dabei über meinen eilig abgelegten Mantel auf dem Boden und fluche ziemlich, als ich mir das Bein am Hocker anschlage. Warum bin ich auch so unordentlich?

Ich klaube das Kleidungsstück zusammen und atme tief durch. Die Magie flüstert zu mir. Er ist immer noch da, der Drache, Herzmörder. Ich kann ihn nicht sehen, nur spüren. Aber die Wärme seiner Schuppen wohnt immer noch in mir. Mir ist nicht kalt, obwohl das Feuer bereits heruntergebrannt ist – und das seit Stunden. Ich kann mich auch nicht an meinen Traum erinnern, was mir noch nie passiert ist. Und eine Unsicherheit überkommt mich, die mein Herz plötzlich beben lässt. Was hat er mit mir gemacht? Jeder in Ashitara kann sich an seine Träume erinnern. Es ist unsere zweite Welt, wir leben in ihr und ich gehöre dazu. Jede Nacht.

Ich mache mir nicht einmal die Mühe, den Mantel überzuwerfen. Ich laufe sofort los, ohne Stiefel, die mich vor dem kalten Untergrund schützen, und begebe mich mit einer Fackel zu dem Stollen, der hinunter zu ihm führt. Ich brauche nicht allzu lang, da stehe ich wieder vor der Wand aus Gebirgsfarnen. Mit einem Wink meiner Hand ziehen sie sich zusammen, und ich blicke wieder in das Auge.

Doch der Drache scheint zu schlafen, es ist geschlossen. Weckt man einen Drachen? Nein, sollte man einen Drachen wecken? Ich kann mich an keine Legende oder Märchen erinnern, die das Gegenteil empfehlen, allerdings ging ein Treffen mit einem Drachen selten gut aus für die Helden oder die Prinzessinnen, die in den Märchen vorkamen.

»Hey!«, rufe ich, lauter als ich eigentlich will.

Keine Reaktion.

Ärgerlich stampfe ich mit dem Fuß auf, auch wenn ich Anjalis Stimme im Ohr habe: Du wirkst wie ein trotziges Kind, wenn du so etwas tust. Stimmt. Aber irgendwohin muss ich mit meiner Aufregung, meinem Ärger oder anderen Emotionen, die in diesem Moment drohen, mich zu überfluten. Ich werfe auch gerne Sachen umher, allerdings habe ich hier nur die Fackel und wenn ich meinen Weg ohne sie finden muss, wird es selbst für eine erfahrene Geologin wie mich schwierig in den Minen.

»Drache! Ich bin hier.«

Das Auge öffnet sich behäbig.

»Ich habe auch einen Namen, Menschlein.«

»Ich weiß.« Ich will ihn nur nicht sagen. Etwas an diesem Namen verursacht mir eine Gänsehaut. »Was hast du mit mir gemacht?«

»Was gemacht?« Das Auge verengt sich.

»Du hast mich betrogen. Du … du hast mich aus dem Traum entfernt.«

»Der Traum?«

»Erzähl mir nicht, dass du davon nicht wusstest.«

»Wovon?«

»Vom …« Kann es wirklich sein, dass er es nicht weiß? Ich bin keine Expertin auf dem Thema, der Clan der Nachtmahre studiert den Traum von Ashitara. Wir Flammenträger leben mehr in dieser Welt.

»Der Traum …«, wiederhole ich schwach.

»Was ist der Traum?«, fragt der Drache mich. »Das musst du mir schon erklären.«

»Ich … ich kann es nicht gut beschreiben. Weißt du nicht, dass wir alle in Ashitara denselben Traum träumen? Es ist wie ein Land, das man im schlafenden Zustand betritt. Alles, was dort geschieht, hat Auswirkungen auf uns. Wir sehen dieselben Dinge. Wir sprechen mit Menschen, die weit entfernt von uns leben und …«

»Und wann schlaft ihr?«, fragt der Drache.

»Wir schlafen. Unser Körper ruht. Aber unser Geist wandert umher.«

»Und was ist, wenn ihr einen romantischen Traum habt? Sieht das dann jeder?«

»Wa … was?«

»Ich kann jedenfalls nicht steuern, was ich träume. Aber deine Traumwelt – also die klingt ganz schön ungesund.«

»Sie ist nicht ungesund. Sie ist … normal. Für jeden in Ashitara. Es ist die Welt in der Welt. Und heute konnte ich sie nicht betreten. Ich erinnere mich nicht daran, dort gewesen zu sein.«

Der Drache macht ein Geräusch, das einem Seufzen nahekommt. »Schau mich nicht so vorwurfsvoll an, Menschlein. Ich weiß nichts über diesen Traum und dass du ihn nicht mehr träumst, kann wohl kaum meine Schuld sein.«

»Was soll denn das für ein merkwürdiger Zufall sein? Ich habe vorher noch nie einen Drachen getroffen und nun passiert das? Glaubst du nicht, dass ich die Zusammenhänge nicht verstehe?«

Wieder das Lachen, das gestern schon den Boden zum Vibrieren gebracht hat.

»Menschlein, du bist köstlich. Ich finde Gefallen an dir. Du hast doch sicher studiert. Solltest du dann nicht wissen, wie solche Zusammenhänge passieren? Oder machst du dein Frühstück verantwortlich dafür, wenn Schnee fällt?«

»Was?« Ich kann ihm nicht folgen, allerdings habe ich sowieso das Gefühl, überhaupt nicht mehr klar denken zu können.

»Wenn du morgens ein Frühstück einnimmst. Hat es dann Einfluss auf etwas völlig anderes an dem Tag? Auf das Wetter? Eine Katastrophe? Wohl nicht. Und so ist es auch mit mir. Warum sollte ich es sein, der an deinem Unglück schuld ist? Was hätte ich davon, dir etwas wegzunehmen, von dem ich nicht einmal wusste? Ich könnte dir nicht einmal versprechen, dass ich es dir zurückgebe, wenn du mich befreist. Ich verstehe nichts davon.«

Ich versuche ruhig zu bleiben. Ja, diese Logik ist nicht von der Hand zu weisen. Aber wenn er es nicht war … wieso kann ich den Traum dann nicht mehr betreten? Was wird mit mir geschehen, wenn die anderen es merken? Gab es so einen Fall überhaupt schon einmal in der Geschichte Ashitaras?

»Ich kann dir einen Vorschlag machen«, sagt der Drache. »Ich werde mich umhören. Und vielleicht finde ich ja etwas darüber heraus.«

»Wie willst du das anstellen?«, frage ich und der Sarkasmus in meiner Stimme lässt sich nicht verbergen. »Du sitzt in einem Berg fest.«

»Das Gestein spricht mit mir. Die Magie ebenfalls. Auch wenn ich körperlich feststecke, bedeutet das nicht, dass mein Geist es ebenfalls tut.«

»Hm«, mache ich. Ich traue ihm nicht. Aber habe ich denn eine Wahl? Wenn man herausfindet, was mit mir nicht stimmt, dann enthebt man mich vielleicht meines Amtes. Oder sie sperren mich zu Forschungszwecken ein. Verhökern mich an die Nachtmahre. Es gibt verdammt viele schlechtere Positionen in meinem Clan als meine aktuelle, und ich will keine davon unbedingt besetzen …

»Wie ist dieser Traum?«, will der Drache wissen. »Passiert das wirklich, was euch dort geschieht? Wenn dich zum Beispiel jemand mit einem Messer schneidet, hast du am nächsten Tag eine Wunde?«

»Ja.«

»Und Kunst, die du im Traum erschaffst … ist sie im Wachen dann real?«

»Nein. Man kann nichts aus dem Traum mit hinüberbringen.«

»Aber man kann sich darin verletzen? Das scheint mir nicht eben fair.«

»Ich weiß nicht genau, wie der Traum funktioniert. Kannst du alles erklären? Weißt du, wie genau dein Körper sich vom Sauerstoff ernährt, den du atmest? Was er alles damit anstellt? Sicher nicht. Man denkt auch gar nicht darüber nach, weil man es eben täglich macht.«

»Du bist ganz schön hitzig, Menschlein.«

»Ich bin wütend, weil ich nicht verstehe, was passiert ist«, antworte ich. Ja, vielleicht auch ein bisschen ärgerlicher als ich sollte.

»Ich kann jedenfalls nichts dafür. Also schau mich nicht so vorwurfsvoll an.«

»Ich weiß immer noch nicht, ob ich dir das glauben soll. Warum ist mir die ganze Zeit warm? Das ist, seitdem ich dich berührt habe.«

»Drachenfeuer. Es hält eine ganze Weile«, antwortet er.

»Und dieses Drachenfeuer … das kann nicht zufällig den Traum beeinflusst haben? Ach, ich hätte dir nie begegnen sollen. Ich versiegle jetzt diesen verdammten Tunnel und dann bleibst du dort, wo du bist. Du bist eine Gefahr.«

»Tu das nicht.« Die Stimme des Drachen klingt zum ersten Mal ängstlich. »Ich bitte dich. Ich verstehe, dass du verwirrt bist und dass du Angst hast. Aber ich habe dir nichts getan. Nicht wissentlich jedenfalls.«

Ich stelle mir für einen Moment vor, wenn ich es wäre, die da im Gestein feststeckt. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten kommt jemand vorbei, von dem ich glaube, dass er mir helfen kann. Und dann geschieht einfach nichts. Vermutlich wäre ich verzweifelt. Ich glaube, genau das aus seinen Worten herauszuhören.

Ich versuche, meine verkrampften Schultern zu lockern und tief durchzuatmen.

»Ich werde den Tunnel versiegeln«, sage ich langsam. »Solange ich nicht weiß, ob du nicht schuld daran bist, dass Menschen den Traum nicht mehr betreten können. Und solange du hier unten bist, muss ich es sowieso tun. Du würdest die Arbeiter erschrecken und dann käme ich in arge Erklärungsnot, wenn mir die Männer weglaufen. Ich werde allerdings wiederkommen. Das ist das Einzige, was ich dir anbieten kann.«

»Das ist in Ordnung«, erwidert der Drache. »Aber dann brauche ich einen Namen für dich. Schließlich werden wir beide öfter Zeit miteinander verbringen.«

»Ich heiße …«

»Nicht deinen richtigen Namen. Lass ihn mich nie kennen.«

»Aber …«

»Versprich es mir. Du wirst ihn nie verraten.«

»Warum?«

»Versprich es einfach.«

»Schön. Dann werde ich ihn dir nicht sagen. Aber wie willst du mich dann nennen?«

»Was machst du am liebsten?«

Auf die Frage bin ich nicht vorbereitet. »Ähm …«

»Du wirst doch wohl wissen, was du am liebsten machst?«

»Ich …« Bei allen Heiligen, was weiß denn ich? Meistens arbeite ich. »Ich mag es, wenn alles still in der Nacht ist und alle sich im Traum befinden. Wenn ich allein sein kann.«

»Alleinsein ist deine Lieblingsbeschäftigung?«

»Schon irgendwie … ja.«

»Du bleibst also länger wach, damit du den anderen nicht im Traum begegnest? Klingt nicht so, als würdest du ihn wirklich vermissen, sondern nur die Tatsache, dass du nicht mehr dazu gehörst.« Das Auge verengt sich zu einem Schlitz.

»Ja, kann schon sein«, gebe ich zu. »Ich … ich arbeite meistens und ständig wollen Menschen etwas von mir. Aber ich bin gerne allein. Und nachts geht das am besten.«

»Dann bist du also ein Nachtschmetterling.«

Ich überlege. »Kann schon sein, ja.«

»Also nenne ich dich Nachtschmetterling.«

»Das klingt … hübsch.«

»Von meiner Warte aus, Menschlein, bist du das Hübscheste, was ich seit langem gesehen habe. Allerdings hast du dich auch nur gegen die Konkurrenz von Mikroben, Steinen und Wassertropfen durchgesetzt. Also sei nicht zu stolz.«

Ich muss gegen meinen Willen lachen. Warum erzählen die Märchen nichts davon, dass Drachen Humor haben können?

»Ich muss jetzt meine Arbeit machen«, sage ich. »Es wird also ein wenig dauern, bis ich zurückkomme.«

»Hol deine Instrumente her und ich verrate dir alles, was du über die Nachtberge wissen musst. Wenn ich irgendetwas weiß, dann das.«

Ich bin nicht wirklich beruhigt, als ich seinem Vorschlag nachkomme. Eher so, als ob ich sehr lange wach war und nun einfach nur noch funktioniere. Vielleicht habe ich in der Nacht auch gar nicht geschlafen? Möglicherweise ist das ja die Erklärung für meine Misere. Und für meine Gleichgültigkeit in diesem monumentalen Moment. Wer außer mir hat jemals im Clan mit einem Drachen gesprochen? Und ich laufe gerade zurück zu meinem Lager, um meine Minenkarte zu holen, weil er mir dabei helfen kann, sie anzulegen. Als wäre das völlig normal und alltäglich.

Als ich am nächsten Tag die Honlai-Minen verlasse und mit dem Lift nach oben aufsteige, durchdringt mich nicht das gewohnte Gefühl des Wohlbehagens, das mich sonst erfüllt, wenn ich wieder nach oben komme. Es ist ein angenehmes Gefühl, für das ich keine Worte finde. Wenn ich meine Arbeit erledigt und abgehakt habe. Keine Ahnung, wie man es nennt. Meine Wissenschaft sind Gefühle nun einmal nicht. Vielleicht hätte der Drache ein Wort dafür, denn er scheint eine Menge zu wissen.

Allerdings ist es jetzt sowieso nicht da. Es ist eher ein nagendes Schuldgefühl in mir. Ich habe ein Geheimnis. Und alles dafür getan, damit es nicht ans Licht kommt. Meine Magie versiegelt den Eingang zum Stollen, ich habe die Arbeiter angewiesen, auf der anderen Seite weiterzumachen und tiefer in den Stein zu schlagen. Unter meiner Anleitung haben die Männer den Weg, der hinunter zu Herzmörder führt, abgesperrt. Ich habe ein Schloss anbringen lassen, zu dem nur ich den Schlüssel habe und es fühlt sich nicht gut an. Eher, als ob ich das Falsche tue.

Der Fahrstuhl fährt rasselnd weiter, während ich meinen Gedanken nachhänge. Ich komme an den Eingängen der unterschiedlichen Ebenen vorbei und frage mich, ob jemals eine Clan-Geologin so etwas getan hat. In all den Jahrhunderten, in denen die Honlai-Minen schon erschlossen werden.

Ich brenne darauf, mit Anjali zu sprechen. Sie weiß eine Menge über die Geschichte von Ashitara und sicher auch über Drachen und ihr Wesen. Doch wenn ich genauer darüber nachdenke, dann weiß ich nicht einmal, ob ich meiner Schwester die Wahrheit sagen kann. Auch wenn sie eine Menge spöttischer Sprüche für mich übrighat und mich einen überbezahlten Kanarienvogel schimpft, so ist sie sehr stolz auf mich und meine Arbeit. Das weiß ich. Anjali ist schließlich die Mutter, die ich nie hatte. Meine Schwester hat mich großgezogen, meine Ausbildung vorangetrieben und alles dafür getan, mir das Studium des Arkanen zu ermöglichen, damit ich nun bin, wo ich eben bin. Wenn ich das leichtfertig aufs Spiel setze, weil ich ein Geheimnis für mich behalten will, dann wird es sie unglaublich enttäuschen.

Es ist nicht mehr weit, als ich aufsehe. Hastig aufgemalte Zahlen zeigen die Stockwerke der Mine und ihre wichtigsten Etagen an. Ich habe gerade die Mannschaftsunterkünfte und das Hospital passiert und werde mich bald wieder in den Hallen befinden, wo die Loren ihren Weg hinunter durch die Stollen beginnen.

Ich habe meinen Umhang locker über den Arm gelegt, weil mir viel zu warm ist. Das rote Band der Flammenträger prangt gut sichtbar an meinem Oberarm, jedes Clanmitglied trägt eines, um seine Zugehörigkeit zu einem der Clans von Ashitara zu signalisieren. Wir mögen uns eine Welt teilen, doch wir lieben einander nicht. Das ist leider die bittere Realität in Ashitara. Allerdings verirrt sich kaum jemand von den beiden anderen Clans in die Honlai-Minen. Sie sind nicht unbedingt daran interessiert, sich tief in die Berge zu begeben, und man gibt ihnen auch nur selten die Erlaubnis. Das Nachtgebirge befindet sich auf dem Terrain der Flammenträger. So wie die Nebelsümpfe sich auf dem der Nachtmahre und die Glutsteppe eifersüchtig von den Aschekriegern bewacht wird. Doch sie brauchen die Schätze aus den Minen, also kommen sie immer wieder her und handeln mit uns.

Der Aufzug kommt knarrend zum Stehen, der Mechanismus ist schon ziemlich alt und muss mit jeder Vertiefung der Stollen erweitert werden. Irgendwann bleibe ich darin stecken, da bin ich mir sicher. Es gibt zwar einen Schalter, der einen Alarm auslöst, aber ich würde nicht darauf wetten, dass ihn jemand hört.

Deshalb bin ich immer froh, wenn ich wieder unbeschadet zurück an die Oberfläche komme. Mit der Magie spüre ich stets über die Zahnräder und Stahlseile, um zu überprüfen, ob alles in Ordnung ist und gegebenenfalls jemandem Bescheid sagen kann, wenn etwas eine Reparatur benötigt. Doch jetzt habe ich es über meine Gedanken an mein Geheimnis völlig vergessen.

Ich höre Stimmen auf der anderen Seite. Sie öffnen die Tür. Das dauert ein wenig, denn die Aufzugschale ist aus massivem Stahl und ihre Türen so schwer, dass ein Mensch sie nicht alleine bewegen kann.

Nur langsam und mit einem lauten Quietschen öffnen sie sich. Mein Gepäck steht neben mir auf dem Boden, als ich plötzlich in Karais Augen blicke. Was macht er denn hier?

Sein Lächeln wird breit, als ich ihn ansehe. Karai ist der einzige Mensch, der mich so anlächelt, und ich liebe alles daran.

Sein dunkles, dichtes Haar lockt sich zu seinem Ärger wieder, ich weiß, dass er viel Zeit vor dem Spiegel verbringt, um die Locken loszuwerden. Ein lästiges Erbstück seines Vaters, einem Aussteiger der Nachtmahre in fünfter Generation. Die Sumpfmenschen haben alle Locken. Doch Karai ist bei den Flammenträgern, er ist der Erste in seiner Familie, der bei uns aufgenommen wurde, während meine Familie schon seit vielen Generationen dazugehört.

Er hat volle Lippen, die sich großartig auf meinen anfühlen, und einen neckischen Bart, der an ihm immer ein bisschen wirkt, als wäre er ein Pirat oder Schmuggler aus den Abenteuerromanen, die Anjali mir früher vorgelesen hat. Ein bisschen wild, ein bisschen verwegen, aber niemals unordentlich.

»Waren wir verabredet?«, bringe ich nur heraus.

Auf Karai bin ich nicht vorbereitet.

Die Tür wird ganz geöffnet und ich greife nach meiner Tasche, die Karai mir sofort aus der Hand nimmt, bevor er mich küsst. Eigentlich ist es das Schönste, wenn ich aus den Minen nach Hause komme und wieder an der Oberfläche bin: Karai ist dort.

»Ich dachte, du freust dich«, sagt er gespielt beleidigt, als er mir auch noch den Mantel abnimmt. »Ist dir nicht kalt?«

Ich schüttele den Kopf. »Nein, unten war es sehr warm. Und natürlich freue ich mich.«

Ich ergreife seinen angebotenen rechten Arm und lasse mich von ihm durch die Lorenhalle führen. Momentan sind hier nicht viele Arbeiter beschäftigt, es ist weit nach Mitternacht, auch wenn in den Honlai-Minen zu jeder Zeit gearbeitet wird.

»Hast du Hunger?«, fragt er mich.

»Und wie.«

Meine Schuldgefühle werden von Karais Freundlichkeit in den Hintergrund gedrängt. Warum überhaupt daran denken, wenn man sich in den Augen seines Verlobten verlieren kann? Er hatte nicht immer diese Wirkung auf mich. Am Anfang fand ich ihn ziemlich anstrengend und wollte auch nicht mit ihm ausgehen. Erst auf Anjalis Drängen hin habe ich zugesagt, es wenigstens einmal zu versuchen. Da erst hat es mich voll erwischt.

»Gut. Deine Schwester hat nämlich gekocht.«

»Anjali? Bloß nicht, dann werden wir verhungern.« Meine Schwester mag wie eine Mutter für mich sein, aber wie eine Mutter kochen tut sie definitiv nicht. Eher genauso schlecht wie ich. Ich meine, wo hätte ich es lernen sollen?

»Sie hat sich wirklich Mühe gegeben, also gib dir einen Ruck.«

»Ich hoffe, sie hat Schnaps da. Ohne den erträgt man ihre Kochkünste nicht.«

Karai lacht. Er weiß, wie Anjali und ich miteinander sprechen. Ruppig, andere Leute würden denken, wir mögen uns nicht besonders. Das Gegenteil ist der Fall.

Ein paar Arbeiter grüßen mich im Vorbeigehen, sie machen sich auf den Weg zur Schichtverstärkung. Es wird wieder weiter gebohrt, genau auf der anderen Seite meines dunklen Geheimnisses. Ich habe sie weggelenkt. Keiner wird sich für den versiegelten Stollen interessieren. Auch, weil meine Magie ihnen vorgaukelt, dass sich davor nur irgendwelches wertloses Geröll befindet. Dazu gibt es auch noch die Warnhinweise. Was sie aber vermutlich überzeugt, ist die riesige Goldader, von der der Drache mir erzählt hat.

Wir verlassen die Halle und treten nach draußen, wo ein eisiger Wind über meine nackten Arme zischt. Die Eiskristalle fühlen sich an wie ein kühles Willkommen.

»Ist dir wirklich nicht kalt?«, fragt Karai besorgt und will mir meinen Mantel zurückgeben.

»Nein, schon gut. Lass uns einfach nach Hause fahren.«

Vor der Halle herrscht reger Betrieb. Die Minenstadt schläft nie und die vielen Rikschas und Pferdedroschken sind zu jeder Zeit unterwegs. Karai winkt eine mit zwei Apfelschimmeln heran, wirft meine Tasche in die Kabine und reicht mir dann die Hand, damit ich einsteigen kann. Es ist nicht weit bis zu mir nach Hause, dort, wo Anjali und ich leben, allerdings geht es stramm bergauf und der Wind ist wirklich bitterkalt. Mich selbst stört er vielleicht gerade nicht, aber Karai friert erbärmlich, seine Lippen sind schon ganz blau.

»Sirenenhöhe«, ruft er dem Kutscher zu. »Das blaue Haus.«

Die Tür schließt sich und wir fahren sofort ab.

Ich werfe einen Blick aus dem Fenster, wo das geschäftige Treiben auf dem Vorplatz nicht abreißt. Eis zieht sich über die Dächer der umliegenden Verkaufsbuden und überall sind Feuertonnen aufgestellt, um wenigstens ein bisschen der Kälte zu trotzen und kleine Inseln für die Nachtschwärmer zu bieten, die unterwegs sind.

»Ich habe mir fast schon Sorgen gemacht«, meint Karai und schiebt meine Tasche ein Stück beiseite.

»Wieso?« Mein Herz setzt für einen Moment aus.

»Du hast wieder durchgemacht, oder? Ich konnte dich im Traum nicht finden. Du musst wirklich mehr schlafen, Vany.«

Ich starre ihn nur an. »Ja …«, stammle ich schließlich, als unser Schweigen schon fast unangenehm wird. »Tut mir leid. Wenn ich unten bin, ist es manchmal so …«

»Du arbeitest viel zu viel.«

»Ich arbeite gerne.«

»Ja, hin und wieder musst du trotzdem mal an dich denken. Wenigstens ein bisschen.«

Ich lächle matt, weil das schlechte Gewissen mir gerade mit aller Macht gegen den Hinterkopf geschlagen hat. Da bin ich wieder, huhu!

Was wird geschehen, wenn er mich heute auch wieder nicht im Traum findet? Er wird misstrauisch werden. Auf jeden Fall. Niemand verlässt einfach den Traum. Dass das überhaupt möglich ist, habe ich noch nie gehört. Aber wen soll ich dazu fragen? Verdammt, warum weiß ich so wenig über solche Dinge? Ich kenne mich nur mit Gestein aus.

Der Trab der Pferde auf dem Kopfsteinpflaster schüttelt mich ordentlich durch und ich versuche, nicht weiter nachzudenken. Nicht jetzt. Ich kann mir morgen darüber Gedanken machen. Jetzt möchte ich einfach nur mit Karai und Anjali zusammensitzen und fröhlich sein.

»Wie war’s denn dieses Mal?«, fragt Karai. »Anstrengend? Dir muss man immer alles aus der Nase ziehen.«