Himmlische Winterküsse - Karin Koenicke - E-Book

Himmlische Winterküsse E-Book

Karin Koenicke

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Beschreibung

Verflucht! Seit Jahren träumt Edwina davon, mit ihrer Band den großen Durchbruch zu schaffen. Nun ist sie ganz kurz davor, doch der Keyboarder steigt aus! Sie ist so verzweifelt, dass sie diesem seltsamen Paul, der zufällig in ihrem Londoner Tattoo-Studio auftaucht, eine Chance gibt. Doch Paul hat einen triftigen Grund, warum er Edwinas Keyboarder werden will: Er ist Organist im Himmel, wurde aber leider als Teilnehmer in einem Schutzengel-Wettbewerb ausgewählt und muss jetzt auf Edwina aufpassen. Dabei hat er weder mit Rockmusik noch mit einer toughen Tätowiererin was am Hut! Doch so unterschiedlich Edwina und er auch sind – sie teilen die Leidenschaft zur Musik. Das allerdings können seine himmlischen Auftraggeber nicht durchgehen lassen …

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Seitenzahl: 468

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Himmlische Winterküsse

Winterzauber - Band 2

Karin Koenicke

Impressum

Nachdruck, Vervielfältigung und Veröffentlichung - auch auszugsweise - nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages!

Im Buch vorkommende Personen und Handlung dieser Geschichte sind frei erfunden und jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist zufällig und nicht beabsichtigt.

Copyright © 2021 dieser Ausgabe Obo e-Books Verlag,

alle Rechte vorbehalten.

M. Kluger

Fort Chambray 

Apartment 20c

Gozo, Mgarr

GSM 2290

Covergestaltung: Claudia Toman

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Inhalt

1. Rigoroser Reggae

2. Niedliches Noctune

3. Gellendes Grammophon

4. Rabiater Rock

5. Schräges Scherzo

6. Harmonische Hammond

7. Saustarker Soul

8. Taumelnde Toccata

9. Obskurer Oldie

10. Röhriger Retrosound

11. Manierliches Marienlied

12. Klirrendes Klingeln

13. Bettlägerige Ballade

14. Trunkener Trommelwirbel

15. Federleichte Fantasia

16. Lyrisches Legato

17. Respektabler Retrosound

18. Bedeutungsschwerer Bach

19. Hoffnungslose Harfe

20. Steinerne Stille

21. Pfeilschnelles Presto

22. Drohendes Dröhnen

23. Schmerzliches Silentium

24. Wallende Wassermusik

25. Himmlische Hymne

26. Furioses Finale

27. Jadegrüner Jazz

28. Epilog

Winterzauber …

Eingeschneit - Ein Weihnachtshörbuch!

1

Rigoroser Reggae

London, mitten in Camden Town

“Fast fertig”, kündigte Edwina an und brachte letzte Schattierungen rund um den grimmig dreinschauendenden Totenkopf an, den sie gerade tätowiert hatte. Und zwar mitten auf die rechte Brust des fast genauso finster wirkenden Möchtegerngangsters namens ‚Bad Bone Bronco‘. Bronco versuchte sich als Rapper, obwohl ihm nach Edwinas Meinung jegliches Talent dafür fehlte. Sie hatten sich neulich in einem Hinterhofclub kennengelernt, wo er unmittelbar nach ihrer Band auf die Bühne gegangen war und sich mangels Rhythmusgefühl bis auf die ‚bad bone‘-Knochen blamiert hatte. Wahrscheinlich hoffte er, dass seine Karriere nun durch ein wildes Tattoo auf wundersame Weise in Schwung kam.

Edwina wischte die überschüssige Farbe weg und ließ die Maschine weitersurren. Sie zählte sich selbst zu den besten Tätowiererinnen der Stadt, aber zaubern konnte sie nicht. Leider. Sonst hätte sie sich selbst schon einen Sack voll Gold und eine glänzende Karriere als Rocksängerin herbeigehext.

Mit ruhiger Hand zog sie einen letzten Strich, nickte zufrieden und schaltete die Tätowiermaschine aus.

„So, jetzt darfst du das Kunstwerk bewundern.“ Sie fuhr den Stuhl, auf dem Bronco lag, hoch, damit er sich im Spiegel betrachten konnte.

„Bloody hell“, sagte er und starrte seine Reflexion begeistert an. „Der sieht krass aus, richtig zum Fürchten. Passt super zu mir.“

„Ja, klar“, erwiderte Edwina trocken, verkniff sich ein Grinsen und legte die Folie zum Abdecken bereit. Bronco war ein mageres Bürschchen mit schmalen Schultern unter der Lederjacke. Den würde sie mit einem einzigen Schlag aus den Latschen hauen, wenn sie es darauf anlegte. Und dabei war sie selbst eher zierlich. Aber halt tough. Was man von ihm nicht unbedingt behaupten konnte.

Er hatte sich einen „richtig hammerhart morbiden Skull“ gewünscht, also hatte sie ihm einen barocken Totenkopf gezeichnet und tätowiert. Der Schädel schwebte nicht einfach irgendwie in der Luft, sondern thronte wie bei einem alten Gemälde auf einem Tisch und war umgeben von verwelkten Rosen und toten Insekten, denn der Wunsch des Kunden war ihr nun mal Befehl. Wer ein morbides Kunstwerk bestellte, bekam bei ihr ein fein abgestimmtes Stillleben mit kleinsten Details und professioneller Ausführung. Edwina würde zur Not auch ein Einhorn mit rosa Flügeln als „morbides“ Wesen zeichnen oder im Feldhasen-Stil von Albrecht Dürer designen, denn sie brauchte die Kohle, die sie hier in Gareth’s Tattoo-Studio verdiente. Und sie liebte es, dass sie in ihrem Job ihre kreative Ader ausleben konnte, allerdings viel zu selten. Lieber hätte sie ihre Bilder auf echte Leinwände gepinselt, aber diese Kunst war nun mal brotlos, also arbeitete sie hier an der Nadel und verzierte alle möglichen Körperstellen mit ihren eigenen Entwürfen, egal ob morbide Skulls, niedliche Hundewelpen oder – wie neulich bei einem Kunden – eine Alien-Versammlung auf dem Trafalgar-Square.

„Richtig geil“, wiederholte Bronco und bewunderte seine Brust von allen Seiten. „Aber du machst mir doch einen Freundschaftspreis? So als Musikerkollege und alles?“

Statt eines Rabatts schenkte Edwina ihm einen knallharten Blick.

„Kumpel, du solltest lieber froh sein, dass du so ein Einzelstück bekommen hast! In anderen Studios nehmen sie nämlich irgendwelche Schablonen, aber ich habe dir ein absolutes Unikat verpasst, also sei gefälligst dankbar.“ Dass er noch nie ein barockes Stillleben gesehen hatte, war ihr klar. Aber ein wenig würdigen sollte er ihre Kunst schließlich schon.

Wie erwartet, zog er sofort den Schwanz ein. „Ist ja gut“, erwiderte er kleinlaut. „Ich hab gedacht, ich frag halt mal und so.“

Oh Mann, der war echt ein windiges Bürschchen. So einer käme für sie nie infrage, ein Kerl sollte Rückgrat haben! Okay, ihr Kenny war vielleicht kein absoluter Traummann, aber zumindest hatte er Rhythmus, eine Portion Mut und sehr gelenkige Finger. Also - beim Solo auf der Gitarre. In anderer Hinsicht ließ sie ihn nämlich zur Zeit zappeln, denn das Rumgemache auf der Party neulich mit dieser Rothaarigen verzieh sie ihm nicht so leicht.

„Habt ihr bald wieder einen Gig?“, fragte Bronco einlenkend, während er ein paar Scheine aus seiner Hosentasche zog.

„Ja, steht einiges auf dem Plan.“ Sie wollte keine Details verraten, weil er sonst am Ende noch auf die Idee kam, sich als Special Guest einladen zu lassen. „Wir proben ziemlich viel, haben eine Menge Ideen für neue Nummern. Wenn ich hier aufgeräumt habe, fahr ich sofort rüber zum Band-Raum, dann wird gerockt.“

Dass sie mit ganz viel Glück einen Plattenvertrag in Aussicht hatten, band sie ihm lieber nicht auf die Nase, auch wenn sie bei diesem Gedanken immer richtig hibbelig wurde. Es wäre einfach toll, groß rauszukommen! Und die Band hätte es echt verdient, die Jungs und sie arbeiteten verdammt hart an ihrem Sound.

„Ah, okay. Dann will ich dich nicht aufhalten.“

„Ist schon okay, wir haben ja jetzt erst Ladenschluss.“ Sie sollte ruhig etwas freundlich zu Bronco sein, er war schwer in Ordnung. „Steht dir wirklich gut, der Skull“, sagte sie deshalb mit wärmerer Stimme. „Ich wette, deine weiblichen Fans werden dich von der Bühne zerren, sobald du dein Shirt ausziehst.“

„Meinst du echt?“ Auf seinem schmalen Gesicht blühte ein Strahlen auf.

„Na ja, es ist auf jeden Fall ein sexy Tattoo“, bestätigte sie. „Und eins, das nicht jeder hat.“

Er nickte und sah stolz auf sich herunter, bevor er in seinen Pulli schlüpfte. „Es macht richtig was her. Und ich schau damit tougher aus, nicht wahr?“

„Absolut. Außerdem hast du total ruhig gehalten beim Stechen, da habe ich schon ganz andere Sachen erlebt. Hut ab, Bronco.“

Nun strahlte er fast so hell wie die medizinische Lampe über dem Stuhl.

„Bin halt ein echter Kerl“, sagte er und bemühte sich um eine etwas tiefere Stimmlage.

„Ja, total“, behauptete Edwina und schmunzelte in sich hinein. Er war zwar völlig unmusikalisch, aber ansonsten ganz okay. Und wenn sie ihm heute mit dieser dreistündigen Nadelsitzung zu ein bisschen mehr Selbstbewusstsein verholfen hatte, war das doch irgendwie ein gutes Werk. Außerdem spülte es Geld in Gareth‘s Kasse und zahlte somit ihr Gehalt.

Edwina kassierte und gab ihm noch letzte Anweisungen, wie er sein neues Tattoo zu pflegen hatte. Anschließend schloss sie hinter ihm die Tür ab, desinfizierte alles gewissenhaft und schlüpfte schließlich in ihre Jacke.

Als sie hinausging, zog sie schnell den Reißverschluss zu. Ein eisiger Winterwind fegte durch Londons Straßen und wirbelte ein Papiertuch herum, das jemand achtlos fallen gelassen hatte. Edwina erkannte den lilafarbenen Aufdruck, es war eine Serviette aus dem naheliegenden Café. Umgehend begann ihr Magen zu knurren, denn sie sah die leckeren Pizzataschen und saftigen Muffins förmlich vor sich, die dort angeboten wurden. Aber ihr Kontostand sorgte dafür, dass sie lieber die andere Richtung einschlug. Zu Hause hatte sie noch eine Packung Nudeln herumstehen, die mussten reichen als Abendessen. Wenn sie ganz viel Glück hatte, schleppte Mike, der Keyboarder, wieder mal einen halben Kuchen zur Bandprobe mit, denn seine Nachbarin war neuerdings dem Backwahn verfallen.

Obwohl ihr der eisige Wind in den Kragen fuhr und sie eigentlich schon längst bei der Probe hätte sein sollen, blieb sie vor dem Schaufenster einer Buchhandlung stehen. Neben den üblichen vorweihnachtlichen Ratgebern für selbstgetöpferte Geschenke und gehäkelte Christbaumkugeln lag ein Buch über Janis Joplin.

„Ihr erstaunlicher Weg zum Erfolg“, las Edwina halblaut den Titel und betrachtete fasziniert das Foto der berühmten Bluesrock-Sängerin. Janis stand am Mikro, hatte die Arme ausgebreitet und die Augen geschlossen, war total in den Song versunken. Wie glücklich sie aussah! Sie trug eine bunte Batikbluse, ihr widerspenstiges Haar flatterte wild herum und sie war ungeschminkt. Janis war keine dieser modernen Popschönheiten, die ihr Geld ebenso gut als Model verdienen könnten. Aber der Ausdruck in ihrem Gesicht faszinierte Edwina so sehr, dass sie kaum ihren Blick losreißen konnte. So sah wahre Hingabe aus. So war es, wenn ein Künstler vollständig in seiner Musik aufging.

Einen Moment lang war sie versucht, hineinzugehen und das Buch zu kaufen. Einfach, weil sie wissen wollte, wie Janis diesen kometenhaften Aufstieg geschafft hatte. Aber es war ein Hardback und kostete saftige fünfundzwanzig Pfund, das war ihr dann doch zu teuer. Zumal sie das Meiste wahrscheinlich schon wusste. Janis hatte – genau wie sie selbst – ein Talent zum Zeichnen gehabt und deshalb als Kind Kunstunterricht erhalten. Okay, Unterricht hatte sie, Edwina, nie bekommen, aber ansonsten gab es noch mehr Gemeinsamkeiten. Janis hatte sich das Singen nämlich auch selbst beigebracht, hatte die uralten Blueslegenden wie Bessie Smith gehört, war in der Schulzeit Außenseiterin gewesen und irgendwann als Sängerin in einer Band eingestiegen.

Nur war sie dann halt entdeckt worden und zum Weltstar aufgestiegen. Edwina seufzte leise. Wie sehr hoffte sie, dass ihr das auch passierte! Dass sie irgendwann auch vor so großem Publikum stehen und ihr Gesicht vielleicht auf einer CD-Hülle zu sehen sein würde.

„Rücken Sie mal zur Seite“, riss die nasale Stimme einer Frau sie aus ihren Träumen. Edwina fuhr herum. Neben ihr stand eine dieser typischen Londoner High Society-Ladys, die man sofort an ihrer teuren Garderobe, dem hochnäsigen Blick und der akzentuierten Aussprache erkannte. Gott, Edwina hasste diese eingebildeten Zicken!

„Ich denke gar nicht daran!“, gab Edwina zurück. Sie hatte schließlich das gleiche Recht, hier zu stehen, wie diese Schnepfe im karamellbraunen Kaschmirmantel und den goldenen Muscheln an den Ohren.

Doch die Dame musterte sie von oben bis unten. „Sie sehen nicht aus, als würden Sie hier wirklich einkaufen wollen“, säuselte sie in diesem arroganten Upperclass-Akzent, der Edwina immer rasend machte. Nur weil sie schwarze Boots, eine löchrige Jeans, ein Nasenpiercing und eine Lederjacke trug, die ihre besten Zeiten schon hinter sich hatte, hieß das noch lange nicht, dass sie nie eine Barnes and Noble-Filiale betrat!

„Moment mal!“ Edwina baute sich vor der Lady auf, doch ein Mann im Anzug unter dem schwarzen Mantel kam von der anderen Seite auf die Frau zu.

„Penelope, Liebes, da bist du ja!“, rief er und bot ihr seinen Arm an. „Komm, wir kaufen jetzt die Läden leer, ich habe schon ein paar ganz wundervolle Geschenke gesehen. Dieses Teeservice mit den zartrosa Magnolienblüten ist eine Augenweide!“

Die beiden rauschten ab.

„Penelope!“, wiederholte Edwina zynisch. „Wer zum Henker heißt denn so?“

Bestimmt hatte die noch Schwestern, die auf die Namen Kassandra, Athena und Kassiopeia hörten, oder was die griechische Mythologie, die den Eltern auf ihrer Privatschule eingetrichtert worden war, eben so hergegeben hatte. Und die ganz entzückt waren, wenn sie von Schwager Agamemnon ein blassrosa Teeservice als Weihnachtsgeschenk überreicht bekommen würden.

Okay, Edwina wäre auch kein Name, den sie einer Tochter verpassen würde, aber er klang zumindest nicht nach Altertum und Angebertum.

Ihr Handy klingelte. Es war Kenny. „Hey, wo bleibst du denn?“

„Bin schon auf dem Weg zu euch“, sagte sie und marschierte jetzt eilig zur nächsten U-Bahn-Station.

Gleich würde sie dort sein und zusammen mit den anderen ein paar Hammernummern raushauen. Beim nächsten Auftritt würde dann endlich der Talentscout Corey Carpenter auftauchen, dem sie das Demoband geschickt hatte, und dann würde sie es irgendwann all diesen Penelopes und Persephones und Pandoras zeigen, die nur in ihren langweiligen Westend-Villen herumhockten, während sie, die ungebildete Edwina, die größten Hallen der Welt rockte und das Publikum ihr zu Füßen lag!

Yes!

Diese Vorstellung tat richtig gut. Voller Elan stieg Edwina in die Bahn und betrat eine Viertelstunde später den Probenraum, in dem der Rest von „Heaven’s Nightmare“ bereits versammelt war. Sogar ihre Wut auf den untreuen Kenny war fast verflogen. Sie begrüßte den Gitarristen mit einem Kuss, warf Tasche und Jacke auf den Verstärker und schnappte sich das Mikro.

Dann ging es auch schon los mit einem Song, den Kenny komponiert hatte.

„Like a hurricane I came into your life”, röhrte sie ins Mikro.

Doch bei der zweiten Nummer brach Keyboarder Mike plötzlich mitten im Refrain ab.

„Ist doch alles Scheiße, was wir hier machen“, sagte er und verschränkte die Arme. „Lauter kommerzieller Käse.“

„Sag mal, hast du den Arsch offen?“, regte Kenny sich sofort auf. „Die beiden Nummern sind der Wahnsinn, damit kommen wir groß raus. Die Labels fahren garantiert voll ab auf Eddies Stimme und auf meine Riffs. Vor allem natürlich auf meine eigenen Songs.“

„Kein Mensch will so was hören“, rief Mike. „Mir ist das viel zu wenig Grunge.“

Nicht schon wieder! Edwina verdrehte die Augen.

„Mike, wir haben doch darüber abgestimmt, dass wir keine Setlist aus lauter Nirvana-Nummern machen.“ Wieso fing er immer wieder damit an?

Doch er war bockig wie ein Kleinkind. „Ihr seid solche Idioten!“, fauchte er. „Ich hab euch schon tausend Mal erklärt, was wir spielen müssen. Eine Fusion aus Grunge, Hard Reggae und Dubstep! Das ist was, das niemand sonst macht!“

„Ja, weil es keiner hören will“, konterte Brian und biss ungerührt in einen Apfel.

„Genau“, pflichtete Edwina ihm bei. „Wir wissen doch, wo unsere Stärken sind. Kenny schreibt uns eigene Songs, wir wollen doch mehr in Richtung Retro-Style. Mensch, darüber haben wir doch schon oft geredet! So Sachen, wie Amy Winehouse sie gemacht hat, sind wieder voll im Kommen.“

„Und das haben wir super drauf“, ergänzte Brian.

„Bullshit!“ Mike wurde immer lauter. „Ihr Affen habt ja keine Ahnung! Das ganze alte Zeug ist stinklangweilig, damit lockt ihr keinen einzigen Produzenten hinterm Ofen vor. Warum kapiert ihr das nicht, verdammt? Man muss Spannung aufbauen in einem Song, hört doch mal, ich zeig’s euch. Der Drop! Die richtig rigorosen Reggae Beats! Dazu ein Einschub von Smells Like Teen Spirit. Das ist die Zukunft!“

Er drückte ein paar Knöpfe und ließ dann einen ohrenbetäubenden Lärm durch den Probenraum schallen. Edwina war kurz davor, sich die Ohren zuzuhalten – und das hatte sie nicht mal bei diesem höllenlauten Manowar Konzert getan! Ihr Kumpel Rocco, der dort als Türsteher arbeitete, hatte sie damals eingeschleust. Mike simulierte mit dem Keyboard kreischende E-Gitarren, dazu schaltete er einen treibenden Technobeat, der unterbrochen wurde von ein paar Reggae-Takten, die überhaupt nicht hineinpassten. Der Beat schwoll immer mehr an, aber ohne irgendwohin zu wollen. Mittendrin brüllte Mike dann plötzlich Kurt Cobains „I feel stuuupid and contaaagious“ hinein.

Fuck, drehte er jetzt völlig durch?

Entsetzt starrte Edwina ihn an.

In Kenny hingegen war während der letzten Takte Leben gekommen. Er fackelte nicht lange und zog den Stecker von Mikes Keyboard aus der Dose.

„Das ist der größte Dreck, den ich je gehört habe!“, rief er. Feingefühlt gehörte nicht unbedingt zu Kennys Stärken, aber Edwina musste ihm dieses Mal leider recht geben.

„Und ihr seid die größten Idioten, weil ihr nicht erkennt, wo der Trend hingeht!“, schrie Mike. „Ihr könnt mich alle mal.“

Er sprang auf, packte sein Keyboard und stürmte wutschnaubend hinaus.

Brian ließ seinen Apfel sinken. „Das meint er doch nicht ernst, oder? Ich mein – wir haben nächste Woche einen Gig. Wie sollen wir ohne Keyboard auftreten?“

„Er hat die letzte Zeit eh nur lauter Mist gespielt“, schimpfte Kenny Mike hinterher. „Wir sind besser dran ohne den Kerl.“

Edwina machte zwei Schritte auf ihn zu. „Aber Kenny – wir brauchen ein Keyboard! Wie sollen wir sonst die Gigs spielen? Das ist doch genau unser Sound! Und du weißt, Corey Carpenter wird bestimmt bald vorbeikommen. Wir können doch bei dem nur punkten, wenn wir unseren Special Retro-Sound draufhaben. Aber den kriegen wir ohne Keyboard nicht hin!“

Verdammte Scheiße, das war doch ihre große Chance! Sie waren so kurz davor, endlich einen Produzenten zu finden und ein Album einzuspielen. Da konnte ihnen dieser verfluchte Mike doch nicht alles kaputtmachen!

„Mein Gott, jetzt mach dir nicht ins Hemd, Eddie“, sagte Kenny. „Wir werden schon einen neuen Keyboarder finden. So selten sind die nun auch wieder nicht.“

Doch ihr Hals fühlte sich an, als hätte jemand ein Gitarrenkabel herumgeschlungen und würde immer fester zuziehen. Es stand so irrsinnig viel auf dem Spiel. Womöglich ihre ganze Zukunft!

„Einen, der zu unseren Nummern passt? Der die ganzen alten Sachen draufhat und genau den Sound rüberbringt, den wir auf das Demoband gepackt haben?“ Die Panik machte ihre Stimme ganz piepsig. Das war völlig unmöglich, sie waren schließlich ein eingespieltes Team!

„Hey, Baby, flipp nicht gleich aus.“ Kenny kam auf sie zu und nahm sie in den Arm. „Wir hängen ein paar Zettel aus und fragen rum, London ist groß, da werden wir schon einen Ersatz auftreiben.“

Doch Edwina fühlte deutlich, dass es keinesfalls so einfach sein würde, wie er sagte. Alles an ihr war angespannt, ihre Kehle trocken, ihr Brustkorb eng. Sie steckten in einer verfluchten Klemme und weder Kennys Worte noch seine Umarmung konnten ihr etwas Beruhigendes schenken.

War ihr größter Traum gerade dabei, wie eine schillernde Seifenblase zu zerplatzen?

2

Niedliches Noctune

Himmel, Tag der Entscheidung

Auf der runden Bühne des himmlischen Amphitheaters, das normalerweise als Probestätte für die Engels-Chöre diente, saß Pasiel am Klavier, spielte Chopin und war überirdisch glücklich. Er schloss die Augen und versank völlig in die melancholischen Töne, die ihn umwehten. Der Dreivierteltakt umfloss ihn wie sanfte Wellen und die verspielten Achtelnoten der Melodie ließen ihn verträumt seufzen. Klassische Musik war etwas Wunderbares. Pasiels Finger liebkosten die kühlen Tasten und in ihm erwachten Erinnerungen an seinen ersten Klavierlehrer, der selbst noch ein Schüler Chopins gewesen war und oft von dessen leidenschaftlichem Wesen geschwärmt hatte.

Bei der Forte-Stelle bekam er wie immer eine leichte Gänsehaut und freute sich gleichzeitig auf den herrlich lyrischen Achtel-Lauf, der gleich folgen würde. Die Töne erhoben sich aus dem Klavier und erfüllten die Luft mit einem silbernen Klang, vor dem man sich nur ehrfürchtig verneigen konnte.

„Schluss mit dem Geklimper, ich muss hier putzen“, quäkte es urplötzlich hinter ihm. Mit einem Staubwedel wurde über seinen Nacken gefegt, als sollte er damit verscheucht werden.

Erschrocken fuhr Pasiel herum, nieste herzhaft und erkannte diesen unsäglichen Katzfiel, der ihn vorwurfsvoll anfunkelte. Katzfiel hatte sich neulich zum leitenden Hausmeisterengel ausgerufen. Da auch im Himmel modernere Zeiten angebrochen waren, nannte er sich jetzt „cloud based facility manager“, was so gar nicht zu diesem derben Kerl mit struppigem Bart und Zottelhaaren passte. Warum der hier auf der hohen Himmelsetage gelandet war, wusste sicher nur Erzengel Gabriel persönlich.

„Los, mach Platz, Musikus“, ermahnte ihn Katzfiel auch schon und kippte einen Eimer Putzwasser mit Limonenduft in das strahlend weiße Rund des Amphitheaters, sodass sich Pasiel schnell auf den Stufen in Sicherheit brachte. Wie die meisten hier begegnete ihm der Hausmeisterengel ohne Respekt.

Von weiter oben stieg einer der Chorengel herab. Es war Amia aus dem ersten Sopran, der er manchmal Einzelstunden gab.

„Tut mir leid, Amia, für unsere Lektion sieht es im Moment schlecht aus.“ Er wies mit dem Kopf auf den wild wischenden Putzengel. „Aber wir holen es bald nach, versprochen.“

Amia strich sich ihre blonden Locken zurück und lächelte. „Das ist kein Problem. Ich kann ja verstehen, dass er die Bühne auf Vordermann bringen will. Heute Abend soll natürlich alles glänzen.“ Sie ging mit ihm zusammen wieder nach oben.

Pasiel war verwirrt.

„Heute steht doch gar kein Konzert an“, sagte er.

Im Amphitheater probten normalerweise die himmlischen Chöre eins bis vier und traten hier auch auf. Und weil an einem Ort, wo die Engels-Chöre Halleluja sangen, eine Orgel nicht fehlen durfte, gab Pasiel oft Konzerte auf der Königin der Instrumente.

Amia lachte. „Sag mal, wo lebst du denn? Seit Tagen steht doch schon alles Kopf wegen des Wettbewerbs. Heute ist die Auslosung!“

Sie deutete auf ein von Goldornamenten umschnörkeltes Plakat, das an einer Säule klebte. Beim Hinuntergehen hatte Pasiel das Schild übersehen, aber jetzt ging er näher heran und las mit hochgezogenen Augenbrauen, was in geschwungener Schrift darauf stand.

Willkommen zum Euromission Schutzengel Contest!

Heute Abend findet die Auswahl des Guardians statt, der den deutschen Himmel vertritt.

Teilnehmende Länderhimmel sind Deutschland, Österreich, Liechtenstein,

Polen, Italien, Spanien, Portugal, Ungarn, Frankreich

Malta, England und als Gast Neukaledonien

Organisation und Verantwortung der deutschen Gala:

Die erhabenen Erzengel Michael und Gabriel

„Ach ja, richtig“, sagte Pasiel mit einem Gefühl, das ihn an Sodbrennen erinnerte.

Er hatte diese völlig überkandidelte Veranstaltung beiseite gedrängt und sich in der letzten Zeit absichtlich von irgendwelchen Engelsaufläufen ferngehalten, weil die Heerscharen anlässlich der Abend-Gala allesamt außer sich gerieten.

Dass der Himmel sich in geographische Regionen einteilte, war Pasiel zu Lebzeiten nicht bekannt gewesen. Dabei hatte er in der Kirche meistens aufgepasst. Vor mehr als hundert Jahren war er hier oben gelandet und völlig baff gewesen, nur Deutschen zu begegnen, denn jede Nation hatte ihren eigenen Himmel.

Noch mehr hatte ihn überrascht, dass keineswegs Eierkuchenstimmung herrschte, sondern die diversen Länderhimmel stark konkurrierten. Zum Beispiel bei diesem Wettbewerb, wo die fähigsten Schutzengel der Länderhimmel gegeneinander antraten. Das war so etwas wie die Olympischen Spiele, nur eben ohne Diskus und Speerwerfen.

„Ich bin schon so gespannt, welcher Guardian für uns ins Rennen geht“, sagte Amia mit glänzenden Augen.

„Hast du denn einen Favoriten?“, fragte Pasiel aus Höflichkeit.

Als hätte sie nur auf seine Erlaubnis gewartet, zog sie ein Magazin mit Hochglanzfotos aller Schutzengel hervor und deutete etwas verschämt auf einen blonden Muskelprotz. „Er würde den Auftrag sicher gut erfüllen“, sagte sie und klang ein bisschen kurzatmig.

„Nun ja, es kommt immer darauf an, welcher Schützling ihm zugeteilt wird. Erinnerst du dich noch an den Portugiesen, der uns im letzten Jahr zugelost wurde? Der ist schwierig zu bewachen gewesen.“

Amia lachte. „Stimmt, der fuhr Motocross und unser Guardian kam kaum hinterher.“

„Vier Wochen können eine lange Zeit sein“, sagte Pasiel.

Einen ganzen Monat lang musste der erwählte Guardian seinen ausländischen Schützling behüten, da konnte viel passieren. Wer den Auftrag am besten erfüllte, dessen Länderhimmel bekam am Ende als Trophäe den Goldenen Schrubber verliehen. Und genau den wollten Michael und Gabriel auf jeden Fall ergattern. Pasiel fand es ein klein wenig lächerlich, wegen eines Glitzerbesens so einen Aufstand zu machen.

„Gerüchten zufolge hat sich Gabriel eine Wandhalterung im Büro anbringen lassen, wo er die Trophäe aus dem Contest aufhängen kann“, sagte Amia. Sie verfügte über die göttliche Gabe des Gedankenlesens, was er manchmal vergaß.

Pasiel schüttelte verständnislos den Kopf.

„Wir haben diesen Wettbewerb seit zweihundertundelf Jahren nicht mehr gewonnen“, erklärte er

„Ja eben!“ Das Gesicht des Chorengels leuchtete aufgeregt. „Die Erzengel wollen alles daransetzen, um dieses Jahr den Sieg einzufahren. Michael lässt schon seit gestern seine Rüstung polieren.“ Ein verzückter Ausdruck huschte über ihr Gesicht.

Pasiel zuckte nur mit den Schultern. Ihm war das Getöse um diesen aufgebauschten Wettbewerb zuwider. Dummerweise musste er bei der Gala heute erscheinen, weil er für die musikalische Umrahmung zuständig war.

„Du wirst den Abend überstehen,“ sagte Amia mit einem freundlichen Lächeln. Sie hatte schon wieder seine Gedanken gelesen. „Wieso hast du dieses Engagement überhaupt angenommen?“

„Michael pflegt solche Aufträge nicht zu diskutieren.“ Der Erzengel hatte wahrlich einen autoritären Führungsstil. Und Widerspruch wäre zwecklos gewesen, ein Musikus zählte hier oben nichts.

Amia tätschelte ihm mütterlich die Schulter. „Sei doch froh, dass du quasi in der ersten Reihe sitzen darfst.“

„So kann man es natürlich auch sehen. Ich werde sicher viel Spaß haben“, brummte er.

Anschließend verabschiedete er sich von Amia und machte sich auf den Weg in seinen privaten Bereich. Dabei redete er sich ein, dass der heutige Abend vielleicht gar nicht so furchtbar werden würde.

Wurde er doch.

Schon bei der Eröffnung der Gala ging es los. Das Amphitheater war voll besetzt und die beiden Erzengel, die wie üblich durch den Abend führten, flatterten aufgeregt umher.

Der Chor hatte als Eingangslied ein lautes Gloria geschmettert. Anschließend spielte Pasiel das Adagio einer wunderschönen Harfensonate, um die Zuschauer und besonders die Moderatoren zu beruhigen. Das funktionierte jedoch nicht, ganz im Gegenteil. Michael erhob seine mächtige Stimme mitten im zarten Zwischenteil des Harfenstücks.

„Willkommen zum alljährlichen Euromisson Schutzengel Contest!“, donnerte er los und stellte sich breitbeinig nach vorne, damit jeder Zuschauer seinen beeindruckenden Körper und die gepflegte Lockenpracht bewundern konnte. Pasiel meinte, ein paar entzückte Seufzer aus der Richtung des ersten Soprans zu vernehmen. Er zog die Augenbrauen zusammen. Bei ihm selbst hatte noch nie irgendjemand solch hingebungsvolle Töne geäußert.

„In wenigen Minuten wird die Auslosung stattfinden, die alle sehnlichst erwarten!“

Begeisterter Applaus brandete auf. Pasiel war froh, dass er seine Harfe festhalten musste und deshalb um das überflüssige Klatschen herumkam.

„Bevor der offizielle Teil beginnt, werden wir für die Neuankömmlinge die Details des Contests erklären. Ich habe Gabriel gebeten, das für uns zu übernehmen.“

Er trat ein Stück zur Seite, um Platz für seinen Erzengelkollegen zu machen. Gabriel wirkte nicht besonders begeistert darüber, dass Michael ihn als Sidekick abtat. Die beiden konkurrierten schon ewig darum, wer die wichtigste Position auf dieser Himmelsetage innehatte. Neben dem imposanten Muskelberg Michael sah Gabriel mit seiner zarten Gestalt und den weichen Zügen ein wenig verloren aus, doch Pasiel wusste aus Erfahrung, dass der himmlische Verwaltungschef knallhart war.

„Gerne erläutere ich die Regeln, mein lieber Freund“, tönte es aus Gabriels Mund und wie stets, wenn er es darauf anlegte, zog er sofort alle Zuhörer mit seiner honigwarmen Stimme in den Bann. Nicht umsonst war er von ganz oben auserwählt worden, alle wichtigen Verkündigungen vorzunehmen. Schon die Jungfrau Maria hatte durch ihn ihre wahre Bestimmung erfahren, was er auch bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit erwähnte.

„Wie ihr wisst, gibt es diverse Länderhimmel“, referierte Gabriel. „Zwölf von ihnen beteiligen sich an diesem Wettbewerb. Jeder Länderhimmel hat einen Erdenbürger ausgewählt, der beschützt werden muss. Ein Zettel mit dessen Namen landet in der Lostrommel.“

Er deutete auf eine funkelnde Glaskugel, die auf einem weißen Tischchen hinter ihm aufgebaut war. Pasiel wusste, dass dieselbe magische Kugel in allen teilnehmenden Himmeln gleichzeitig stand.

„Wenn der Schützling ausgelost wurde, bestimmen wir unseren Guardian, der einen Monat lang auf diesen Menschen aufpassen wird.“

Wie ein Oberlehrer sah er in die Runde, als wollte er kontrollieren, ob alle brav zuhörten. Fehlte nur noch die Nickelbrille.

„Am Ende wird der fähigste Schutzengel gekürt. Der Gewinnerhimmel erhält als Trophäe den begehrten goldenen Schrubber, der seit jeher für die Bemühungen steht, alles Ungute vom beschützten Menschen abzufegen.“

Pasiel unterdrückte ein Gähnen, während Gabriel voll Elan weitersprach. Seine klangvolle helle Stimme erreichte mühelos auch die oberen Ränge. Im gesamten Amphitheater verfolgten die Engel atemlos seine Rede.

„Dieses Jahr sind wir fest entschlossen, uns die Trophäe zu holen“, rief Gabriel und ballte die Hand kampflustig zu einer Faust.

Umgehend brandete Applaus auf. Sogar Bravorufe waren zu hören.

„Ganz genau“, mischte sich Michael ein, der lange genug ohne Beachtung geblieben war. „Wir haben das ganze Jahr über mit unseren Guardians hart trainiert, es gibt in der gesamten Himmelswelt keine besseren!“

Die Menge johlte und klatschte wie wild, als eine Gruppe imposanter Schutzengel nach unten marschierte und sich in einem adretten Kreis um die Erzengel herum postierte.

Pasiel stimmte, ohne lang aufzusehen, ein paar Saiten seiner Harfe nach. Er amüsierte sich schon seit mehreren Jahrzehnten über die Verbissenheit der hier ansässigen Erzengel Michael und Gabriel, den Wettbewerb zu gewinnen.

Warum die beiden sich ausgerechnet den deutschen Himmel ausgesucht hatten, um sesshaft zu werden, war ihm ein Rätsel. Er vermutete, es lag an Gabriels Vorliebe für die deutschen Tugenden Pünktlichkeit, Genauigkeit und die schwäbische Kehrwoche, aber genau wusste er es natürlich nicht.

Erzengel Raphael zum Beispiel hatte den italienischen Himmel gewählt und nippte angeblich gerne am Lambrusco.

„Gleich ist es soweit“, erklärte Michael. „Nur noch ein Musikstück unseres herrlichen Chores, dann beginnt die Ziehung.“

Pasiel wechselte ans Klavier, anschließend versuchte der Chorleiter, seinen aufgeregten weiblichen Engeln vernünftige Töne zu entlocken. Als das Lied zu Ende war, leuchtete die gläserne Kugel hell auf.

„Nun ist der Zeitpunkt gekommen“, säuselte Gabriel. „Bald wissen wir, wen unser bester Guardian beschützen muss. Möge es fair zugehen!“

Von wegen fair! Pasiel schnaubte leise. Der deutsche Schützling war als „gesunder, frommer Vierzigjähriger, der den ehrbaren Beruf des Kaminkehrers ausübte“ dargestellt worden. In Wirklichkeit war er aber hochgradiger Alkoholiker und litt zudem seit einigen Monaten unter Schwindelanfällen. Außerdem betete er nur, wenn er beim betrunkenen Fahren auf die falsche Spur geriet. Die Erzengel schreckten vor nichts zurück, um den Contest endlich zu gewinnen.

Michael deutete auf die Kugel. Wie gebannt starrten alle auf das schimmernde Glas. Gleich würde es soweit sein und der Name des Erdenbürgers erscheinen, der dem deutschen Himmel zugelost wurde. Selbst Pasiel konnte sich dem Zauber des Momentes nicht entziehen und schaute ebenfalls zum Tisch.

Zwölf glockenhelle Schläge ertönten aus der Kugel.

Dann zischte es laut, es gab eine weiße Rauchfontäne und ein kleiner Zettel wurde aus der Kugel geblasen.

Blitzschnell fing Michael ihn auf.

„Uns wurde ein Schützling aus Großbritannien zugeteilt!“, rief er und hielt den Zettel nach oben, dessen Rückseite ein Union Jack zierte.

Die Menge begann sofort, sich lautstark über den Losausgang zu unterhalten. Manche stöhnten, weil sie alle Engländer für wilde Kerle hielten, die von Haus aus schwer zu behüten waren, andere johlten begeistert.

„Silentium!“, donnerte Michael so machtvoll, dass der Fußboden vibrierte und alle Gespräche erstarben.

„Ich werde nun die Details über den Schützling verlesen. Und nach der Gala wählen wir den passenden Guardian.“

Die Schutzengel traten aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. Natürlich wollte jeder von ihnen den Auftrag ergattern, denn wer den Wettbewerb gewann, mutierte umgehend zum himmlischen Mega-Star.

Michael räusperte sich theatralisch, dann trug er mit holprigem Akzent vor, was auf dem Zettel stand: „Eddie Stevenson, 24, London, works in the medical business, believes in heaven“

Die Zuschauer klatschten begeistert, denn der auserwählte Schützling schien kein besonders harter Brocken zu sein. Ein junger Mediziner, der an den Himmel glaubte. Der dürfte leicht zu bewachen sein. Pasiel wunderte sich, dass die Engländer sich wahllos für irgendeinen braven Kirchgänger entschieden hatten. Entweder sie nahmen den Wettbewerb nicht ernst - was er sich kaum vorstellen konnte - oder aber sie waren ebensolche Schlitzohren wie Gabriel und Michael.

Er hörte kaum mehr zu, als die beiden Moderatoren abwechselnd den Rest der Gala über die Bühne brachten. Lieber komponierte er im Geiste eine kleine Sonate, die er morgen an der Orgel ausprobieren würde.

Irgendwann kam Gabriel zum Ende der Veranstaltung. „Zum Abschluss beglückt uns unser Musiker noch mit einem schönen Klavierstück. Was spielst du für uns, Pasiel?“

Er war inzwischen ans Klavier getreten. „Ein Nocturne von Chopin“, erklärte Pasiel und griff eifrig in die Tasten.

Während er spielte, leerten sich die Stufen des Amphitheaters. Die Erzengel riefen die Guardians zu sich, danach verschwanden allesamt in Richtung Gabriels Büro. Dort, in der Verwaltungszentrale des Himmels, würde jetzt der passende Schutzengel ausgesucht und die Pressemitteilung für morgen aufgesetzt werden.

Pasiel war heilfroh, dass er mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun hatte. Er genoss die nach und nach einsetzende Stille. Da es niemanden mehr störte, blieb er am Klavier sitzen und ließ noch ein kleines Bach-Präludium aus seinen Fingern gleiten. Und dann noch eine Fuge. Oder zwei. Er spielte so versunken, dass er völlig die Zeit vergaß. Als Michael laut seinen Namen rief, zuckte er zum zweiten Mal heute erschrocken zusammen.

„Das war ein sehr niedliches Nocturne, das du vorher gespielt hast“, sagte Michael ungewohnt freundlich und ließ ausnahmsweise ein Lächeln aufblitzen.

Pasiel ging sofort in Habt-Acht-Stellung. Ein schleimender Erzengel verhieß niemals etwas Gutes.

„Schön, dass es Euch gefallen hat“, erwiderte er.

„Selbstredend! Und nun komm mit, wir müssen mit dir sprechen“, befahl Michael und marschierte voran.

Überrascht folgte ihm Pasiel. Was wollte er von ihm?

Mit langen Schritten eilte der Erzengel auf das Verwaltungsgebäude zu und trat ein. Sie landeten in Gabriels Büro, wo auch noch der zottelbärtige Uriel in einer Ecke saß, recht unbeteiligt dreinschaute und sich seine Pfeife mit irgendeinem Kraut aus der Wüste Sinai oder von sonst woher stopfte. Jedenfalls qualmte es gewaltig und stank bestialisch.

Pasiel war mehr als verblüfft. Alle drei Erzengel zusammen? Das gab es normalerweise nur bei äußerst wichtigen Anlässen.

Von den stolzen Guardians fehlte jede Spur. Dafür bemerkte Pasiel, dass an der Wand hinter Gabriels Schreibtisch tatsächlich eine Halterung angebracht worden war, in die die langstielige Trophäe haargenau hineinpassen würde. Offenbar waren sich die Herren Erzengel wirklich sicher, dieses Jahr den Goldenen Schrubber zu ergattern.

Er fragte sich immer noch, wieso sie ihn hierhergeholt hatten.

„Wir haben ein Problem“, begann Gabriel und seine Stimme klang hier im Büro viel weniger einschmeichelnd als auf der großen Bühne. Eher rau und herrisch.

Michael trat nach vorne und legte den Zettel mit dem ausgelosten Schützling auf den Tisch. „Wie du sicher weißt, muss sich der Guardian dem Schützling als Mensch nähern. Zu diesem Zweck gibt es auf jedem Zettel einen Hinweis, der dies erleichtert.“

Pasiel nickte. Das hatte er natürlich mitbekommen, er war schließlich nicht erst seit gestern im Himmel.

Nun übernahm Gabriel wieder das Reden. „Unglücklicherweise haben wir keinen passenden Guardian für den britischen Schützling, der uns zugelost wurde.“

Verständnislos sah Pasiel vom einen zum anderen Erzengel. Uriel zuckte nur mit den Schultern und paffte wieder ein paar Wölkchen in die Luft, die anderen beiden hingegen musterten Pasiel mit ernster Miene.

„Was hat das mit mir zu tun?“, fragte er. „Ich bin kein Schutzengel.“

Wortlos schob ihm Michael den Zettel zu, der aus der Glaskugel geschwebt war.

Pasiel beugte sich darüber und las. Den Namen Eddie Stevenson hatte er schon gehört, auch Alter, Wohnort und Beruf. Aber dann stutzte er.

„Candidate is desperately looking for an organ- and harp-player“, las er laut vor.

Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Dieser Eddie aus London war verzweifelt auf der Suche nach einem Musiker, der Orgel und Harfe beherrschte?

„Wir haben alle Guardians überprüft“, brach Gabriel in seine Gedanken ein. „Keiner von ihnen hat diese Qualifikation. Aber dann habe ich mir deine Akte vorgenommen.“

Er deutete auf einen Ordner, der aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch lag.

„Du sprichst fließend Englisch, bist mehrmals in London gewesen und hast zu Lebzeiten bereits junge Männer musikalisch ausgebildet. Harfe und Orgel spielst du auch. Du bist die ideale Besetzung.“

Der Erzengel schenkte ihm ein gnädiges Lächeln.

Pasiel hingegen kämpfte mit plötzlich einsetzender Mundtrockenheit.

„Aber ich bin kein Schutzengel!“, krächzte er. „Und ich will überhaupt nicht auf die Erde runter!“

Hier im Himmel war sein Paradies, er fand seinen Job absolut göttlich und hatte nicht die geringste Motivation, in irdische Gefilde hinabzufahren.

„Du wirst dich einem so wichtigen Auftrag doch nicht verweigern!“, donnerte Michael los. Sein Brustpanzer klirrte bedrohlich und seine mächtigen Flügel fuhren ein Stück weit aus.

Uriel erhob sich schwerfällig und trat samt seiner Rauchwolke zwischen Pasiel und Michael, der immer noch die Pose eines Racheengels eingenommen hatte.

„Mich dünkt, ich muss gewisse Vorgaben in euer Gedächtnis rufen.“ Uriel funkelte seine beiden Erzengelkollegen vorwurfsvoll an. „Der Wunsch, die Menschen zu beschützen, muss der Brust des Engels selbst entspringen“, referierte er.

Gabriel nickte widerwillig. „Er hat recht“, sagte er zu Michael. „Man kann niemanden zum Guardian machen, wenn der es nicht will.“

Erleichtert ließ Pasiel den Atem entweichen, den er unwillkürlich angehalten hatte. Es gab also doch noch einen Ausweg für ihn.

Michael hingegen fuhr seine Flügel ein, kam einen Schritt näher und fixierte Pasiel mit stählernem Blick.

„Hast du viele Freunde hier?“, fragte er.

Pasiel überlegte. Worauf wollte der eiserne Mike, wie ihn viele nannten, hinaus?

„Ich komme mit einigen Chorengeln gut aus“, erwiderte er.

Der Erzengel polierte ein paar Sekunden lang mit dem Ärmel seinen Brustpanzer. Danach sah er Pasiel wieder eindringlich an. „Das klingt nicht so, als würden sich viele um deine Gesellschaft schlagen. Aber male es dir einmal aus: Wenn du als Held von diesem Einsatz zurückkommst - den Goldenen Schrubber im Gepäck -, dann werden ganze himmlische Heerscharen in Begeisterung ausbrechen, wo immer du auftauchst. Hingerissene Chorengel werden deinen Namen seufzen und jeder einzelne Engel wird dir Anerkennung zollen.“

Das saß.

Unsicher blickte Pasiel von einem zum anderen Erzengel. Selbst Uriel nickte gedankenvoll, während er wieder an seiner Pfeife zog.

„Nimm dir eine Stunde Zeit, deine Gedanken zu ordnen“, schlug Uriel vor. „Dann kehre hierher zurück und teile uns deine Entscheidung mit.“

Einen Augenblick später fand sich Pasiel außerhalb des Verwaltungsgebäudes wieder. Verwirrt fuhr er sich übers Gesicht. Meinten die das wirklich ernst? Wie immer, wenn er nachdenken musste, setzte er sich ans Klavier. Doch jetzt wollten sich die Töne genauso wenig zu einer harmonischen Einheit ordnen lassen wie seine Gedanken zu einem sinnvollen Konstrukt.

Er flüchtete sich in ein einfaches Rondo und hoffte, dass die logische Struktur des Stückes ihm half, auch in seinem Kopf ein klein wenig Ordnung zu schaffen. Ein Einsatz auf der Erde? Bei dieser Vorstellung verkrampften sich seine Finger. Er war nicht geschaffen für derartige Abenteuer. Sicher warteten dort unten jede Menge Gefahren auf ihn, und außerdem hatte er schon früher Probleme gehabt, sich auf Menschen einzulassen, die anders waren als er. Bei Musikern hatte er sich wohlgefühlt, aber bei einfachen Arbeitern oder Soldaten war er oft angeeckt.

Andererseits setzten die Erzengel all ihre Hoffnungen in ihn, das erfüllte ihn durchaus mit Stolz. Sie hätten ihn sicher nicht ausgesucht, wenn sie ihm den Einsatz nicht zutrauen würden. Womöglich steckte doch mehr Stärke in ihm, als er es selbst für möglich hielt. Oder war das eine Verzweiflungswahl gewesen, weil wirklich keiner der ausgebildeten Schutzengel die Voraussetzungen erfüllte? Seine Gedanken fuhren wild Karussell, was sich in seinem unkonzentrierten Klavierspiel niederschlug.

„Was ist denn mit dir passiert?“ Amia tauchte plötzlich neben ihm auf und sah ihn mit großen Augen an. „Du spielst ganz anders als sonst.“

Er riss die Hände von den Tasten. „Nichts!“, beteuerte er schnell. „Alles in Ordnung.“

Sie kam näher und sah ihn eindringlich an. Pasiel versuchte, seine Gedanken zu verschließen, aber gegen ihre göttliche Gabe konnte er natürlich nichts ausrichten.

„Sie wollen dich als Guardian ins Rennen schicken?“, las Amia in seinem Kopf und dann passierte etwas Seltsames mit ihr. Sie zuckte von innen heraus, ihre Schultern bebten und schließlich brach ein disharmonisches Gelächter aus ihr heraus, das in Pasiels Ohren schmerzte. Und nicht nur dort. Etwas in seinem Brustkorb krampfte sich zu einem harten Kloß zusammen. Ausgerechnet Amia, von der er angenommen hatte, dass sie ihn nicht nur als Musiker respektierte, sondern auch als Freund gernhatte, lachte ihn aus.

„Sei mir bitte nicht böse“, japste sie, „aber das ist eine so abwegige Vorstellung: ausgerechnet du als Schutzengel!“

Ihre Worte versetzten ihm einen zusätzlichen Stich ins Herz. Offenbar gab es wirklich keinen einzigen Engel, der in ihm mehr sah als einen Musiker. Erinnerungen an seine Familie wurden wach, lang verdrängte Wunden, die mit einem Mal wieder aufbrachen. Auch zu Hause hatte man ihn nie mit wirklich wichtigen Aufgaben betraut, er hatte stets im Schatten seines ehrgeizigen Bruders gestanden und war immer nur die zweite Wahl gewesen. Der plötzliche Schmerz nahm ihm fast die Luft zum Atmen.

Amia versuchte krampfhaft, wieder ernst zu werden, weil sie wohl erkannte, dass sie ihn verletzt hatte. „Tut mir sehr leid, dass ich gelacht habe“, sagte sie weich und berührte ihn entschuldigend an der Schulter. „Ich war nur überrascht, dass man dich auf so einen Einsatz schicken will.“

„Du traust mir das also nicht zu?“, fragte Pasiel bitter.

„Doch, doch“, erwiderte sie, aber er wusste, dass sie ihn anlog. „Sicher bekommst du das hin, ganz bestimmt. Du schaffst das garantiert. Ich kenne dich halt nur als Musiker und muss mich erst an den Gedanken gewöhnen, dass du auch andere Dinge beherrschst.“

Pasiel schluckte.

Insgeheim hatte er die letzte Zeit gedacht, dass Amia eine Schwäche für ihn hegte. Doch selbst sie traute ihm nicht mehr zu als eine elaborierte Orgelimprovisation. Er galt offenbar als totaler Schlappschwanz. Als Versager. Als unmännlicher Tastenpolierer.

Aber das würde er nicht weiter auf sich sitzen lassen. Bei seinen Eltern und auch all die Jahre im Himmel hatte er sich in diese Rolle gefügt, aber das war nun vorbei. Er bekam eine einzigartige Chance, sich zu beweisen, und er würde diese auf Teufel komm raus nutzen!

Er straffte die Schultern und sah ihr direkt in die Augen. „Das tue ich sehr wohl“, erklärte er mit fester Stimme. „Ich beherrsche nicht nur Musikinstrumente! Das werde ich dir und allen anderen beweisen, die mich für einen nutzlosen Musiker ohne Rückgrat halten.“

Energisch raffte er seine Noten zusammen und sprang auf. Ohne Amia noch einen einzigen Blick zuzuwerfen, marschierte er an ihr vorbei und direkt in das Verwaltungsgebäude.

„Ich brauche keine weitere Bedenkzeit“, schleuderte er den drei Erzengeln entgegen. „Mit Freuden stelle ich mich der Herausforderung und werde zum Guardian!“

Alles lag plötzlich ganz klar vor ihm. Wenn er es schaffte, den Wettbewerb zu gewinnen, würde ihn kein Putzengel dieses Himmels jemals wieder vom Klavier verscheuchen. Und niemand würde es wagen, ihm irgendwelche ungeliebten Aufträge zu erteilen. Ja, sogar die jungen Chorengel würden vor Ehrfurcht erstarren, wenn der Gewinner des Contests sich für sie ans Piano setzte. Als erfolgreicher Schutzengel bekam man nicht nur Ruhm und Ehre, sondern auch jede Menge Respekt. Er wäre nicht mehr länger nur der „Musikus“, sondern ein waschechter Held.

Und er war mehr als bereit für diese Aufgabe!

Allerdings fragte er sich, wie das funktionieren sollte. Man wurde schließlich nicht von heute auf morgen Schutzengel. Davor standen eine lange Ausbildung, diverse Einsätze, schriftliche Prüfungen und eine zwölfseitige Abhandlung über Moral im Erdeneinsatz, die jeder Guardian zu verfassen hatte. Außerdem gab es eine große Ernennungszeremonie, bei der die neuen Guardians der Himmelsgemeinde vorgestellt wurden und ihre Plakette bekamen. Am Ende der Zeremonie stand das feierliche Einbrennen eines uralten Zeichens auf dem Unterarm. Das alles war doch gar nicht hinzubekommen in der kurzen Zeit, die sie hatten. Noch heute fand die Aussendung der Wettbewerbsteilnehmer statt!

„Ich wusste, wir können auf dich zählen.“ Michael klopfte ihm auf die Schulter, fast genauso, wie Amia es getan hatte.

„Aber wie soll das ablaufen?“, fragte Pasiel.

„Wir werden das Verfahren für dich etwas beschleunigen.“ Gabriel setzte ein aufmunterndes Lächeln auf.

Umgehend bekam Pasiel eine Gänsehaut. Ausgerechnet Gabriel, der oberste Regelwächter, wollte die eisernen Verordnungen beugen? Sein Magen zog sich zusammen.

„Wir geben dir eine Kurzanleitung mit, darin ist alles Wichtige zusammengefasst. Die Sache mit der Moral weißt du ohnedies. Du hast dich bisher im Himmel als gänzlich verlässlich und regeltreu gezeigt. Wir vertrauen dir.“

„Ja, alle hier vertrauen dir!“, fügte auch Michael hochtheatralisch hinzu. „Wir legen unser Schicksal in deine Hände. Du wirst uns nicht enttäuschen, das fühle ich tief in meiner Brust. Rette unsere Ehre und gewinne den Contest. Für dich, für uns, für deinen Himmel!“

Angesichts so dramatischer Töne stellten sich bei Pasiel alle Nackenhaare auf. Doch zum Nachdenken blieb keine Zeit. Erstarrt beobachtete er, dass Uriel näher kam, die stinkende Kräuterpfeife noch immer im Mund.

„Wohlan, lasset uns beginnen“, schnarrte er, wobei er eine Rauchwolke ausstieß. „Deinen Arm!“

Gehorsam streckte Pasiel seine rechte Hand vor. Uriel schob den Ärmel nach hinten und hielt Pasiels Unterarm fest. Die beiden anderen Erzengel positionierten sich in andächtigem Schweigen rechts und links neben ihm.

Jeder der drei hob seinen Arm und legte seine leicht gekrümmte rechte Hand auf eine Stelle kurz unterhalb Pasiels Ellbogens. Die drei Hände bildeten einen Hohlraum und in diesen hinein blies Uriel den hellgrauen Rauch seiner Kräuterpfeife. Auf Pasiels Haut begann es höllisch zu kribbeln, aber er hielt der Prozedur tapfer stand. Die drei Erzengel schlossen die Augen und murmelten ein uraltes Gebet, während seine Haut immer heißer wurde. Nach ein paar Minuten nahmen sie ihre Hände weg. Erstaunt musterte Pasiel die Stelle an seinem Arm. Direkt unterhalb seines Ellbogens hatten sich ringförmig eine Reihe altertümlicher Schriftzeichen ausgebreitet, die er nicht lesen konnte. Umkränzt wurden die Zeichen von einer Bordüre aus winzigen Federn, ganz fein und zart, die nun für alle Zeit in die Haut gebrannt waren.

„Nun denn, du bist gerüstet für deinen Einsatz, Schutzengel. Unser Segen sei mit dir!“

Alle drei streckten die Arme aus und murmelten erneut Unverständliches. Auch wenn es durchaus faszinierend war, die Erzengel so harmonisch vereint zu erleben, wurde es Pasiel ein wenig mulmig zumute. Aber es war zu spät, doch noch einen Rückzieher zu machen. Nun lag die Hoffnung der gesamten himmlischen Chefetage auf ihm und er gedachte, diese gänzlich zu erfüllen.

Nach einer kurzen Stunde und einer weiten Reise sah Pasiel sich überrascht um. Er war mitten in London gelandet, wie erwartet. Schutzengel wurden bei der Entsendung stets in der Nähe des Schützlings abgesetzt. Doch er hatte mit einem Krankenhaus gerechnet oder zumindest mit einem Ärztehaus, schließlich arbeitete der fromme Eddie laut Zettel im medizinischen Bereich. Stattdessen hatte es Pasiel auf eine Seitenstraße von Camden Town verschlagen, wie die Straßenschilder verrieten. Um ihn herum herrschte reges Treiben. Offenbar fand auf der nächstgrößeren Straße gerade ein Flohmarkt statt. Menschen in seltsamer Kleidung wanderten herum, viele hatten ein tragbares Telefon in der Hand.

Pasiel hatte regelmäßig das von Gabriel herausgegebene „irdische Bulletin“ über die neusten Entwicklungen auf der Erde gelesen und wusste deshalb gut Bescheid über Handys, die politische Lage sowie aktuelle Themen.

Wie schon seit Jahrtausenden bei einer Entsendung üblich, hatte man ihn automatisch mit Geld und typischer Kleidung ausgestattet. Er schlug den Kragen des Wintermantels hoch, denn ein eisiger Wind fegte durch Londons Straßen. Selbstredend würde er sich „Paul“ nennen, was sowieso sein Erdenname war. Jetzt musste er nur noch diesen Eddie finden.

Ob hier vielleicht eine Kirche in der Nähe war? Es könnte ja sein, dass sein Schützling gerade betete. Nicht umsonst suchte der Mann einen Organisten. Vielleicht leitete er den Kirchenchor hier in der Nachbarschaft?

Pasiel ging ein paar Schritte, wobei ihm niemand der Passanten besondere Beachtung schenkte. Alles lief wie am Schnürchen. Mit einem Mal breitete sich große Zuversicht in ihm aus. Er kam hier unten gut zurecht und der Auftrag war sicher auch kein unlösbares Problem. Sein Englisch war gut, die Musik sein Leben und mit einem gebildeten Mediziner konnte er sich bestimmt hervorragend unterhalten. Ihm würde es mit Leichtigkeit gelingen, diesen Eddie zu beschützen. Und dann, bei seiner heldenhaften Rückkehr in den Himmel – natürlich mit der Trophäe im Gepäck – würde er ein gefeierter Star sein und von allen Mitengeln mit tiefem Respekt behandelt werden. Auch von Amia. Pasiel lächelte freudig.

Voll Tatendrang sah er sich um und wählte das nächstbeste Geschäft aus, um sich nach Eddie zu erkundigen, der hier sicher irgendwo bekannt war. Energisch drückte er die Ladentür auf, marschierte hinein und begann sofort zu sprechen.

„Guten Morgen und Pardon für die Störung. Ich befinde mich auf der Suche nach einem gewissen Eddie Stevenson. Hätten Sie die Güte, mir mitzuteilen, ob Sie diesen Mann womöglich kennen?“

Erst als er das ausgesprochen hatte, sah er sich um. Grundgütiger, wo war er denn hier gelandet? Pasiel schluckte.

Auf einer Art Bahre lag ein sehr lebendig wirkender, glatzköpfiger Seemann, dessen Körper großflächig mit Tätowierungen verziert war. Dieser Matrose sah aus, als wolle er just in diesem Moment auf eine junge Frau losgehen, die zwischen seinen Beinen saß. Ihr zierlicher Körper steckte in einer enganliegenden Lederhose und einem grauen Shirt, die Haare waren kurz geschnitten, wie man es sonst nur von Soldaten kannte. Am Nasenflügel glänzte ein Edelstein, dessen Funkeln jedoch gegen das wütende Blitzen ihrer grünen Augen verblasste. In der einen Hand hielt sie ein sirrendes, spitzes Gerät, dessen Nadel drohend auf den Seemann gerichtet war, ihre andere Hand umschloss das nackte Geschlechtsteil des Matrosen.

Ohne das Foltergerät loszulassen, drehte sie sich mit ärgerlichem Blick Pasiel zu. „Was zum Teufel willst du denn von mir?“

3

Gellendes Grammophon

Als Rocco zwei Minuten vor dem vereinbarten Termin seinen Hintern durch die Ladentür schob, musste Edwina grinsen.

„Du bist pünktlich wie ein Erstklässler am ersten Schultag“, begrüßte sie ihn. „Dabei ist das bestimmt schon dein zwanzigstes Tattoo, oder?“

Rocco schälte sich aus seiner abgewetzten Lederjacke. „Ich will eben nicht rumlaufen wie ein milchgesichtiger Anzugträger. Wo sind deine Entwürfe?“

Sie öffnete lächelnd eine Schublade und reichte ihm drei Zeichnungen, die sie in den letzten Tagen angefertigt hatte. Ein feuerspeiender Drache sollte es dieses Mal sein, das hatte Rocco bei der Terminvereinbarung angegeben. Und wie immer waren ihre Entwürfe absolute Unikate und absolut genial.

„Ja, die sind ganz okay“, kommentierte Mister Cool in betont beiläufigem Ton ihre Designs. Nur vergaß er dabei, das verräterische Leuchten in seinen Augen abzustellen. „Sollen mir alle recht sein. Willst du jetzt auch noch ’ne Entscheidung von mir?“

Sie nahm ihm das gerne ab. „Nimm den hier.“ Edwina deutete auf den am finstersten dreinschauenden Drachen. „Der wirkt genauso abweisend wie du, hat aber letztendlich ein gutes Herz, das habe ich im Farbverlauf so dargestellt.“

Rocco lachte. „Verflucht, Eddie, du kennst mich besser als meine eigene Mum!“

„Das liegt nur daran, dass ich in den letzten Monaten mehr Zeit mit dir verbracht habe als sie“, konterte Edwina.

Rocco war ein Stammkunde, dessen Körper sie bereits großflächig mit Tattoos aller Art verziert hatte. Im Grunde war er so etwas wie eine wandelnde Werbefläche für ihre Kunst.

„Ich kapier immer noch nicht, warum du hier in Camden Town herumhängst, statt an der Kunstakademie zu sitzen und grauhaarige Professoren mit deinem Zeug zu beeindrucken“, sagte Rocco, während er sich aus seinen ausgewaschenen Jeans schälte.

„Weil ich auf blasierte Schlipsträger nun mal keinen Bock habe und mich lieber mit glatzköpfigen Rowdies wie dir abgebe“, erwiderte sie und steckte eine frische Nadel in die Tätowiermaschine.

Das war allerdings nur die halbe Wahrheit. Sie hatte sehr wohl versucht, an eine dieser Akademien zu kommen. Oh ja, zwei verdammte Jahre lang hatte sie es versucht! Ursprünglich war es ihr Traum gewesen, Musik zu studieren und Sängerin zu werden. Aber die Unis hatten verlangt, dass man auch ein Instrument spielte, und für so etwas war daheim kein Geld da gewesen. Also war sie auf Kunst umgeschwenkt. Hatte wie verrückt gezeichnet, ihre gesamte Kohle für Aquarellfarben und Pastellkreide ausgegeben, eine echt beeindruckende Mappe zusammengestellt und sich überall beworben. Aber wen hatten diese Idioten genommen? Die Leute von den guten Schulen. Aus reichen Elternhäusern, die ihre Kinder in versnobte Privatschulen stecken konnten, wo man Reiten, Fechten und Smalltalk beim Gurkensandwich lernte. Während sie, Edwina, nur an einer staatlichen Schule herumgehangen hatte und schon als Teenie hatte jobben müssen, um ihre alkoholkranke Mutter zu unterstützen. Sie hasste dieses System, in dem schon mit der Schuluniform festgelegt war, ob man es später zu etwas brachte oder eben nicht.

„Wo genau soll der Drache hin?“, fragte sie Rocco, um sich von diesen unerfreulichen Themen abzulenken.

Er entledigte sich gerade seiner Boxershorts. „Hier am Bauch, unterhalb des Nabels. Und zwar so, dass der Schwanz des Drachens sich um meinen eigenen windet. Glaubst du, du kriegst das hin, Eddie?“ Unsicher sah er sie an.

„Soll das ein Witz sein?“ Sie grinste. „Eine meiner leichtesten Übungen. Rauf mit dir auf den Stuhl. Du bekommst den wildesten Drachen von ganz London, Sweetheart.“

Hochkonzentriert begann sie mit ihrer Arbeit. Erst stach sie den Kopf und Bauch des Drachens, dann arbeitete sie sich Schritt für Schritt weiter nach unten vor. Da Gareth sich diese Woche Urlaub gönnte, war Edwina allein im Laden. Ihr war das recht, so konnte sie sich in den Pausen zwischen den Kunden auf ihre Entwürfe konzentrieren.

„Scheiße, Eddie, sei doch nicht so brutal“, rief Rocco.

Edwina sah von den Umrissen des Drachenschwanzes auf, die sie gerade stach. „Meine Güte, du stellst dich an wie eine Nonne bei der Entjungferung. Das ist doch nicht dein erstes Tattoo.“

Er krallte seine Hände um die Griffe des Stuhls. Kaum zu glauben, dass Rocco einer der härtesten Türsteher von ganz London sein sollte. Im Dark Eden Club kam keiner an ihm vorbei, wenn er das nicht wollte. Da hatten die Gäste sogar mächtig Respekt vor ihm. Hier jedoch war er ziemlich kleinlaut, jammerte jedes Mal herum wie ein Baby, kam aber doch immer wieder. Was sie sehr freute.

„Aber bisher tat es nie so weh“, jaulte er.

„Bisher wolltest du auch nie so eine sensible Stelle.“

Er stöhnte theatralisch auf, obwohl sie ihre Stiche extrem vorsichtig setzte. „Fuck, du stichst doch absichtlich so tief. Wahrscheinlich hast du einen Hass auf Männer, weil dein Kenny dich nicht richtig drannimmt, stimmt’s?“

Edwina biss sich auf die Lippe. Kenny hatte sich immer noch nicht richtig entschuldigt für diese Angie-Sache.

„Lass Kenny aus dem Spiel“, zischte sie. Sie hatte null Lust, einen einzigen Gedanken an den Mistkerl zu verschwenden.

„Du hättest echt was Besseres verdient, Eddie.“

Sie mochte Rocco gerne, aber wenn er nicht endlich mit dem Gewinsel aufhörte, würde sie tatsächlich tiefer stechen als notwendig. „Schluss jetzt mit dem Gequatsche, Rocco. Ich will hier in Ruhe meine Arbeit machen“, fuhr sie ihn an und drohte ihm dabei spielerisch mit der Nadel.

Irgendwer war in den Laden gekommen, doch Edwina war so mit Rocco beschäftigt gewesen, dass sie den Kunden erst richtig wahrnahm, als dieser nun anfing zu sprechen.

„Guten Morgen und Pardon für die Störung“, sagte der Typ. „Ich befinde mich auf der Suche nach einem gewissen Eddie Stevenson. Hätten Sie die Güte, mir mitzuteilen, ob Sie diesen Mann womöglich kennen?“

Sie fuhr herum. Was für ein komischer Vogel war denn das? Hier in Camden liefen eine Menge seltsamer Gestalten herum, aber der hier redete, als wäre er frisch einer Anstalt entsprungen. Sicher wollte er sich nur den Namen seiner Verlobten auf die Schulter stechen lassen. Als ultimativen Liebesbeweis oder sowas. Am liebsten hätte sie ihn gleich weggeschickt, aber sie konnte im Augenblick jeden Penny gebrauchen, denn einer der Verstärker hatte den Geist aufgegeben. Na, aber einen roten Teppich würde sie ihm trotzdem nicht ausrollen.

„Was zum Teufel willst du denn von mir?“, begrüßte sie ihn.

Normalerweise war sie nicht ganz so unhöflich, aber die Sache mit Brian lag ihr im Magen, außerdem hatte sie einen Mordshunger. Ein leerer Magen machte ihr immer schlechte Laune. Wenn sie dem neuen Kunden erst noch was stechen musste, würde sich ihre Mittagspause verschieben.

„Du bist Eddie Stevenson?“ Der Typ wurde noch blasser, als er sowieso schon war. Sie musterte ihn. Seine Jeans und der Wintermantel sahen ganz normal aus, aber seine Gesichtsfarbe wirkte, als wäre er seit Jahrzehnten nicht mehr in der Sonne gewesen. Er hatte braune Haare, die fast bis zu den Schultern reichten, ebenmäßige Züge und in den dunklen Augen lag ein Hauch von Melancholie. Irgendwie wirkte er wie eine Mischung aus einem jungen Johnny Depp und Lord Byron. Das Bild des Dichters war in der Schule in ihrem Englischbuch gewesen und im Vergleich zu Shakespeare und Wordsworth hatte der Dichterfürst Byron noch halbwegs attraktiv ausgesehen.

„Soll ich dir meinen Ausweis zeigen?“, fragte sie. „Natürlich bin ich Eddie!“

„Äh, nein. Ich dachte nur …“ Er wusste offenbar nicht mehr weiter. Ein wenig tat er ihr jetzt leid, wie er so verloren herumstand und nach Worten suchte. Sicher war er immer ein Außenseiter gewesen und für solche Menschen hatte sie nun mal ein Herz. Sie selbst hatte auch nirgends richtig dazugehört.

„Du dachtest, dass ich ein Mann sei, schon klar“, lenkte sie ein. „Du bist nicht der Erste, der glaubt, nur Kerle können als Tätowierer arbeiten. Was soll es denn sein?“

Er sah sie an, als hätte er sie nicht recht verstanden. Meine Güte, der war wirklich schwer von Begriff.

„Willst du auch was in der unteren Etage gestochen haben?“, sie deutete auf Roccos entblößte Männlichkeit. „Oder soll es woanders sein?“

Eine leichte Röte huschte über sein Gesicht. „Ich … nein … es ist vielleicht eine Verwechslung. Eigentlich dachte ich, Eddie Stevenson sei auf der Suche nach jemandem, der Orgel spielt.“

Ach so! Endlich kapierte Edwina, warum der Typ hier hereingeschneit war.

„Du kommst wegen der Band, sag das doch gleich! Gib mir fünf Minuten, dann bin ich hier fertig. Du kannst dich inzwischen da hinten hinhocken, neben dem Lautsprecher steht ein Stuhl.“

Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Dem harten Rocco war es dann doch zu peinlich, vor einem Fremden das Weichei zu spielen, und er blieb für den Rest des Drachenschwanzes ruhig. Edwina versorgte das Tattoo fachmännisch mit einer Folie und gab Rocco wie immer eine kleine Tube Creme mit, sodass er die Wunde gut pflegen konnte.