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Ian Kershaw

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Beschreibung

In seinem Bestseller »Höllensturz« erzählt Ian Kershaw meisterhaft die dramatische Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Das europäische zwanzigste Jahrhundert war geprägt von kriegerischen Auseinandersetzungen. Europa erlebte gewaltige Turbulenzen, die Hölle zweier Weltkriege in der ersten Jahrhunderthälfte und tiefgreifende Veränderungen.

Der britische Historiker Ian Kershaw erzählt in einem meisterhaften Panorama die Geschichte dieses Kontinents vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis in die Zeit des beginnenden Kalten Kriegs Ende der vierziger Jahre, nachdem die europäische Zivilisation an den Rand der Selbstzerstörung gelangt war. Ethnische Auseinandersetzungen, aggressiver Nationalismus und Gebietsstreitigkeiten, Klassenkonflikte und die tiefe Krise des Kapitalismus waren die treibenden Kräfte, die Kershaw dabei besonders in den Blick nimmt. Neben den großen Entwicklungslinien in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft schildert er auch immer wieder Erlebnisse und Erfahrungen einzelner, die einen Eindruck geben vom Leben im Europa der ersten Jahrhunderthälfte.

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Ian Kershaw

HÖLLENSTURZ

Europa 1914 bis 1949

Aus dem Englischen von Klaus Binder, Bernd Leineweber und Britta Schröder

Deutsche Verlags-Anstalt

Zum Buch

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stürzt sich Europa in eine selbstverschuldete Katastrophe, die historisch ohne Beispiel ist. Über drei Jahrzehnte hinweg, von 1914 bis 1949, prägten Kriege, Völkermorde, Vertreibungen und politische Unruhen die Geschichte des Kontinents. Ian Kershaw gelingt ein Glanzstück der modernen Geschichtsschreibung in seiner Schilderung dieser gleichermaßen faszinierenden wie beklemmenden Ära, in der Europa sich beinahe selbst zerstört hätte. Meisterlich denkt er die wichtigsten Entwicklungen in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur der europäischen Länder zusammen und führt uns die Auswirkungen des tiefgreifenden Wandels auf das Leben von Millionen von Menschen vor Augen.

»Meisterhaft ... Die Geschichte des zweiten Dreißigjährigen Kriegs in Europa ist nie besser erzählt worden.« Christopher Clark

Zum Autor

Ian Kershaw, geboren 1943, war bis zu seiner Emeritierung Professor für Modern History an der University of Sheffield und zählt zu den bedeutendsten Historikern der Gegenwart. Seine zweibändige Biographie Adolf Hitlers gilt als Meisterwerk der modernen Geschichtsschreibung. Bei DVA erschien zuletzt 2011 Das Ende, eine bahnbrechende Analyse des Untergangs des »Dritten Reiches«.

INHALT

VORWORT

EINFÜHRUNG

Europas Epoche der Selbstzerstörung

EINS

Am Abgrund

ZWEI

Die große Katastrophe

DREI

Turbulenter Friede

VIER

Tanz auf dem Vulkan

FÜNF

Düstere Wolken am Horizont

SECHS

Gefahrenzone

SIEBEN

Der Hölle entgegen

ACHT

Hölle auf Erden

NEUN

Lautlose Übergänge in dunklen Jahrzehnten

ZEHN

Aufstieg aus der Asche

DANK

KARTEN

Europa 1914

Europa 1949

Europa: Territoriale Veränderungen infolge des Ersten Weltkriegs

Europa unter der Herrschaft der NS-Diktatur

Europa: Territoriale Veränderungen infolge des Zweiten Weltkriegs

AUSGEWÄHLTE BIBLIOGRAPHIE

SACH- UND PERSONENREGISTER

BILDTEIL

Impressum

VORWORT

Dies ist der erste von zwei Bänden über die Geschichte Europas von 1914 bis in unsere Tage – und das wohl mit Abstand schwierigste Buch, an das ich mich je gewagt habe. Jedes meiner bisherigen Bücher war in gewisser Weise ein Versuch, mir selbst Klarheit über ein bestimmtes Problem der Vergangenheit zu verschaffen. In diesem Fall birgt das Thema – die jüngste Vergangenheit – jedoch eine Vielzahl äußerst komplexer Probleme. Aber ungeachtet aller Schwierigkeiten war die Verlockung unwiderstehlich, zu versuchen diejenigen Kräfte besser zu verstehen, die in der jüngeren Vergangenheit unsere heutige Welt geformt haben.

Natürlich gibt es nicht einen einzigen Weg, eine Geschichte Europas im 20. Jahrhundert anzugehen. Einige ausgezeichnete Darstellungen mit unterschiedlichen Interpretationen und unterschiedlichem Aufbau liegen bereits vor: darunter, jeweils mit einem eigenen Blick auf das Jahrhundert, die Arbeiten von Eric Hobsbawm, Mark ­Mazower, Richard Vinen, Harold James, Bernard Wasserstein und Heinrich August Winkler. Der vorliegende Band und der noch folgende sind, anders kann es gar nicht sein, ein persönlicher Zugang zu diesem so bedeutungsschweren Jahrhundert. Und wie jeder Versuch, ein breites Panorama über einen längeren Zeitraum hinweg zu erfassen, muss sich auch dieser auf Pionierarbeiten anderer Forscher stützen.

Natürlich bin ich mir dessen bewusst, dass für so gut wie jeden Satz, den ich geschrieben habe, Fachuntersuchungen in Fülle, oft von hoher Qualität, zur Verfügung stehen. Nur für einige Teilgebiete, vor allem zu Deutschland zwischen 1918 und 1945, kann ich in Anspruch nehmen, selbst Grundlagenforschung betrieben zu haben. Ansonsten war ich auf vielen unterschiedlichen Gebieten von den exzellenten Arbeiten anderer Forscher abhängig. Selbst wenn meine Sprachkenntnisse weiter reichten, wäre dies unvermeidlich gewesen. Kein einzelner Forscher wäre in der Lage, in ganz Europa Archivarbeit zu betreiben; ein Versuch, der zudem sinnlos wäre, schließlich wurde diese Arbeit von Experten für einzelne Länder oder bestimmte historische Themen bereits ausnahmslos getan. Ein Überblick, wie ich ihn mit diesem Buch biete, wird stets auf den ungezählten Leistungen anderer beruhen.

Im Format der Reihe Penguin History of Europe sind Anmerkungen generell nicht vorgesehen, so bleiben die vielen Werke historischer Forschung, auf die ich angewiesen war, an Ort und Stelle ungenannt: Monographien, Editionen zeitgenössischer Dokumente, statistische Untersuchungen, Spezialstudien zu einzelnen Ländern. Die Bibliographie lässt gleichwohl das Wichtigste dessen erkennen, was ich anderen Forschern zu verdanken habe. Sie werden mir, so hoffe ich, nachsehen, dass ich ihre Arbeiten nicht durch Fußnoten nachweisen konnte, und zugleich meine tiefe Anerkennung ihrer großen Leistungen annehmen. Eigenständig sind an diesem Buch darum allein Aufbau und Interpretation – die Art und Weise, wie die Geschichte geschrieben ist, und die zugrunde liegende Argumentation.

Die Einleitung »Europas Epoche der Selbstzerstörung« skizziert den interpretativen Rahmen dieses Bandes und deutet zugleich an, wie der zweite (noch zu schreibende) Band angelegt sein wird. Zum Aufbau des Ganzen nur so viel: Ich habe die folgenden Kapitel chronologisch angeordnet und in thematische Unterabschnitte gegliedert. Das spiegelt die Absicht dieses Buches: Ich wollte genau verfolgen, wie sich das Drama entwickelte und was die Ereignisse bestimmte, indem ich mich auf recht kurze Zeitabschnitte konzentriere und innerhalb dieser Zeitabschnitte zwangsläufig die prägenden Kräfte getrennt behandle. Darum gibt es keine Kapitel, die sich eigens mit Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Ideologie oder Politik befassen; diese Themen finden, wenn auch nicht immer mit derselben Gewichtung, ihren Ort innerhalb der einzelnen Kapitel.

Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, der Gegenstand dieses Bandes, war bestimmt von Krieg. Daraus entspringen ganz eigene ­Fragen. Wie lassen sich die gewaltigen und bedeutungsschweren Themen­komplexe des Ersten und Zweiten Weltkriegs überhaupt im Rahmen eines so weitgespannten Bandes wie diesem behandeln? Zu beiden Konflikten gibt es ganze Bibliotheken. Doch wollen Leser verständlicherweise nicht einfach nur auf andere Werke verwiesen werden (obwohl sie natürlich jedes Thema dieses Bandes in solchen Werken weiterverfolgen können). Darum hielt ich es für sinnvoll, die ­Kapitel, die den beiden Weltkriegen gewidmet sind, durch äußerst knappe Zusammenfassungen des jeweiligen Frontgeschehens einzuleiten. Das dient vor allem der Orientierung. In kürzest möglicher Form sollen das Ausmaß der Katastrophen und deren unermesslichen Folgen sichtbar werden. Wie entscheidend diese Ereignisse waren, ist trotz der verknappten Darstellung offensichtlich. In anderen Fällen überlegte ich ebenfalls, ob ich davon ausgehen dürfe, dass alle Leser beispielsweise mit dem Aufstieg des Faschismus in Italien oder mit dem Verlauf des Spanischen Bürgerkriegs vertraut sind, und kam zu dem Schluss, dass auch hier kurze Zusammenfassungen von Nutzen sein könnten.

Durchweg war ich darauf bedacht, persönliche zeitgenössische Erfahrungen in die Darstellung einfließen zu lassen, um wenigstens anzudeuten, wie es war, in dieser Epoche zu leben, die uns zeitlich so nah ist und zugleich so grundverschieden vom heutigen Europa. Natürlich bleiben solche Erfahrungen persönlich und sind nicht statistisch repräsentativ. Aber sie geben Hinweise – spiegeln verbreitete Haltungen und Mentalitäten. In jedem Fall gewinnt man durch die Einbeziehung persönlicher Erfahrungen lebendige Momentaufnahmen, die im Gegensatz zu Abstraktionen und unpersönlichen Analysen spüren lassen, wie Menschen auf die mächtigen Kräfte reagierten, die ihre Leben durchschüttelten.

Selbstverständlich kann eine Geschichte Europas nicht die Summe nationaler Geschichten sein. Vielmehr geht es um die treibenden Kräfte, die den Kontinent als Ganzen oder zumindest die meisten seiner konstitutiven Teile geformt haben. Eine allgemeine Darstellung muss selbstverständlich eher die Perspektive eines Vogels als die eines Wurms bieten. Sie muss verallgemeinern, kann sich nicht auf Einzelheiten konzentrieren, allerdings werden einzelne Entwicklungen auch nur durch ein Weitwinkelobjektiv sichtbar. Ich habe mich bemüht, kein Gebiet Europas zu vernachlässigen und häufig die besonders tragische Geschichte der Osthälfte des Kontinents hervorzuheben. Einige Länder aber spielten unvermeidlich eine größere (oder unheilvollere) Rolle als andere, verlangen insofern auch mehr Aufmerksamkeit. In diesem wie auch im folgenden Band wird Russland (die spätere Sowjet­union) als Teil Europas behandelt; ein für die Geschichte Europas derart entscheidender Spieler kann unmöglich unberücksichtigt bleiben, selbst wenn geographisch gesehen weite Teile des russischen, dann sowjetischen Imperiums außerhalb Europas liegen. Aus ähnlichen Gründen wird auch die Türkei dort einbezogen, wo sie maßgeblich in europäische Angelegenheiten verwickelt war, was aber nach Auflösung des Osmanischen Reiches und Gründung des türkischen Nationalstaats 1923 schlagartig nachließ.

Dieser Band beginnt mit einem kurzen Überblick über das Europa am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Die nächsten Kapitel verfolgen sodann dessen Verlauf und die unmittelbare Nachkriegszeit, die kurzlebige Erholung Mitte der 1920er Jahre, die verheerenden Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise (im angelsächsischen Sprachraum Große Depression genannt), die heraufziehende Gefahr eines weiteren Weltkriegs, die tatsächliche Entfachung dieses zweiten Weltenbrands innerhalb einer Generation, zuletzt den verheerenden Zusammenbruch der Zivilisation, den dieser Zweite Weltkrieg verursachte. An diesem Punkt unterbreche ich die chronologische Folge durch ein strukturgeschichtliches Kapitel (Kapitel neun), das sich langfristigen Entwicklungen und strukturellen Fragen widmet, die über die knappen zeitlichen Grenzen der vorangehenden Kapitel hinausgreifen – der demographische und sozioökonomische Wandel, die Stellung der christlichen Kirchen, die Haltung der Intellektuellen und das Wachstum der Unterhaltungsindustrie. Das Schlusskapitel nimmt den chronologischen Faden wieder auf.

Eigentlich wollte ich ursprünglich diesen ersten Band mit dem tatsächlichen Ende der Kämpfe des Zweiten Weltkriegs beschließen. Doch obgleich die offenen Feindseligkeiten in Europa im Mai 1945 endeten (der Krieg gegen Japan dauerte noch bis in den August), war der schicksalhafte Verlauf der Jahre 1945 bis 1949 so offensichtlich von diesem Krieg und den Reaktionen darauf bestimmt, dass ich es für gerechtfertigt hielt, über den Moment hinauszublicken, an dem offiziell der Frieden auf den Kontinent zurückkehrte. 1945 waren die Umrisse eines neuen, eines Nachkriegseuropas noch kaum sichtbar; erst allmählich zeichneten sie sich ab. Darum erschien es mir angemessen, ein Schlusskapitel anzufügen, das sich mit der unmittelbaren Nachkriegszeit beschäftigt, die nicht nur eine Periode fortgesetzter Gewalt war, sondern auch dem geteilten Europa, das bis 1949 entstand, seine Gestalt gab. Darum endet der erste Band mit diesem Jahr und nicht mit 1945.

Fußballkommentatoren greifen, wenn mit der Halbzeitpause ein erstaunlicher Wechsel des Spielglücks eingetreten ist, gerne zu einem ihrer Lieblingsklischees: »Es ist ein Spiel mit zwei Hälften.« Es ist sehr verlockend, sich auch Europas 20. Jahrhundert als ein Jahrhundert mit zwei Halbzeiten vorzustellen, vielleicht sogar als eines mit einer »Verlängerung«, die 1990 begann. Dieser Band beschäftigt sich nur mit der ersten Hälfte eines außerordentlichen und dramatischen Jahrhunderts, mit der Epoche, in der Europa zwei Weltkriege führte, die Grundfesten der Zivilisation bedrohte und wild entschlossen schien, sich selbst zu zerstören.

Ian Kershaw

Manchester, im November 2014

EINFÜHRUNG

EUROPAS EPOCHE DER SELBSTZERSTÖRUNG

Die Kriege von Völkern werden schrecklicher sein als die der Könige.

Winston Churchill (1901)

Europas 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert des Krieges. Zwei Weltkriege und daran anschließend über 40 Jahre »Kalter Krieg« – der seinerseits die unmittelbare Folge des Zweiten Weltkriegs war – prägten die Epoche. Eine außerordentlich dramatische, tragische, zugleich aber auch unendlich faszinierende Zeit. Ihre Geschichte ist die eines gewaltigen Umbruchs und eines erstaunlichen Wandels. Europa stieg im 20. Jahrhundert einmal in die Hölle hinab und kam wieder da­raus hervor. Der Kontinent, der sich seit dem Ende der Napoleonischen Kriege 1815 für fast einhundert Jahren gerühmt hatte, der Gipfel der Zivilisation zu sein, stürzte zwischen 1914 und 1945 in einen Abgrund der Barbarei. Auf diese verheerend selbstzerstörerische Zeit aber folgte eine Periode bis dahin unvorstellbarer Stabilität und Pros­perität – allerdings um den hohen Preis einer unüberbrückbaren politischen Teilung. Anschließend durchlebte ein wiedervereinigtes Europa, das sich großem inneren Druck durch die zunehmende Globalisierung und ernsten außenpolitischen Herausforderungen ausgesetzt sah, zunehmende Spannungen – und zwar schon bevor die Weltfinanzkrise von 2008 den Kontinent in eine neue, bis heute ungelöste Krise stürzte.

Die Zeit nach 1950 wird ein zweiter Band beleuchten; der hier vorliegende betrachtet, wie sich Europa in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, während der Zeit der beiden Weltkriege, um ein Haar selbst vernichtet hätte. Er verfolgt, wie die gefährlichen Kräfte, die aus dem Ersten Weltkrieg erwuchsen, in jenen kaum vorstellbaren Abgrund von Unmenschlichkeit und Zerstörung führten, der sich während des Zweiten Weltkriegs auftat. Diese Katastrophe macht zusammen mit einem Völkermord von bis dahin beispiellosem Ausmaß, von dem der militärische Konflikt nicht zu trennen ist, den Zweiten Weltkrieg zum Epizentrum und zum bestimmenden Ereignis von Europas wechselvoller Geschichte im 20. Jahrhundert.

Die folgenden Kapitel loten die Ursachen dieser unermesslichen Katastrophe aus. Sie verorten sie in vier in jenen Jahrzehnten auf beispiellose Weise ineinandergreifenden Hauptelementen einer alles erfassenden Krise. Das sind

1) die explosionsartige Ausbreitung eines ethnisch-rassistischen Nationalismus;

2) erbitterte und unversöhnliche territoriale Revisionsforderungen;

3) ein akuter Klassenkonflikt, der mit der bolschewistischen Revolution in Russland einen konkreten Schwerpunkt erhielt; und

4) eine langanhaltende Krise des Kapitalismus (die viele Beobachter für letal hielten).

Der Triumph des Bolschewismus war nach 1917 ein entscheidendes neues Element. Das gleiche gilt für die nahezu konstante Krise des Kapitalismus, die sich lediglich Mitte der 1920er Jahre kurzzeitig entschärfte. Die anderen Elemente waren schon vor 1914 präsent gewesen, wenn auch weit weniger akut. Keines dieser Elemente war ein Hauptauslöser des Ersten Weltkriegs; die neue Virulenz eines jeden von ihnen war ein wesentliches Resultat dieses Krieges. Ihr letales Zusammenwirken führte nun in eine Periode ungeheurer Gewalt, und diese zu einem zweiten Weltkrieg, der weitaus zerstörerischer war als der erste. Von der Verkettung dieser vier Faktoren am stärksten betroffen waren Mittel-, Ost- und Südosteuropa, großenteils die ärmsten Regionen des Kontinents. Westeuropa erging es besser (mit einer bedeutsamen Ausnahme, nämlich Spanien).

Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich überlebten den Ersten Weltkrieg nicht; ihr Auseinanderbrechen und die ungeheuer gewaltsamen Wirren des russischen Bürgerkriegs, der unmittelbar auf die Oktoberrevolution folgte, setzten neue Kräfte eines extremen Nationalismus frei, der nationale Zugehörigkeit in der Regel ethnisch definierte. Nationalistische und ethnische Konflikte waren vor allem in der ärmeren Osthälfte des Kontinents verbreitet – gerade dort, wo ethnisch gemischte Gemeinschaften seit langem gelebt hatten. Aus Missgunst und sozialem Elend machte der nationalistische Hass oft vor allem die Juden zu Sündenböcken. Es lebten mehr Juden in Mittel- und Ost­europa als in Westeuropa, sie waren dort zumeist weniger gut integriert, gehörten niedrigeren sozialen Klassen an als ihre Glaubensgenossen in den westeuropäischen Ländern. Diese mittel- und osteuropäischen Regionen waren, weit mehr als Deutschland, die traditionellen Kerngebiete eines gewalttätigen Antisemitismus. Da Westeuropa insgesamt ethnisch homogener war und sich die Nationalstaaten dort über lange historische Zeiträume entwickelt hatten, blieben Spannungen dort zwar nicht vollständig aus, fielen jedoch weniger heftig aus als im Osten.

Zudem befanden sich die Siegermächte und die meisten neutralen Länder des Ersten Weltkriegs in Westeuropa. Verletztes nationales Ansehen und die Konkurrenz um materielle Ressourcen – der Nährboden für aggressiven ethnischen Nationalismus – spielten weiter östlich eine sehr viel größere Rolle. In der Mitte des Kontinents gelegen, mit Grenzen von Frankreich und der Schweiz im Westen bis nach Polen und Litauen im Osten, war Deutschland das bedeutendste der Verliererländer und der Schlüssel zu Europas künftigem Frieden. Doch herrschte unter den Deutschen tiefe Verbitterung über die Behandlung durch die alliierten Siegermächte und sie unterdrückten ihre revisionistischen Ambitionen nur zeitweilig. Weiter im Süden und nach Osten hin entstanden aus den Trümmern des Österreichisch-Un­garischen, des Russischen und des Osmanischen Reiches neue Nationalstaaten, oftmals unter den denkbar schlechtesten Bedingungen ­zusammengeschustert. Kaum verwunderlich, dass der nationalistische und ethnische Hass, der die Politik vergiftete, diese Regionen zu den Hauptschlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs machen sollte.

Die territoriale Aufteilung Europas, die nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte, schürte die nationalistischen Konflikte und ethnischen Spannungen massiv. Mochten ihre Absichten auch gut gewesen sein, so sahen sich die Verfasser der Verträge von Versailles, St. Germain und Trianon von 1919/20 doch unlösbaren Problemen gegenüber, als sie versuchten, die territorialen Ansprüche der aus den Trümmern der alten Großreiche entstandenen, neuen Länder zu befriedigen. Ethnische Minderheiten bildeten einen beträchtlichen Bevölkerungsteil der meisten neuen Staaten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa – eine potenzielle Grundlage für schwere politische Unruhen. Fast alle neugezogenen Grenzen blieben umstritten, ungeklärt auch die Ansprüche der ethnischen Minderheiten, die gewöhnlich der Diskriminierung durch die jeweilige Mehrheitsbevölkerung ausgesetzt waren. Die in den Verträgen festgelegten Grenzverschiebungen sorgten zudem in den Ländern, die sich ungerecht behandelt fühlten, für gefährlich brodelnden Unmut. Das galt auch für Italien, obwohl es dort keine ethnischen Konflikte gab (einmal abgesehen von der überwiegend deutschsprachigen Bevölkerung Südtirols, das Italien nach Kriegsende annektiert hatte). Doch die italienischen Nationalisten und Faschisten konnten die Gefühle vieler Landsleute ausnutzen, die es ungerecht fanden, dass ihrem Land, das im Ersten Weltkrieg doch aufseiten der Siegermächte gestanden hatte, Gebiete verweigert wurden, die es sich hatte einverleiben wollen und die stattdessen Jugoslawien zugeschlagen wurden. In Deutschland (wo es nach den Gebietsverlusten am Ende des Ersten Weltkriegs ebenfalls keine ethnischen Gegensätze gab) saß der Zorn über die territorialen Verstümmelungen tief; er befeuerte zunächst die Forderungen, den Versailler Vertrag zu revidieren, und mündete später, weitaus gefährlicher für Europas dauerhaften Frieden, in die Unterstützung des Nationalsozialismus. Die gleichen Ressentiments steigerten den Unmut auch jener Deutschen, die als Minderheiten außerhalb der Reichsgrenzen lebten, in Polen, der Tschechoslowakei und anderswo.

Der schrille Nationalismus, der nach dem Ersten Weltkrieg aufkam, gewann an Dynamik nicht nur durch ethnische Rivalitäten, sondern auch durch Klassenkonflikte. Denn das Gefühl nationaler Einheit ließ sich aufs Äußerste steigern, wenn der Fokus auf vermeintliche »Klassenfeinde« inner- und außerhalb des Nationalstaats gelenkt wurde. Der enorme wirtschaftliche Aufruhr der Nachkriegszeit und danach die fatalen Folgen der Wirtschaftskrise in den 1930er Jahren führten europaweit zu einer großen Verschärfung der Klassengegensätze. Klassenkämpfe hatten, oft gewaltsam ausgetragen, natürlich das gesamte Industriezeitalter durchzogen, verglichen mit den Vorkriegsjahren aber gewannen diese Konflikte deutlich an Brisanz. Immerhin gab es nach der Russischen Revolution und mit Gründung der Sowjetunion ein alternatives Gesellschaftsmodell, eines, das den Kapitalismus zu Fall gebracht und eine »Diktatur des Proletariats« errichtet hatte. Beseitigung der Kapitalistenklasse, Enteignung der Produktionsmittel durch den Staat sowie massive Umverteilung des Grundbesitzes: das war ein Programm, das für weite Teile der verarmten Massen nach 1917 Attraktivität besaß. Aber die Präsenz des Sowjetkommunismus spaltete die Linke auch, schwächte sie auf fatale Weise, und stärkte dagegen die extrem nationalistischen Kräfte der Rechten ungemein. Wiedererstarkende Teile der Rechten konnten die Energien und die Gewaltbereitschaft all jener, die sich vom Bolschewismus bedroht fühlten – die alten begüterten Eliten, der Mittelstand, die Land besitzende Bauernschaft –, in neue hochaggressive politische Bewegungen lenken.

Nicht anders als die revolutionäre Linke nutzte auch die Konter­revolution die Verbitterung und die Ängste, die aus dem Klassenkonflikt resultierten. Am attraktivsten wirkten konterrevolutionäre Bewegungen dort, wo es ihnen gelang, extremen Nationalismus mit aggressivem Antibolschewismus zu verbinden. Wiederum waren die Länder Mittel- und Osteuropas davon am stärksten betroffen, denn dort empfand man die »bolschewistische Gefahr« als hoch. Zur international größten Gefahr wurde diese Entwicklung jedoch dort, wo die Verquickung von extremem Nationalismus mit einem geradezu paranoiden Hass auf den Bolschewismus rechte Massenbewegungen aufkommen ließ, Bewegungen, denen es in Italien, später auch in Deutschland gelang, die Macht im Staat zu ergreifen. Wenn nun die hasserfüllten nationalistischen und antibolschewistischen Energien, die der extremen Rechten zur Macht verholfen hatten, in eine nach außen gerichtete Aggression gelenkt werden konnten, geriet Europas Frieden in große Gefahr.

Das vierte Element, mit den drei anderen Elementen verwoben und diese verstärkend, war die in der Zwischenkriegszeit anhaltende Krise des Kapitalismus. Die nachhaltige Störung der Weltwirtschaft, die der Erste Weltkrieg verursacht hatte, die gravierende Schwäche der wichtigsten europäischen Volkswirtschaften, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, schließlich die mangelnde Bereitschaft der Vereinigten Staaten, sich mit ihrer überlegenen Wirtschaftsmacht voll an Europas Wiederaufbau zu beteiligen – all das mündete in ein Desaster. Zusätzlich verschärft wurden Europas Probleme von den weltweiten Nachwirkungen des Krieges. Auf Kosten Europas baute Japan seine Märkte im Fernen Osten weiter aus, nicht zuletzt im von innenpolitischen Wirren geschüttelten China. Das Britische Empire stand vor wachsenden politischen und ökonomischen Problemen, am offensichtlichsten in Indien, wo das Wachstum einer einheimischen Textilindustrie und der damit einhergehende Verlust von Exportmärkten Großbritanniens wirtschaftliche Nöte noch verschärften. Die russische Wirtschaft indessen schied, infolge von Revolution und Bürgerkrieg, praktisch ganz aus der Weltwirtschaft aus. Die Krise des Kapitalismus war global, den größten Schaden allerdings richtete sie in Europa an.

Die Inflationskrise der frühen 1920er und die Deflationskrise der 1930er Jahre rahmen einen viel zu kurzen Aufschwung ein; er war, wie sich erwies, auf Sand gebaut. Dagegen erzeugten die beiden Phasen gewaltiger wirtschaftlicher und sozialer Verwerfungen, die rasch aufeinander folgten, ein Klima, in dem nicht nur reale Verarmung, sondern auch die Furcht davor den politisch extremen Gruppen massiven Zulauf verschafften.

Die wirtschaftlichen Turbulenzen allein jedoch reichten nicht aus, um große politische Umwälzungen herbeizuführen. Eine Legitimationskrise des Staates musste hinzukommen, geschürt durch eine bereits bestehende ideologische Spaltung und tiefe kulturelle Gräben, die die geschwächten Machteliten neuem Druck der mobilisierten Massen aussetzten. Exakt diese Bedingungen waren jedoch in vielen Teilen Europas gegeben, insbesondere dort, wo ein extremer integraler Nationalismus, der vom verbreiteten Gefühl, nationales Prestige verloren zu haben, und von enttäuschten Großmachtaspirationen gespeist wurde, eine starke Bewegung hervorbringen konnte. Diese wiederum zehrte von der ideologisch überhöhten Stärke teuflischer Feinde, denen man sich gegenüber wähnte, und eine solche Bewegung konnte in einem Staat mit schwacher Autorität durchaus nach der Macht greifen.

Diese vier Hauptelemente also mussten ineinandergreifen, um die umfassende politische, sozioökonomische und ideologisch-kulturelle Krise auszulösen, die Europa bis an den Rand der Selbstzerstörung trieb. Zu diesem Zusammenspiel der Krisenfaktoren kam es, in unterschiedlichem Maße, in den meisten Ländern Europas, auch in Westeuropa. Besonders in einem Land aber waren alle vier Komponenten in ihrer extremsten Ausprägung wirksam und verstärkten einander zu explosiver Wirkung – in Deutschland. Als es Adolf Hitler – der es meisterlich verstand, die allgemeine Krise auszunutzen, und der sie mit dem Einsatz von Gewalt überwinden wollte – gelang, seine diktatorische Herrschaft über den deutschen Staat zu zementieren, war es nicht mehr weit zu einer allgemeinen Katastrophe in Europa. Das militärische und wirtschaftliche Potenzial Deutschlands war (trotz seiner zeitweiligen Schwächung nach dem Ersten Weltkrieg) groß, seine revisionistischen Forderungen und expansionistischen Ambitionen hatten unmittelbare Folgen für die territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit vieler anderer Länder, und so stieg die Wahrscheinlichkeit zusehends, dass Europas Krise in einem neuen katastrophalen Krieg enden würde. Dass sich die Krise in Mittel- und Osteuropa, den instabilsten Teilen des Kontinents, zuspitzte, kann dabei ebenso wenig verwundern wie der Umstand, dass die Länder im Osten nach Ausbruch des Krieges zum Schauplatz der größten Zerstörungen und grotesker Unmenschlichkeit wurden.

Die Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs erreichten ungekannte Dimensionen. Dieser schwere Zivilisationsbruch hatte moralische Folgen, und sie sollten für den Rest des Jahrhunderts und darüber hi­naus spürbar bleiben. Und dennoch: Ausgerechnet dieser zweite Krieg ebnete – im völligen Gegensatz zum Chaos, das der erste ver­ursacht hatte – Europa den Weg zu seiner Wiedergeburt in der zweiten Jahrhunderthälfte. Hatte der Erste Weltkrieg verschärfte ethnische Spannungen, Grenzkonflikte, Klassenkonflikte sowie eine tiefe, anhaltende Krise des Kapitalismus hinterlassen, so schwemmte der Zweite Weltkrieg diese Verkettung von Krisenfaktoren im Strudel der Zerstörung fort. Die Sowjetherrschaft über Osteuropa unterdrückte die inneren ethnischen Gegensätze und Unruhen gewaltsam. Die direkt nach Kriegsende in großem Stil durchgeführten ethnischen Säuberungen veränderten die Landkarte Mittel- und Osteuropas. Deutschlands Träume von der Herrschaft über ganz Europa zerstoben in seiner totalen Niederlage, Verwüstung und Teilung. In Westeuropa regte sich neue Bereitschaft, nationalistische Feindseligkeiten zugunsten von Kooperation und Integration zu entschärfen. Grenzen wurden nun durch die Präsenz der neuen Supermächte festgelegt. Der ältere Antibolschewismus, von dem die extreme Rechte hatte zehren können, wurde in westeuropäische Staatsideologien umgewandelt und förderte so eine stabile konservative Politik. Und nicht zuletzt brachte der (diesmal unter Federführung der Vereinigten Staaten) reformierte Kapitalismus der Westhälfte Europas unglaublichen Wohlstand und mit diesem die Grundlage politischer Stabilität. All diese fundamentalen Veränderungen tilgten, nach 1945 ineinandergreifend, die Matrix der Krisenelemente, die den Kontinent in der Zeit der beiden Weltkriege beinahe zerstört hatten.

Der Zweite Weltkrieg, und das ist entscheidend, zerbrach das System konkurrierender europäischer Großmächte ein für alle Mal; er beendete deren Ringen um die Herrschaft über den Kontinent – ein System, das über die Ära Bismarck hinweg bis 1815 zurückreichte, bis zum Ende der napoleonischen Zeit. Im wiedergeborenen, wiewohl ideologisch und politisch zerrissenen Europa gab es nurmehr zwei Großmächte: die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion, die einander über den Eisernen Vorhang hinweg belauerten und darüber wachten, dass beim Wiederaufbau Europas Staaten und Gesellschaften nach ihrem eigenen Bilde entstanden. Und noch ein weiterer entscheidender Faktor wurde wirksam: Sobald beide Supermächte über Atombomben verfügten, das war ab 1949 der Fall, und vier Jahre später dazu über Wasserstoffbomben von noch entsetz­licherer Zerstörungskraft, beschwor das Schreckgespenst eines Atomkriegs ein Ausmaß an Zerstörung herauf, das die Verheerungen beider Weltkriege weit in den Schatten gestellt hätte. Daran musste das Denken sich ausrichten, das trug zur Schaffung dessen bei, was 1945 noch höchst unwahrscheinlich erschien: eine Ära des Friedens in Europa.

Wie sich diese Elemente ineinander verwoben und Europa verändert haben, den Osten wie den Westen, wird im nächsten Band zu erörtern sein. Was in diesem Band folgt, ist ein Versuch zu verstehen, wie Europa während der ersten Hälfte dieses gewaltsamen, turbulenten Jahrhunderts in einem Abgrund versank und wie es danach innerhalb von nur vier Jahren, nachdem der Tiefpunkt von 1945 erreicht war, das Fundament für einen erstaunlichen Aufschwung zu legen begann – für ein neues Europa, das aus der Asche des alten hervorwachsen und den Weg antreten sollte, der herausführte aus der Hölle auf Erden.

EINS

AM ABGRUND

Wir nehmen den Pazifismus sehr ernst! Nur möchten wir unsere Artillerievorlage durchbringen.

General Stumm in: Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (1930 –42)

Bereits damals gab es Vorahnungen, dass der Absturz in einen Krieg eine Ära beenden könnte. Am bekanntesten ist diese ungute Vorahnung in der Formulierung des britischen Außenministers Sir Edward Grey am 3. August 1914: »Die Lampen gehen in ganz Europa aus; wir werden sie in unserem Leben nie wieder leuchten sehen.« Unheil schwante auch dem deutschen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg: »Ich sehe ein Fatum, größer als Menschenmacht, über der Lage Europas und über unserem Volke liegen«, rief er aus, als Ende Juli 1914 der Krieg bedrohlich näher rückte. Drei Jahre zuvor hatte der Sozialist August Bebel in einer Rede im Deutschen Reichstag, empörten Widerspruch und hitzige Gegenrede provozierend, deutlich gemacht, dass die Gefahr eines bevorstehenden Krieges in Europa wachse. Und ein solcher Krieg, erklärte er, werde den Kontinent in eine Katastrophe stürzen: »Die Götterdämmerung der bürgerlichen Welt ist im Anzuge.«

Der Krieg führte nicht, wie von Bebel angedeutet, zum Zusammenbruch des Kapitalismus, nicht zum Triumph des Sozialismus. Recht allerdings behielt er mit seiner Voraussage, dieser Krieg werde eine neue Ära einleiten. Der amerikanische Diplomat George Kennan beschrieb den Krieg später als »die Urkatastrophe«. Auch er hatte Recht. Der Krieg war eine Katastrophe. Und er war der Auftakt zu einer Epoche – dem »Dreißigjährigen Krieg« des 20. Jahrhunderts –, in der der europäische Kontinent nahe daran war, sich selbst zu zerstören.

Ein goldenes Zeitalter?

Das Bild einer glanzvollen Ära der Stabilität, Prosperität und des Friedens, tragisch hinweggefegt durch die Schrecken, die folgten, blieb nach dem Ersten Weltkrieg im Gedächtnis insbesondere der privilegierten Klassen. Als The Gilded Age, als »vergoldetes Zeitalter« haben die Amerikaner die Vorkriegsjahre im Rückblick beschrieben. Doch dieser Ausdruck gibt auch wieder, wie die Europäer über diese Ära zu denken begannen. So erinnerte sich die Pariser Bourgeoisie der Belle Époque, einer Zeit nämlich, in der die ganze Welt Frankreich um seine Kultur beneidete und Paris als das Zentrum der Zivilisation erschien. Und wenn die besitzenden Klassen in Berlin an die wilhelminische Ära dachten, dann war dies eine Zeit des Wohlstands und der Sicherheit, der nationalen Größe und eines Status, wie er dem erst unlängst geeinten Deutschland gebührte. Auch Wien schien am Gipfel seines kulturellen Glanzes, seiner geistigen Brillanz, seiner historischen imperialen Herrlichkeit angekommen zu sein. München, Prag, Budapest, St. Petersburg, Moskau, viele, überall auf dem Kontinent verstreuten Städte hatten Teil an der kulturellen Blüte. Neue, anspruchsvolle, provokative Formen des künstlerischen Ausdrucks erfassten in einer Explosion kühner Kreativität so gut wie alle Sparten der bildenden Kunst, der Literatur, der Musik und des Theaters.

In London galt Ökonomie mehr als Kultur. In der Hauptstadt eines weltumspannenden Empire sehnte sich nach dem Ersten Weltkrieg die Nachkriegsgeneration zurück in ein verflossenes »Goldenes Zeitalter«, in jene Zeit des kontinuierlichen Wirtschaftswachstums, des florierenden Handels, der stabilen Währungen. Aus der Nachkriegszeit stammt auch der berühmte Rückblick des großen britischen Ökonomen John Maynard Keynes: »Der Bewohner Londons konnte, seinen Morgentee im Bette trinkend, durch den Fernsprecher die verschiedenen Erzeugnisse der ganzen Erde in jeder beliebigen Menge bestellen und mit gutem Grund erwarten, dass man sie alsbald an seiner Tür ablieferte.« Da haben wir freilich die hochprivilegierte Perspektive eines wohlhabenden Mannes aus der oberen Mittelklasse, der in einer Stadt lebte, die damals Zentrum des Welthandels war. Kaum einer der Menschen, die in den osteuropäischen Schtetl lebten, in den verarmten Landstrichen Süditaliens, Spaniens, Griechenlands oder Serbiens, unter den städtischen Massen, die sich in den Elendsvierteln von Berlin, Wien, Paris, St. Petersburg und auch London drängten, keiner hätte sich derart idyllische Lebensverhältnisse auch nur vorstellen können. Und doch war das Bild eines »Goldenen Zeitalters« keine bloße Nachkriegserfindung.

Trotz Europas innerer Spaltung, trotz aller nationalistischen Rivalitäten partizipierten alle Länder am ungehinderten Waren- und Kapitalverkehr, der zur international vernetzten, kapitalistischen Weltwirtschaft gehörte. Die Stabilität, die das Wirtschaftswachstum ermöglichte, beruhte auf der Anerkennung des Goldstandards als einer Art Weltwährung, verankert in der Dominanz der Londoner City. Insofern besaß die Bank of England den Schlüssel zur Stabilität der Weltwirtschaft. Großbritanniens Einkünfte aus »unsichtbaren Leistungen« – Transport, Versicherung, Zinsen – und seine Exporte übertrafen die Importe bei weitem. Das Goldangebot, insbesondere aus Südafrika, war 1897/98 stark gestiegen. Die Bank of England aber baute weder übermäßige Goldreserven auf, was anderen Ländern geschadet hätte, noch verringerte sie diese. Die Volkswirtschaften der USA und Deutschlands waren dynamischer, das Wirtschaftswachstum höher als das in Großbritannien. Dass die Amerikaner die Weltwirtschaft irgendwann dominieren würden, erschien wahrscheinlich. Noch aber hatte Großbritannien den größten Anteil am Welthandel (auch wenn dieser schrumpfte), war zudem der mit Abstand größte Exporteur von Anlagekapital. Die Konkurrenz der Großmächte um die ökonomische Ausbeutung der Welt freilich belastete die Stabilität der internationalen kapitalistischen Wirtschaft zunehmend; bis 1914 aber blieb das System intakt, von dem Europa und vor allem dessen industrialisierte Regionen in den Jahrzehnten zuvor so sehr profitiert hatten. Kaum jemand zweifelte, dass es bei Stabilität, Prosperität und Wachstum bleiben werde.

Die große Weltausstellung im Jahr 1900 in Paris war darauf angelegt, eine blühende Zivilisation zu präsentieren und Europa als deren Zentrum. Sie sang ein einziges Loblied auf den Fortschritt. Zur Schau stand ein Zeitalter der neuen Technologien. Riesige Maschinen beeindruckten die Besucher durch Kraft und Geschwindigkeit. Buchstäblich geblendet wurden sie durch den Glanz des von 5000 Glühbirnen erleuchteten Palais de l’Électricité. 24 europäische Nationen, dazu noch afrikanische, asiatische und lateinamerikanische Länder sowie die Vereinigten Staaten, sie alle präsentierten ihre aufwendigen Pavillons, die im Lauf der nächsten sechs Monate von nicht weniger als 50 Millionen Menschen, oft mit ehrfürchtigem Staunen, besichtigt wurden. Osteuropa und insbesondere Russland mit allein neun Pavillons erfreuten sich einer starken Präsenz. Groß herausgestellt wurde die »zivilisierende Mission« Europas. Auf dem Höhepunkt des Imperialismus vermittelten die aufwendigen exotischen Darstellungen weit entfernter kolonialer Besitzungen einen überwältigenden Eindruck europäischer Weltherrschaft. Und alles in allem, so schien es, verspra­chen Handel, Wohlstand und Frieden die unbegrenzte Fortdauer dieser Herrschaft. Vor den Besuchern lag eine glänzende Zukunft.

Ihr Optimismus schien gerechtfertigt. Verglichen mit dem, was vorangegangen war – ganz zu schweigen von dem, was kommen würde –, war das 19. Jahrhundert friedlich gewesen. Einen allgemeinen, kontinentalen Krieg hatte Europa seit dem Ende der Ära Napoleons, seit 1815, nicht mehr erlebt. Weder der Krieg auf der fernen Krim (1853 –1856) noch die kurzen Kriege, die 1871 in der Vollendung der italienischen Einheit und der deutschen Einigung gipfelten, hatten den allgemeinen Frieden auf dem Kontinent gefährdet. Ein Jahrzehnt nach der großen Pariser Ausstellung veröffentlichte Norman Angell, ein britischer Autor, den internationalen Bestseller The Great Illusion (1913, das Buch erschien im gleichen Jahr auch auf Deutsch: Die falsche Rechnung. Was bringt der Krieg ein?) und verstieg sich darin sogar zur Behauptung, der moderne, aus Handel und einer global verflochtenen Ökonomie entspringende Reichtum mache einen Krieg sinnlos. Viele Menschen, nicht nur in Britannien, teilten seine Ansicht. Es war nur schwer vorstellbar, dass Wohlstand, Frieden und Stabilität nicht auf unbegrenzte Zeit fortdauern, sondern so bald und so rasch hinweggefegt werden könnten.

Doch hatte Europa auch noch ein anderes, weit weniger attraktives Gesicht. Auf dem ganzen Kontinent veränderte sich das soziale Gefüge schnell, wenngleich sehr uneinheitlich. Rasant und intensiv industrialisierte Regionen existierten neben weiten Landstrichen, in denen noch immer hauptsächlich und oft beinahe urzeitlich Landwirtschaft betrieben wurde. 1913 bestritten noch etwa vier Fünftel der arbeitenden Bevölkerung Serbiens, Bulgariens und Rumäniens ihren Lebensunterhalt durch Ackerbau und Viehzucht. Europaweit lag dieser Anteil bei über zwei Fünfteln, nur in Großbritannien war er auf etwas mehr als ein Zehntel gesunken. Und nur in Großbritannien, in Belgien und, erstaunlicher, in der Schweiz waren 1913 über zwei Fünftel der arbeitenden Bevölkerung in der Industrie beschäftigt; noch nicht einmal in Deutschland war man so weit. Die meisten Europäer lebten noch immer in Dörfern oder Kleinstädten. Auch wenn sich die Lebensverhältnisse weiter verbesserten, für die Mehrheit der Europäer blieben sie dürftig, ganz gleich, ob es sie mit der Masse der Arbeitssuchenden in die unhygienischen Verhältnisse rasch wachsender Städte wie Berlin, Wien oder St. Petersburg getrieben hatte oder ob sie sich weiterhin in einer prekären Existenz auf dem Land durchschlugen. Viele trafen ihre Wahl mit den Füßen, zogen davon, von Armut und Chancenlosigkeit aus ihrer Heimat vertrieben. Weit davon entfernt, in den Genuss von Wohlstand und Zivilisation zu gelangen, wollten Millionen Europäer so schnell wie möglich weg vom alten Kontinent. 1907 erreichte die Emigration in die Vereinigten Staaten ihren Höchststand: Über eine Million Europäer überquerten den Atlantik. Die große Welle nach der Jahrhundertwende – dreimal so hoch wie im Jahrzehnt zuvor – war die jener Menschen, die aus Österreich-Ungarn, Russland und vor allem aus dem verarmten Süditalien flohen.

Die Schnelligkeit des sozialen Wandels erzeugte einen neuen politischen Druck, der die bestehende Ordnung zu gefährden begann. In Europa lag, noch in den Jahren kurz vor dem Ersten Weltkrieg, die politische Macht in den Händen einiger Weniger. In den meisten Ländern waren es die landbesitzenden Eliten und alten aristokratischen Familien, die nach wie vor die regierende Klasse und die militärische Führung stellten, auch wenn manche von ihnen bereits durch Heirat mit den neuen Dynastien verbandelt waren, die ihren enormen Reichtum aus Industrie und Finanzkapital zogen. Nicht zuletzt war Europa immer noch ein Kontinent der Erbmonarchien. Republiken waren nur die Schweiz (deren jahrhundertealte Eidgenossenschaft sich 1848 eine moderne bundesstaatliche Verfassung gegeben hatte), Frankreich (seit 1870) und Portugal (seit 1910). In Österreich-Ungarn stand Kaiser Franz Joseph, der den Thron bereits 1848 bestiegen hatte, an der Spitze des riesigen multinationalen Habsburgerreichs mit über 50 Millionen Untertanen – für die Menschen war er ein Symbol der Beständigkeit monarchischer Herrschaft.

Gleichwohl gab es praktisch überall einen konstitutionellen Rahmen der Regierungsgewalt, ein Spektrum politischer Parteien (allerdings einem extrem restriktiven Wahlrecht unterworfen) sowie eine Rechtsordnung. Selbst die russische Autokratie sah sich zu Zugeständnissen genötigt: Nach dem gescheiterten Revolutionsversuch von 1905 sah sich Zar Nikolaus II. gezwungen, dem Parlament, der Duma, bestimmte Zuständigkeiten zu übertragen (wobei sich die Macht der Duma in der Praxis als extrem schwach erwies). Trotz dieser Konstitutionen hatten große Teile der Bevölkerung noch immer keine politische Vertretung, selbst in Großbritannien nicht, das als Ursprungsland der parlamentarischen Demokratie gilt. Manche Länder verfügten über ein seit langer Zeit eingeführtes allgemeines Männerwahlrecht. In Deutschland beispielsweise gewährte die Reichsverfassung von 1871 allen Männern über 25 Jahren eine Stimme bei den Reichstagswahlen. (Für die Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus allerdings blieb ein hoch restriktives Wahlrecht in Kraft, das den Grundbesitzern eine dauerhafte Vorherrschaft garantierte, und Preußen umfasste immerhin zwei Drittel des gesamten Reichsgebiets.) In Italien wiederum erfolgte der Wechsel zu einem für Männer (fast) allgemeinen Wahlrecht viel später, erst 1912. Nirgendwo im Europa der Jahrhundertwende aber besaßen Frauen ein Stimmrecht bei Parlamentswahlen. In zahlreichen Ländern protestierten Frauenrechtlerinnen gegen diese Diskriminierung, vor dem Ersten Weltkrieg allerdings blieben ihre Bewegungen wenig erfolgreich – außer in Finnland (wo sich, trotz dessen Zugehörigkeit zum Russischen Reich, nach der fehlgeschlagenen Revolution von 1905 ein gewisser demokratischer Wandel durchsetzen ließ) und in Norwegen.

Die wesentlichste soziale Veränderung, eine, in der die Eliten aller Länder eine fundamentale Bedrohung ihrer Macht erkannten, war der Aufstieg von Gewerkschaften und politischen Parteien der Arbeiterklasse. 1889 war die »Zweite Internationale« als Dachverband der sozialistischen Parteien Europas gegründet worden, um die programmatischen Forderungen der nationalen Parteien zu koordinieren. Die meisten dieser Parteien blieben, in der einen oder anderen Form, der revolutionären Doktrin von Karl Marx und Friedrich Engels verbunden. Deren Kritik der unausweichlich ausbeuterischen Natur des Kapitalismus, ihr Leitbild einer neuen, auf Gleichheit und gerechter Verteilung des Reichtums basierenden Gesellschaftsform gewannen für große Teile der armen und ausgebeuteten industriellen Arbeiterklasse stetig an Attraktivität. Versuche der herrschenden Eliten, die Arbeiterparteien und die wachsenden Gewerkschaften zu verbieten oder zu unterdrücken, waren gescheitert. Besser denn je organisiert, verteidigten die Arbeiter ihre Interessen, was sich im raschen Wachstum der Gewerkschaften spiegelte. 1914 zählten sie in Großbritannien über vier Millionen Mitglieder, in Deutschland über 2,5 und in Frankreich rund eine Million.

In den meisten europäischen Ländern hatten die diversen sozialistischen Parteien und Bewegungen eine Stimme gefunden und gewannen zu Beginn des Jahrhunderts zunehmend Unterstützung. Die französischen Sozialisten überwanden ihre internen Differenzen und vereinigten sich 1905 – ausdrücklich nicht zu einer Reformpartei, sondern zu einer Partei des Klassenkampfs und der Revolution. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs konnte die Section française de l’Internationale Ouvrière 17 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen und gewann 103 Sitze in der Abgeordnetenkammer des französischen Parlaments. In Deutschland waren Bismarcks Versuche, die Sozial­demokratie zu unterdrücken, spektakulär fehlgeschlagen. Seit 1890 war die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) mit ihrem marxistischen Programm zur europaweit stärksten sozialistischen Bewegung angewachsen; sie zählte vor dem Krieg über eine Million Mitglieder. In der Reichstagswahl von 1912 konnten die Sozialdemokraten die meisten Wählerstimmen und fast ein Drittel der Abgeordnetensitze erringen, zum Schrecken von Deutschlands herrschenden Klassen.

In den wirtschaftlich fortgeschritteneren Teilen Europas zügelte der organisierte Sozialismus, trotz aller Rhetorik, offene Militanz und lenkte die politischen Energien in Richtung parlamentarischer, nicht revolutionärer Aktionen. In Frankreich gewann Jean Jaurès eine große Anhängerschaft, indem er, ungeachtet der Rhetorik seiner sozialistischen Partei, nicht die Revolution, sondern einen parlamentarischen Weg zum Sozialismus verfocht. Auch in Deutschland lief die Praxis der SPD, selbst wenn sie an der marxistischen Lehre festhielt, darauf hinaus, gesellschaftliche Macht an den Wahlurnen zu gewinnen. Die britische Labour Party (die sich 1906 diesen Namen gab) war aus den Gewerkschaften hervorgegangen, entsprechend ging es ihr weniger um revolutionären Utopismus als um gewerkschaftlich-pragmatischen Einsatz für die Arbeiterinteressen. Die marxistische revolutionäre Botschaft wurde weitgehend ignoriert zugunsten der reformistischen: Der Kapitalismus müsse nicht gestürzt, er könne vielmehr im Interesse der arbeitenden Klasse reformiert werden. Auch die Staatsmacht, glaubte man, lasse sich auf friedlichem Wege so umwandeln, dass sie die Interessen der Arbeiterklasse repräsentiere. In vielen Teilen West-, Nord- und Mitteleuropas waren die Arbeiter arm, doch nicht mehr so vollständig verarmt und militant wie in früheren Zeiten. Sie hatten inzwischen mehr zu verlieren als ihre Ketten und schlossen ihre Reihen weitgehend hinter ihren reformistischen Führern.

In den weniger entwickelten Teilen des Kontinents allerdings herrschte eine andere Situation. Dort war die Konfrontation mit der Staatsmacht heftiger, denn es gab dort wenig bis gar keine Verteilung der Macht durch vermittelnde Organisationen oder soziale Strukturen, die Teilhabe am Staatsleben ermöglicht hätten. Die Machtausübung, im Wesentlichen despotisch, von oben nach unten, basierte auf Zwang, es gab eine fest etablierte herrschende Kaste, ein korruptes Beamtentum und, wenn überhaupt, nur schwache repräsentative Institutionen. Vorstellungen vom scheinbar unbegrenzten Fortschritt einer Zivilisation, gestützt auf eine wohlmeinende Staatsgewalt und den Respekt vor dem Gesetz, Vorstellungen, die später dazu beitru­gen, dass der Mittelstand in Mittel-, Nord- und Westeuropa den Verlust eines »Goldenen Zeitalters« beklagte, konnten, von der südlichen und östlichen Peripherie des Kontinents her betrachtet, nur bizarr wirken. Dort kam es, wie zum Beispiel in Katalonien und im Baskenland, in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts immer häufiger zu Streiks, Unruhen und lokalen Aufständen gegen die Staatsgewalt und die »Herrschaft der Bourgeoisie«. Der Anarchismus, häufig verbunden mit sporadisch ausbrechender Gewalt gegen den Staat und seine Institutionen, fand bei landlosen andalusischen Arbeitern viel Unterstützung. Auch in Süditalien, wo korrupte Staatsbeamte unter dem Einfluss der Grundeigentümer standen, waren gewaltsame ländliche Unruhen weit verbreitet. Briganten zogen in Banden durch ländliche Gegenden und vermengten ihre Straftaten mit populären Protest­aktionen, indem sie Bauern und landlose Arbeiter gegen die Macht des Staates und der Großgrundbesitzer verteidigten. Europas Mächtige sahen sich durch eine revolutionäre Arbeiterklasse bedroht, und ihre Angst wurde während der großen Streikwellen und Unruhen des Jahres 1905 nicht geringer. In Russland, das von einer Revolutionsbewegung erfasst wurde, die den Zaren fast gestürzt hätte, reagierte der Staat mit harter Hand. Repression wurde zu offen konterrevolutionärer Gewalt, als in diesem Jahr Soldaten in St. Petersburg 200 Arbeiter massakrierten und Hunderte mehr verletzten. Die Revolution war gescheitert. Zugeständnisse, eher kosmetischer Art denn wirklich auf Veränderung angelegt, gab es im Hinblick auf die parlamentarische Vertretung, die Macht aber lag weiterhin beim Zaren und den von ihm ernannten Ministern. Den Machtlosen, vor allem aber jenen, die sozialistische Bewegungen der verschiedenen Doktrinen anführten, schien nun eines offensichtlich: Die zaristische Autokratie ließ sich nicht reformieren, sie musste gestürzt werden. Daraus resultierte die zunehmende, offene Radikalität des russischen Sozialismus.

Populistische Gegenbewegungen entstanden nicht nur als Antwort auf die gefühlte Bedrohung durch linke Bewegungen, sondern auch, um Regierungen, die wenig oder kaum Rückhalt bei den Massen hatten, zu einer breiteren Unterstützerbasis zu verhelfen. Solche Bewegungen wurden häufig, mal direkt, mal indirekt, von Industriellen oder Grundbesitzern gesponsert, denen sehr daran lag, potenziell klassenorientierte Oppositionsbewegungen in kontrollierbarere Kanäle umzulenken. So versuchten sie, um den politischen Status quo zu erhalten, die Massen zu »nationalisieren«, will sagen, mit aggressiv nationalistischen, imperialistischen und rassistischen Empfindungen zu impfen – mit einigem Erfolg. Außerhalb der Minderheit, die von den Lehren des internationalen Sozialismus angezogen wurde, waren aggressiver Nationalismus, brutaler Antisemitismus und andere Spiel­arten des Rassismus weit verbreitet. Und weil, bei verbessertem Schulwesen, immer mehr Menschen Lesen und Schreiben lernten, boten auch billige, volksnah aufgemachte Zeitungen eine Möglichkeit, diese Beeinflussung noch auszuweiten. Die Massenpolitik öffnete sich neuen Formen der Mobilisierung, auf der Rechten wie auf der Linken. Alte Gewissheiten begannen zu schwinden. Das politische Establishment der alten konservativen und liberalen Eliten empfand dies als neuerliche Verunsicherung.

Dass Massenmobilisierung zur ernsthaften Bedrohung für die bestehende politische und soziale Ordnung werden könnte, regte den französischen Psychologen Gustave Le Bon dazu an, seine ­Analyse des Massenverhaltens zu publizieren: La psychologie des foules (1895, 1911 als Psychologie der Massen auf Deutsch erschienen). Seine These, die Vernunft schwinde, wenn das Individuum den irrationalen, emotionalen Impulsen der Masse ausgesetzt wird, war zu Beginn des neuen Jahrhunderts einflussreich. Das Buch erschien in 45 Auflagen und 17 Übersetzungen und avancierte später zur Pflichtlektüre angehender faschistischer Diktatoren. Überall in Europa ließen sich die emotionalen Impulse, die Le Bon als charakteristisch für die Massen ansah, am einfachsten durch nationalistische Parolen aufstacheln. Und Europas herrschende Eliten hielten den Nationalismus für längst nicht so gefährlich wie den Sozialismus. Tatsächlich waren die im nationalistischen Fanatismus angelegten Gefahren vor dem Krieg noch eindämmbar, bereiteten aber jenen Kräften den Boden, die die bestehende Ordnung später untergraben, schließlich zerstören würden.

Politische Polarisierung, außenpolitische Spannungen, die Verwicklung in externe Konflikte bildeten verschiedene Ebenen schrill nationalistischer Rhetorik. Im politisch und sozial zerrissenen Spanien etwa gab es Versuche, mit Vorstellungen einer »nationalen Wiedergeburt« zu einer neuen Einheit zu finden, was allerdings scheiterte: in einem Krieg, den 1898 zunächst noch viele begrüßt hatten, der aber mit einer verheerenden Niederlage und dem Verlust von Kolonien an die USA endete. Angesichts der tiefen inneren Spaltungen des Landes, regional wie ideologisch, waren solche Versuche ohnehin zum Scheitern verurteilt. Der kreuzzüglerische Eifer aber, eine im Kampf gegen innere Feinde wiedergeborene Nation zu schmieden, sollte schließlich in einen katastrophalen Konflikt führen.

In den meisten Ländern wurden Feindbilder, sowohl von Feinden im Inneren als auch von außen, zu einer Rhetorik ausgebaut, deren Aggressivität ein neues Maß erreichte. Die Massenmedien schürten Animositäten – meist hochgradig fremdenfeindlich, häufig unverhohlen rassistisch –, die von Regierungen gern befeuert wurden. In Großbritannien gab der Südafrikanische Krieg (der Zweite Burenkrieg) 1899 –1902 der nationalistischen Kriegslust neuen Auftrieb, dem »jingoism« oder »Hurrapatriotismus«. Deutschlands konservative Regierung wiederum fachte die nationalistische Glut in der sogenannten »Hottentottenwahl« von 1907 an, um die sozialdemokratischen Gegner wegen ihres angeblichen Mangels an Patriotismus zu verunglimpfen. (Hintergrund war der Krieg gegen die Hereros in Deutsch-Südwestafrika.) Dass die Sozialdemokraten ihren Stimmenanteil gleichwohl vergrößerten (wegen Wahlabsprachen zwischen den Konservativen aber trotzdem eine erhebliche Anzahl an Mandaten einbüßten), lässt erkennen, dass der Hurrapatriotismus, ähnlich wie in Großbritannien, in den Mittelschichten viel verbreiteter war als unter Arbeitern.

Nationalistische Organisationen wie der Alldeutsche Verband, der Deutsche Flottenverein und der Deutsche Wehrverein – die hauptsächlich im Bürgertum und Kleinbürgertum Anklang fanden – trommelten für eine energischere, radikal expansionistische Außenpolitik. Vor 1914 waren sie nicht viel mehr als bedeutende Agitationsverbände, standen der offiziellen Politik und erst recht der Regierung noch fern. Bis dahin hatten aggressiv nationalistische Ideen jedoch praktisch die gesamte politische Szene jenseits der sozialistischen Linken durchdrungen. In Italien sorgten das lange nachwirkende Gefühl nationaler Demütigung – 1896, in der Schlacht von Adua (Adwa), war eine italienische Kolonialarmee von einem äthiopischen Heer vernichtend geschlagen worden und hatte über 5000 Soldaten verloren – sowie der Eindruck, Italien sei ohne Sitz am exklusiven Tisch der imperialistischen Großmächte Europas eine »proletarische Nation«, dafür, dass nationalistische Emotionen zu schier religiöser Inbrunst hochkochten; man tönte von Kampf und Opfer, forderte einen starken, antisozialistischen Staat, den Aufbau der Streitkräfte, eine aggressivere Außenpolitik. Bei allem Lärm, den sie machten, waren auch die italienischen Nationalisten noch weit davon entfernt, die Mehrheitsmeinung in der zutiefst gespaltenen Gesellschaft zu repräsentieren; für die Regierung blieben sie vorläufig vor allem ein Ärgernis. Allerdings trug der nationalistische Druck dazu bei, dass sich die liberale Regierung 1911 zum Einmarsch in Libyen entschloss, um eine neue Kolonie zu erobern – der erste Krieg, in dem Fliegerbomben eine Rolle spielten: Die Italiener warfen sie von einem Luftschiff aus auf die sich zurückziehenden osmanischen Truppen. Noch aber war, in Italien nicht anders als in Deutschland, der radikale Nationalismus eine Angelegenheit von Minderheiten, und ohne den Ersten Weltkrieg wäre er das möglicherweise auch geblieben. Die Saat der späteren unheilvollen Entwicklungen aber war ausgebracht.

Der Nationalismus definierte »die Nation« immer weniger über ein Territorium, sondern zunehmend ethnisch – es ging um die Frage, wer zur »Nation«, zum »Volk« gehören durfte und wer nicht. Edmond Archdéacon etwa, ein französischer Nationalist und »erklärter Gegner des Internationalismus«, verkündete in einer Wahlrede von 1902: »Als Antisemit verlange ich, dass die 150 000 Juden und ihre Lakaien, die 25 000 Freimaurer, aufhören, 38 Millionen Franzosen zu unterdrücken und zu ruinieren.« Er repräsentiere »die wahre, die französische Republik«. Als politische Bewegung zerfiel der Nationalismus, wie in Frankreich so auch in anderen Teilen Europas, in diverse Fraktionen und war daher nicht in der Lage, nach der Macht im Staat zu greifen. Gleichwohl schafften es diese Bewegungen, die außenpolitischen Erklärungen der Regierungen schriller werden zu lassen. Selbst wenn der Nationalismus in Frankreich noch eine politische Randerscheinung war, seine Kernidee – eine Nation, die definiert wurde durch den Ausschluss derer, die nicht geeignet schienen dazuzugehören, ganz konkret der Juden – blieb unverdünnt Bestandteil einer gespaltenen französischen Kultur. Ähnliche Argumente waren in weiten Teilen Europas zu hören.

Antisemitismus war ein neuer Begriff für ein altes, auf dem Kontinent weitverbreitetes Phänomen: den Hass auf Juden. Die traditionelle christliche, seit Jahrhunderten bestehende Feindseligkeit gegenüber »den Mördern Christi« hielt sich hartnäckig und wurde vom christlichen Klerus gepflegt – vom protestantischen ebenso wie vom katholischen und vom orthodoxen. Ein anderes, tief verwurzeltes Element dieses Hasses rührte aus uralten ökonomischen und sozialen Ressentiments, die neue Nahrung erhalten hatten, weil es die in jüngerer Zeit gewährten Freiheiten den Juden erlaubt hatten, in größerem Umfang am Geschäfts- und Kulturleben teilzunehmen. Bald schon provozierte das Reaktionen: Bei jedem wirtschaftlichen Abschwung wurden die Juden zum Sündenbock gemacht. Vom ausgehenden 19. Jahrhundert an wurden die alten, oft bösartigen Formen des Judenhasses von etwas noch Ärgerem überlagert. Nun nämlich vermengten sie sich mit neuen, potenziell mörderischen Rassenlehren, die eine pseudowissenschaftliche, biologische Rechtfertigung für Hass und Verfolgung boten. Die ältere Diskriminierung, die zweifellos schon schlimm genug gewesen war, hatte es Juden gestattet (sie manchmal auch gezwungen), zum Christentum zu konvertieren. Das schloss der wissenschaftlich verbrämte, biologische Antisemitismus aus. Ihm zufolge waren Juden rassisch, »ihrem Blut nach« anders. Ein Jude, so hieß es, könne ebenso wenig zum Franzosen oder Deutschen werden, wie beispielsweise eine Katze zu einem Hund gemacht werden könne. Es war eine Doktrin, die nicht nur auf Diskriminierung hinauslief, sondern auf totalen Ausschluss. Und sie führte potenziell auf den Weg physischer Vernichtung.

ENDE DER LESEPROBE

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel To Hell and Back. Europe1914–1949 bei Allen Lane, Penguin Random House UK. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

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