Hochburg - Thomas Erle - E-Book

Hochburg E-Book

Thomas Erle

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Beschreibung

Sommer im Breisgau. In Kaltenbachs Heimatstadt vor den Toren Freiburgs spalten die Pläne für ein Großprojekt am Fuße der Hochburg, Südbadens größter Burganlage, die Bevölkerung. Der Tod des Kirchmattbauern, Besitzer eines der wichtigsten Grundstücke und erklärter Projektgegner, sorgt für weitere Unruhe. Kaltenbach zweifelt an der Unfalltheorie. Kurz darauf bringt ihn ein ominöser Fund auf eine Spur, die bis in die Wirren der Nachkriegszeit zurückführt. War der Kirchmattbauer, der Zeit seines Lebens als Außenseiter galt, eine Gefahr für den Frieden im Dorf?

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Thomas Erle

Hochburg

Kaltenbachs vierter Fall

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Wer mordet schon in Freiburg? (2016), Höllsteig (2015),

Freiburg und die Regio (2015),

Blutkapelle (2014), Teufelskanzel (2013)

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © frankeduard / fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5462-2

Widmung

Für Rosemarie.

Zitate

»Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.«

– Mahatma Gandhi  

 

»Wer den Geist der Gierigkeit hat, er lebt nur in Sorgen, niemand sättigt ihn.«

– Johann Wolfgang von Goethe: Reineke Fuchs, 11. Gesang

Kapitel 1

Um genau drei viertel sechs am späten Nachmittag hielt Kaltenbach es nicht mehr länger aus.

Er verließ direkt hinter dem erstaunten Kunden, der für eine Flasche italienischen Roten fast eine halbe Stunde Verkaufsgespräch in Anspruch genommen hatte, den Laden. Hastig schloss er die Tür von »Kaltenbachs Weinkeller«, vergaß wie üblich, das »Geschlossen«-Schild vorzuhängen, und eilte mit Riesenschritten über den Platz der Alten Landvogtei in Richtung Emmendinger Rathaus.

Schon seit gut einer Stunde hatte der Emmendinger Weinhändler mit ansehen müssen, wie die Neugierigen am Schaufenster seines Ladens in der Lammstraße vorbeigelaufen waren, manche heftig gestikulierend, andere mit grimmigem Gesichtsausdruck, der nichts Gutes verhieß.

Unter den steinernen Arkaden des oberbürgermeisterlichen Amtssitzes fragte Kaltenbach den Ersten, der ihm über den Weg lief: »Weiß man schon etwas Genaues?«

Der Mann schüttelte den Kopf und deutete mit dem Finger schräg nach oben, wo sich die Morgensonne in der Fensterglasfläche des Großen Sitzungssaales der Kreisstadt spiegelte. »Nai, die hocke noch.«

Der Innenhof zwischen den Rathausgebäuden war voller Menschen. Dort, wohin sich sonst außer Eva und Borchert, zweier stoisch vor sich hin blickenden lebensgroßer Bronzeskulpturen, nur ein paar wenige Besucher verirrten, drängten sich die Neugierigen wie sonst nur auf dem herbstlichen Weinfest oder bei der Verkündigung der Ergebnisse der Oberbürgermeisterwahlen.

Neben dem Haupteingang war ein großer Tisch unter zwei leuchtend roten Sonnenschirmen aufgebaut. Allerlei Hochglanzbroschüren und Poster warben für das Projekt, das die Stadt und ihre Bürger seit Bekanntwerden im Atem hielt.

Emmendingen 3000.

Der Name ließ auf ein großes zukunftsweisendes Vorhaben schließen, und das war es auch. Wenn der Investor seine Pläne zur Durchführung brachte, würde die Stadt nicht nur ihr Gesicht verändern, sondern einen gewaltigen Schritt Richtung Zukunft machen.

Kaltenbach seufzte, als er an all das dachte. Seit vor einem halben Jahr die Pläne bekannt wurden, vor den Toren der Stadt einen riesigen Erlebnispark einzurichten, war in seiner Heimatstadt nichts mehr, wie es war. Vom ersten Tag an waren sich zwei Lager gegenübergestanden, die sich wechselseitig mit Vorwürfen, Anschuldigungen und Beschimpfungen überzogen. Ausverkauf der Heimat, Zerstörung von Natur, Kultur und Landschaft, Missbrauch am Erbe unserer Kinder waren noch die harmloseren Vorwürfe der Projektgegner, während die Befürworter ihre Kontrahenten als Ewiggestrige, Fortschrittsbremsen und Hinterwäldler bezeichneten.

Der Oberbürgermeister hatte reagiert, wie es ein verantwortlicher Stadtvater tun musste. Bei jeder Gelegenheit mahnte er zur Mäßigung und forderte die Beteiligten auf, mit Augenmaß das Für und Wider abzuwägen. Er selbst hatte sich bisher trotz heftigem Drängen beider Seiten noch nicht zu einer Stellungnahme bewegen lassen.

Kaltenbach suchte in der Menge nach bekannten Gesichtern. Karl Duffner, sein Weinhändlerkollege aus dem Laden in der Vorderen Lammstraße, hatte einen kleinen Ausschank eingerichtet, der bei der sommerlichen Hitze entsprechend belagert war. Ein Gläschen weiße Schorle kühlte die Gemüter und half, die Wartezeit leichter zu überbrücken. Kaltenbach drängte sich zu ihm vor. »Ich brauche noch ein bisschen«, meinte er und nickte dem Mittsechziger vielsagend zu. »Ein paar Tage noch, ich verspreche es.«

Sein Kollege hatte ihn vor zwei Wochen mit der Ankündigung überrascht, »Duffners Weindepot« im Herbst zu schließen. Gleichzeitig hatte er ihm das Angebot gemacht, das Geschäft zu übernehmen. Zu einem für Kaltenbach hochinteressanten Preis. Natürlich wollte Duffner so bald wie möglich Bescheid, doch Kaltenbach war noch unschlüssig. Eine Erweiterung seines Weinhandels war schon seit einiger Zeit sein sehnlichster Wunsch. Doch zuerst musste er sich über die weitreichenden Folgen im Klaren werden.

»Schon recht«, gab Duffner zurück und reichte ihm ein Glas. »Aber warte nicht, bis mich der Schlag trifft. Sonst kriegen es die Erben, und nächstes Jahr ist ein Handyshop drin. Oder ein Brillenladen. Gibt’s ja alles noch viel zu wenig in Emmendingen.«

Kaltenbach bedankte sich. »Ich bringe das Glas nachher zurück.« Er wusste, dass er um die Entscheidung nicht he­rumkam. Sein Herz hatte längst Ja gesagt. Doch sein Verstand drängte sich mit Zweifeln und Ängsten immer wieder dazwischen. Am besten war, wenn er mit Luise, seiner Lebensgefährtin, noch einmal in aller Ruhe darüber sprach. Und natürlich mit Josef Kaltenbach vom Kaiserstuhl. Er war nicht nur sein Onkel, sondern auch Geldgeber und Hauptlieferant für seinen gut gehenden Weinkeller.

Direkt unter dem Fenster des Sitzungssaals erkannte Kaltenbach inmitten einer größeren Gruppe Walter Mack. Obwohl sein Musikkollege und Stammtischkumpel etwa in Duffners Alter war, zeigte er im Gegensatz zu diesem noch keinerlei Anstalten, sich in den Altersruhestand zurückzuziehen. Anders als viele andere seiner früheren politischen Mitstreiter war der in Ehren ergraute Altachtundsechziger seiner politischen Heimat stets treu geblieben. Der Streit um »Emmendingen 3000« war für ihn eine willkommene Gelegenheit, lautstark und mit schneidigen Argumentationen die Bedürfnisse des Volkes zu verteidigen.

»Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass die Bürger unserer Stadt von dem Wahnsinn irgendeinen Vorteil haben werden? Es ist ja immer dasselbe: Die Reichen sahnen ab, und das Volk schaut in die Röhre. Das war früher so und ist heute nicht anders!«

Zustimmendes Gemurmel erhob sich. Offensichtlich hatte Walter seine Fans um sich versammelt.

»Ein paar Snobs auf dem Golfplatz und die Schickimickis im Wellnesshotel – wollt ihr das? Soll unsere Heimat für so etwas geopfert werden?« Seine Augen funkelten. »Ich sage es euch voraus: Statt Steuereinnahmen und Arbeitsplätzen wird es Schulden geben. Und die Bauern müssen ins Jobcenter.«

»Jo, de Macke Walter«, hörte Kaltenbach eine vertraute Stimme neben sich. »Sunnschd is er jo e nette Kerli. Aber manchmol ebe au e linke Vogel.« Erna Kölblin, die gute Seele aus der Weststadt, tupfte sich mit ihrem Spitzentaschentuch über das gerötete Gesicht. Die Hitze machte der gewichtigen Dame sichtlich zu schaffen. »Er muess halt immer übertriebe.«

Kaltenbach musste ihr recht geben. Walter war ein geschickter Streiter, der seine Mitmenschen begeistern und überzeugen konnte. Zuweilen ging jedoch sein Temperament mit ihm durch, und er schoss über das Ziel hi­naus. Kaltenbach hatte bei den Proben in ihrer gemeinsamen irischen Band manchen Strauß mit ihm ausgefochten.

»Und was meinen Sie zu dem Ganzen?«, fragte Kaltenbach und deutete nach oben in Richtung Sitzungssaal. »Dafür oder dagegen?«

Erna Kölblin reckte sich ganz zu ihren stolzen 151 Zentimetern empor und deutete auf die beiden Buttons, die sie sich auf ihre Sommerbluse geheftet hatte. »Lueg emol!«

»Zukunft statt Stillstand – EM 3000 jetzt!« Kaltenbach musste sich bücken, um lesen zu können. »Tradition bewahren, Natur schützen, Heimat erhalten.« Er schüttelte den Kopf. »Aber das geht doch gar nicht«, meinte er ungläubig. »Sie können doch nicht gleichzeitig dafür und dagegen sein?«

Frau Kölblin tupfte sich ein weiteres Mal die Schweißperlen aus der Stirn. »Nadierlig goht des. Beides isch wichtig. Die solle halt aschtändig mitenander schwätze.«

Kaltenbach musste schmunzeln. Im Laufe der Jahre hatte er mehr als einmal erlebt, dass in Erna Kölblins ausladender Brust mehr als die sprichwörtlichen zwei Herzen schlugen. Manchmal konnte sie sturer sein als sein Freund Walter, dann wieder überraschte sie mit gesunder Bauernschläue und Ideen, auf die sonst keiner kam.

»Ueßerdem«, lächelte sie verschmitzt, »sin alli beidi Buttons schee bunt. Basst guet zu minem Kleid, findesch nit?«

Kaltenbach zögerte mit der Antwort. Auf modische Stilfragen wollte er sich auf gar keinen Fall einlassen. Anders als andere Damen im ewig jungen Alter setzte Frau Kölblin bei ihrer Kleidung stets auf reichlich Farbe. Wobei ihr Grundsatz »Viel hilft viel« gewöhnungsbedürftig war. Zumindest für Kaltenbach.

In diesem Moment zupfte ihn Frau Kölblin am Arm und wies in Richtung des Rathauses. Ihrem stets wachen Blick war nicht entgangen, dass aus der Tür zum Nebeneingang ein Mann herausgetreten war, der sogleich von mehreren Neugierigen umringt war.

»Lueg emol, Lothar, ’s gibt ebbis Neis!«

Es dauerte keine halbe Minute, bis sich die Nachricht im gesamten Innenhof herumgesprochen hatte. Vereinzelt erklangen wütende Rufe. Doch unter den meisten der Anwesenden machte sich tiefe Betroffenheit breit.

Es hatte einen schrecklichen Unfall gegeben. Franz Winterhalter, der alte Kirchmattbauer, war schwer verletzt unter seinem umgestürzten Traktor gefunden worden. Der Bauer war nicht nur einer der erbittertsten Gegner des Projekts, sondern gleichzeitig Eigentümer der benötigten zentralen Grundstücke unterhalb der Hochburg.

Kaltenbach wurde die Brisanz der Nachricht rasch bewusst. Er ahnte, dass der Stadt nun erst recht heiße Tage bevorstehen würden.

Kapitel 2

200 … 1.500 … 8.500 ungefähr …

Die Zahlen tanzten auf dem Papier umher wie Stechmücken, die in diesem Sommer in Massen über die Städte und Dörfer zwischen Rhein und den Schwarzwaldbergen hergefallen waren.

Mit einem resignierten Seufzer warf Lothar Kaltenbach den Kugelschreiber auf die Tischplatte und schob das eng beschriebene Blatt von sich.

Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte. Die Kalkulation ging nicht auf. Da würde selbst Rainer Lange, einer seiner treuesten Stammkunden und zuständig für die Kreditvergabe bei der Emmendinger Sparkasse, beim besten Willen nichts machen können. Kaltenbach fehlte eine deutliche Summe für das geforderte Eigenkapital.

Dabei war ihm Karl Duffner, der derzeitige Besitzer von »Duffners Weindepot«, bereits unerwartet großzügig entgegengekommen.

»Ich will, dass du den Laden übernimmst, Lothar«, hatte er ihm bei einem ihrer Gespräche gesagt. »Ich bin mir sicher, du wirst das Geschäft in meinem Sinne weiterführen. Und ich weiß, dass du das kannst!«

Kaltenbach stand auf, ging in das kleine Hinterzimmer zum Kühlschrank und goss sich ein drittes Mal ein großes Glas eisgekühltes Wasser ein. Er verfeinerte den Geschmack mit einem kräftigen Schuss Holundersirup, einem Geschenk seiner Vermieterin in Maleck. Noch im Stehen trank er es halb leer, dann ging er zurück in den Verkaufsraum und ließ sich wieder in einen der beiden Besuchersessel fallen.

Es würde alles so wunderbar zusammenpassen. Eine Verdoppelung der Verkaufsfläche ebenso wie die deutliche Erweiterung des Kundenstamms inklusive Erschließung neuer Käuferschichten. Endlich konnte er sein lang gehegtes Lieblingsprojekt mit dem Verkauf von biologisch-ökologischem Wein beginnen. Und vielleicht konnte er sogar den Plan wieder aufgreifen, eine Theke mit ausgewählten deutschen und französischen Käsesorten einzurichten. Käse und Wein in Bioqualität – ein unschlagbares Geschäftsmodell.

Mit einem weiteren großen Schluck trank Kaltenbach sein Glas leer. Noch am selben Abend, als Duffner ihm das Angebot zum ersten Mal unterbreitet hatte, war er in die Planung gegangen. Natürlich würde er renovieren und investieren müssen. Er würde nicht umhinkommen, jemanden fest einzustellen. Mit Cousine Martinas halbtageweiser Aushilfe war es dann nicht mehr getan. Mit Sicherheit würde er einen zusätzlichen Fahrer brauchen. Sein eigener Kundenstamm reichte inzwischen bis in die Schweiz und erforderte Einsatz genug. Wenn er nun Duffners Kunden übernahm, war gerade am Anfang der persönliche Kontakt besonders wichtig.

Kaltenbach konnte nicht klagen. Seit seinem etwas holprigen Start vor fast 20 Jahren war es Jahr für Jahr aufwärtsgegangen. Seine Hoffnungen waren mehr als erfüllt worden.

Aber es reichte nicht. Es war zum Verzweifeln. Kaltenbachs Blick glitt zum wiederholten Mal über das Blatt mit den Zahlen. Die Bank wollte Eigenkapital sehen. Mehr als er aufbringen konnte.

Das Schlimmste war, dass es eine Lösung gab. Eine sehr einfache sogar. Doch schon bei dem Gedanken daran stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Josef Kaltenbach, der Onkel vom Kaiserstuhl, hatte ihm damals mit einer kräftigen Finanzspritze überhaupt erst ermöglicht, »Kaltenbachs Weinkeller« in der Emmendinger Innenstadt aufzubauen. Natürlich nicht ohne eigene Interessen, hatte er doch zu Beginn ausschließlich Weine aus dessen Weingütern verkauft. Gute Reben aus Spitzenlagen im Herzen des Kaiserstuhls, die sich seit Generationen im Besitz der Kaltenbachs befanden. Doch der knorrige Weinbauer, der inzwischen gut in seinen Siebzigern war, war nicht leicht zu haben. Kaltenbach erinnerte sich mit Grausen daran, als er nach zwei Jahren zum ersten Mal den zaghaften Vorschlag gemacht hatte, das Sortiment gezielt durch einige ausgewählte Breisgauer und später sogar französische und italienische Rote zu erweitern. Er hatte lange vergeblich bohren müssen, ehe er die Zustimmung des Alten bekommen hatte, der ihm zunächst damit gedroht hatte, den Laden wieder zu schließen. Am Ende konnte Josef Kaltenbach die hervorragenden Bilanzen nicht mehr ignorieren. Trotzdem war die Skepsis all die Jahre über geblieben.

Kaltenbach konnte sich lebhaft vorstellen, was Onkel Josef zum Schreckgespenst aller konventionellen Weinbauern sagen würde. Biowein unter seinem Namen verkaufen? Womöglich ausgewählte Lagen umstellen? Darauf würde sich der alemannische Sturschädel niemals einlassen.

Doch er konnte es drehen und wenden, wie er wollte. Ohne Onkel Josef kein Geld. Und ohne Geld kein zweiter Laden. In Duffners traditionelles Weingeschäft würde eine Boutique einziehen. Oder ein Handyshop.

Der Gedanke an das Gespräch war äußerst unangenehm. Doch er würde es trotzdem versuchen müssen. Es blieb ihm nichts anderes übrig.

Das Gebimmel der Glöckchen über der Eingangstür riss Kaltenbach aus seinen Gedanken. Ein Schwall heißer Luft drückte herein, gleichzeitig verdunkelte sich für einen Moment der Eingang.

Zumindest der untere Teil. Erna Kölblin, Kaltenbachs Nachbarin im ewig besten Alter, stapfte schnaufend he­rein und ließ sich sofort in den alten Ledersessel fallen. Sie litt sichtlich unter der hochsommerlichen Dauerhitze, die die Stadt seit Tagen fest in ihrem Griff hielt.

»Hesch due mir ebbis z’ trinke, Bue?«

Kaltenbach sprang auf, holte die Wasserflasche und brachte ein zweites Glas gleich mit. Zum Glück hatte er heute am Vormittag den Kühlschrank gefüllt.

Frau Kölblin trank hastig, verschluckte sich, hustete, trank erneut und hielt ihm das leere Glas ein zweites Mal hin. Kaltenbach schenkte nach. Er wusste, dass er seine Besucherin zuerst verschnaufen lassen musste. Und er wusste aus der Erfahrung unzähliger Besuche, dass sie nicht umsonst gerade jetzt bei ihm vorbeikam.

Mehr denn je sah Erna Kölblin heute aus, als sei sie eben einem Rubensbild entstiegen. Die Anstrengung und die Hitze hatten ihre Wangen mit schwitzender rosa Farbe überzogen. Über Schultern, Arme und Beine waren vielfarbige Tücher drapiert, die keiner erkennbaren Ordnung folgten und bei jeder Bewegung in eine neue Lage rutschten.

Kaltenbach sah ihren blitzenden Augen an, dass sie Neuigkeiten mitgebracht hatte. Kaum hatte sich Frau Kölblin wieder einigermaßen erholt, sprudelte es auch bereits aus ihr heraus.

»Er hett’s nit packt!«, stieß sie aufgeregt hervor. Ihre Stimme klang bedrückt. Kaltenbach wusste sofort, was sie meinte. Der Unfall des Kirchmattbauern war seit der geplatzten Versammlung im Rathaus Stadtgespräch.

»Ist er …?«

»Er isch scho e Wili glege, wo sie ihn gfunde henn. Zwei Maidli vum Ridderhof henn bim Uesridde de umkeit Bulldog gsä. Un ihn drunter. Uf dere Matte am Hang bim Waldrand. Nur d’ Bei henn noch russgluegt.«

Sie schnaufte zweimal heftig aus und ein, dann fuhr sie fort.

»D’ Rotkrizler henn ihn glich ins Krankehues brocht. Aber ’s war schu z’ schboht. Er het d’ Auge nimmi ufgmacht.« Auf Frau Kölblins Stirn bildeten sich kleine Schweißtropfen.

»Der Kirchmattbauer ist tot?«

Kaltenbach spürte eine Ahnung in sich aufsteigen, welche Folgen das haben würde. Wahrscheinlich würden bereits jetzt schon unzählige Vermutungen und Theorien in der Stadt herumschwirren.

»De Bulldog het ihm d’ Bruscht zämmedruckt. Un am Kopf hett’s en au verwischt.« Frau Kölblin presste die Lippen zusammen und schüttelte ratlos den Kopf. In den Schweiß auf ihren Wangen mischten sich ein paar Tränen.

»Haben Sie ihn gut gekannt?«

Kaltenbach kam sich ziemlich hilflos vor. Er fragte, weil er spürte, dass er etwas sagen sollte.

Zu seiner Überraschung fand Frau Kölblin sofort ihre Beherrschung wieder. »He nai. Der hett nix vu de andre wisse welle. Der isch nie in d’ Stadt kumme. Ei-, zweimol hab ich en gsähne. Uf dr Poscht, glaub ich.« Sie schniefte noch einmal. »Aber schlimm isch des scho. Bim Bulldogfahre uf em Acker! Stell dir des emol vor! Aber des het jo so kumme miesse.« Sie beugte sich vor. »Weisch, was d’ Litt schwätze?«

Kaltenbach verkniff sich die Antwort. Was-die-Leute-sagen war Erna Kölblins Spezialdisziplin, mit der sie in jeder Quizsendung spielend gewonnen hätte.

Sie machte mit Hand und gespreizten Fingern eine Bewegung zum Mund. »Gsoffe hett er«, raunte sie. »Aber ich sag jo nix.« Sie lehnte sich zurück in den Sessel. »Heiß isch’s hitt. Hesch due mir noch e Gläsli?« Sie versuchte ein Lächeln. »Ebbis zum Uffmuntre?«

Kaltenbach verstand, was sie meinte. Dieses Mal schenkte er ihr Glas nur halb voll und füllte es mit einem Mundinger Rosé auf. Lieblich. Die Farbe der Schorle ergänzte die rosa Bäckchen eindrucksvoll.

Frau Kölblin trank langsam mit kleinen Schlucken. Sie setzte das Glas erst ab, als es leer war.

»So, Bue, jetzt goht’s wieder besser.« Sie stand auf, zog ihre Tücher und Schleier zurecht und wälzte sich dem Ausgang zu. »Morge will ich alles wisse. Hesch gheert? Du wohnsch doch dert obe!«

Kaltenbach rang sich ein freundliches Lächeln ab. Er wusste, dass er nicht darum herumkommen würde. Frau Kölblins Nachrichtensystem funktionierte nach dem fortlaufenden Prinzip von Geben und Nehmen. Stillstand war nicht vorgesehen. Wegen ihr hätte man Facebook nicht erfinden müssen.

Nachdem seine Besucherin verschwunden war, trug Kaltenbach die Gläser ins Hinterzimmer, spülte sie ab und stellte den angebrochenen Wein in den Kühlschrank. Dann ging er nachdenklich zurück zu seinem Platz.

Der Kirchmattbauer war tot. Obwohl der Hof nicht weit weg von der Straße lag, in der er wohnte, hatte Kaltenbach ihn kaum gekannt. Der Mann galt bei den Ma­l-eckern als ziemlicher Eigenbrötler, der sich um die Welt außerhalb seiner Wiesen und Äcker nur wenig kümmerte. Erst seit ein paar Wochen war er, ohne es zu wollen, in den Mittelpunkt der Emmendinger Aufmerksamkeit gerückt. Es war bekannt geworden, dass er sich als einer der wenigen strikt weigerte, seinen Grund, oder zumindest Teile davon, an den Investor von »Emmendingen 3000« zu verpachten. Geschweige denn zu verkaufen. Die wichtigsten Parzellen in zentraler Lage gehörten ihm. Und ohne sie konnte das ganze Megaprojekt nicht verwirklicht werden.

Kaltenbach sah auf die Uhr. Eine Stunde musste er noch im Laden ausharren. Mit einem Seufzer breitete er erneut die Papiere auf dem Tisch aus. Er ahnte, dass heute keine Kunden mehr kommen würden. Und er befürchtete, dass sich seine Kalkulationszahlen auch beim fünften Durchgang nicht spürbar zu seinen Gunsten ändern würden.

Kapitel 3

Es war einer der Tage, an denen noch nicht einmal der Fahrtwind auf der Vespa Kühlung brachte. Die Hitze hatte den Breisgau fest im Griff. Die heiße Luft lag wie ein zähflüssiger Brei über den Häusern, den Straßen und den Menschen. Wer es sich irgendwie leisten konnte, vermied es, ins Freie zu gehen.

Das Waldstück zwischen dem Kastelberg und der Ma­l­ecker Höhe brachte nur eine kurze Verschnaufpause. Kaltenbach war froh, als er Helm, Handschuhe und Jacke wieder ausziehen konnte. Er bockte die Vespa vor dem Haus in der Garageneinfahrt auf und stand eine Minute später unter der Dusche in seiner Wohnung im zweiten Stock. Er stellte die Temperatur auf handwarm und genoss mit einem lauten zufriedenen Aufstöhnen das fließende Wasser auf seiner Haut.

Langsam wurden seine Gedanken wieder klarer. Das Finanzierungsproblem hatte er immer noch nicht lösen können. Es half nichts, er musste die Pläne zur Erweiterung des Ladens noch einmal gründlich durchgehen. Vielleicht war es das Beste, wenn er noch einmal ganz von vorne anfing. Aber nicht heute. Nicht bei der Hitze. Zum Glück hatte Duffner ihm eine Woche Zeit gegeben, sich zu entscheiden.

Kaltenbach drehte das Wasser ab, schüttelte sich und trocknete sich notdürftig ab. Er konnte Luise fragen. Wie die meisten Künstler hatte es auch seine Freundin nicht so sehr mit Zahlen und Kalkulationen. Aber sie hatte Fantasie und Ideen, mit denen sie ihn immer wieder in Erstaunen versetzte. Vielleicht hatte sie den entscheidenden Gedanken.

Kaltenbach verzichtete auf das Föhnen und kämmte nur die Haare notdürftig in Form. Er zog frische Kleider an, eine kurze Hose und ein T-Shirt reichten vollkommen. Dann eilte er wieder die Treppe hinunter. Jetzt war etwas anderes wichtig. Die Wiese, auf der der Kirchmattbauer heute Morgen seinen Unfall hatte, war nicht weit entfernt. Wenn er Glück hatte, war der Traktor noch nicht geborgen. Und den wollte er sich unbedingt aus der Nähe ansehen.

Kaltenbach setzte den Helm auf, startete die Maschine und fuhr den Brandelweg hoch bis ans Ortsende. Beim Friedhof bog er rechts ab. Vorsichtig steuerte er die Vespa das steile Sträßchen hinunter. Hinter der Vorderen Zaismatt wandte er sich nach links.

Winterhalters Kirchmatthof lag inmitten der Felder zwischen Straße und Brettenbach. Doch dem Bauern gehörten überall im Tal verstreut liegende Matten. So auch auf dem gegenüberliegenden Hang unterhalb von Maleck.

Kaltenbach fuhr im Schritttempo weiter. Er musste nicht lange suchen. Am Rande eines kleinen Wäldchens, das wie ein Wunder die Flurbereinigung überlebt hatte, sah er den Traktor im hüfthohen Gras. Der Sturz war durch einen knorrigen Holunderbusch aufgehalten worden, und das Gefährt lag halb auf der Seite. Eines der mausgrauen Vorderräder ragte verdreht in den Abendhimmel.

Nach unten hin war das Gras niedergetreten. Offenbar hatten sich die Rettungssanitäter von hier aus einen Weg zur Unfallstelle gebahnt. Kaltenbach stellte die Vespa am Straßenrand ab und stapfte den Hang hinauf. Nach wenigen Schritten stand er schnaufend neben den Trümmern des Unglücksgefährts.

Schon von Weitem hatte er gesehen, dass er nicht der einzige Neugierige war.

»Salli, Lothar! Ich habe dich schon erwartet. Wunderfitzig wie immer!« Fritz Schätzle, Postbeamter im Ruhestand und langjähriger Ortsvorsteher in Emmendingens kleinstem Ortsteil schien keineswegs überrascht, ihn zu sehen.

»Salli, Fritz!« Kaltenbachs Antwort klang etwas verhalten. Seit der mysteriösen Sache am Kandel war er schon einige Male in Situationen hineingestolpert, deren Ausgang seine Mitbürger mit einer Mischung aus Bewunderung, Skepsis und Kopfschütteln begleiteten. Trotz seines erstaunlichen Spürsinns waren seine Alleingänge bei der Verbrechensaufklärung nicht jedermann geheuer.

Schätzle ahnte, warum Kaltenbach gekommen war. »Heute wirst du Pech haben. Einwandfreier Unfall! Der Lanz ist den Hang heruntergestürzt, und der Bauer ist blöd daruntergekommen.« Er setzte das Vorderrad mit einem Schubs in Bewegung. Mit einem merkwürdigen Quietschen drehte es ein paar Runden, ehe es wieder zum Stillstand kam.

Kaltenbach ging langsam um das Fahrzeug herum. Für ihn sah der Trecker aus, als habe er zwei Weltkriege hinter sich. Die ehemals grüne Lackierung war ein abenteuerlicher Flickenteppich aus Roststellen und Ölflecken. Zusammen mit unzähligen Farbnachbesserungen und erdverkrusteten Stellen erinnerte sein Äußeres an ein mit Tarnfarbe dekoriertes Geheimfahrzeug der Bundeswehr.

Der mehrfache Aufprall hatte die Kühlerhaube an zwei Seiten eingedrückt, an einer Stelle war das Blech aufgerissen, auf dem Boden lagen verbogene Metallteile. Beide Vorderlichter waren zersplittert, im Gras waren dunkle Flecken zu sehen. Es roch nach Öl.

»Wo ist der Bauer gelegen?«

»Ich hab’s nicht gesehen, ich bin erst gekommen, nachdem sie ihn schon weggebracht hatten. Aber der Günther, der Sani − du kennst den, der aus dem Musikverein −, der hat erzählt, das Lenkrad hat ihm den Brustkorb eingedrückt. Außerdem hatte er an seiner Stirn eine große blutende Wunde. Bestimmt irgendwo angeschlagen.« Schätzle schüttelte den Kopf. »Das Ganze ist ziemlich dumm gelaufen. Er hat einfach Pech gehabt.«

Für einen Moment schwiegen beide. In den Bäumen am Waldrand summten die Bienen. Ein zartblauer Schmetterling taumelte durch die hochgewachsenen Grasrispen. Irgendwo zirpte eine Grille. Ein idyllischer Hochsommerabend. Doch die Vorstellung, wie der Bauer hilflos unter einem unförmigen Berg aus Metall und Gummi lag, ließ Kaltenbach keine Ruhe.

»Wie geht es seiner Tochter? Jetzt wird sie ganz allein den Hof machen müssen!«

Schätzle wiegte den Kopf. »Die Elisabeth? Wenn sie’s überhaupt weiter macht.«

»Du meinst, sie wird verkaufen?« Kaltenbach war überrascht. »Aber soviel ich weiß, war sie sich in diesem Punkt mit ihrem Vater einig. Sie wollten den Hof nicht verkaufen. Schon gar nicht wegen eines Golfplatzes.«

Schätzle zupfte einen Grashalm ab. »Stimmt. Jetzt wird sie es nicht mehr nötig haben.«

Kaltenbach zog die Stirn in Falten. »Du weißt doch wieder etwas?«

Schätzle setzte einen verschwörerischen Blick auf und senkte die Stimme. »Eine halbe Million!«

»Was, eine halbe Million? Schulden vielleicht!« Kaltenbach hatte sich schon oft gefragt, wie der Kirchmattbauer und seine Tochter überhaupt vernünftig existieren konnten. Seit er sich erinnern konnte, wurschtelten die beiden mit denselben uralten Geräten und Fahrzeugen. Von Weitem machten die Hofgebäude einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck.

»Nix Schulden.« Schätzle schnippte den Grashalm ins Gebüsch. »Lebensversicherung! Elisabeth Winterhalter wird so viel Geld haben wie in ihrem ganzen Leben nicht.«

Kaltenbach war völlig verblüfft. »Stimmt das? Woher weißt du das?«, fragte er ungläubig. »Wie hätte denn der Winterhalter überhaupt die hohen Prämien bezahlen können?«

»Alles weiß ich auch nicht«, entgegnete Schätzle, der sichtlich stolz auf sein Wissen war. »Aber das mit der Lebensversicherung stimmt. Der Kirchmattbauer hat es mir im letzten Sommer selbst erzählt.«

Kaltenbach verjagte eine Bremse, die sich auf seiner linken Wade niedergelassen hatte. »Dann war der alte Winterhalter doch nicht ganz so versponnen, wie alle sagen.«

»Er war nicht immer so.« Schätzles Stimme klang ernst. »Klar, er war stur und eigensinnig, wenig sozial. Aber das sind andere Bauern auch, vor allem die, die weit draußen leben. Richtig schlimm wurde es erst, als seine Frau gestorben ist.«

»Seine Frau? Die kannte ich gar nicht. Das muss lange her sein.« Es fiel Kaltenbach schwer, sich den Bauern als Ehemann vorzustellen. Aber schließlich gab es eine Tochter.

»Fast 25 Jahre ist das jetzt her. Da hast du noch gar nicht in Maleck gewohnt.«

Die Grille hatte inzwischen von allen Seiten Antwort bekommen. Das Solo hatte sich zu einem Konzert ausgeweitet. Die ganze Wiese schien zu vibrieren.

Schätzle setzte sich auf einen der zerbeulten Kotflügel. »Und das war noch nicht alles. Kurz darauf wurde seine Tochter schwanger, die war noch ziemlich jung damals. Der Vater ist abgehauen, als er es erfahren hat. Die Elisabeth ist dann auf dem Hof geblieben. Bis heute.«

»Und der Enkel? Der müsste demnach Anfang 20 sein. Was macht der?«

»Der Jonas? Ist schon früh von zu Hause fort. Die Leute sagten, er habe den eigensinnigen Großvater und die verbitterte Mutter nicht mehr ausgehalten. Er wohnt jetzt irgendwo hinten im Glottertal. Macht irgendwas mit Landmaschinen, glaube ich. Ich weiß es nicht genau.«

Von der Straße drangen Stimmen zu ihnen herauf. Eine Familie mit zwei Kindern war auf abendlicher Radtour unterwegs. Das Bunt der vier Helme kontrastierte lebhaft mit dem Goldgelb der Felder und dem sommermüden Graugrün der Wiesen. Hoch über den Rädern der Kinder flatterten SC-Wimpel an langen dünnen Glasfiberstangen.

Kaltenbachs Blick schweifte weiter. Ein Stück dahinter umrahmte der Brettenbach mit seinem Saum von Erlen und Pappeln die Gebäude des Kirchmatthofs. Nichts deutete in der friedlichen Sommeridylle auf die Dramen, die sich dort abgespielt hatten, und von denen die wenigsten wussten. Ein zerbrechliches Gebilde aus Enttäuschungen, Hoffnungen und Überlebenswillen, das plötzlich von Geld ins Wanken gebracht wurde. Von viel Geld. Mit dem man einiges bewegen konnte. Mit dem man ein ganzes Leben ändern konnte.

Kaltenbach erschrak vor dem Szenario, das sich in ihm auftürmte. Was wäre, wenn der Unfall des Alten mehr war als ein schrecklicher Zufall? Wenn es kein alkoholisierter Leichtsinn war, sondern …

»Sag mal, Fritz«, gab sich Kaltenbach einen Ruck, »du kennst dich doch ein bisschen aus. Gibt es die Möglichkeit, einen Traktor so zu manipulieren, dass es der Fahrer nicht merkt? Ich meine, könnte man irgendwas am Motor verändern, dass er nicht mehr richtig funktioniert? Oder an den Bremsen?«

Schätzle kicherte. »Auskennen ist gut. Du meinst wohl, weil ich selber einen Trecker habe? Nein, mit Technik habe ich es noch nie sehr gehabt. Außerdem benutze ich den kaum. Einmal im Jahr die Äpfel auf dem Anhänger reinholen, mehr ist es nicht.«

Kaltenbach erinnerte sich, dass Schätzle ein paar Streuobstwiesen oberhalb des Dorfes gehörten, von deren Äpfeln er die Malecker sich großzügig bedienen ließ. Den Rest verarbeitete er zu Saft und Most. Ein paar Äcker hatte er verpachtet.

»Die alten Dinger sind eigentlich nicht kaputt zu kriegen. Der Motor ist einfach gebaut und hält ewig. Das Fahrgestell ist stabil, zur Not fährt der sogar auf den Felgen weiter. Und die Bremsen? Die müsstest du schon ansägen. Mindestens.« Er stand auf und fuhr mit der Handfläche das verbogene Bremsgestänge entlang. »Da ist nichts. Nur verbogen, nicht gebrochen. Das hält ewig.« Er wandte sich um. »Nein, ich bin mir sicher, der Alte ist selbst schuld. Nix Kriminelles.« Er begann, vorsichtig den Hang hi­nunterzusteigen. »Ich muss heim. Duschen. Etwas trinken. Kommst du mit auf ein Glas?«

Kaltenbach ging ihm langsam hinterher. Das Gras juckte an seinen nackten Beinen. Er schwitzte noch mehr als am Nachmittag.

»Danke. Aber ich muss auch. Nachher kommt Luise vorbei, und ich habe ihr versprochen, etwas zu kochen. Morgen geht’s ja mit dem Film los, sie will direkt von mir aus hin. Sie ist schon ganz gespannt. Du bist doch sicher auch wieder mit von der Partie?«

Schätzle strahlte über das ganze Gesicht. »Klar! Die Filmleute wollten mich unbedingt wieder dabeihaben. Ich muss dieses Mal sogar etwas sagen. Er blieb stehen, holte Luft und deklamierte: »Nicht so schnell! Es ist genug für alle da!«

Kaltenbach grinste. Seit Fritz Schätzle vor zwei Jahren beim Dreh zum ersten Heimatfilm am Fuß der Hochburg eine kleine Komparsenrolle bekommen hatte, war er nicht zu bremsen. »Hollywood ruft! Mach mir keine Schande!«, lachte er.

»Sowieso!«

Kapitel 4

Zurück in seiner Wohnung empfing Kaltenbach das hektische Blinken des Anrufbeantworters. Gleich darauf hörte er Luises Stimme aus dem Lautsprecher.

»Selbst schuld, wenn du nie das Handy mitnimmst!«, meinte sie trotzig. »Du weißt, dass ich nicht gerne mit einer Maschine spreche!«

Kaltenbach verzog den Mund. Ein Dauerthema zwischen ihnen. Er lehnte es ab, ständig und überall erreichbar sein zu müssen. Vielleicht war er altmodisch, aber er brauchte das. Dabei wusste er, dass Luise recht hatte. Vielleicht sollte er sich ein zweites Mobiltelefon zulegen. Ein Luise-Handy. Nur für sie.

»Ich mach’s kurz. Heute wird es nichts mehr mit uns. Leider. Ich habe mich so sehr auf unseren Abend gefreut!« Ihre Stimme klang nun anders. »Es hat sich kurzfristig ein Galerist aus Basel bei mir gemeldet. Eine ziemlich große Nummer im Kunstgeschäft. Er ist heute Abend auf der Durchreise und will mich sehen. Du verstehst sicher, dass ich das nicht absagen kann! Ich bin schon auf dem Weg ins Theatercafé.« Im Hintergrund quietschten die Räder der Freiburger Straßenbahn. »Das könnte etwas werden. Drück mir die Daumen! Den Abend holen wir nach, gleich morgen. Und die Nacht auch. Versprochen! Ich melde mich.« Kaltenbach hörte das sanft schmatzende Geräusch eines angedeuteten Kusses. Dann legte sie auf.

Kaltenbach zog sich aus und stellte sich ein zweites Mal unter die Dusche. Er schwankte zwischen Freude und Enttäuschung. Natürlich war das eine Riesenchance für Luise. Sie hatte sich seit ihrem Amerika-Aufenthalt künstlerisch enorm gesteigert. Ihre zarten Skulpturen sprachen etwas im Betrachter an, was nur Künstlern gelang, die bereit waren, selbst ein Stück ihres Innersten in die äußere Form einfließen zu lassen. Mittlerweile hatte Luise in der südwestdeutschen Kunstszene auf sich aufmerksam gemacht. Der Schritt auf den internationalen Markt war nicht nur eine Bestätigung, sondern konnte auch finanziell einen großen Schritt vorwärts bedeuten.

Kaltenbach zog sich an und goss sich in der Küche etwas zum Trinken ein. Ob Luises Erfolg ihrer Beziehung guttun würde, war eine andere Frage. In letzter Zeit hatten sie sich kaum noch gesehen, das letzte Mal auf einem Cajun-Konzert beim Zeltmusikfestival in Freiburg.

Kaltenbach war daher hocherfreut gewesen, als Luise ihn mit der Nachricht überrascht hatte, dass sie die nächsten Tage bei ihm wohnen wollte. Sie hatte sich auf den Komparsenaufruf für den zweiten Teil des erfolgreichen Heimatfilms beworben. Die Dreharbeiten sollten wieder auf der Hochburg und an verschiedenen Orten zwischen Emmendingen, Freiamt und Sexau stattfinden.

»Ich wollte schon immer mal in einem richtigen Film mitspielen«, hatte sie ihm erklärt. »Der Regisseur, die Kameras und Scheinwerfer, die Schauspieler – das alles einmal aus der Nähe erleben! Eine bessere Gelegenheit gibt es nicht.«

Als Auftakt für ein paar wunderbare Tage hatte Kaltenbach am ersten Abend ein besonderes Menü zaubern wollen. Kaltenbach betrachtete ratlos die Einkäufe, die er vom Wochenmarkt besorgt hatte. Er war überzeugter Freund frischer Zutaten. Die Bauern, bei denen er einkaufte, kannte er alle seit Langem. Er wusste genau, an welchem Stand er die zuckrigsten Erbsen, den würzigsten Mangold und den aromatischsten Stangensellerie bekam. Kartoffeln kaufte er nur bei einem Bauern aus Leiselheim, von dem er wusste, dass er noch die alten schmackhaften Sorten anbaute.

Wenn die Zutaten stimmen, muss der Koch nur noch komponieren. Nach dieser Überzeugung hatte er Luise schon mehr als einmal mit einem raffinierten Essen verwöhnt. Wenn er in der Küche stand, kam er sich manchmal vor wie ein Orchesterleiter, der zusammen mit auserwählt guten Instrumentalisten etwas Großes schaffen durfte.

Mit einem Seufzer räumte er seinen Einkauf in den Kühlschrank ein. Dieses Mal würde er wohl oder übel einen Kompromiss mit seiner Überzeugung schließen müssen. Zur Not musste es auch morgen gehen. Die Sachen waren zu teuer, um sie als Suppe oder Eintopf zu verwerten. Er schlug die Forellen noch einmal neu ein und legte das Gemüse lose nebeneinander in das vorgesehene Fach. Zum Glück war sein Kühlschrank groß genug. Die frischen Kräuter stellte er in ein Glas mit Wasser ans Fenster.

Was tun mit dem angebrochenen Abend? Er konnte Luise anrufen und sie fragen, ob sie vielleicht später doch noch kommen wollte. Bei der Hitze war an frühes Schlafen sowieso nicht zu denken. Aber wenigstens wäre sie hier. Und er liebte es, am Morgen kuschelwarm nebeneinander aufzuwachen.

Doch er verwarf den Gedanken wieder. Bestimmt war Luise gerade jetzt mitten im Gespräch mit dem Schweizer, da wäre jede Störung unangebracht. Außerdem wollte er sie zu nichts überreden. Die Freiheit des anderen zu respektieren, das war eine der unausgesprochenen Säulen ihrer Beziehung, vor allem nach den unschönen Erfahrungen, die sie beide mit ihren vorhergehenden Partnern erlebt hatten.

Kaltenbach ging ins Wohnzimmer und nahm seine Martin vom Gitarrenständer. Er setzte sich auf das Sofa und ließ seine Finger über die Saiten gleiten. Der volle, angenehm metallene Klang erfüllte ihn. Nach der Wiederbegegnung mit seinem alten Musikpartner Robbie und dessen Sammlung war ihm deutlich geworden, was ein gutes Instrument ausmachte. Im Frühjahr hatte er seinem Herzen und seinem Geldbeutel einen Stoß gegeben und nach vielen Jahren endlich eine Gitarre gekauft, von der er lange geträumt hatte. Die D-16 war gebraucht und keineswegs das Top-Modell des amerikanischen Instrumentenbauers. Aber sie hatte wie die anderen jenen unvergleichlichen Klang, den er bei Musikergrößen wie Neil Young, David Gilmour oder Hank Williams schätzen und lieben gelernt hatte.

Kaltenbach hatte wieder viel öfter gespielt, seit er das neue Instrument besaß. Doch heute wollte sich der Spaß nicht so recht einstellen. Die Akkorde blieben zusammenhanglos nebeneinander stehen, seine Finger fühlten sich hölzern an. Zum Singen hatte er keine Lust.

Nach zehn Minuten stellte er die Gitarre wieder weg. Seine riesige Vinylplattensammlung streifte er nur kurz. Ihm war heute nicht nach Musik. Auch das Fernsehprogramm mit seinem immer selben Einheitsquark konnte ihn nicht reizen. Billige Action und andauernde Werbung bei den Privaten, Krimis und Reisedokus bei den anderen. Dazu ständige Wiederholungen. Alles nicht die Art von Unterhaltung, nach der ihm jetzt war.

Er könnte eine Abendfahrt mit der Vespa machen. Einmal über Waldkirch den Kandel hoch, den Sonnenuntergang betrachten und etwas Abendkühle mit in die Nacht nehmen. Doch schon der Gedanke an Helm, Jacke, Handschuhe und feste Stiefel ließ ihn die Idee rasch wieder verwerfen.

Im Schrank fand er eine Flasche leichten Roten. Er goss sich ein halbes Glas ein, nahm einen Schluck und spürte dem Geschmack hinterher. Nein, das ging nicht. In einem Sommer wie diesem bekam der Begriff »Zimmertemperatur« eine andere Bedeutung. Er stellte die angebrochene Flasche in den Kühlschrank. In einer halben Stunde würde er so weit sein. Den Rest im Glas füllte er mit kaltem Mineralwasser auf.

Er trat hinaus auf seinen kleinen Balkon. Es war immer noch sehr warm. Der abendliche Friede lag über dem Tal. Zarter Rauch kräuselte sich aus einem der Schornsteine der Zaismatthöfe. Kein Windhauch regte sich. Die gelb-rot-gelbe Badenfahne über der Hochburg hing schlapp an ihrem Mast herunter. Die Zeit schien stillzustehen.

Kaltenbach versuchte sich vorzustellen, wie es hier aussehen würde, wenn der Investor seine Pläne verwirklichte. Für die Hügel um Maleck sollte das vor Jahren verworfene Projekt eines Golfplatzes wieder aufgegriffen werden. Wo sich jetzt eine abwechslungsreiche Mischung aus Äckern, Feldern und Streuobstwiesen ausbreitete, würde es endlose Grasflächen geben, dekoriert mit aufgetürmten Steinhindernissen, Buschgruppen und künstlichen Sandbunkern. Die Besucher würden ihre Schlägerwägelchen hinter sich herziehen oder mit Elektromobilen über das Grün gleiten. Irgendwo würde ein modernes Klubhaus gebaut werden. Dazu kam mit Sicherheit in der Nähe ein Golfhotel mit Restaurant und Swimmingpool. Es würden neue Wege entstehen, und die schmalen asphaltierten Feldwege würden zu bequemen Zufahrtsstraßen ausgebaut werden. Und irgendwo würden die ganzen Limousinen, Sportwagen und Cabrios parken müssen. Vor allem würde es über Jahre hinweg Verkehr und Baulärm von Baggern, Lkws und Planierraupen geben.

Anfangs hatte Kaltenbach die Möglichkeiten durchgespielt, sich irgendwie an den Plänen vor seiner Haustür zu beteiligen. Er hatte an ein kleines Weinbistro am Ortsrand von Maleck gedacht, eine Art bodenständiges Gegenstück zu den modernen Anlagen. Wenn sich die Zielvorgaben des Investors bewahrheiteten, war in jedem Jahr mit einer stattlichen Zahl Gäste zu rechnen, nicht nur hier in Ma­leck, sondern auch unten in der Stadt. Die Aussicht, »Kaltenbachs Weinkeller« auf eine neue Stufe zu heben, war ihm verlockend erschienen. Anfangs.

Inzwischen hatte er sich gänzlich von dem Gedanken verabschiedet. Nicht nur wegen Duffners überraschendem Angebot. Je länger die Diskussion dauerte, desto mehr war ihm bewusst geworden, auf welch herrlichem Flecken Erde er wohnen und leben durfte. In einer immer schnelllebigeren Welt brauchte er seinen Rückzugsort.

Er wusste, dass er in Maleck nicht der Einzige war. Die meisten Dorfbewohner sahen es ebenso, vor allem diejenigen, für die der kleine Ort mit seinen kaum 500 Einwohnern seit Generationen Heimat bedeutete.

Doch er wusste auch von anderen. Kaltenbach kannte zwei Jungbauern, die es satthatten, Jahr für Jahr den günstigsten Zuschüssen aus Brüssel hinterherzuwirtschaften. Sie hätten am liebsten sofort verkauft oder zumindest verpachtet. Schätzle hatte ihm von einer der Ortschaftsratssitzungen erzählt, bei der es hoch hergegangen war.

»Gepflegtes Rasengrün statt Maiswüsten, was macht das für einen Unterschied?« Einer der Jungbauern hatte heftige Worte von sich gegeben. »Ich bin schließlich derjenige, der bei Wind und Wetter rausmuss, der Jahr für Jahr hofft, dass es keinen Dauerregen und keine Hitzewelle gibt. Und was dabei rauskommt, reicht nie. Ich muss ständig investieren. Wer nicht am Ball bleibt, hat schon verloren.«

Kaltenbach nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. Die rosa Notschorle hatte sich in eine lauwarme geschmacksneutrale Brühe verwandelt. Er kippte den Rest hinunter in den Garten.

Schätzle selbst hatte zu Kaltenbachs Erstaunen sein Wohlwollen für das Projekt signalisiert. »Warum nicht? Wir leben im 21. Jahrhundert. Und gegen ein bisschen Fortschritt ist doch nichts einzuwenden, oder?«, hatte er Kaltenbach erst vor ein paar Wochen anvertraut. Er war sich nicht sicher, ob hier der alte Politfuchs sprach oder nicht doch der Eigentümer mehrerer Äcker, die zu einem guten Preis für »Emmendingen 3000« verkauft werden konnten.

Nachdenklich drehte Kaltenbach das leere Glas in seiner Hand. War es Zufall, dass ausgerechnet jetzt in der heißen Phase der Entscheidungsfindung der Kirchmattbauer einen Unfall hatte? Die uralten Edgar-Wallace-Filme aus den 60er-Jahren kamen ihm in den Sinn. Einer der erfahrenen Kommissare hatte seinem jungen Gehilfen eine der grundlegenden Lektionen der Verbrechensaufklärung mit auf den Weg gegeben. Cui bono? Wem nützt es? Genauer gesagt, wer ist es, der am meisten davon profitiert, wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht.

War es ein Zufall, dass die Befürworter am heftigsten über den Kirchmattbauern geschimpft hatten? Es war nicht zu übersehen, dass dessen plötzlicher Tod einigen auf wundersame Weise zugutekam. Seine Tochter wurde auf einen Schlag reich, die Aussichten auf einen profita­blen Verkauf von Grundstücken besserten sich.

Kaltenbach spürte eine Ahnung in sich aufsteigen, ein unbestimmtes Gefühl. Unfall? Zufall? Was war, wenn der Alkohol gar nicht die entscheidende Rolle gespielt hatte? Schätzle hatte zwar gemeint, ein Traktor sei kaum zu manipulieren. Was war, wenn er gar nicht recht hatte?

Kaltenbach ging zurück zum Kühlschrank. Er war noch nicht ganz zufrieden mit der Temperatur, doch goss er sich jetzt ein Glas voll ein. Die Flasche stellte er zurück und schlurfte dann zu seiner Couch im Wohnzimmer.

Nach den ersten Schlucken spürte Kaltenbach, wie sich die feinen Aromen des Weins in ihm ausbreiteten. Es war der perfekte Moment, den Tag abzuhaken und in einen entspannten Abend hinüberzugleiten.

Doch es ging nicht. Immer wieder schob sich das Bild des umgestürzten Traktors vor sein inneres Auge. Draußen wurde es allmählich dunkel. Es machte keinen Sinn, heute noch einmal hinzugehen und sich das Fahrzeug genauer anzusehen. Zumal er sowieso nicht gewusst hätte, wonach er suchen sollte. Trotzdem musste er Gewissheit bekommen. Irgendwie.

Kaltenbach ärgerte sich, dass er von Technik so wenig Ahnung hatte. Es hatte ihn einfach nie interessiert, wie Motoren funktionierten oder die Mechanik einer Waschmaschine konstruiert war. Einzig am Computer kannte er sich so weit aus, dass er bei einem Absturz nicht völlig hilflos dasaß. Aber sein Interesse hatte von jeher mehr der Musik und der Kunst gegolten. Und den Menschen. Lehrer zu werden, schien ihm damals in seinen Zwanzigern der erstrebenswerte Kompromiss zwischen gesicherter Stellung und brotlosem Künstlerdasein. Es hatte nicht geklappt, weder das eine noch das andere. Das Schicksal und die Ideen von Onkel Josef hatten ihn zum Geschäftsmann gemacht. Inzwischen war er es gerne. Und genügend Zeit für die Musik blieb ihm allemal.

Nach dem nächsten Glas fiel Kaltenbach ein, wer ihm helfen konnte. Er sah auf die Uhr, dann stand er auf und ging zum Telefon.

Bereits nach dem ersten Läuten wurde der Hörer abgenommen. Kaltenbach hatte richtig vermutet. Alexander Jungwirth, Chef und Eigentümer des größten Emmendinger Autohauses saß um diese Zeit noch in seinem Büro.

»Lothar, was gibt’s? Willst du dir endlich ein richtiges Auto kaufen?«

Kaltenbach lachte. »Wenn du mir 50 Prozent gibst – jederzeit! Du weißt, dass ich mir dich nicht leisten kann.«

Ein Dauerthema zwischen ihnen. Der Kleinlaster der Stuttgarter Edelmarke war zwar erstklassig und schon lange Kaltenbachs Wunschfahrzeug. Doch sein finanzieller Rahmen ließ das bei Weitem nicht zu. Und eine Limousine schon gar nicht. Wenn er je übriges Geld für ein neues Fahrzeug hätte, würde Kaltenbach in die neue große Vespa investieren, die die italienische Kultfirma vor einiger Zeit auf den Markt gebracht hatte. Doch dazu hätte er den Einser-Führerschein machen müssen. Seine ET4 war seine derzeitige Finanz- und Hubraumobergrenze.

Die beiden Männer tauschten ein paar freundschaftliche Worte aus, ehe Kaltenbach zur Sache kam.

»Alex, du bist doch auch Landmaschinenspezialist? Oder ist das für dich vorbei?«

»Von wegen. Schließlich hat der Großvater damals so angefangen. Ich habe Stammkunden seit drei Generationen. Das ist bloß nicht so publik nach außen.«

»Umso besser. Ich brauche deinen Rat.«

Jungwirth lachte. »Was willst du denn mit einem Traktor? Oder hat dich dein Onkel vorgeschickt, um ein paar Prozente rauszuschlagen?«

»Nichts von alledem.« Kaltenbach räusperte sich. »Es geht um den Kirchmattbauern in Maleck. Das hast du sicher schon mitbekommen.«

»Unfall mit seinem Uralt-Bulldog. Hab ich mitgekriegt. Ein Fendt, glaube ich. Der hält normalerweise ewig. Leider«, knurrte Jungwirth, »schlecht fürs Geschäft.« Er zögert kurz. »Moment mal. Klar! Ich weiß, warum du anrufst. Der Breisgauer Sherlock Holmes ist wieder unterwegs. Hab ich recht?«

Kaltenbach überging die Anspielung. »Kann man einen alten Traktor manipulieren, ohne dass es groß auffällt? Motor, Bremsen, Getriebe, Räder – irgendwas?«

»Du glaubst also nicht an einen Unfall?«

»Na ja.« Kaltenbach behielt seine bisherigen Überlegungen für sich. »Es interessiert mich eben. Immerhin war er so etwas wie mein Nachbar.«

»So, so, es interessiert dich. Na gut. Dann werde ich deinem Spürsinn mal ein wenig Futter geben.«

Zehn Minuten später und etliche erklärte technische Fachausdrücke weiter war Kaltenbach wenig schlauer als zuvor.

»Das hört sich alles ziemlich kompliziert an.«

»Ist es nicht«, gab Jungwirth zurück. »Aber du hast recht, ein bisschen durchblicken sollte man schon.«

»Gibt es auch etwas Einfaches? Etwas, das jeder Laie hinbekommen würde. Etwas, das nicht auffällt?«

Jungwirth überlegte nur kurz. »Also ich würde den Verbindungsbolzen zwischen Bremsgestänge und Vorderachse lockern. Irgendwann fällt der dann von selber raus.«

»Und – ist das schwer?«

»Gar nicht. Du musst nur den Sicherheitssplint rausziehen. Das geht mit jeder großen Rohrzange. Der Rest kommt dann irgendwann von selber. Nur …«

»Was?«

»Normalerweise ist das Ganze ziemlich mit Lack und Fett verklebt. Das müsste man zuerst einmal auflösen.«

»Aber das würde man dann auch sehen?«

»Schon. Aber du kannst hinterher noch einmal ein bisschen Farbe darüberpinseln. Bei dem Schrotthaufen fällt das eh nicht auf. Du müsstest schon gezielt danach schauen. Aber wer macht das schon. Du prüfst ja auch nicht vor jeder Fahrt, ob das Vorderrad deiner Vespa noch fest angeschraubt ist.«

Kapitel 5

»Verdammt!«

Kaltenbach brauchte einen Moment, ehe er begriff, warum der Wecker heute eine Stunde früher als gewohnt geschnarrt hatte. Es war halb sechs und bereits hell. Er stand auf, ging ins Bad und schlug sich ein paar Handvoll Wasser ins Gesicht, um wach zu werden.

Er hatte kaum geschlafen und schlecht noch dazu. Andauernd hatte er sich hin und her gewälzt, war zwischendurch aufgestanden, um etwas zu trinken, musste aufs Klo. Irgendwann hatte er die ersten Vögel vor dem Fenster gehört und war eingeschlafen.

Kurz. Viel zu kurz.

Kaltenbach stand am Fenster und sah hinunter auf den Brandelweg. Kein Mensch auf der Straße. Die schwarz-weiß gefleckte Katze der Nachbarin strich träge an der Gartenmauer entlang und verschwand durch ein Loch im Gebüsch, das nur sie sah. Die Sonne hielt sich noch weit hinten im Elztal verborgen. Doch es war bereits hell genug für das, was Kaltenbach vorhatte.

Ein paarmal atmete er tief die Morgenfrische ein, dann schlurfte er in die Küche und setzte die Kaffeemaschine in Gang. Ein paar Minuten später saß er frisch geduscht in kurzen Hosen auf seinem kleinen Balkon und trank vorsichtig die ersten heißen Schlucke.

Luise hatte nicht mehr angerufen. Kaltenbach fragte sich, ob er dies als gutes Zeichen deuten sollte. Vielleicht hatte das Treffen mit dem Galeristen lange gedauert, womöglich hatte es keine Entscheidung gegeben. Luise hätte gute Nachrichten noch in der Nacht mit ihm geteilt, dessen war er sich sicher. Die schlechten auch. Er würde sich gedulden müssen, bis sie heute vorbeikam.

Der Himmel über ihm verwandelte sich rasch von grauroter Dämmerung in das zarte Blau des Morgens. Keine Wolke war zu sehen. Es würde wieder ein heißer Tag werden.

Der aromatische Duft aus der Tasse weckte seine Lebensgeister. Die frische Luft auf dem nackten Oberkörper tat ihm gut. Am liebsten wäre er noch eine Weile gesessen. Vielleicht sollte er bei der Hitze in den nächsten Tagen einfach früher aufstehen, den Morgen genießen. Nach dem letzten Schluck stand er auf und zog sich an.

Die paar Meter bis zu dem Unfallort fuhr Kaltenbach ohne Helm. Um diese Zeit war er völlig allein. Kein Wanderer war unterwegs, Autos fuhren sogar tagsüber hier nur selten.

Über Nacht hatte sich das Gras auf der Hangwiese wieder aufgerichtet. Als er die Böschung emporkletterte, spürte Kaltenbach an den Beinen, dass es sogar noch ein wenig feucht von der Nacht war. In ein, zwei Stunden würde es hier ganz anders aussehen.

Der Traktor lag noch genauso, wie er ihn gestern verlassen hatte. Für ihn als Laien sah das Ganze wie Totalschaden aus, braungrüner Metallschrott, den man nicht mehr reparieren konnte. Ob Winterhalters Tochter versuchen würde, das Fahrzeug wieder instand zu setzen? Bei dem zu erwartenden Geldsegen konnte sie sich ohne Weiteres einen neuen leisten.

Kaltenbach wischte die Gedanken zur Seite und versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was er gestern am Telefon gehört hatte. Die Stelle, die Jungwirth ihm beschrieben hatte, musste irgendwo in der Nähe des Vorderrades sein, dort, wo die Kraft des Bremspedals über das Bremsgestänge auf den Reifen übertragen wurde.

Er musste nicht lange suchen. Das Vorderrad ragte hoch in die Luft. Die Mechanik war selbst für einen technischen Laien wie ihn leicht zu durchschauen. Die lange Stange vom Pedal her war ziemlich verbogen, doch die Verbindungsstelle zum Rad war leicht zu erkennen. Hebel, Scharnier, Splint. Alles da und fest verbunden. Keine Spuren am Lack, wenn man von Kratzern und Schürfungen absah, die aber eindeutig von dem Unfall herstammten.

Kaltenbach war enttäuscht. Ob er etwas übersehen hatte? Er ging zurück zum Fahrersitz und verfolgte erneut den Weg vom Fußpedal bis zum Vorderrad, dieses Mal langsam, Zentimeter für Zentimeter. Nichts Auffälliges.

Jungwirths andere Tipps hatte er rasch ausgeschlossen. Zu auffällig und damit zu unwahrscheinlich. Es sah ganz so aus, als ob ihn sein Gefühl dieses Mal getäuscht hatte.

Kaltenbach kauerte sich ins Gras und ließ seinen Blick über das Fahrzeug gleiten, als er sich plötzlich an einen Satz erinnerte. Auf beiden Seiten, hatte der Autohändler gesagt. Mit den Bremsen kannst du die Lenkung unterstützen, je nachdem. Natürlich! Es gab eine weitere Bremse mit derselben Funktion auf der anderen Seite.

Kaltenbach kniete sich in das Gras. Es war nicht leicht, an die Stelle heranzukommen, der Traktor war bei seinem Sturz genau auf die Seite gekippt. Zur Sicherheit rüttelte er mit beiden Händen an dem Fahrzeug. Das Wrack wackelte bedrohlich, und für einen Moment befürchtete er, es würde weiter abkippen. Doch der Holunderstrauch, in dem sich der vordere Teil der Karosserie verfangen hatte, gab nicht nach.

Zwischen dem Trecker und dem Erdboden war ein etwa 30 Zentimeter breiter Zwischenraum geblieben. Kaltenbach bog die Zweige beiseite und rutschte nach unten, so gut es ging, bis er unter das Fahrzeug sehen konnte. Die Mechanik war kaum verbogen. Die lange Bremsstange, die kurze, das Verbindungsstück. Dann sah er es.

Erst vor ein paar Tagen hatte er hinter seiner Garage versucht, mit einem Schraubenschlüssel die Manschette des kaputten Regenabflussrohrs aufzudrehen. Er hatte seine ganze Kraft gebraucht, bis sie sich bewegt hatte. Erst als der alte Lack abgesprungen war, hatte er sie lösen können.

Genauso sah es hier aus. An der Schraube am Scharnier war erst vor Kurzem gedreht worden. Die Spuren an der Lackierung waren eindeutig. Die fingerdicke Schraube war zerbrochen, der Teil mit dem Kopf hing an der Seite, der Rest wahrscheinlich irgendwo im Gras.

Kaltenbach zog den Kopf ein und kroch wieder unter dem Fahrzeug hervor. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen. Nach jahrzehntelanger täglicher Arbeit auf den Feldern bei Wind und Wetter würde einem Bauern ein solches Missgeschick beim Bremsen nicht passieren. Selbst wenn er einen Schluck zu viel getrunken hatte. Diese Bremse musste irgendwann einmal ins Leere gehen. Der Kirchmattbauer hatte den ungünstigsten Moment erwischt. Er hatte keine Chance. Der Unfall des alten Winterhalter war absichtlich herbeigeführt worden.

Im Laden war den ganzen Vormittag über viel los. Dabei kam bei der Hitze kaum einer seiner Stammkunden vorbei, wenn er von dem alten Steiert absah, der seit Jahren jeden Tag bei ihm erschien und eine Flasche Wein kaufte. Dafür fanden erfreulich viele Stadtbesucher den Weg in seinen Laden. Ein neuer Kunde bedeutete für Kaltenbach jedes Mal eine besondere Herausforderung. Er hätte es sich leicht machen können, besonders bei Touristen, die bei den Weinen gerade eben weiß und rot unterschieden, oder als Geschmacksrichtung »nicht so sauer« angaben. Er kannte manche Weinhandlung, die den Ahnungslosen gerne besonders teure Abfüllungen anpriesen, wohl wissend, dass sie die Unterschiede kaum schmecken würden und mit ziemlicher Sicherheit nie wiederkommen würden, schon gar nicht, um sich zu beschweren.

Kaltenbach war zu sehr selbst Weinliebhaber, als dass er diese Art Kundenservice auch nur in Erwägung zog. Er nahm sich für jeden Einzelnen Zeit und versuchte, mit ein paar gezielten Fragen dem Geschmack und der Vorliebe seines Gegenüber nachzuspüren. Wenn er dann am Ende des Verkaufsgespräches eine besondere Empfehlung aus seinem Sortiment abgab, fühlten sich die meisten Kunden als die sprichwörtlichen Könige. Auf diese Weise hatte er im Laufe der Jahre eine ganze Reihe von saisonalen Stammkunden bekommen, die bei einem Urlaub regelmäßig bei ihm vorbeikamen oder sich ihre Lieblingssorte zuschicken ließen.

Natürlich hatte auch Frau Kölblin wie angekündigt hereingeschaut. Als sie aber merkte, dass sie keine Neuigkeiten erfahren würde, war sie rasch wieder verschwunden. Kaltenbach hatte sich ganz auf das beschränkt, was sowieso in der Zeitung stand, und von seinem Verdacht kein Wort gesagt. Zumal er sich die ganze Sache zuerst noch einmal in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen wollte. Er konnte sich nicht erlauben, als Urheber von Gerüchten ausgemacht zu werden, die sich am Ende als unwahr erwiesen.

In der Mittagspause flüchtete Kaltenbach vor der Hitze in den Stadtpark. Er hatte Glück, der Platz auf seiner Lieblingsbank war noch frei. Die Glyzinien im Spalier über ihm waren längst verblüht, doch das dichte Laub hielt die Sonne einigermaßen ab. Ein träges Rinnsal plätscherte aus einem dünnen Brunnenrohr neben ihm in ein steinernes Becken und vermittelte zumindest die Illusion von Erfrischung.