Hier bin ich Mensch - Horst Lichter - E-Book

Hier bin ich Mensch E-Book

Horst Lichter

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Beschreibung

Geschichten die vom Leben erzählen - voll Wärme und Menschlichkeit.

Wo fühlen wir uns wohl? Was machen Menschen, bei denen sich jeder gerne aufhält, richtig? Wie schaffen sie es, dass man gerne bei ihnen zusammensitzt, miteinander redet? Diesem Geheimnis ist Horst Lichter auf der Spur: Es sind nicht Status oder Erfolg, die dort zählen – es ist der Mensch. Horst Lichter erzählt Erlebnisse aus seinen Lieblingsgasthäusern, Geschichten von Menschen und Schicksalen, die unterhalten und berühren.

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Seitenzahl: 218

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Horst Lichter

HIER BIN ICH MENSCH

Geschichten, die

vom Leben erzählen

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Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München© 2014 Wilhelm Goldmann Verlag, MünchenUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: Michael WissingFotos: Michael WissingSatz: Lorenz & Zeller, Inning a. AmmerseeCH · Herstellung: IHISBN 978-3-641-23309-9V002www.goldmann-verlag.de
Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netzwww.penguinrandomhouse.de

Buch

 

Wo fühlt ein Gast sich wohl? Bei Menschen, die ihre Arbeit gerne machen, mit Leidenschaft und Wärme bei der Sache sind. Die es verstehen, diesen speziellen Geist zu verbreiten – bei ihnen wollen Menschen sich treffen, zusammensitzen, miteinander reden. Solchen Gastgebern gebührt Horst Lichters höchster Respekt. Er zeigt, dass es diese Orte gibt und was sie ausmacht. Orte, wo nicht der Status, nicht der Erfolg, nicht der Name zählen, sondern der Mensch.

Der Autor erzählt von guten Wirten, von Leuten, Schicksalen, witzigen Begebenheiten. Menschliche Geschichten, die sich überall zutragen könnten. Ein Buch, das den Leser wärmt, ihn berührt, ohne kitschig zu sein.

 

 

Autor

 

Horst Lichter ist der beliebte und geniale Entertainer unter Deutschlands Spitzenköchen: Wo Lichter kocht, isst oder erzählt, wird gelacht. Der Mann mit dem Bart hat die rheinische Frohnatur in unsere Küchen gebracht. Seine Bühnentouren sind ausverkauft, seine Bücher große Erfolge. Horst Lichters Fans lieben ihn für seinen Humor, seine Menschlichkeit – und für sein unbeschreibliches Erzähltalent.

Alles falsch gemacht.

Und doch alles richtig geworden.

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorCopyrightKostprobeDas EinzelstückDer italienische RheinländerVom alten SchlagReh unter HirschenDas kölsche „Wirtschaftswunder“Zwischenmahlzeit in sechs Gängen – Ein Ausflug in die SternekücheEinfach ein GedichtAusgezeichnet mit drei NudelnDie richtige Bäcker-MischungHerrn Laufers Gespür für WeinWarten, bis der Teig aufgehtAdressen

„Erzähl doch mal!“ – „Du meinst von dem …, na, wie hieß der noch? Ich mein den, der immer … den kennst du auch. Wat wollte ich noch mal erzählen, Jung?“ – Meine Oma (Omma) fing ihre Geschichten immer so an. Und ich fragte sie immer so danach. Nach Geschichten von früher. Und jedes Mal schlug sie ein Kapitel von ihrem dicken Lebenserinnerungsalbum auf. Und wenn sie erst mal angefangen hatte … ich konnte stundenlang zuhören. Sie konnte aber auch stundenlang erzählen. Heute kann ich stundenlang erzählen. Wahrscheinlich hab ich das von meiner Omma, schwerer Erbschaden. Meganormal.

 

Setzt euch! Ich muss euch unbedingt was erzählen …

Kostprobe

Wenn einer richtig gute Geschichten zu erzählen hat, müsste es für mich noch nicht mal was zu essen geben. Obwohl ich für mein Leben gerne esse. Weiß jeder. Aber da könnte ich mich auch einfach dran satt hören.

Das steckt nicht nur in mir tief drin, glaube ich. Da sind wir wie du und ich. Da sind wir immer noch Neandertaler: Feuerchen machen, Fell untern Hintern schieben, Pfeifchen anzünden, und los geht’s. Da wird dann erzählt und geraucht und geraucht und erzählt, bis auch die Birne raucht. Wahre Geschichten, erfundene Geschichten. Wahre Geschichten, die man nicht besser hätte erfinden können. Und irgendwann fällt man dann voll mit Geschichten in Tiefschlaf, und selbst da … na, was wohl? Geschichten.

Oder das dicke, schwarze Buch mit der Goldkante, die Heilige Schrift, randvoll mit nix als Geschichten. Genesis (Jennesiss), die Schöpfungsgeschichte. Die Story, mit der alles anfing. Diese uralte Urgeschichte, nacherzählt vom alten Moses. Der erzählt, was Gott in sieben Tagen alles Dolles erschaffen hat. Sieben Tage und Nächte. Rund um die Uhr musste der ran. Der hatte noch keine Fünf-Tage-Woche. Gab ja auch noch keine Gewerkschaften weit und breit. Stattdessen kein Licht, demnach auch keinen Lichter, kein Wasser, kein Land, kein Himmel, keine Sterne, keine Tiere, keine Vögel, keine Menschen.

Es ist eine sehr kurze Erzählung, in der aber alles schon drinsteckt, was eine gute Geschichte ausmachen muss. Es ist der Urknall aller Geschichten. Peng! Plötzlich ist der liebe Gott da und setzt den Anfang von Welt und Zeit.

Kann man glauben, muss man aber nicht. Aber eine tolle Geschichte ist es trotzdem. Später hat man sogar ein Buch draus gemacht und Bibel auf den Titel geschrieben. Clever. Die haben kapiert, dass man mit guten Geschichten Leute einfangen kann.

 

Ich liebe Geschichten.Ich erzähle total gerne. Ich mag kurze wie lange Geschichten. Die Länge ist mir echt egal, auf die Technik kommt’s an.

Der Witz ist ja bekanntlich die kürzeste aller möglichen Geschichten. Einer meiner absoluten Lieblingswitze lautet: „Treffen sich zwei Jäger. Beide tot.“ Ich kann den immer wieder hören – und natürlich erzählen. Der nutzt sich nie ab.

Es gibt aber auch eine ganz, ganz kurze Story vom großen Meister Hemingway. Sie ist das totale Gegenteil von meinem Lieblingswitz: Mit einem Kumpel ging Hemingway eine Wette ein, dass er eine Erzählung in weniger als 10 Worten schreiben könnte. Er hat nur sechs gebraucht: „For sale: baby shoes, never worn.“

Als ich das zum ersten Mal gelesen habe, hat es mich umgehauen. Ich war sofort wieder mittendrin in meinem Film, in einer Episode aus meinem eigenen Leben, die viele Jahre zurückliegt. Eine Geschichte, die mir sehr wehgetan hat. Trotzdem liebe ich diese Hemingway-Story. Auch diese Geschichte.

 

Die Geschichten liebenaber auch irgendwie mich. Ich ziehe sie magisch an. Die müssen merken, dass ich sie sehr, sehr lieb habe. Sie laufen mir zu wie herrenlose Hündchen. Dann steht einer vor mir, ein Herrenloser, und Hundeaugen treffen auf Dackelblick (ich). Wir sind sofort per Du, und der Köter ist nicht mehr herrenlos. Und dann kommt auch schon die nächste Geschichte angewackelt und die nächste. Und ich will sie alle behalten.

Wer mich nur ein bisschen kennt, weiß, dass ich einen Sammeltick habe. Mein erstes eigenes Restaurant, die Oldiethek in Rommerskirchen-Butzheim, war ein Sammellager für alte Autos, Motorräder, Antiquitäten, Kitsch, Trödel, Zeugs. Ausgestattet war die Hütte mit Möbeln vom Sperrmüll. Gekocht habe ich auf einem alten flämischen Ofen, nix Gas, nix Induktion. Feuerchen, Leute!

Im Januar 1990 habe ich die Oldiethek aufgemacht. Ich hatte mir einen Ort zum Wohlfühlen geschaffen, mit Feuer in der Mitte; aber auch einen dicken Klotz am Bein. Die Gäste haben mir dummerweise nicht sofort die Bude eingerannt. Ich hatte meine ganze Kohle da reingesteckt. Dass ich notorisch knapp bei Kasse war, ist ein offenes Geheimnis gewesen. Gott sei Dank hatte ich aber doch ein paar Gäste, die kamen. Und die brachten mir sogar was mit: manchmal altes Geschirr, Besteck, Tischwäsche und Krimskrams, der bei mir dann sein zweites Leben lebte.

Ich habe alles brav behalten, alles verstaut, benutzt, gebraucht. Nicht weil ich den Gästen gefallen wollte, sondern weil mir das alte Zeugs gefiel. Schließlich klebte an jedem alten Ding auch eine Geschichte. Und mit jedem neuen alten Ding und jedem Gast kamen neue Geschichten dazu.

Eines Tages trat eine ältere Dame durch die Tür. Sie war in Begleitung gekommen. Ein altes Fahrrad war ihr Begleiter. Sie hätte gehört, dass ich so ziemlich alles gebrauchen könnte, was andere nicht mehr haben wollten. Ob sie das Fahrrad bei mir lassen könnte. „Das Fahrrad“, fragte ich sie, „ob ich das gebrauchen kann? Ich habe, glaube ich, schon einige davon, aber der Trend geht ja zum Zweitdutzend.“

Sie erzählte mir, dass dies nicht irgendein Fahrrad sei. Es wäre das Rad, mit dem ihr Mann 1949, aus russischer Kriegsgefangenschaft kommend, nach Hause geradelt sei. Da war ich platt. Wieder so eine Geschichte. Diesmal war sie auf zwei Rädern dahergekommen. Für viele Menschen wäre es wohl trotzdem ein altes, klappriges Schrottrad gewesen. Sie hätten nur das gesehen.

Vielen ist heute der genaue Blick verloren gegangen. Bei mir hat er sich über viele Jahre immer noch geschärft. Ich habe den lupenreinen Schatzsucherblick. Auch wenn ich meine Brille absetze, kann ich im Gewöhnlichen das Ungewöhnliche erkennen. Ich finde die Trüffel, die sich unter verwelktem Laub in der herbstlichen Erde versteckt haben.

 

Und genau darum geht es in diesem Buch. Ums Essen, das hält Leib und Seele zusammen. Und um Geschichten, die ich ausgrabe, die mit den Menschen zu tun haben, die das Essen machen oder die Zutaten dazu liefern. Deshalb habe ich mich aufgemacht, die unterschiedlichsten Betriebe besucht, hinter die Kulissen geschaut und meine schönsten Geschichten zusammengetragen. Habe mir und anderen viele Fragen gestellt und nach Antworten gesucht.

Für mich ist der Mensch aus seinen vielen Geschichten gemacht. Diese Geschichten halten ihn zusammen. Es sind die wahren Geschichten aus dem echten Leben; mitunter auch erfundene, die sie sich so oft erzählt haben, bis sie für sie wirklich so passiert sind. Der Mensch vermischt das alles gerne, je älter er wird.

Ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten würde bei meinen Besuchen. Ich wusste nur, dass ich selbst ganz sicher viel dabei lernen würde. Genau darum geht es mir hier – um Menschen, um ihre Geschichten und was wir daraus lernen können. Um das Miteinander und die Art und Weise, wie wir selbst mit unseren Wünschen und Träumen umgehen – und was wir daraus machen.

 

Darüber war mir noch etwas wichtig:Um Gedanken und Erlebnisse, die mich immer wieder beschäftigen, wenn ich auf Reisen bin. Um Orte, an denen ich mich wohl fühle, um Situationen, die mich aufregen – und um die Frage: Warum ist das so?

Mittlerweile bin ich rund 280 Tage im Jahr unterwegs, das heißt: 280 Nächte im Hotel. Mein Leben hat sich gewaltig verändert – und die Erfahrungen, die ich auf Reisen gemacht habe, haben mich nachdenklich gestimmt. Du erlebst so viel Mist, wenn du auswärts essen willst, und ich frage mich so oft: Sag mal, wo sind denn nur die richtig guten Gasthäuser geblieben, die, wo du gerne bist und wo das Essen noch richtig lecker ist? Warum ist das so schwer, die zu finden? Ja, was passiert da eigentlich? Was ist da los?

Ich bin mir sicher: Nicht wenige Menschen fragen sich das auch, egal ob sie viel oder nur hin und wieder unterwegs sind. Sie sehnen sich nach diesen Orten, wo man sie – wie früher – ehrlich willkommen heißt.

Und so hat sich für mich immer mehr die Frage herauskristallisiert: Worum geht es denn bei guten Gasthäusern eigentlich? Was macht diese Häuser aus?

Ich glaube es für mich zu wissen: Es geht um das Menschliche, um das Miteinander, es geht um die Freude und um das echte Interesse. Es geht auch um: Respekt! Um die Tradition und um die alten Werte, denn die dürfen uns nicht verloren gehen. Die sind zeitlos, und die sind absolut wichtig, die haben Bestand, die überleben sich nicht.

 

Erste Treffen sind für mich nicht schwierig.Wenn man jemandem neugierig, freundlich und mit Respekt begegnet. Du musst den anderen sehen! Dich für ihn interessieren. Du glaubst gar nicht, wie einfach das ist, wenn du dich für dein Gegenüber interessierst. Du öffnest bei den Menschen einen Sprudel, manchmal brechen sogar Dämme. Und dann musst du deine Lauscher ganz weit auf Empfang stellen – und dein Herz öffnen. Sie müssen dir vertrauen, du musst ihr Vertrauen zu schätzen wissen.

Du kannst so viel dabei lernen und für dich mitnehmen, du erfährst Dinge, die dich beschäftigen, zum Nachdenken bringen und dein Denken verändern. Lustiges und Verrücktes, Unerwartetes und Unfassbares, Trauriges und auch tief Bewegendes. Begebenheiten, die du dein Lebtag nicht mehr vergisst. Weil sie so schön sind, weil sie so unglaublich sind oder weil sie dich unheimlich tief berühren und auf Gedanken bringen, die du so noch nie gedacht hast.

Ja, du blickst in dein Innerstes und begreifst, was für dich selbst wichtig ist, was wirklich zählt und was du brauchst, um zufrieden und glücklich zu sein.

Grönemeyer singt: Und der Mensch heißt Mensch / Weil er vergisst / Weil er verdrängt / Und weil er schwärmt und stählt / Weil er wärmt, wenn er erzählt ( …) Und der Mensch heißt Mensch / Weil er irrt und weil er kämpft / Und weil er hofft und liebt / Weil er mitfühlt und vergibt

 

DAS EINZELSTÜCK

Schlachterbörse

HAMBURG

In der Schlachterbörse triffst du reichlich bekannte Namen. Aber bei Wolfgang Süße sind alle gleich, ob sie einen Namen haben oder nicht. „Du hast ja nicht angekreuzt, wo du hinwillst, wenn du auf die Welt kommst“, sagt er dazu. Er ist der Gastwirt für alle. Diese Größe hat ihn groß gemacht.

Als ich dann vor dem Laden stand, draußen schon dunkel, drinnen alles erleuchtet, dachte ich: Meine Herren, das sieht ja aus wie in deiner Oldiethek. Da gehst du jetzt rein und fühlst dich gleich wie zuhause.

„1978, da waren die Bee Gees hier, als alle drei noch lebten.“

Ja, natürlich, denkt man, lebten die da noch. Aber das ist gar nicht das Bemerkenswerte an diesem Satz, der dem Senior Wolfgang Süße so beiläufig über die Lippen kommt. Es ist die Art, wie er diesen Satz spricht: beiläufig eben, so ganz nebenher, als seien gute Freunde wie zufällig auf einen Sprung vorbeigekommen, hätten eben mal reingeschaut, um „Hallo“ zu sagen, die Ehefrauen und die Kinder gleich noch im Schlepptau.

1978 – das waren die Bee Gees und ihr „Stayin‘ Alive“. Was in diesen beiden Wörtchen drinsteckt, könnte man glatt als das Lebensmotto des Wolfgang Süße verstehen.

Ich bin ja ziemlich oft in Hamburg, wenn ich im Studio bin für „Lafer! Lichter! Lecker!“ und für die „Küchenschlacht“. An irgendeinem Abend hatte ich noch keine Lust ins Hotel zu gehen und mein erstes Date mit der Schlachterbörse. Eigentlich war ich platt, aber ich musste mich ja noch von meinem Johann erholen. Also rein ins Taxi und ab zur Schlachterbörse, von der ich schon so viel gehört hatte.

Als ich dann vor dem Laden stand, draußen schon dunkel, drinnen alles erleuchtet, dachte ich: „Meine Herren, das sieht ja aus wie in deiner Oldiethek. Da gehst du jetzt rein und fühlst dich gleich wie zuhause.“ Heute geht es mir wieder genauso.

 

Es ist Montag, kurz nach 19 Uhrund die Schlachterbörse schon rappelvoll. Saturday Night Fever auf Hamburgisch. Wie soll das hier erst am Ende der Woche abgehen?

Während ich vor meinem inneren Auge John Travolta sehe, wie er den Hüften schwingenden Tänzer bei „Stayin‘ Alive“ gibt, und dazu die Gibb-Brüder im Ohr habe, wie sie die Zeile „I’m a woman’s man, no time to talk“ trällern, sitze ich mit Wolfgang schon in einem der zahlreichen gemütlichen Eckchen der Schlachterbörse. Ganz anders als Travolta, hat er sehr viel Zeit zum Plaudern. Er spricht auffällig leise. Und es ist nicht nur der Sound, der mich packt. Nach wenigen Sätzen klebe ich an seinen Lippen.

Er stammt aus dem schönen Baden-Baden. Schon früh lief es bei ihm auf Küche hinaus. Ausbildungstechnisch kommt er aus bestem Hause, hat mit 14 im Brenners Park-Hotel angefangen und da Koch und Hotel gelernt. Die Küche hatte auch schon immer Sterne. Was sollte für den jungen Wolfgang Süße da noch kommen?

Alte Häuser können ja immer viel erzählen, alte Hotels sowieso. Wolfgang ist für mich wie so ein altes Haus, das tausend Storys auf Lager hat. Du kannst bei ihm wahllos ein Türchen oder ein Fensterchen aufmachen, und du weißt: Dahinter wird es garantiert spannend.

Alte Häuser können ja immer viel erzählen,alte Hotels sowieso. Wolfgang ist für mich wie so ein altes Haus, das tausend Storys auf Lager hat. Du kannst bei ihm wahllos ein Türchen oder ein Fensterchen aufmachen, und du weißt: Dahinter wird es garantiert spannend.

Nach seinen Anfängen in der Baden-Badener Gastronomie zog es ihn raus, raus in die sogenannte Welt. Während seine Küchenfreunde mal eben über die Schweizer Grenze machten, um in Zürich oder St. Moritz die höheren Weihen des Schweizer Gastronomie- und Hotelfachs zu empfangen, ging Wolfgang nach St. Peter-Ording. Was für eine Entscheidung! Die anderen nach St. Moritz, er nach St. Peter-Ording.

Peter-Ording, wie er sagt, war zwar auch ganz oben, aber blöderweise nur geografisch.

„Vor Peter-Ording war noch der Spessart. Ich hab vier Jahre in Marktheidenfeld das Weinhaus Anker geführt und da meine Frau Margit kennengelernt.“

Mit seinem Schatz schmiedete er Pläne. Als Wolfgang mit ihr nach Peter-Ording ging, um im Ordinger Hof anzuheuern, gab es die Schlachterbörse schon ein Menschenleben lang, genau seit 1904. In Peter-Ording hatte ihn jemand angesprochen:

„Hier wirst du nie was, mein Jung‘“

Der Unbekannte, der laut Wolfgang wie Hans Albers sprach und auch so einen langen Ledermantel wie der blonde Hans trug, war Herr Tscharnke, bis dahin der Chef der Schlachterbörse. „Komm mal nach Hamburg, da zeig ich dir, wie Geldverdienen geht.“

„Ich bin in Peter-Ording ja nur auf Eisschollen rumgelaufen, das war nichts für mich. Und der Tscharnke suchte einen Nachfolger für seine Schlachterbörse. Mit meinem alten Käfer bin ich dann gleich an meinem freien Tag nach Hamburg, bei Glatteis, neun Stunden für 150 Kilometer.“

 

Die Schlachterbörse war Treffpunkt der Großschlachter, Schlachter, Viehhändler. Eine Art Zuhause für die Männer während der Pausen. Hier wurde Schnaps getrunken, geraucht, geredet, Skat gekloppt, gelacht, geschwiegen, Vieh gehandelt. Zu essen gab es nur, was sich die Männer mitgebracht hatten: Butterbrote, Henkelmann. Die Gesellen der Schlachter mussten das Eisbein in Eimern vom Schlachthof holen. Die Schlachter stocherten dann mit der Gabel in den Eimer und ihre Portion raus.

Natürlich wurde auch gehandelt. Dienstags und donnerstags war Auftrieb. Viehhändler feilschten per Handschlag um Rinder und Schweine: „Du, 20 000 Rinder. Du, 12 000 Schweine.“ Alles Lebendvieh.

Wolfgang erzählt von seinem ersten Mal Schlachterbörse.

„Da hat man die Arbeit gesehen. Da saßen Schlachter in ihren schmutzigen Kitteln an ollen Holztischen, aßen ihre mitgebrachten dicken Brote, an der Theke gab es nur Schnaps und Bier, und in der Ecke brannte ein Feuer im Kachelofen. Margit und ich sahen uns an: Was war das denn für eine Kaschemme? Na, toll, dachte ich. Was für ein Ding. Meine Frau und ich kannten aber die Restaurants um den Pariser Schlachthof. Wenn das da geht, warum hier nicht auch, haben wir uns dann gesagt.“

Inzwischen sind mal eben 40 Jahre vergangen.

 

Als ich selbst vor ein paar Jährchen das erste Mal hier gewesen bin, war mein erster, flüchtiger Eindruck: Der verkauft Mengen an Massen. Und irgendeine Zeitung hatte geschrieben, man säße in der Schlachterbörse „zwischen Steaks und Stars“. Ja, die Promis sind auch hier. Und nicht wenige.

„Bill Gates, Michael Jackson, Günther Jauch, der Abramowitsch, kommt immer mit seinem Heli, Antonio Banderas, Barbra Streisand – die sitzt immer da drüben –, Boris Becker, Thomas Gottschalk, Woody Allen, Udo Lindenberg, Helen Schneider, Nicolas Cage, Verona Pooth, Tommy Haas, Udo Jürgens … Udo ist seit Jahren Stammgast, wenn er in Hamburg auftritt, isst er bei uns. Manchmal kommt er mit Pepe Lienhard und seinen Jungs, und es gibt noch eine Spätvorstellung bei uns, er ruft aber vorher an. Da, da drüben hängt ein Fax, eingerahmt, das Udo uns zum 30. Jubiläum geschickt hat. 30 Jahre im Dienste der Lebensfreude. Glückwunsch an Euch und Eure Schlachterbörse. Euer Udo. Ich weiß auswendig, was da drinsteht.“

Ja, reichlich bekannte Namen. Aber bei Wolfgang sind alle gleich, ob sie einen Namen habe oder nicht.

„Du hast ja nicht angekreuzt, wo du hinwillst, wenn du auf die Welt kommst“, sagt er dazu.

Ich würde sowieso sagen: Die Steaks sind die Stars. Klar kommst du dir an manchen Tagen vor wie in der VIP-Lounge der Lufthansa, aber das mischt sich. Die ganz normalen Leute sind in der Überzahl. Und Wolfgang hat für jeden, der reinkommt, ein freundschaftliches Wort parat. X-mal steht er kurz auf an diesem Abend und begrüßt Gäste wie seine Freunde. Für Wolfgang ist jeder Gast Gast. Und vor den Gerichten, die serviert werden, sind sowieso alle gleich.

Der Fortschritt ist auch mal irgendwann an diesem Laden vorbeigekommen. Es war Abend. Der Fortschritt hat durch die beleuchteten Fenster reingeguckt und dachte: „Ne, kann so bleiben. Muss sogar so bleiben.“ Und weg war er, der Fortschritt. Ist einfach an der Schlachterbörse vorbeigelaufen. God save the Queen!

Wenn du zum allerersten Mal vor so einem Teil, vor so einem gewaltigen Stück Fleisch sitzt, musst du schlucken.

„Die Werbung liegt bei uns auf dem Teller, gutes Fleisch, große Portionen“, sagt Wolfgang.

 

Die vielen Leute kommen aber nicht nur hierher,weil es megagroße Steaks und Ochsenkoteletts gibt. Es gibt auch megageile Geschichten.

Eigentlich brauchst du gar nichts mehr zu essen, du kannst dich an den Geschichten satt hören.

„Wenn mal ein Rindvieh ausgebrochen war“, erzählt Wolfgang, „ging einer der Schlachter zu seinem Auto und holte seine Neun-Millimeter aus dem Kofferraum: ,Lass mal‘, sagte der, da brauchen wir keine Polizei.‘ So ging das.“

Einmal hat es im Viertel Krawalle gegeben, Hausbesetzer.

„Das war am 5. Februar 1990“, sagt Wolfgang. „Das werde ich nie vergessen. Meine Frau war im Laden und rief mich an.

,Was soll ich machen, Wolfgang, die randalieren draußen!‘

,Schließ ab, Margit‘, habe ich gesagt. ,Ich komme.‘

Ich bin dann sofort hin. Ein paar hatten es schon ins Hinterhaus, Kampstraße 40, geschafft, wo sie reinwollten. Wir sind ja 41, wenn da was losgegangen wäre, hätten wir auch was abgekriegt. Da ging es auch um uns.

Ich habe sofort telefoniert. Nein, nicht mit der Polizei, die war ja schon da. Ich kannte einen vom Verfassungsschutz, der war Stammgast bei uns. Ein hohes Tier. ,Wenn du mal Probleme hast, Wolfgang, ruf mich an‘, hatte er irgendwann zu mir gesagt. Jetzt hatte ich welche. Er ging direkt ans Telefon, keine Sekretärin oder so. Ich erzählte, was los war.

,Ich kümmere mich‘, sagte er.

Zwanzig Minuten später war er wieder dran:

,Steig auf den Tisch am Fenster, schau rüber zum Schlachthof, Wolfgang, um 14 Uhr erfolgt von dort der Zugriff.‘

Um Punkt 14 Uhr wurde es ungemütlich. Alles wurde umgehend geräumt. Danach war es bei uns wieder so gemütlich wie vorher.

 

Wer in die Schlachterbörse kommt,trifft auf handgemachte Gemütlichkeit. Vergilbte Geldscheine hängen an der Wand neben dem Tresen und überall die Fotos von prominenten Gesichtern. Der Laden ist ein Sammelsurium aus Dingen und Geschichten, ein wahres Kuriositätenkabinett. Total unmodern.

Der Fortschritt ist auch mal irgendwann an diesem Laden vorbeigekommen. Es war ein Abend, vielleicht einer wie dieser im grauen November. Der Fortschritt hat durch die beleuchteten Fenster reingeguckt und dachte: „Ne, kann so bleiben. Muss sogar so bleiben.“ Und weg war er, der Fortschritt. Ist einfach an der Schlachterbörse vorbeigelaufen. Gott save the Queen!

Klar, dass das nicht ohne Spätfolgen geblieben ist. Die Schlachterbörse hat zum Beispiel seit dreißig Jahren die gleiche Speisekarte. Trotzdem oder genau deshalb ist die Schlachterbörse heute eine der angesagtesten Adressen in Hamburg. Was das heißt? Wer so erfolgreich ist wie Wolfgang, muss ziemlich viel richtig gemacht haben.

„Solche Dinge können nur passieren, wenn du nichts einforderst. Das muss wachsen.“

 

Wolfgang ist heute eine lokale Größe im wahrsten Sinn des Wortes.Aus dem Koch und Kofferträger der feinen Leute im Brenners ist der Gastwirt, Kaufmann und Manager mit dem richtigen Riecher geworden. Wie hat er das nur geschafft?

„Wenn dich ein Jungspund fragt, wie es geht, was sagst du ihm dann?“

„Fleißig sein, durchhalten, man muss dabeibleiben. Es kommen viele Tiefschläger. Ich hab nie gedacht, ich schmeiß hin, immer nach Lösungen gesucht“, antwortet Wolfgang.

Ob das denn schon das ganze Geheimnis ist, will ich wissen.

„Du musst die eine Sache machen, die du wirklich gut kannst, und wenn du die dann auch noch gerne machst, merken das die Leute und kommen gerne zu dir. Das passt einfach zusammen. Du freust dich über die vielen Gäste, die gerne zu dir kommen, und das törnt dich nochmal an. Der Gast ist glücklich, du bist glücklich, der Funke springt hin und her, der Kreis schließt sich. Und in diesem Kreis dreht sich das ganze Geschäft. Und wenn du keinen Blödsinn machst, passiert noch was: Der Kreis wird größer, immer größer. Toll, denkst du, kann so weitergehen. Dann können Gedanken kommen, die können gefährlich sein. Das sind die Mehr-Gedanken, Expansionsfantasien, da ist der Weg zum Größenwahn nicht mehr weit. Warum nur ein Laden? Warum nur eine Schlachterbörse? Warum den Erfolg nicht multiplizieren? Vergiss es ganz schnell wieder. Du musst dir immer wieder sagen, dass du auch deshalb Erfolg hast, weil es nur eine Schlachterbörse gibt. Das Original. Ein absolutes Unikat. Was ganz Besonderes. Wenn du versuchst, das zu kopieren, ist es aus. Der Anfang vom Ende.“

Die Schlachterbörse hat Wolfgangjetzt seit den Anfängen der siebziger Jahre. Anfangs hatte er nur acht Stunden auf.

„So konnte ich auf Dauer kein Geld verdienen. Dann die Rundumkonzession und 24 Stunden, eine Stunde zum Putzen, eine Bedienung dazu, ich hab zwischendurch im Keller gepennt. Neue Gäste kamen dazu: die Nachtschwärmer aus den Bars, die hatten schon wieder Hunger und wollten Champagner. Ich hatte gar keinen Champagner zuerst.“

Seine Frau Margit setzt sich zu uns. Tochter Jasmin mit Enkelin Clara kommt dazu. Und auf einmal hast du drei Generationen Süße am Tisch.

„Bei meiner Schlachterbörse war das wie mit meiner Frau: Ich sah sie und wollte sie.“

Sie lacht.

„Na, ein bisschen anders war das schon mit mir. Mir ist er hinterhergerannt und hat gefragt, ob er mir in den Mantel helfen darf. Die Schlachterbörse war nicht unbedingt Liebe auf den ersten Blick. Aber es hat schnell gefunkt, das stimmt. Seitdem sind sie unzertrennlich.“

„Und du warst nicht eifersüchtig, Margit?“

„Der Wolfgang ist so ’n Verrückter wie du, Horst. Dafür hab ich immer auf die Kohle aufgepasst.“

„Machst du auch das Licht aus hinter ihm und drehst die Heizung ab, wenn ihr mal wegfahrt?“

„Logisch.“

„Echt? Genau wie meine Frau …“

 

Wolfgang hat das Geschäft schon längeran seine Jüngste, Jasmin, übergeben.

„Wir haben zwei Töchter, Yvonne und Jasmin.“

Jasmin ist mit Enkelin inzwischen in der Küche verschwunden.