Himmel - Hölle - Fußball - Gerrit Lenssen - E-Book

Himmel - Hölle - Fußball E-Book

Gerrit Lenssen

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Beschreibung

Zwischen Himmel und Hölle liegen im Fußball manchmal nur Zentimeter oder Sekundenbruchteile bzw. der Innenpfosten und ein verschossener Elfmeter in der Nachspielzeit. Gerrit Lenssen hat diese Momente himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt alle schon erlebt, als halbwegs talentierter und ambitionierter Kicker und als Fan eines zumeist erfolglosen Zweitligavereins. Seine Anekdoten muten Uneingeweihten möglicherweise zum Teil surreal an, Kenner sehen darin hingegen das Leben eines Menschen, der sich dem Fußball verschrieben hat.

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Für Opa

Gerrit Lenssen

Himmel – Hölle – Fußball

Gelebte Geschichten eines Spielers und Fans

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2021 Arete Verlag Christian Becker, Hildesheim

www.arete-verlag.de

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Dies gilt auch und insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Verfilmungen und die Einspeicherung sowie Datenvorhaltung in elektronischen und digitalen Systemen.

Umschlaggestaltung: Composizione Katrin Rampp, Kempten

Titelfoto: istockphoto.com

ISBN 978-3-96423-055-3 (Print)

ISBN 978-3-96423-056-0 (Epub)

Inhalt

Vorwort

Teil I: Fußball, das schöne Spiel

„Großer“ Sport

01Today only Formel 1

02Frank Rijkaard im Ruhrstadion

03Die Resignation des Siegers

04Nur der RWE

Amateurfußball

05Die einzig wahre Legende

06Mythos Nilo

07Ausgerechnet die Peters

08Der fast verlorene Sohn

09Fußball & Alkohol I: Minister-Style

10Danke, Mama!

Für echte Liebhaber

11Der Fels in der Brandung

12Eine Ode an den Fußballgolf

13Hobbyturnier I: What a Team!

14Spiel des Lebens

15Die weltbesten Wandspieler? Walnussbäume!

16Hobbyturnier II: Auf dem Gipfel unseres Schaffens

Teil II: Fußball, die blutige Hölle

„Großer“ Sport

01Münster on fire

02Steinbrezel, Heroin & Full-House: Von einer Reise des Schreckens

03Zwischen Traum & Wirklichkeit

04Premium-Platz Beinstrecker

Amateurfußball

05Das vorzeitige Karriereende

06Trainerfüchse am Limit

07Der Frauenfußball, mein Leben & Ich

08Sorry, Papa!

09Perlen des Amateurfußballs. Oder anders gesagt: Aua!

10Dorf-Manager – eine komplizierte Spezies

11Sonderbare Fußballwesen und wo sie zu finden sind

12Fußball & Alkohol II: Sechs Frische ins Verderben

Für echte Liebhaber

13Fußballgolf, du bist ein mieser Verräter!

14Die Torwand-Blamage

15Hobbyturnier Teil III: Nichts als die Wahrheit

16Fußball in Quarantäne: Das garantiert nostalgische Corona-Wochenendtagebuch

Schlusswort

Vorwort

„Jungs“, setzt Giovanni an diesem kalten, regnerischen Sonntagmorgen zu seiner wohl längsten Kabinenansprache aller Zeiten an. „Wir werden heute erstmal schauen, hinten sicher zu stehen. Die Niederkrüchtener haben vorne zwei richtig schnelle Leute. Steht also in der Kette nicht zu hoch, sonst sind die direkt weg, und Abseits pfeift der eh nur bei jedem fünften Mal. Alles also ein bisschen tiefer heute und dann Nadelstiche setzen. Hinten haben die Probleme, da müssen wir da sein, wenn die Fehler machen.“ Einige Spieler reiben sich verwundert die Augen, schließlich ist es das erste Mal, dass sich der ansonsten tiefenentspannte, ja fast schon lustlose Coach so intensiv vorbereitet hat und eine solch hohe Motivation an den Tag legt.

Nötig ist das nicht unbedingt, denn es ist die A-Jugend-Saison 14/15. Spieltag 16 und damit gleichzeitig Teil 16 der ungeheuren Leidenszeit, nach einer mal wieder etwas längeren Partynacht um neun Uhr aufzustehen, um pünktlich um zehn Uhr die stickige, viel zu enge Kabine zu betreten. Die Kabine, in der gerade elf, an schlechten Tagen auch nur neun picklige, teils hagere, teils übergewichtige, aber exakt null sportlich durchtrainierte 18-Jährige sitzen, und keiner, wirklich keiner weiß, warum er gerade hier sitzt und gleich vor drei Zuschauern Fußball spielt beziehungsweise es zumindest versucht.

Ich werde nie vergessen, wie unser sowieso schon schielender Torwart Max regelmäßig als Letzter die Kabine betrat und keiner so richtig entziffern konnte, in welche Richtung er jetzt gerade genau guckte. „Wieder die ganze Nacht Herzen gebrochen?“, stellte Nick dem Eintreffenden in seiner ihm typischen Art die Frage, die Woche für Woche ziemlich sicher mit „nein“ beantwortet werden konnte. Stets ein kurzer Lacher in der Runde, ehe sich alle wieder recht schnell darauf fokussierten, sich nicht übergeben zu müssen.

Doch an jenem Sonntag bleibt Giovanni unbeirrt. Aller widrigen Umstände zum Trotz führt er seine messerscharfe Gegner-Analyse fort und beendet diese nach gut zehn Minuten mit immer lauter werdender Stimme: „Versucht es umzusetzen. Von Anfang an wach sein. Heute ein Sieg und wir überholen die in der Tabelle. Kommt Männer, raus jetzt mit euch. Vollgas!“ Eigentlich müssten wir aggressiv in die Hände klatschen, zusammen irgendwas halbwegs Sinnvolles schreien und voller Adrenalin die Kabine Richtung Platz verlassen. Wäre da nicht dieser eine kleine Haken. Der Haken, den inmitten elf verkaterter, perplexer 18-jähriger Jungs nach einer Weile des Schweigens dann doch einer, ich meine Julius, zu äußern imstande ist: „Aber Coach! Wir spielen gegen Oberkrüchten, nicht Niederkrüchten …“

Erneut Stille. Zaghaftes Nicken von einigen Spielern und ein verdutzter Trainer. Denn natürlich hat Julius Recht. Natürlich heißt der Gegner Oberkrüchten und nicht Niederkrüchten, die zwar auch in der Liga vertreten, aber eben nicht unser heutiger Kontrahent sind. So langsam wird das auch Giovanni bewusst, der sich sichtlich ratlos am fahlen Haar kratzt. „Ja gut Jungs, dann kann ich euch nichts über den Gegner sagen“, moderiert er die unangenehme Situation schließlich kurz und schmerzlos ab. „Dann alles wie immer!“

Über fünf Jahre ist das jetzt schon wieder her und ich habe meinen geschockten Trainer inklusive der blutleeren Mitspieler vor Augen, als wäre es gestern. Denn manche Dinge, die man mit diesem oft wunderbaren, teilweise auch einfach dreckigen, miesen, verräterischen, aber immer herrlich vielfältigen, immer wieder aufs Neue überraschenden Sport verbindet, die vergisst man einfach nicht. Doch statt genau diese Geschichten weiterhin lediglich in meinem Kopf zu behalten oder allenfalls in wenigen Stichpunkten auf einsamen Notizzetteln zu konservieren, habe ich sie nun gesammelt zu Papier gebracht. Herausgekommen ist in Form 32 verschiedenster Anekdoten ein Streifzug durch die ganze Bandbreite dieses Sports. Von der Kurve des seit Jahren dahin dümpelnden Zweitligavereins über die rauen, staubigen Amateurplätze bis hin zum auf 48 Grad erhitzten Bolzer im Spanien-Urlaub oder der verlassenen Torwand im Niemandsland dieser Republik.

Bezüglich der Aufteilung wird dem aufmerksamen Leser schon beim Blick auf das Inhaltsverzeichnis aufgefallen sein, dass das Buch aus zwei Blöcken besteht. Teil I – „Das schöne Spiel“ – thematisiert die legendären Wegbegleiter und die glücklichen Momente, an die man sich noch Jahre später mit verschmitzt breitem Grinsen erinnert und sich leise an den Ort der Ereignisse zurückwünscht. Teil II dagegen – frei nach Sir Alex Ferguson „Die blutige Hölle“ – dreht sich mal ironisch, mal bitterernst um die traurigen, erfolglosen Figuren und die ebenso denkwürdigen, aber keinesfalls angenehmen, vielmehr sauer schmeckenden, teilweise wütend zurücklassenden Erlebnisse. Solche, die manchmal sogar, im Bann des größten Schmerzes, die Liebe zum Fußball ernsthaft in Frage und eine Abkehr vom Selbigen in Aussicht stellen. Wenn auch nur kurz. Sehr kurz. Ehe ein glücklicher Augenblick, ein flüchtiges Hochgefühl – sei es ein nach zig Versuchen endlich mal gelungener Volleyschuss aus fünfzehn Metern oder der 1:1-Ausgleichstreffer deines Vereins gegen den SV Sandhausen – uns wieder spüren lässt, warum wir das eigentlich alles mitmachen.

Beide Blöcke starten unter dem Deckmantel „‚Großer‘ Sport“ mit einigen Geschichten des Fan-Seins (wobei mir die Anführungszeichen in ‚großer‘ angesichts meines Vereins sehr wichtig sind …). Es folgt jeweils der Kern, ja das Herzstück des Buches: der Amateurfußball. Schließlich runden die Storys aus dem breitgefächerten Hobbybereich („für echte Liebhaber“) die Teile ab. Letztendlich ist es jedoch egal, ob das Buch der Reihe nach oder quer durcheinander (beispielsweise Block I und II im Wechsel oder nach gerade gegebener Lust und Laune) gelesen wird. Sämtliche Wege erscheinen möglich, sodass mir, ganz egal welcher gewählt wird, nur noch zu sagen bleibt: Viel Spaß bei der Lektüre!

TEIL I

Fußball, das schöne Spiel

„Großer“ Sport

01Today only Formel I

Verkatert drücke ich um zehn Uhr morgens das erste Auge auf. Wohlgemerkt eins, für beide reicht es längst noch nicht. An Aufstehen ist so oder so noch nicht zu denken, zu weh tut der Kopf, ja im Prinzip der ganze Körper. Je länger ich halbwegs wach und bei Sinnen bin, desto übler wird mir. Mein Mund ist trockener als die Atacama-Wüste, aber Wasser ist jetzt, wo man es so dringend gebrauchen könnte, nicht in Sicht. Genauso wenig Jordi, mein Zimmerkollege. Er ist, wie ich später erfahre, am Hotelpool eingeschlafen. Knappe fünfzehn Meter entfernt von der Rezeption, wo es sich Christoph und Moritz in Embryostellung auf der weinroten Couch, gefühlt so groß wie ein DIN A3-Zeichen-block, gemütlich gemacht haben. Willkommen in Bulgarien!

Natürlich war das Hotel-Personal wenig begeistert. Aber was will man machen, es ist unsere After-Abi Tour und gestern – an Tag Vier von Sechs – war Pool-Party inklusive zwei Stunden freies Cocktail-Saufen. Ohne jeden Zweifel der beste Abend bisher, wenngleich ich in diesem Moment bereue, gestern voller Stolz die komplette erste Reihe an der Bar gesichert zu haben. Nach knapp einer Stunde Prokrastination im Bett raffe ich mich auf und schleiche wie ein alter Mann (das Modell „Schweinsteiger EM 2016“) Richtung Frühstücksbuffet. Schließlich habe ich noch diese eine, in diesem erbärmlichen Zustand ganz spezielle Herausforderung vor der Brust: Um 13:30 startet mein Verein, der VfL Bochum, in die neue Saison und natürlich kann ich dieses Spiel nicht verpassen. Natürlich muss ich gleich irgendwie losziehen, eine geeignete Kneipe finden und den Saisonbeginn, wenn ich schon nicht vor Ort sein kann, wenigstens am TV verfolgen. Wie genau ich das mache, das weiß ich zu dem Zeitpunkt, als ich allein gelassen vor einem erbärmlichen Frühstücksteller am Tisch sitze, noch nicht. Genauso einsam wie ich liegt da ein Brötchen ohne jeglichen Aufschnitt, Konfitüre oder sonst etwas. Das wäre definitiv zu viel verlangt, vielleicht aber schaffe ich ja dieses trockene Stück und absolviere damit den ersten kleinen Schritt dieses schon jetzt speziellen Tages.

Gut eine Stunde später ist es geschafft. Besser geht es mir nicht. Einfachste Dinge wie Aufstehen, Gehen oder Anziehen fallen weiterhin schwer. Nützt aber alles nichts, denn so langsam sollte ich los. Lukas hat sich mittlerweile dazu gesellt und da sonst noch keiner auf den Beinen ist, kann ich ihn mangels Alternativen überreden, mitzukommen. Voll Tatendrang starten wir nach draußen – nur um zwanzig Meter nach dem Hotelausgang die erste kurze Pause einzulegen. Bin nicht ganz sicher, ob ich mich von den zwölf, vielleicht auch achtzehn Longdrinks in meinem Bauch nicht doch lieber trennen sollte. Das Ganze führt mich aber rasch in eine klassische Lose-Lose-Situation. So kommt erstens nichts heraus und zweitens muss ich im bulgarischen Gestrüpp direkt am Fußgängerweg auch noch mehr als nur lächerlich aussehen.

Im gleichen Takt folgen einige weitere Pausen, ehe wir endlich unten am Hotspot angekommen sind. Die Partymeile ist natürlich noch geschlossen, dafür aber haben die Kneipen und Restaurants geöffnet. Ich versuche mich zu sammeln, zeige auf den Fernsehbildschirm und frage „Football, german second league?“ im ersten, dann im zweiten, später im dritten, vierten, fünften Lokal, bekomme jedoch ausschließlich ernüchternde Antworten. „Second league?“, fragt mich einer der Wirte lachend zurück und geht. „What, Borkum?“, weiß ein anderer nichts mit meinem Verein anzufangen, den ich gerade versuche vorzustellen. „Today only Formel 1“, versichern mir die anderen Kneipiers einstimmig. Wenigstens lachen sie nicht, sondern werfen mir einen Blick nach dem Motto „Sorry Junge, aber Kopf hoch, wird schon“ zu. Bringen tut mir das gerade auch nichts und nach der fünften Enttäuschung verliere ich auch noch Lukas, dem der Aufwand dann doch zu viel wird.

Was nun? Aufstecken? So in die neue Saison starten? „Nein“, bin ich mir nach reiflicher Überlegung (insofern das gerade überhaupt möglich ist) sicher und gehe weiter. Wohin, das weiß ich selbst noch nicht, und je länger ich so weiter mache, desto weniger andere Menschen laufen mir über den Weg. Stattdessen vertrocknete Sträucher, wo man nur hinsieht. Abgenutzte, nicht mehr bewohnte Häuser. Und auf einmal zehn Meter rechts von mir drei kleine, aber umso aggressivere Hunde. Ohne Leine, ohne Herrchen. „Kann doch nicht sein“, denke ich, bis mir wieder einfällt, dass ich ja gerade in Bulgarien bin. Ich laufe los, soweit es mir meine im Gegensatz zu heute Morgen verbesserte, aber immer noch schwache Beschaffenheit ermöglicht. Sie laufen hinterher. Ich bleibe stehen. Sie bleiben stehen. Mir wird klar, dass ich bei aller Angst, die ich gerade am ganzen Körper verspüre, bei all der Übelkeit, die noch immer mein ungebetener Begleiter ist, irgendwie cool bleiben muss. Langsam und bedacht schreite ich weiter und die drei kleinen Terrier bleiben glücklicherweise stehen. Irgendwann sind sie nicht mehr in Sicht, mein Puls fährt wieder runter und ich ziehe das Positive aus der Sache: Heute scheint vielleicht doch ein guter Tag zu sein. Selbst mein Körper hat sich ob dieser Nahtoderfahrung schon wieder leicht Richtung Normal-Zustand korrigiert.

Und vor allem: Von weitem sehe ich doch tatsächlich, hier an diesem von der Menschheit wohl völlig vergessenen Ort, ein brüchig-verstaubtes Sky-Schild. Laien würden es mit Sicherheit nicht mehr als solches erkennen. Ich aber spüre, dass hier was geht, nähere mich vorsichtig an. Je weiter ich Richtung Eingang komme, desto mehr überlege ich, doch lieber wieder umzukehren. Aber es kommt wie hin und wieder mal im Leben der Zeitpunkt, in dem es einfach kein Zurück mehr gibt. Und so öffne ich die Tür. Gehe, ohne es noch groß zu hinterfragen, durch gut dreißig Spinnennetze. Und sehe hinter einem schwarzen Klumpen, der irgendwann mal eine Theke sein sollte, die schätzungsweise weit über hundert Jahre alte Wirtin. Sie ist irritiert, weil ich wohl der erste Besucher seit ihrem 85. Geburtstag bin. Ich bin es aufgrund der Umstände ebenso, setze dann aber noch einmal im bekannten Muster an, um beherzt die letzte Chance zu ergreifen: „Football, german second league?“

Erneut bekomme ich nicht das so sehnlichst erwünschte „Yes, sure. Today it’s the first match of VfL Bochum, right? I hope they will win.“ Aber immerhin erhalte ich die am heutigen Tage erste halbwegs zufriedenstellende Reaktion: Die Dame nickt exakt einmal. Was seltsam aussieht, aber perfekt ins Gesamtbild passt. Verweist daran anschließend mit ihrem Kopf auf den Fernseher. Und drückt mir ebenso wortlos eine Fernbedienung in die Hände. Und dann stehst du plötzlich da: irgendwo im Nirgendwo neben einer zehnmal so alten Frau mit einer nicht zu entziffernden Fernbedienung vor einem der ersten Fernsehgeräte der Weltgeschichte, um irgendwie das Spiel deines lausigen Zweitligavereins ans Laufen zu kriegen. Die nächste Herkulesaufgabe für mich, der mit Technik ungefähr so viel am Hut hat wie diese Kneipe hier mit Gästen.

Es ist mittlerweile 13:55. Keine Ahnung, wie es nach mittlerweile schon fünfundzwanzig Minuten steht, aber zumindest ist nach einiger Zeit des wilden Testens der Fernseher angeschaltet. Und – natürlich ist man geneigt zu sagen – komme ich als Erstes auf Formel 1. Leicht aufgeladen, dazu immer hastiger werdend, versuche ich den Quatsch da wegzudrücken. Weitere zwanzig Minuten später lande ich endlich auf dem richtigen Sender. Es ist Halbzeit, 0:0 noch. Ich setze mich auf einen der drei wahllos im Raum verstreuten Stühle. Angestrengt fragt die Kneipengreisin, ob ich es geschafft hätte. Ich nicke und man merkt ihr an, dass sie jetzt noch irritierter ist. Schließlich läuft ja gerade Werbung. Während sie mir mein Pils zubereitet – ich muss ja aus reinem Dank etwas trinken, auch wenn ich absolut nicht weiß, was genau in diesem Getränk drin sein wird – rufe ich ihr noch ein „it’s Half-time“ zu. Um aufzuklären. Aber das hört sie auf ihren knapp 120-jährigen Ohren nicht mehr.

Dann beginnt Halbzeit Zwei und ich kann mich wirklich nicht erinnern, jemals in einer solchen Bedrückung ein Fußballspiel geschaut zu haben. Beziehungsweise klar: Als Anhänger eines Vereins, der nicht FC Bayern München heißt, ist man natürlich generell einer dauernden Belastungsprobe ausgesetzt. Aber ich meine in einer solchen Bedrückung, die über das Geschehen auf dem Rasen hinaus geht. Weit hinaus. Schließlich kann ich nicht sicher sagen, ob nicht gleich zwei maskierte Herren erscheinen und mich hier gefangen halten. Oder ob die freundliche Wirtin nicht doch eine verbitterte Alte ist, die nichts mehr zu verlieren hat, in wenigen Momenten ihre Pistole rausholt und eiskalt abzieht. Sie wird nun mal nicht nur beide Weltkriege, sondern tendenziell auch den ersten Balkankrieg, vielleicht sogar den Russisch-Osmanischen Krieg miterlebt haben. Oder die Hunde? Vielleicht sind sie mir heimlich gefolgt, haben Unterstützung geholt und warten schon draußen auf mich.

Mit anderen Worten: Alles, aber auch wirklich alles ist angerichtet für einen dieser niederschmetternden Tage, wie man sie als VfL-Fan häufiger erlebt. Manchmal aber, manchmal werden Aufwand und Mut doch tatsächlich belohnt. Ich erinnere mich etwa an unsere Kursfahrt in Rom. Diesen Donnerstagmorgen, als wir in unserer Vierergruppe nach einer leicht übertriebenen Nacht auf vollkommen freiwilliger Basis – zugegeben ich war anfangs wenig begeistert – den Weg zur Kuppel des Petersdoms antraten. Eine enge Rundtreppe, mehr als 500 Stufen, stickige Luft, gefühlt noch immer zwei Promille intus. Aber wir zogen es eisern durch und bekamen dafür eine sagenhafte Aussicht auf diese grandiose Stadt.

Und genauso werde ich nun belohnt. All meine Befürchtungen treten nicht ein und viel wichtiger noch: Mit dem späten 1:0 Siegtreffer (bei dem ich nach meinem lauten Aufschrei kurz verunsichert bin, ob es die recht sicher im 19. Jahrhundert geborene Frau verkraftet) holen wir die ersten drei Punkte der Saison. Und auch, wenn eine empirische Bewährung durchaus schwerfallen würde, ist es einer der Siege, bei dem ich mir trotz 2.000 Kilometer Entfernung ernsthaft einbilde, einen nicht unerheblichen Anteil am Erfolg zu haben. Einer, durch den ich mir wieder sicher bin, dass der Fußball genauso ist wie die auf einmal stimmige Kneipe mit der bezaubernden Dame hinter der Theke: wunderschön! Einzig und allein der Weg zurück zum Hotel sollte noch vor mir stehen. Die letzte Herausforderung. Aber was bitte, was könnte mich an diesem Tag noch stoppen?

02Frank Rijkaard im Ruhrstadion

Ja, ich weiß es ja selbst. Die furiose Aufholjagd deines Teams nach vermeintlich nicht mehr wettzumachenden Rückstand, sie ist ein alter Klassiker, wenn es um Fußball als das schöne Spiel geht. Und weil wahrscheinlich schon hundertmal darüber berichtet wurde, habe ich mich wirklich lange gesträubt, es hier als Story aufzunehmen. Aber ich komme letzten Endes einfach nicht drum rum. Zumal dieses Heimspiel 2017 gegen Dynamo Dresden für mich auch abgesehen der neunzig Minuten Fußball unvergesslich bleibt.

Aber von vorn: In einer mal wieder mehr als nur durchwachsenen Saison liegt unser mal wieder mehr als nur biederes Team verdient mit 0:2 hinten. Während der Halbzeitpause stehe ich erstarrt in der Kurve und mache das, was ich in einer solchen Situation trotz aller Resignation immer mache: Ich rechne. „Bis spätestens zur Sechzigsten den Anschluss erzielen, bis zur Fünfundsiebzigsten den Ausgleich und dann haben wir noch fünfzehn Minuten Zeit, das Ding hier komplett zu drehen.“ Ich bin mir durchaus darüber im Klaren, dass es sich um reine Zeitverschwendung handelt, sind es doch Gedankengänge, die als VfL-Fan in der Regel ins Nichts führen. Mit ganz wenigen Ausnahmen.

Und eine dieser Ausnahmen ist eben heute. Denn als hätten sich die Jungs Kraft, Lauffreude, Spielwitz, Offensivdrang, Torgefahr, ja einfach alles, was das Herz höherschlagen lässt, über eine Saison lang aufgespart, um jetzt alles davon raus zu hauen, so kommen sie aus der Kabine und brennen ein fünfundvierzig-minütiges Feuerwerk ab. Viel schneller als nach meinen Rechnungen erzielen sie erst den Anschluss, nicht mal eine Minute darauf den Ausgleich. Und es ist für diese Geschichte zwar vollkommen unwichtig, aber ich halte es trotzdem für eine Erwähnung wert, dass ausgerechnet Marco Stiepermann zum 2:2 einnetzt. Der Mann, der in der bisherigen Saison exakt so spielte, wie es der Klang seines Nachnamens erwarten lässt. Der den Ball so sauber und anrührend führt wie ich meine Tanzpartnerin nach zwölf Bier und neun Ouzo. Der ein so feines Füßchen hat, wie ich es sonst nur von Mike kenne, Spieler der Reservemannschaft unseres Heimatvereins, der mit 35 Jahren „einfach mal ’n bisschen kicken“ wollte. Schon da wird selbst dem pessimistischsten Anhänger klar, dass heute einer dieser seltenen Tage ist. Und so fällt noch das Dritte zur Führung, dann das Vierte zur Entscheidung.

Der letzte Treffer zwei Minuten vor Schluss macht nicht nur die Aufholjagd perfekt, er ist auch für mich persönlich – vor allem im Nachhinein – ein Besonderer. Nicht zum ersten Mal rutsche ich fünf Stufen herunter, um dort die nächsten Menschen glückselig zu umarmen. „Oh, wie ist das schön, so was hat man lange nicht gesehen“, hallt es durchs Ruhrstadion. Ich singe mir den ganzen Frust der letzten Jahre von der Seele. Hüpfe, genau wie meine Nebenmänner wenig im rhythmischen Einklang, dafür aber intensiv, ja fast so, als hätte ich in meinem Leben nie etwas lieber gemacht.

Plötzlich aber merke ich, wie mich jemand mehrmals an der Schulter antippt. Ich reagiere zuerst nicht, drehe mich nach dem sechsten Mal dann aber doch mal nach hinten, um zu erfahren, was denn da los ist. Ein Junge steht da, vielleicht gerade volljährig. Im Gegensatz zu allen anderen hat er das Hüpfen, Singen, Durchdrehen für einen Moment lang eingestellt. Stattdessen will er mir etwas sagen und verweist dabei auf einen Gegenstand in seiner Hand. Allerdings ist es gerade zu laut, um ihn zu verstehen. Zu dunkel, um das Objekt, worauf er immer wilder gestikulierend zeigt, zu identifizieren.

Konzentrieren kann ich mich eh nicht drauf. So wichtig kann sein Anliegen ja auch nicht sein. Ich drehe mich also wieder weg, um diesen Abend gebührend zu feiern, da berührt er mich nochmal an der Schulter. Diesmal etwas härter. „Junge, was ist denn los mit dir? Wir drehen das Spiel hier und du hast nichts Besseres zu tun, als mich hier zwanzig Mal anzutippen, oder was?“, gebe ich ihm gereizt zu verstehen. Einfach, weil ich sein Auftreten in diesem selten schönen Moment nicht begreifen kann. Ich meine, wie oft gewinnt unser Team so furios wie heute? Wirklich sehr selten und dann sollte man sich doch bitte nicht mit solchen Nebensächlichkeiten beschäftigen.

Nach meiner kurzen, aber deutlichen Ansage schaut er mich mit leeren Augen an. Sagen tut er auch nichts mehr, sondern drückt mir nur noch diesen Gegenstand – ich habe immer noch keinen Plan, was zur Hölle das sein soll – in die Hand und geht. „Okay“, denke ich mir. „Vielleicht hat er ja verstanden, dass sein Verhalten gerade wirklich nicht angebracht war.“ Ohne noch groß drüber nachzudenken stecke ich mir das Teil in die hintere Hosentasche, schreitet doch gerade die Mannschaft Richtung Kurve und ich muss für den gebührenden Applaus natürlich beide Hände frei haben.

Der nächste Tag. Erschöpft, körperlich leer, aber zufriedener denn je bin ich gestern direkt nach der Ankunft eingeschlafen. Am Frühstückstisch rekapituliere ich den Abend. „Ach ja“, fällt mir nach einigen Minuten träumerischen Zustands ein. „Da war ja was.“ Ich haste Richtung Bad, wühle meine Jeans von gestern aus dem Wäschekorb. Vorsichtig greife ich in die linke hintere Hosentasche. Kämpfe mich vor. Ertaste erst etwas Festes, Rundliches, „vermutlich aus Glas“, wie ich in Bares für Rares Laien-Manier eine Ferneinschätzung liefere. Anschließend etwas deutlich Weicheres. Noch immer planlos, mehr oder weniger verunsichert, ziehe ich es langsam hervor. Und muss einen Wimpernschlag später feststellen: Es handelt sich um nichts weniger als meine Armbanduhr! Beziehungsweise genauer gesagt drei auseinandergefallene Teile der Armbanduhr, die mir gerade erst letztes Weihnachten, also vor knapp vier Monaten, geschenkt wurde.

Ohne es auch nur ansatzweise mitbekommen zu haben, habe ich sie wohl während des Torjubels verloren. Und dieser Junge, den ich bis eben noch für einen kompletten Vollidioten gehalten habe, muss sie inmitten der Ekstase gefunden und Ziffernblatt plus die zwei losen Bänder aufgehoben haben. Er muss mir die paar Stufen durch das feiernde Knäuel hinterhergeeilt sein. Nur um während der Rückgabe einem unfreundlichen Mann zu begegnen, der ihn statt einer dankenden Umarmung kritisch beäugt und fragt, warum er denn hier so teilnahmslos mit anderen Dingen beschäftigt in der Kurve steht. Kurzum: Er muss sich mindestens, mindestens so unfair behandelt gefühlt haben wie Rudi Völler im Achtelfinale 1990. Oder ein handelsüblicher Fußball, der von Marco Stiepermann berührt wird.

„Oh man“, denke ich mir an die Stirn fassend, die ganze Situation nun in anderem Licht sehend. „Du, Gerrit, du bist hier der Idiot!“ Und es stimmte. Ich war hier der Rijkaard, der ihn vollkommen zu Unrecht angespuckt hat. Jemanden, der diesen Tag im Nachhinein einfach perfekt gemacht hat. Erst diese Aufholjagd des VfL, dann das wundersame Comeback meiner Uhr. Zwar in drei Teile gefallen, aber sie konnte erfolgreich repariert werden. Und so halte ich seit diesem Abend bei jedem einzelnen Heimspiel nach einem jungen, nicht leuchtend, aber leicht rothaarigen, circa 1,70 kleinen Anhänger Ausschau. Bis dato vergeblich. Vermutlich fährt er nach diesem Erlebnis einfach nicht mehr hin. Kann auch sein. Aber ich wünschte so sehr ihn wiederzusehen. Um endlich aufrichtig sagen zu können: „Danke, mein Freund. Danke für damals!“

03Die Resignation des Siegers

Zugegeben: Es hätte durchaus schon früher erfolgen können, aber nun, in Kapitel drei dieses ersten Teils, möchte ich mich gerne nochmal mit zwei harten Fakten vorstellen. Zum einen und das dürfte nach dem ersten Lesen bereits bekannt sein, bin ich Anhänger des VfL Bochum. Zum anderen fahre ich seit Beginn meines Studiums regelmäßig mit der Bahn. Das sind zwei auf den ersten Blick vollkommen unterschiedliche Dinge, die aber dann doch eine ganz offensichtliche Gemeinsamkeit eint: Beide führen sie zu deutlich, wirklich deutlich mehr Ärger und Leid, als dass sie Freude bereiten.

Hier die nächste vermeidbare Niederlage gegen Heidenheim, obwohl man doch gerade wieder so viel Hoffnung auf bessere Zeiten hatte. Die nächste 2:0-Führung, die in den letzten Minuten noch verspielt wird. Der nächste Neuzugang, der sich als Niete herausstellt. Der nächste pomadige Auftritt, der uns sicher nicht in glorreiche Zeiten führen wird. Dort zum neunten Mal in dieser Woche zehn Minuten Verspätung. Die nächste Baustelle samt Umleitung auf deiner Strecke. Der nächste wild hustende, sich breit machende und/oder laut telefonierende Sitznachbar. Die nächsten 120 suspekten Personen und 480 Tauben, die neben dir am Bahnsteig warten. Kurz gesagt: VfL-Anhänger und Bahnfahrer zu sein, das ist, wie wenn du beim „Mensch ärger dich nicht“ einfach keine Sechs würfelst und das Spielfeld nicht betreten darfst, während alle anderen schon munter ins Ziel eintreffen. Oder aber, du bist dann irgendwann wirklich mal am Start, drehst sogar eine achtbare Runde. Fühlst dich, wie Heidi Klum in Bezug auf die etwas bessere Laufsteg-Performance sagen würde, „gut und sicher“. Beginnst bereits damit, groß zu träumen. Nur um einen Sprung vor Eintreffen ins Häuschen gnadenlos rausgekickt und auf hässlichste Art und Weise auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt zu werden.

Und als sei das noch nicht genug. Als sei das alles noch nicht genug, so kommt an diesem Frühlings-Freitag 2018, an dem der VfL bei Tabellenführer Düsseldorf gastiert, noch eine nicht minder miese Komponente hinzu: Liebeskummer! Allein die letzten beiden Wochen sind ein einziger Mix aus in Sackgassen führende Gedanken, nicht enden wollendem Herzklopfen und Philipp Poisel in Dauerschleife. Nicht zu unterschlagen die krachend gescheiterten Versuche, diesen Rattenschwanz endlich los zu werden. Etwa die Dorfparty vergangenen Samstag. So furios, so motiviert begonnen, war es dann am Ende doch nicht so toll, einsam auf der Tanzfläche neben gefühlt siebzig verliebten Paaren dem Pur-Hit-Mix zu lauschen.

Oder die beiden völlig missglückten Dating-Versuche unter der Woche. Beim ersten redete ich mit der Dame – warum auch immer – gut eine Stunde lang über elektrische Zahnbürsten, ehe – ebenfalls warum auch immer – ihre viel zu gut gelaunte und redselige Mutter ohne Klopfen ins Zimmer rauschte. „Na ja, so ist sie halt“, merkte sie in Bezug auf die Eigenheiten (fragt mich nicht welche, ich habe gar nicht mehr genau zugehört …) ihrer Tochter an. „Aber das wirst du ja noch kennenlernen.“ Nein werte Frau, das werde ich nicht „kennenlernen“, weil dieses merkwürdige Treffen, was hier gerade stattfindet, mit ganz großer Sicherheit das letzte sein wird.

Das zweite Date drei Tage später lief demgegenüber schon etwas besser. Ohne elektrische Zahnbürsten. Ohne hereinstürmende, fröhlich erzählende Mutter. Kurz davor schon ein positives Zwischenfazit zu ziehen, berichtete sie mir jedoch davon, dass sie und ihre ganze Familie große Mittelalter-Fans seien. In zwei Monaten feiere ihr großer Bruder unter diesem Motto seine Hochzeit. Long story short: Bevor ich mich wie einst Paul Breitner und Lars Ricken vor dem CL-Finale 2013 allen Ernstes im Ritterdress auf dieser Veranstaltung wiederfinde, war auch dieses Thema vorzeitig beendet. Meine verzweifelten Anläufe, wieder zurück ins Leben zu finden, erst einmal ad acta gelegt.

Und der heutige Tag? Na ja, um eine sachliche Kurzfassung zu liefern: Heute Morgen wollte ich mir eine 25€ Paysafe-Karte kaufen, um auf unseren ziemlich unwahrscheinlichen Auswärtsdreier zu setzen. Beziehungsweise besser gesagt: Ich habe dies auch getan. Also das Kaufen. Das Setzen jedoch war nicht mehr möglich, nachdem ich statt des Kassenbons versehentlich die Paysafe-Karte höchstpersönlich in den engen Schlitz des Mülleimers schmiss. Wie weit ich im anschließenden Tagesverlauf mit den beiden Hausarbeiten (Abgabetermin in einer Woche) gekommen bin, kann man sich angesichts dieser Aktion ja denken (für diejenigen, die es sich vielleicht nicht denken können: drei Sätze, zwei davon später wieder gelöscht).