Hope Hill Drive - Garry Disher - E-Book + Hörbuch

Hope Hill Drive Hörbuch

Garry Disher

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Beschreibung

Die Dezemberhitze brennt auf die trockenen Felder und den flimmernden Asphalt im australischen Tiverton. Constable Paul Hirschhausen leitet die Polizeistation der Kleinstadt im staubigen Niemandsland. Bagatelldiebstähle, Trunkenheit am Steuer - Hirsch hat nicht allzu viel zu tun. Bis ein Pferdemassaker die Anwohner erschüttert und dem Constable Rätsel aufgibt. Die Medien wittern eine Story und fallen in Tiverton ein. Hirsch muss die Gemüter beruhigen, doch als auch noch eine Leiche gefunden wird, überschlagen sich die Ereignisse. Hinter den rostigen Gattern der entlegenen Farmen stößt Hirsch auf schlummernde Leidenschaften und explosive Gewalt.

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Über dieses Buch

Die Dezemberhitze brennt auf die trockenen Felder und den flimmernden Asphalt der australischen Kleinstadt Tiverton. Constable Paul Hirschhausen hat nicht allzu viel zu tun - bis ein Pferdemassaker die Anwohner erschüttert und dem Constable Rätsel aufgibt. Hirsch entdeckt schlummernde Leidenschaften und kämpft gegen explosive Gewalt.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Garry Disher (*1949) wuchs im ländlichen Südaustralien auf. Seine Bücher wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter zweimal der wichtigste australische Krimipreis, der Ned Kelly Award, viermal der Deutsche Krimipreis sowie eine Nominierung für den Booker Prize.

Zur Webseite von Garry Disher.

Peter Torberg (*1958) studierte in Münster und in Milwaukee. Seit 1990 arbeitet er hauptberuflich als freier Übersetzer, u. a. der Werke von Paul Auster, Michael Ondaatje, Ishmael Reed, Mark Twain, Irvine Welsh und Oscar Wilde.

Zur Webseite von Peter Torberg.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Garry Disher

Hope Hill Drive

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Peter Torberg

Ein Constable-Hirschhausen-Roman (2)

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 2 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 2019 bei The Text Publishing Company, Melbourne.

Lektorat: Anne-Catherine Eigner

Originaltitel: Peace

© by Garry Disher 2019

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Miller Shani (Alamy Stock Photo)

Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz

ISBN 978-3-293-31093-3

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 21.09.2022, 19:26h

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Inhaltsverzeichnis

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Über dieses Buch

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Inhaltsverzeichnis

HOPE HILL DRIVE

1 – So kurz vor Weihnachten hatte die Sonne ordentlich …2 – Jeder Vorort, jedes Kaff im Busch hat seine …3 – Hinterher reimte sich Hirsch das Ganze zusammen4 – Hirsch suchte als Erstes nach Wayne, dem verantwortlichen …5 – Halb verdeckt hinter Getreide und trockenem Gras kauerte …6 – Eigentlich hatten sie im Pub in Tiverton essen …7 – Gut möglich, dass Martin sich in dieser Rolle …8 – Samstag, 5.30 Uhr9 – Hirsch klopfte an die Hintertür10 – Hirsch eilte nach Hause, duschte und rasierte sich …11 – Bevor er nach Osten rausfahren konnte, wurde Hirsch …12 – Sie rollten durch den Ort. Hirschs Fahrt ins …13 – Heiligabend, sechs Uhr früh14 – Sonnenaufgang15 – Sergeant Brandl war dran. »Ich muss Sie bitten …16 – Hirsch schaute sich zu Fuß in allen Richtungen …17 – Zweiter Weihnachtsfeiertag. Hirsch, der noch ganz verschlafen war …18 – Nachmittags traf Hirsch in Redruth ein. Die Hauptstraße …19 – Donnerstag. Mit einem Wimpernschlag wechselte Hirsch von todesähnlichem …20 – Senior Sergeant Vita Roesch von der Abteilung Organisiertes …21 – Freitag früh ging Hirsch durch den Ort und …22 – Am Samstagmorgen rief Hirsch seine Eltern an23 – Um halb neun am Montagmorgen saß Hirsch mit …24 – Noch während er zum Langzeitparkplatz zurückkehrte, erhielt er …25 – Er stürmte hinaus, kürzte zwischen Wollschuppen und Toyota …26 – Hirsch rief erneut in Redruth an. Ihm wurde …27 – Silvester. Der Tag begann kühl und wolkig …28 – Hirsch fand sich in einem Raum wieder …29 – Die aufblitzende Windschutzscheibe, die Hirsch von der Straße …30 – Hirsch ließ das Bachbett hinter sich und kam …31 – Der Schuss war allerdings aus der Richtung der …32 – Hirsch kauerte sich hin und fragte sich …33 – Unheimlich. Hirsch hielt an. Dann ging er ans …34 – Als Hirsch sie fünf Minuten später verließ …35 – Am ersten Januar schlief Hirsch aus. Alle anderen …36 – In Redruth gab es zwei Anwälte. Am Nachmittag …37 – Hirsch nahm sich einen Tag frei  …Danksagung

Mehr über dieses Buch

Über Garry Disher

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Für Karin Pennartz

1

So kurz vor Weihnachten hatte die Sonne ordentlich Kraft, und Ziegelwände, Blechdächer, Asphalt und das roterdige Flachland strahlten die aufgestaute Hitze all der heißen Tage ab. An diesem Donnerstagvormittag kam obendrein noch ein Grasfeuer dazu.

Hirsch stupste mit dem Schuh einen dicken Wurm aus weichem Teer am Rande des Barrier Highway an und schaute den Löscharbeiten zu. Feuerwehrfahrzeuge aus Tiverton, Redruth und Mount Bryan waren am Werk. Eines davon am Brandherd hinter einem alten Farmhaus abseits der Straße, ein weiteres kümmerte sich um Brandnester, und die Einheit aus Tiverton patrouillierte am Zaun entlang. Kein lodernder Brand – die Flammen fraßen sich langsam durch die schütteren Weizenstoppeln voran. Auch kein großes Feuer – nur eine Ecke der Zypressenhecke des Farmhauses und die Wiese an der Straße. Es war windstill. Wolkenlos, reglos wie auf einem Gemälde.

Ein verdächtiges Feuer.

»Inwiefern verdächtig?«, fragte Hirsch.

Sein Allrad-Dienstfahrzeug der South Australia Police berührte praktisch die Aufschrift Tiverton Electrics auf der Hecktür von Bob Muirs Nutzfahrzeug. Wenn Hirsch einen Freund in der Gegend hatte, dann Muir. Ein sanfter, gelassener Mann, aber durchaus kompetent und entscheidungsfreudig, wann immer er Hand anlegte oder seinen Verstand gebrauchte. Er war in der Gegend so etwas wie der Feuerwehrkommandant.

»Kein Feuerteufel, falls du das denkst«, sagte Muir. »Ich zeigs dir, wenn wir das Okay kriegen.«

Alles, was Hirsch im Augenblick erkennen konnte, war ein Wellblechdach, an dem sich noch ein Rest der roten Farmhausfarbe fand, und eine turmhohe Palme.

Die Einheit aus Tiverton kam näher, am Steuer Kev Henry, der Gastwirt. Zwei Männer hinten, die die Zaunpfosten abspritzten: Wayne Flann und ein Mann, den Hirsch nicht erkannte. Ein Schafscherer? Ein Arbeiter vom Windpark? Nicht wichtig. Flann war wichtiger, zumindest in gewisser Hinsicht. Mitte zwanzig, Schlafzimmerblick, geschmeidige Bewegungen, fast gut aussehend. Stets wirkte er so, als würde er sich amüsieren und sei der Welt einen Schritt voraus. Dieses Feuer machte ihm Spaß. Als er Hirsch sah, machte er eine kurze Handbewegung und spritzte ihm die Dienstschuhe nass.

»Lass das, Wayne«, sagte Muir.

Der Feuerwehrwagen zuckelte weiter, dann knisterte ein Funkgerät. Bob Muir lauschte, sagte: »In Ordnung«, und machte eine Kopfbewegung. »Hier entlang, Constable Hirschhausen.«

Eine lange, ausgefahrene Zufahrt brachte sie zu einer Lücke in der Hecke und zu dem Haus und den Schuppen dahinter. Das Haus war seit Jahren unbewohnt, die Steinwände ergaben sich dem Staub, den Felsen und dem toten Gras. Wo früher Rasen und Blumenbeete gewesen waren, wimmelte es nur so vor Ameisen. Ein Kinderwagen ohne Räder neben einem verbogenen Gartenwasseranschluss; eine bis auf drei, vier Sprossen ruinierte Leiter ans Wassertankgerüst gelehnt. Nichts schien noch heil zu sein. Kaputte Fensterscheiben, Gras in den rostigen und durchhängenden Regenrinnen. Nur die Palme wirkte noch prächtig, und der Boden rings umher war mit trockenen Palmwedeln bedeckt.

Hirsch hielt hinter Muir auf dem Hof neben dem Haus und stieg aus. Hier war der Rauch beißender – verbrannte Vegetation mit einer Spur verbranntem Gummi? Auch die Sonne wirkte seltsam, wie sie verschwommen durch die ausgefransten Palmwedel zwinkerte und wirre Schatten auf den Boden warf.

Hirsch blickte auf und sagte: »Diese alten Anwesen mit ihren Palmen.«

Muir brummte. »Hier rüber.«

Er führte Hirsch an der Seite des Hauses entlang um das Tankgerüst zum Hinterhof. Die Zypressenhecke umgab das Haus von drei Seiten, wie Hirsch erkannte. Das Feuer hatte wohl in einer Ecke angefangen und das Gras verkohlt sowie ein spinnwebenhaftes Durcheinander aus geschwärzten blattlosen Zweigen hinterlassen, bevor es sich auf der Suche nach Brennstoff auf der anderen Seite – die Weizenstoppeln – durch die Hecke gefressen hatte.

»Was hältst du davon?«, fragte Muir und wies auf den schwarzen Staub.

Hirsch sah nach unten. Er hatte Asche auf den Schuhspitzen, nicht nur Staub. Er fühlte sich verschwitzt und klebrig und hatte das Gefühl, als hätte er Grieß zwischen den Zähnen. Dabei war es noch früh am Tag. »Kinder, die mit Streichhölzern spielen?«

Muir war enttäuscht von ihm. »Der Draht, Mann.«

Zusammengerollt in der Asche am Fuß der Hecke lag ein Stück Kabel. Jetzt begriff Hirsch, warum der Qualm so beißend roch: brennendes Plastik. Dann fiel sein Blick auf einen Streifen glänzendes Kupfer. »Ah.«

»Ganz genau«, sagte Muir und breitete die Arme aus. »Wozu sich die Mühe machen und die Isolierung mit dem Messer abtrennen, wenn man sie einfach abbrennen kann? Netter heißer Sommertag, überall trockenes Gras …«

Hirsch grinste. »Vielleicht dachten sie, sie seien hier besser versteckt.«

Muir zeigte auf den trockenen Boden zwischen Haus und Schuppen. »Da drüben wären sie von der Straße aus auch nicht gesehen worden.«

»Wer hat das Feuer gemeldet?«

»Deine Freundin.«

Hirsch konnte es sich bildlich vorstellen. Wendy Street fuhr um sieben Uhr dreißig los, um pünktlich um acht Uhr in Redruth in der Highschool zu sein, so wie immer. Sie sah das Feuer, rief Bob an und wusste, dass Bob bei Hirsch anrufen würde.

»Ziemlich früh für einen hundsgewöhnlichen Kupferdieb«, sagte Hirsch. »Liegt vielleicht an der Landluft.«

Damals, als er in der Stadt noch Detective beim CIB gewesen war, hatte er sich darauf verlassen können, dass die bösen Buben bis mittags schliefen. Er schaute misstrauisch zu dem alten Haus hinüber. »Die haben doch sicherlich nicht die Bruchbude ausgeräumt, oder?«

»Nein. Zu viel Mühe. Das hier ist ihr Stützpunkt. In der Scheune steht eine große Mulde voller Kupfer.«

Hirsch sah hinaus über einen Streifen Ödland, das nur von einer verrosteten Egge, einem löchrigen Ölfass und einem silbrigen Eukalyptus belebt wurde. Eine Scheune, daneben ein offener Unterstand, der an einem Ende eingesunken war wie ein starres Grinsen. »Die sind also schon eine Weile dabei.«

»Würd ich mal schätzen«, sagte Muir.

Hirsch fiel ein Rundbrief ein: Zweitausend gemeldete Diebstähle von Halbedelmetallen in South Australia in diesem Jahr, geschätzter Wert zweieinhalb Millionen australische Dollar. Meistens Kupfer, meistens von Baustellen; daneben auch von Stromtrassen, Eisenbahnstrecken und aus Lagerhäusern. Elektrokabel, Antennenkabel, Transformatoren, Heißwasserrohre. Die Polizei wurde gebeten, die Augen offen zu halten, was ungewöhnliche Aktivitäten oder Hinweise anging, welche allenfalls bla, bla, bla …

Hirsch ging im Geiste den Bezirk durch, Tausende Quadratkilometer, die er zu patrouillieren hatte. In Redruth wurden ein paar Häuser gebaut, aber das war das Problem des Sergeants, nicht von ihm. Hier und da wurden Küchen modernisiert. Die schon lange stillgelegte Eisenbahnstrecke. Da war nicht viel zu holen. Vielleicht wurde das Zeug aus der ganzen Gegend hergeschleppt, um es hier abzuisolieren, zu lagern und abzutransportieren. Hirsch wusste gar nicht, wo er anfangen sollte. Manchmal kam es ihm – dem Neuling im Busch – so vor, als würde es in seinem Job ebenso darum gehen, die Landschaft zu erforschen wie die Umstände der Verbrechen, die in ihr begangen wurden.

»Abdrücke«, murmelte er, dachte an den vor ihm liegenden Papierkram und fragte sich, wie wahrscheinlich es war, so kurz vor Weihnachten noch einen Trupp Kriminaltechniker herholen zu können.

Hirsch fotografierte den Draht in der Asche, das verkohlte Gras ringsherum und die mit geklautem, großteils schon oxidiertem Kupfer gefüllte Mulde. Dann spannte er Absperrband vor den Eingang des Schuppens und rief seinen Sergeant an, die wenig begeistert klang, aber versprach, das CIB in Port Pirie zu benachrichtigen.

Schließlich wägte Hirsch den vor ihm liegenden Tag ab. Donnerstags machte er einen Abstecher in das Hinterland südlich und westlich von Tiverton, montags nördlich und östlich. Hunderte Kilometer die Woche an Kontrollfahrten. Ein älterer Viehzüchter hier, eine Witwe mit einem schizophrenen Sohn da. Polizeipräsenz – das bedeutete eine Tasse Tee, ein Schwatz, eine Nachsorge. Tut mir leid, aber Ihr Wagen ist ausgebrannt unten in Salisbury aufgefunden worden. Ihr Nachbar beschwert sich, dass Ihre Hunde seine Schafe belästigen. Ich bin dazu verpflichtet nachzuschauen, dass Ihr Gewehr und Ihre Schrotflinte ordnungsgemäß eingeschlossen sind. Und haben Sie den rätselhaften Laster wiedergesehen, den Sie letzte Woche gemeldet haben?

Einige der Personen, die er aufsuchte, waren einsam, andere verletzlich. Manche gerieten durch mangelnde Voraussicht in Schwierigkeiten; eine Handvoll war schlichtweg zwielichtig. Aber genau das genoss Hirsch an diesen Patrouillenfahrten donnerstags und montags: die Vielfalt an Menschen und Erfahrungen. Er machte sich gern früh um sieben Uhr auf den Weg, doch heute war es schon fast neun, und er war immer noch erst ein paar Kilometer südlich von Tiverton. Er würde ein paar Abkürzungen nehmen müssen, um die Zeit wieder reinzuholen. Ein paar Leute anrufen, statt bei ihnen vorbeizuschauen.

»Musst du los?«, fragte Muir.

»Ja.«

Muir machte ein unschuldiges Gesicht – Hirsch war sofort auf der Hut – und sagte: »Alles klar für morgen Abend?«

In einem Augenblick der Schwäche, die er sich als Aufbau guter Beziehungen in der Gemeinde schönredete, hatte Hirsch eingewilligt, dieses Jahr in Tiverton Santa Claus zu spielen. Er würde auf der Nebenstraße von Ed Tennants Laden Geschenke an die Dorf- und Farmkinder verteilen, dann den Gewinner der besten Weihnachtsbeleuchtung im Ort bekanntgeben und sich in einem muffigen roten Kostüm lächerlich machen.

»Hau ab, Bob.«

»Das ist die richtige Einstellung«, sagte Muir und klopfte ihm auf den Rücken.

Hirsch fuhr südwärts über den Barrier Highway. Er hatte das Seitenfenster offen, im CD-Schlitz steckte Emmylou Harris, eine schroffe Country-Klage, die zu seiner Stimmung passte – der Einsamkeit, den Strauchdiebereien, denen er manchmal begegnete. Er durchfuhr das flache Tal, zu beiden Seiten niedrige trockene Hügel, graubraun, durchsetzt mit dunkleren Flecken aus Schatten oder Bäumen, die sich in den steinigen Grund krallten. Steinerne Ruinen an der Straße, weiter entfernt die Dächer von Farmhäusern, eine Reihe von Windturbinen entlang eines näher gelegenen Kamms – die Siedlerjahre, die Mühen der Gegenwart und die Zukunft, alles in einem. Auf halber Strecke eine Hügelflanke hinauf stand eine reglose Staubwolke. Ein Fahrzeug auf einer Schotterpiste? Ein Staubteufel? Schwer auszumachen, in einer Welt, die handeln wollte, aber nicht konnte. Hirsch war nun seit einem Jahr Polizist in Tiverton und wartete darauf, aufgenommen zu werden, doch der Ort hielt ihn auf Armeslänge von sich. Wenn das Leben darin bestand, nach einem wirklichen Zuhause zu suchen – ein Ort, an dem man willkommen war, eine feste Liebe, Seelenruhe –, dann war er noch immer auf der Suche. 

In gewisser Hinsicht. Wendy war in sein Leben getreten. In den Augen der Bewohner im Bezirk »gingen sie miteinander«, und Hirsch hatte nichts dagegen. Und er hatte sich mit ihrer pfiffigen, lustigen Tochter Katie angefreundet, die ihm letztes Jahr das Leben gerettet hatte. Es gab eine Menge, für das er dankbar sein konnte.

Hirsch bog nach Westen auf die Menin Road, die die Grenze zwischen den Patrouillengebieten der Polizei von Tiverton und Redruth bildete. Hier oben hatten die Ortsnamen noch Bedeutungen, anders als in der Stadt, fand er. Menin Road, Lone Pine Hill, Mischance Creek, Tar Barrel Corner, Mundjapi – all dies legte Bedeutung und Sinn über die Landschaft. Die Menin Road brachte ihn in besseres Weizenland. Westlich des Barrier Highway regnete es öfter als östlich davon. »Barrier«, Grenze: Noch so eine Bedeutung. Bessere Ernten, Einzäunungen, Straßen, kürzere Entfernungen von einer Farm zur nächsten. Dennoch fuhr Hirsch weitere zwanzig Minuten lang, ohne einer Menschenseele zu begegnen.

Dann entdeckte er Kip.

Er war schon an dem Hund vorbei, bevor er ihn erkannt hatte, also trat er auf die Bremse und bewarf das arme Tier mit Schotter und Staub. Hirsch stieg aus, kauerte sich hin und hielt ihm die offene Handfläche hin. Der Kelpie, der nur noch aus Haut und Knochen, Rippen und Schwanz zu bestehen schien, blieb stehen. Er keuchte zutiefst erschöpft. Ein dumpfes Knurren entfuhr seiner Kehle – es schien ihm unwillkürlich zu entweichen, bevor er es wie aus Scham verschluckte.

»Kip«, sagte Hirsch. »Kippy. Na, komm her, Junge.«

Die Welt blieb stehen. Kein Windhauch und kein Geräusch, bis auf die Rosenkakadus, die in den Eukalyptusbäumen neben einem trockenen Lehmdamm lärmten, und das Ticken des Motors. Kip wedelte langsam mit dem Schwanz.

»Du hast Durst, hm?«, sagte Hirsch.

Er hatte immer genügend Wasser dabei. Im Frachtraum des Toyota, in dem er manchmal Gefangene transportieren musste, gab es ein verschlossenes Metallfach für Handschellen, Fackeln, Seile, Taschenlampe, Beweisbeutel und ein paar Tupperbehälter. Hirsch goss einen kleinen Schluck Wasser in einen dieser Behälter und stellte ihn mitten auf die Straße, auf halber Strecke zwischen Fahrertür und Hund.

Kip ließ sich auf den Bauch fallen, streckte sich und schnüffelte. Dann stand er auf, humpelte voran und ließ sich wieder fallen. Nach einer Weile gelangte er so bis ans Wasser und prüfte es. Dann schlappte er, Tropfen schleudernd, alles auf einmal hinunter, schaute Hirsch an und wartete auf mehr.

»Noch nicht, Junge. Zu viel, zu schnell, ist nicht gut für dich.«

Hirsch kam näher, streckte eine Hand nach dem knochigen Kopf aus und kraulte den Hund zwischen den Augen. Kip drehte sich um, leckte ihm die Hand und ließ sich am Halsband auf den Beifahrersitz lotsen, wo er sich zwei Mal um sich selbst drehte, bevor er sich zusammenrollte, so als würde er endlich wieder auf seiner Lieblingsdecke liegen. Mit der Schnauze auf den Pfoten achtete er genau auf Hirschs Bewegungen, wirkte aber zutraulich. Er traute Hirsch zu, den Heimweg zu kennen.

»Armer Kerl«, sagte Hirsch und tätschelte noch einmal den Hund, bevor er den Schlüssel umdrehte. »Du hast kämpfen müssen, hm?«

Wunden, Blutflecken, ein zerrupftes Ohr, das lohfarbene Fell ohne jeden Glanz.

Hirsch schaute auf die Uhr und ging noch mal alles im Kopf durch. Er würde noch mehr Zeit dabei verlieren, Kip seinen Besitzern zurückzubringen. Er schaute auf sein Handy – kein Empfang.

Einen halben Kilometer weiter, während er mit der rechten Hand lenkte, ein Auge auf der Straße behielt und mit dem anderen auf sein Handy schaute, hatte er plötzlich zwei Balken. Er hielt an, stieg aus, schaute in seinem Notizbuch nach und führte vier Telefonate mit weniger wichtigen Klienten. Es würde nichts ausmachen, wenn er ihnen diesmal keinen Besuch abstattete. 

Als Erstes Rex und Eleanor Dunner. Eleanor hob ab. Es täte ihm leid, aber er hätte keine Spuren zu dem Graffitikünstler, der ihren unter Denkmalschutz stehenden Schafscherschuppen besprayt hatte.

»Das ist sehr enttäuschend, Paul.«

Hirsch nahm das gelassen hin. Immer wieder musste er jemanden enttäuschen.

Als Nächstes klärte er Drew Maguire fernmündlich auf, dass es keine Angelegenheit der Polizei sei, wenn die Schafe seines Nachbarn durch ein Loch im Zaun auf das Grundstück von Maguire gerieten.

»Und wenn ich eins niederstrecke?«

»Dann wird das eine Angelegenheit der Polizei.«

Dann ein Anruf bei dem Besitzer einer Brieftasche, die abgegeben worden war. Kein Bargeld und keine Karten mehr drin; er würde sie nächsten Donnerstag vorbeibringen. Schließlich rief er noch bei Jill Kramer an, einer alleinerziehenden Mutter, die von ihrer Ice-süchtigen Tochter ausgeraubt und krankenhausreif geschlagen worden war.

»Sie ist im Entzug.«

»Und geht es ihr gut?«

»Na, den Umständen entsprechend.«

Das war so ein Mantra im Buschland. Hirsch bekam den Satz mindestens ein- oder zweimal die Woche zu hören. Man nahm es hin, wie es war, und traute sich nicht, auf bessere Zeiten zu hoffen. »Wird sie wieder nach Hause kommen, wenn sie rauskommt?«

»Wohin soll sie denn sonst gehen?«

»Sagen Sie mir Bescheid, wenn es so weit ist«, sagte Hirsch … und ich schaue öfter vorbei als nur einmal die Woche.

Dann fuhr er weiter, vorbei an einem Haus mit einem Windsack neben einer Landebahn, immer weiter alte, erodierte Einschnitte in den Erdfalten hinunter, hinein und wieder hinaus. Dann nahm er einen Hohlweg zwischen Hügeln voller Quarzadern und durchquerte das Booborowie Valley, ein Flickenteppich aus Weizenstoppeln, Feldern, die noch auf die Erntemaschinen warteten, und dunkler, grünschwarzer Luzerne – dunkler dort, wo computergesteuerte Sprenkler über den Boden krochen.

Endlich ging es hinauf, über Munduney Hill und auf eine Seitenstraße – und nun bemerkte Kip, dass sein Zuhause näher kam. Er richtete sich auf, steckte seine Schnauze in den Wind und bellte.

»Aber sicher«, sagte Hirsch.

Er bremste vor dem Viehrost am Vordertor – nicht, dass die Fullers noch Vieh gehabt hätten. Dann ging es auf einen Pfad, der an Flockenblumen und Natternköpfen vorbei zu einem aufgebockten, transportablen Haus führte. Hier gab es kein Unkraut. Es war, als habe man einen Schalter umgelegt: frische Queckengraswiesen, Rosensträucher und einheimisches Buschwerk. Graham Fullers alter Land Rover stand nicht im Carport, aber – perfektes Timing – Monica hob gerade ihre Einkäufe aus der offenen Heckklappe ihres Corolla. Sie drehte sich mit einem erwartungsvollen Lächeln um, eine einsame Landfrau, die nicht allzu viel Besuch bekommt, und das Lächeln wich der Neugier, als sie sah, dass die Polizei vor ihrer Tür stand.

Dann entdeckte sie Hirschs Beifahrer, und schiere Freude ließ ihr Gesicht aufleuchten. Sie ließ die Einkaufstüten los, wischte sich die Handflächen an der Hose ab, kam angerannt und riss die Beifahrertür auf. »Sie haben ihn gefunden!«

Kip winselte und sabberte, und sein Schwanz peitschte den Beifahrersitz.

»Wo bist du gewesen, du Ungeheuer? Du armes Ding, du bist ja ganz dreckig.« Sie warf Hirsch einen Blick zu, so als sei sie unsicher, was sich jetzt gehörte. »Darf ich?«

Hirsch grinste. »Er ist nicht verhaftet worden, falls Sie das meinen.«

Monica Fuller lachte und half dem Kelpie zu Boden. »Vielen, vielen Dank. Wo um alles in der Welt haben Sie ihn gefunden?«

Hirsch erklärte es, und Monica hielt den Kopf schief, so als wolle sie im Geiste eine Route zeichnen. »Er war also mehr oder weniger auf dem Heimweg«, sagte sie. »Gott weiß, wo er sich herumgetrieben hat. Kommen Sie herein und trinken Sie einen Tee. Ich schicke Graham eine SMS, er wird ja so was von aus dem Häuschen sein.«

Aus reinem Spannungsabbau schnatterte sie weiter. Nach ein paar Minuten hatte sie Kip mit einem Knochen auf die Veranda gesetzt, damit er was zu kauen hatte, hatte Dosen und Päckchen in Speisekammer und Kühlschrank verstaut und einen Becher Tee und ein Stück Weihnachtskuchen vor Hirsch gestellt. Eine verwohnte Küche, hier und da noch eine Spur vom Orange der Siebzigerjahre, Resopal und beschichtete Spanplatte. Ein Haus, bei dem die Modernisierung der Küche auf der Wunschliste stand, das Geld aber knapp war. Spärlich fiel ein wenig Licht durch das Fenster über der Spüle, etwas mehr drang durch die Fliegengittertür zur Veranda. Hirsch konnte auf dem Hinterhof Tomatenpflanzen an Stecken erkennen, ein altes, steinernes Plumpsklo und einen Geräteschuppen. Heutzutage gab es keine landwirtschaftlichen Geräte mehr, nur noch rostige Pflugscharen, vergammeltes Heu und leere Getreidesäcke.

Monicas Handy pingte. Sie hatte ein rundes Gesicht, eine zufriedene Ausstrahlung und drahtiges schwarzes, silbern durchzogenes Haar. Etwa vierzig, ein Allerweltsgesicht, aber Hirsch ahnte ihre Cleverness, ihre Fähigkeit, zu beobachten und abzuwarten. Sie las die Nachricht auf dem Handy und lächelte ihn fröhlich an.

»Graham meint, er schuldet Ihnen ein Bier.« Dann runzelte sie die Stirn. »Ist das überhaupt erlaubt?«

»Ich bin durchaus auch mal nicht im Dienst.«

Wieder lächelte sie. »Das habe ich gehört. Mrs Street, Wendy, ist die Lehrerin meiner Jüngsten.«

In der Highschool wird über mich gesprochen?, wunderte sich Hirsch. »Ich hänge die Fahndungsfotos ab, wenn ich zurückfahre.«

»Fahndungsfotos«, lachte sie.

Graham Fuller war Montagmorgen auf dem Weg zur Arbeit auf dem Revier vorbeigekommen und hatte ein Dutzend DIN-A4-Ausdrucke mitgebracht: ein Foto von Kip, wie er auf den Hinterläufen sitzt und den Fotografen mustert. Haben Sie Kip gesehen? Belohnung in großen schwarzen Buchstaben. Hirsch hatte einen Ausdruck an die Wand neben das Drahtgitter mit all den Hinweisen der Polizei, des Bezirks und des Gesundheitsamts gepinnt, und die ganze Woche lang hatte er Kips Bild überall in der Stadt gesehen: an Strommasten, Zaunpfosten, Schaufenstern. Insgeheim hatte er das für einen hoffnungslosen Fall gehalten. Kip war von einer Schlange gebissen, vom Nachbarn erschossen oder geklaut worden. Oder er war, im schlimmsten Fall, weggelaufen, weil er einmal zu oft geschlagen worden war.

Jetzt fragte sich Hirsch, ob der Hund der Fullers vielleicht geklaut worden war. Er trank einen Schluck Tee. »Wenn ich recht verstehe, hat Kip in seinen besten Zeiten ein paar Preise gewonnen.«

Monica winkte bescheiden ab. »Vier Jahre hintereinander bester Schäferhund bei der Schau in Redruth, damals, als wir noch Schafe hatten.«

Die übliche Geschichte. Die Familienfarm konnte keine Familie mehr ernähren. Entweder verkaufte man an einen reicheren Nachbarn oder an eine Agrofirma in chinesischer Hand, oder man suchte sich andere Arbeit und blieb. Graham Fuller betreute jetzt Windräder; Monica arbeitete zwei Tage die Woche im Krankenhaus in Clare. Das bedeutete viel Fahrerei.

»All diese Preise«, sagte Hirsch. »Wie haben das die anderen Hundebesitzer aufgenommen? Hat das vielleicht jemand in den falschen Hals gekriegt?«

Monica befeuchtete sich eine Fingerspitze, tupfte die Krümel auf ihrem Teller auf und sah ihn zweifelnd an. »Also wirklich … die Schau in Redruth? Das ist doch Kleinkram und schon ewig her.«

»Menschen sind nachtragend.«

Monica schüttelte den Kopf. »Ich frage mich, ob das was mit damals zu tun haben könnte, als die Telefonleitung durchtrennt worden ist – aber eigentlich wüsste ich nicht wie.«

Es war eines Abends im letzten Januar gewesen. Monica und Graham waren gerade zu Bett gegangen, als sie Lärm auf dem Hof hörten und jemand an die Haustür klopfte. Kip hatte gebellt und so lange an seiner Kette gezerrt, bis sie riss – Graham hatte gerade noch sehen können, wie er in der Dunkelheit verschwand –, und Monica hatte versucht, die Polizei anzurufen, und festgestellt, dass die Leitung tot war. Kip war wieder aufgetaucht. Graham hatte entdeckt, dass die Telefonleitung mit einem sauberen Schnitt durchtrennt worden war und ein paar Gartengeräte fehlten.

Kupfer schon wieder. Allerdings nicht viel Kupfer, außerdem war es nur durchtrennt, nicht gestohlen worden. »Weit hergeholt«, meinte Hirsch.

Monica winkte ab, so als wolle sie ihre eigene Idee abtun. »Ich weiß, ich weiß; schwer vorzustellen, dass sie den Zwinger gesehen und sich gedacht haben, ach, ein Hund, da kommen wir am Jahresende noch mal wieder und klauen den Köter.«

»Na, jedenfalls ist er wieder da, das ist die Hauptsache.«

Trotzdem, zwei Zwischenfälle innerhalb eines Jahres, von denen die Polizei wusste. Das war weit über dem Durchschnitt für diese Gegend. Hirsch stand auf, reckte sich und meinte, er müsse dann mal los. Durch die kleine Rundtür, die verriet, wie alt das Haus schon war, sah er ein Wohnzimmer mit einem kleinen, überladenen Tannenbaum, Weihnachtskarten, die an einer Schnur unter dem Kaminsims über einem gasbetriebenen Kunstfeuer baumelten, dazu Girlanden aus rotem, grünem und silbernem Lametta. »Schöne Feiertage«, sagte er, »und danke für den Kuchen.«

»Ihnen auch schöne Feiertage. Und tausend Dank, dass Sie Kip nach Hause gebracht haben«, sagte Monica.

Sie brachte ihn hinaus und schaute zu, wie er sich vorbeugte und dem Hund den Kopf tätschelte. »Diese Wunden – jemand hat ihn verprügelt.«

Das war eine Möglichkeit, fand Hirsch. »Vielleicht hat er sich auch mit einem anderen Hund angelegt.«

»Nein, das war ein Knüppel«, entgegnete Monica Fuller.

Sie ging mit Hirsch zu seinem Allrad. »Ich möchte Ihnen ja nicht noch mehr Arbeit aufhalsen, Paul, aber im Ort hat es ein ziemliches Durcheinander gegeben, als ich einkaufen war.«

Hirsch wusste von nichts. Vielleicht hatte er gerade kein Signal gehabt. »Will ich es wissen?«

»Brenda Flann.«

»Ich will es nicht wissen«, sagte Hirsch.

2

Jeder Vorort, jedes Kaff im Busch hat seine Flanns. Sie wohnen in heruntergekommenen Häusern; Schrottkarren und uralte Waschmaschinen rosten auf überwucherten Brachflächen vor sich hin. Im Staub spielen räudige Köter und kleine Rotznasen. Es ist nicht erkennbar, womit sie ihr Geld verdienen, doch davon scheint es immer gerade genug zu geben. Stets sitzen ein paar Familienangehörige im Gefängnis oder sind »polizeibekannt«. Wutausbrüche im Pub, bei der Arbeit, auf dem Schulhof, beim Australian Football. Einem Flann kommt man besser nicht schräg.

Brenda Flann und ihre Sippe wohnten östlich von Tiverton, draußen auf dem Land, das im Regenschatten lag und wohin sich die frühen Siedler von einem ganzen Jahr nahezu ununterbrochener Regenfälle hatten locken lassen, nur um dann von jahrzehntelanger Dürre geplagt zu werden. Stu, ihr Mann, saß wegen Raub fünf Jahre ab; ihre Söhne schlugen denselben Weg ein. Brenda selbst war kein Langfinger – zumindest war sie noch nicht geschnappt worden –, aber sie hatte einen Bleifuß. Sie sammelte Strafzettel und Fahrverbote wie andere Frauen Handtaschen. 

An diesem Morgen – laut Monica Fuller vor nicht mal einer Stunde – hatte Brenda versucht, das Pub in Tiverton zu betreten, ohne daran zu denken, vorher aus dem Wagen zu steigen.

»Es hat einen Mordskrach gegeben, ich bin aus dem Laden gerannt, und da steckte sie schon unter der Veranda fest.«

»Ist sie verletzt?«

»Ach, die hat doch neun Leben«, sagte Monica. »Aber sie hat einen der Stützpfeiler umgefahren, und ein Teil des Dachs ist auf ihrem Wagen gelandet.«

»Wieder mal betrunken«, murmelte Hirsch.

»Na, ob die jemals nüchtern ist? Jedenfalls saß sie da und versuchte, rückwärts von der Veranda zu fahren. Aber sie ist nicht sehr weit gekommen, Ed und Martin haben sie aus dem Wagen gezogen und den Schlüssel kassiert.«

Ed Tennant war der lokale Ladenbesitzer; Martin Gwynne war der lokale Besserwisser. Als Hirsch an den Papierkram dachte, der auf ihn wartete, schloss er kurz die Augen. Jedermann-Arrest, falls es sich überhaupt darum handelte. Verhaftung durch die Polizei. Schadensaufnahme, Zeugenaussagen, der ganze Rattenschwanz … außerdem nahm er lieber eine Speichelprobe von einem hungrigen Pitbull, als Brenda Flann ins Röhrchen pusten zu lassen.

»Wo ist sie jetzt?«, fragte er und grübelte darüber nach, dass er einen ziemlich breiten Streifen juristischen Treibsands überqueren musste, falls Ed und Martin sie eingesperrt hatten.

»Sie haben sie in ihrem Wagen nach Hause gefahren.« Und so, als könne sie seine Gedanken lesen, fügte sie an: »Sie haben die Wagenschlüssel behalten, und mit ein bisschen Glück liegt sie bewusstlos auf dem Bett.«

Hirsch schüttelte den Kopf und dachte an die anderen Fahrzeuge, die den Flanns gehörten.

Monica grinste ihn durchtrieben an. »Wollen Sie mal einen kurzen Blick drauf werfen?«

Vergnügt zog sie das iPhone aus der Hosentasche, tippte und wischte. Dann beschattete sie den Bildschirm mit der Hand und zeigte Hirsch eine ganze Reihe von Fotos: Das Heck eines staubigen Falcon Kombi aus den Achtzigern, ein durchhängendes Stück des Verandadachs aus Wellblech, ein eingeknickter Stützpfosten, Ed und Martin, die Brenda in ihre Mitte genommen hatten.

»Soll ich Ihnen die Fotos mailen?«

Hirsch nickte und gab ihr seine Mailadresse. »Und ansonsten besser für sich behalten«, sagte er leichthin, »hat ja keinen Zweck, so etwas online zu stellen.«

Monica schreckte übertrieben spielerisch zurück. »Um sich mit den Flanns anzulegen?«

Hirsch war plötzlich ganz erschöpft. »Brenda geht einem fürchterlich auf die Nerven.«

Monica tätschelte seinen Arm. »Viel Glück.«

Um halb zwei hatte Hirsch die schmerzhaft holprigen Nebenstrecken hinter sich gelassen und war wieder auf dem Barrier Highway; er fuhr langsamer und kam in die südlichen Ausläufer von Tiverton. Ein paar hingekauerte Farmhäuser, die aufgelassene Bahnstation, die Getreidesilos. Als Hirsch vor einem Jahr nach Tiverton versetzt worden war, waren die Silos noch trist, grau und verwittert gewesen. In der Zwischenzeit hatte sie ein Künstler bemalt: ein riesiger, blühender Pfeifenputzer und eine Wüstenerbse auf dem einen, die Köpfe von Merinoböcken auf dem anderen. Sie hatten etwas Erhebendes an sich, fand er. Die künstlerische Fertigkeit, die Überraschung, das Gefühl, sich von dem biederen Leben ringsherum befreien zu können. Andere empfanden das ebenso, eine Mischung aus Stolz und Freude.

Hirsch fuhr weiter, vorbei an kleinen steinernen Häusern hinter Hecken, an der katholischen Kirche, einer verlassenen Autowerkstatt, der Uniting Church, dem Mechanics’ Institute mit dem steinernen ANZAC-Soldaten davor, dem Pub – ein paar frühe Gäste begutachteten das verzogene Blech der Veranda – und schließlich, an dem nördlichen Ende des Ortes, vorbei am Laden und an der Grundschule gegenüber dem Polizeirevier.

Polizeirevier. Tatsächlich handelte es sich nur um das Vorderzimmer eines winzigen rot geziegelten Hauses, mit einem brusthohen Tresen, der Hirschs Schreibtisch, seinen Drehstuhl, die Aktenschränke und den Computer vom gewöhnlichen Volk trennte. Hinter dem Büro führte eine Tür in seine beengten Wohnräume. Vor dem Haus ein fleckiges Stück Gras und ein Maschendrahtzaun, neben dem Tor ein kleines, blauweißes Schild mit der Aufschrift POLICE. Eine kurze, mit Schlaglöchern übersäte Zufahrt, im Carport neben dem Haus sein alter Nissan. Dank der kurvigen, holprigen Nebenstrecken und dem mit allerlei Ausrüstungsgegenständen behangenen Gürtel war Hirschs Rücken eine permanente Baustelle, deshalb wendete er und parkte am Straßenrand, statt durch die Schlaglöcher in der Zufahrt zu hüpfen. Die Jungs vom Straßenbauamt hatten ihm versprochen, ihm irgendwann ein paar Schaufeln übrig gebliebenen Asphalt vorbeizubringen, doch bislang war noch nichts geschehen.

Er schloss den Dienstwagen ab, blieb einen Augenblick stehen und legte sich den restlichen Nachmittag im Geiste zurecht. Er hatte noch immer die Sandwiches dabei, die er sich am Morgen eingepackt hatte. Dann wollte er den Anrufbeantworter abhören, die Dienst-Mails lesen, sich mit Brenda Flann und den Nachwehen ihres kleinen Abenteuers beschäftigen. Und Katie Street nach Hause bringen. Morgen war der letzte Schultag, nächste Woche Weihnachten: Wendys Tochter würde sich scheckig freuen.

Schließlich aß Hirsch unter dem müden Wischen des Deckenventilators zu Mittag. Abgestandene, zu warme Luft. Keine Nachrichten auf dem AB, nur ein paar Dienstmemos in der Mailbox; die Buchstaben verschwammen ihm vor den Augen. Was sollte denn »Abwärtskommunikation« sein? Genauer gesagt, was wurde von ihm deswegen erwartet? Als er an die Stelle kam, wo von »Key-Performance-Indikatoren« die Rede war, meldete er sich ab. Er hatte zwanzig Minuten seines Lebens vergeudet. 

In seinem Eingangskorb lag ein anklagender Briefumschlag, von seiner Mutter in ihrer großen, runden Handschrift adressiert. Wie nicht anders zu erwarten, enthielt der Umschlag ein Blatt Papier, bis an die Ränder vollgetippt, der Rundbrief, den seine Eltern jede Weihnacht an alle verschickten. Hirsch rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum: Liebe, peinliche Berührtheit, Mitgefühl, Zynismus. Manchmal hielt er sich nicht für einen besonders netten Menschen; ganz gewiss war er kein besonders netter Sohn.

Er überflog die Seite. Wo seine Eltern im Laufe des Jahres gewesen waren. Wen sie besucht hatten. Der Garten. Rasenbowling und Golf. Wer gestorben war, wer erneut geheiratet, sich fortgepflanzt hatte, an die Gold Coast gezogen war. Und das einzige Kind: Er ist nun schon ein Jahr auf seinem Posten in Tiverton und liebt das Leben im Busch!!! Seine Mutter ging immer großzügig mit Ausrufezeichen um.

Und mit dem üblichen vorwurfsvollen Unterton folgte noch in blauem Kugelschreiber eine Nachricht für ihn: »Für unseren lieben Paul. Wir denken stets an Dich und hoffen, dass Du ein fröhliches Weihnachtsfest verbringst. Hoffentlich sehen wir uns bald mal wieder, Ma und Pa.«

Auf der diesjährigen Weihnachtskarte war ein Cartoon mit zwei Schornsteinen. An dem einen schnappte ein Polizist einen maskierten Einbrecher, der gerade herauskletterte, in den anderen stieg der Weihnachtsmann von seinem Schlitten hinein. Hirsch legte sie zu den anderen fünf: vom Kramladen, von Martin und Joyce Gwynne, von Katie und Wendy Street, den Muirs und von Rosie, seiner einzig noch verbliebenen Freundin im Polizeipräsidium.

Er setzte sich wieder auf seinen klapprigen Stuhl und ließ die Gedanken wandern. Ein wolkenloser, windstiller Tag; die brennende Sonne stand hoch am Himmel. Er hatte absolut keine Lust, wieder nach draußen zu gehen. Aber es war zwei Uhr, und Katie kam um drei aus der Schule. Er sollte sich jetzt besser hinter die Sache mit Brenda Flann klemmen.

Doch er blieb sitzen. Nach einer Weile hörte er, wie ein Auto draußen mit quietschenden Bremsen zum Stehen kam. Eine Wagentür schlug zu, jemand näherte sich entschlossenen Schrittes. Hirsch hatte sich an die Motorengeräusche der Nachbarn und den allgemeinen Geräuschpegel der Barrier Highway gewöhnt. Hier handelte es sich um jemanden, der dringend die Aufmerksamkeit der Polizei suchte.

Zornbebend platzte Martin Gwynne herein. Sechzig, im Ruhestand, gepflegt, ein Mann voller Energie; ständig war er im Einsatz. Auf der Straße, im Geschäft, auf Gemeinderatssitzungen, im Tennisclub, beim samstäglichen Footballspiel.

Und immer wieder mal baute er sich wegen diesem oder jenem im Polizeirevier vor Hirsch auf.

Hirsch drehte sich auf dem Stuhl um. »Guten Tag, Martin. Hab von Ihrem Theater heute Morgen gehört.«

Gwynne schniefte. »Tja, Sie waren ja nicht da, also mussten wir selbst handeln.«

Donnerstags und montags vormittags bin ich nie da, aber das wissen Sie doch, Martin. Hirsch stand nicht auf.

Dann knallte Gwynne einen Schlüsselbund auf den Tresen. »Brendas Schlüssel. Ich hoffe nur, sie kriegt sie nicht so bald zurück.«

Also gut, dachte Hirsch, stand langsam auf und trat an den Tresen.

»Die Frau ist eine Bedrohung. So wie die herumrast, wird sie noch jemanden umbringen.«

Ein Hausschlüssel, ein Ford-Autoschlüssel, eine kurze Silberkette mit einem winzigen Paar Würfeln am Ende. »Erzählen Sie mir noch mal alles von Anfang an«, sagte Hirsch.

»Wo soll ich anfangen?«, sagte Gwynne. Er plusterte sich auf, bis sein blassrosa Lacoste-Hemd spannte. Ein kleiner Bauch über einer Cargohose mit Bügelfalte. Segelschuhe.

Hirsch hob schnell die Hand. »Als Erstes muss ich wissen, Martin, ob Sie sie festgenommen haben. Was ich damit meine, haben Sie Brenda gegenüber tatsächlich diese Worte benutzt?«

Gwynne machte ein überraschtes, leicht verärgertes Gesicht. »Sie festzunehmen ist doch Ihre Aufgabe.«

»Ich will nur wissen, ob alles seine Ordnung hat«, sagte Hirsch erleichtert. Dann klapperte er eine Reihe von Fragen ab, die einzige Chance, um Martin Gwynnes umständliches Gerede zu umgehen. Der Ablauf der Ereignisse war schnell erzählt: Martin hatte sich mit Ed Tennant an der Zapfsäule vor Tennants Laden unterhalten. Sie hatten Brendas weitbekannten Kombi – rostige, verbeulte blaue Karosserie, verblichene weiße Motorhaube – gesehen, wie er in den Ort kam, kurz anhielt, um Adam, Brendas Jüngsten, abzusetzen, und dann weiter zum Pub fuhr.

»Sie fuhr in Schlangenlinien. Und dann stand sie auch schon auf der Veranda vor dem Pub.«

»Gehen Sie noch mal einen Schritt zurück. Wo hat sie Adam abgesetzt?«

Martin legte irritiert die Stirn in Falten. »Keine Ahnung. Bei den Cobbs, vielleicht? Er ist ein Kumpel von Daryl. Viel wichtiger ist doch …«

Viel wichtiger war, dass Martin und Ed zum Pub gerannt waren, um nachzuschauen, ob Brenda etwas passiert war. »Besser gesagt, ob sie jemand anderen verletzt hat. Aber als wir dort ankamen, wollte sie gerade zurücksetzen, also holten wir sie aus dem Wagen und kassierten den Schlüssel.«

»Kluge Entscheidung.«

Martin richtete sich ein wenig auf. »Dann hat Ed sie in ihrem Wagen nach Hause gefahren, ich bin ihm gefolgt und habe ihn zurückgefahren. Wir haben sie aufs Sofa gelegt, damit sie ihren Rausch ausschlafen kann.«

Wo sie an ihrem eigenen Erbrochenen erstickt ist, fragte sich Hirsch – gleichzeitig erleichtert, dass Ed Brenda gefahren hatte, nicht Martin. Martin hätte sie nur den ganzen Weg über ausgeschimpft, und sie hätte nun mit Körperverletzung oder gar einem Mord zu tun. »Ihr Auto war also noch fahrtüchtig?«

»Wenn man es so nennen kann«, meinte Gwynne.

Hirsch ergänzte im Kopf seine Aufgabenliste: Brenda Flanns Wagen und den Schaden am Pub fotografieren. Sein Nachmittag war gestopft voll. Vielleicht konnte Katie nach der Schule mit einer Freundin im Ort nach Hause gehen? Oder bei ihm fernsehen – er hatte ihr gezeigt, wo der Schlüssel zur Hintertür versteckt war. Wenn Martin Gwynne endlich fort war, würde er ihr eine SMS schreiben.

Gwynne schaute auf die Uhr. »Jetzt werden Sie doch wohl diese Person verhaften, oder?«

Hirsch nahm Brenda Flanns Schlüssel an sich. »Danke, Martin, ich werde später eine offizielle Zeugenaussage von Ihnen einholen. Gut gemacht, übrigens.«

Gut, dass er das gesagt hatte. Martin Gwynne stand strahlend in dem kleinen Wartebereich in der heißen, stehenden Luft, der lahme Ventilator ließ die öffentlichen Ankündigungen flattern und warf eine von Hirschs Weihnachtskarten um.

Gwynne kostete die Gelegenheit aus und schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, was die Frau sonst noch für einen Schaden angerichtet hätte, wenn ich nicht – «

»Ach, übrigens, Martin, haben Sie nachgeschaut, ob Brenda verletzt ist?«

Gwynne stutzte. »Was? Nein. Der gehts gut. Als ich ging, schnarchte sie gerade auf dem Sofa die Bude zusammen.«

Hirsch musste dringend zu Brenda Flann. Allein – der Mann im Gefängnis, Adam außer Haus, Wayne auf dem Löschfahrzeug …

»Ich sollte besser mal los«, sagte er, schnappte sich seine Dienstmütze und schnallte sich Dienstwaffe und den Ausrüstungsgurt um, der dafür sorgte, dass sich der Chiropraktiker seines Vertrauens eine Privatschule für die Kinder leisten konnte.

Gwynne ließ ihn nur ungern gehen. »Sie haben das Santa-Claus-Kostüm noch nicht abgeholt, Paul.«

Martin, Hüter des örtlichen Kostüms, hatte immer wieder gefragt, wann Hirsch denn vorbeikommen und das Kostüm abholen wolle. Und zum Essen bliebe. Ein weiteres Essen im bedrückenden Esszimmer der Gwynnes, Martins neugierige Fragen, sein erbittertes Geschwätz, die kleinlaute Gattin, die er Mutter nannte.

»Danke, dass Sie mich erinnern, Martin. Ich komme morgen Vormittag irgendwann vorbei.«

»Oder heute Abend, und Sie bleiben zum Essen. Dann können Sie mir erzählen, wie es mit Brenda gelaufen ist.«

»Tut mir leid, aber heute Abend muss ich die Weihnachtsbeleuchtung bewerten«, redete sich Hirsch heraus. »Aber vielleicht kann ich ja darauf zurückkommen, wenn der Feiertagswahnsinn vorüber ist?«

»Ich nehme Sie beim Wort, Paul.«

Hirsch schloss ab, befestigte einen Zettel mit seiner Handynummer an der Haustür und folgte Martin Gwynne hinaus in die gleißende Sonne. Ein sandiger Wind war aufgekommen, wirbelte Papier über den Gehweg und zerrte an der Suchanzeige der Fullers am nächstgelegenen Strommast. Hirsch riss sie ab, zerknüllte sie und sagte: »Vielen Dank noch mal, Martin.«

»Sie werden sich doch wohl als Erstes den Schaden am Pub besehen, nehme ich an, damit Sie einschätzen können, was Sie Brenda alles zur Last legen können?«

Martin hatte zweifellos sein ganzes Leben lang den Leuten gesagt, was sie zu tun hätten. Seiner Frau, seinen Angestellten, den Handwerkern, den Nachbarn, dem Gemeinderat, den öffentlichen Angestellten. Hirsch begriff so langsam, warum er dieses Jahr Santa Claus spielen sollte, nicht Martin. Der Ort nahm Rache.

»Nein, als Erstes schaue ich, ob es Brenda gut geht, Martin«, sagte er. Für den Fall, dass sie ein Schleudertrauma hat, eine Gehirnerschütterung, innere Blutungen, Erbrochenes in der toten Lunge, okay?

Gwynne war nicht sicher, ob das wirklich okay war, wie man deutlich an seinem Blick erkennen konnte, als sie neben der Fahrertür von Hirschs Streifenwagen standen. Doch das behielt er für sich. Stattdessen sollte er in wenigen Sekunden Hirsch das Leben retten.

3

Hinterher reimte sich Hirsch das Ganze zusammen.

Brenda Flann war zu Hause auf ihrem Sofa aufgewacht und hatte einen Brand. In irgendeiner weit entfernten Ecke ihres Verstands rührte sich die Vorstellung, dass sie doch im Pub sein sollte – dass sie tatsächlich dort gewesen war; aber warum war sie jetzt zu Hause? Sie schaute aus dem Fenster: Dort stand ihr Wagen. Dann überkam sie ein noch stärkerer Gedanke: Sie musste dringend was trinken, also suchte sie nach ihren Schlüsseln. Sie konnte sie nicht finden, doch aus reinem Instinkt ging sie an die Küchenschublade, in der immer aller Krempel landete, wankte dann zu ihrem Wagen hinaus und zielte vage mit dem Ersatzschlüssel nach dem Zündschloss. Sie stutzte, als sie die kaputte Front des Wagens sah: Die Stoßstange war eingedrückt und die Motorhaube mit Dellen übersät. Sie konnte sich nicht daran erinnern, einen Unfall gehabt zu haben. Einer der Jungs? Egal, war sowieso eine Schrottkarre.

Sie fuhr über die leeren Nebenstraßen nach Tiverton und wollte gerade auf den Highway in Richtung Pub abbiegen, als sich ein dritter Instinkt meldete – der Drang, geschehenes Unrecht zu vergelten. Denn da drüben, fünfzig Meter weiter, war das Polizeirevier, und Martin Gwynne und dieser Arsch von Bulle standen draußen und quatschten. Scheißkerle, alle beide. Der Bulle hatte sie öfter geschnappt, als sie zählen konnte, und Martin Gwynne hatte ihretwegen immer ein verächtliches Grinsen auf den Lippen. Und dann war da noch eine undeutliche Erinnerung an etwas Neues: Gwynne hatte sie angefasst? Brenda bekam es nicht mehr genau hin, aber sie war sicher, dass der Mistkerl sich irgendwelche Freiheiten herausgenommen hatte.

Sie drückte aufs Gaspedal und riss das Lenkrad herum, als sie auf die Landstraße schoss. Ups, zu viel. Sie riss das Lenkrad in die andere Richtung und schlingerte Obszönitäten brüllend auf Hirsch und Gwynne zu.

Jedenfalls rekonstruierte Hirsch später so in etwa, was in Brendas versoffenem Gehirn vor sich gegangen sein mochte. Im Augenblick war Brenda jedenfalls drauf und dran, ihn auszulöschen; sie drückte ihr verzerrtes Gesicht gegen die Scheibe, die verbeulte Front des Falcon kam auf ihn zu, der Motor heulte auf, die abgefahrenen Reifen qualmten, der Kühler kochte.

Sein Verstand löste sich in nichts auf. Er stand halb gebeugt da, glotzte ungläubig, und das Herz hinter dem dürftigen Schutz der dünnen Rippen raste. Er hätte umkommen können.

Martin Gwynne reagierte als Erster und streckte die Hand aus. Seine blassen Spinnenfinger packten Hirschs Unterarm und zogen ihn weg, ohne dass Hirsch Widerstand leistete. Sie stolperten über ihre Füße und landeten in dem Spalt zwischen ihren Autos, als Brenda vorbeischoss und den Kuhfänger an Hirschs Dienst-Allrad streifte. Ein heftiger Schlag, dazu das Geräusch zerreißenden Blechs. Der alte Falcon blieb kurz stehen, so als wolle er einen Widerstand abschütteln, dann schoss er über die Straße und durchbrach den Zaun der Grundschule.

Als wieder Ruhe einkehrte, stand Brendas Wagen auf halber Strecke zwischen dem Fußweg und dem nächsten Klassenzimmer in einer Wolke aus Dampf und Staub. Kleine Köpfe füllten die Fenster aus. Vögel landeten wieder auf den Stromleitungen, in einem Nachbarhaus kündigte ein Radio leise die Nachrichten von ABC an, eine Bö blähte eine Einkaufstüte auf und ließ sie tanzen. Dann kehrte der Alltag wieder ein, als ein mit Heu beladener Sattelschlepper durch den Ort rollte und der Fahrer den Hals reckte, um besser sehen zu können.

Hirsch befreite sich von Martin und klopfte sich den Staub ab. Er schaute Martin an und fragte: »Alles in Ordnung?«

Gwynne sprach in einem höchst offiziellen Ton. »Ich schätze, wir können festhalten, es ist eine gute Sache, dass meine Reaktionszeit über dem Durchschnitt liegt, sonst wären Sie jetzt erledigt.«

Hirsch atmete ein und aus. Seine Gedanken sprangen umher und kamen zu dem einzigen Schluss: Jetzt konnte er sich einer Einladung zum Essen wohl nicht mehr entziehen.

»Ich schau mal bei Brenda nach«, sagte er.

Hirschs Erfahrungen nach war die Welt voller Menschen, die glaubten, dass die Regeln für sie nicht galten, deshalb war er froh und erleichtert, als er feststellte, dass Brenda sich angeschnallt hatte.

»Ihre Verletzungen wären sonst erheblich schlimmer gewesen«, sagte der Fahrer des Rettungswagens eine halbe Stunde später. Ein gebrochener Arm, eine Platzwunde an der Stirn, Schleudertrauma, vielleicht ein paar gebrochene Rippen. Brenda war noch immer bewusstlos.

»Nur gut, dass Sie sie nicht angerührt haben«, meinte der zweite Sanitäter.

Hirsch bedankte sich bei den beiden, winkte ihnen nach, sprach mit der Direktorin der Grundschule, nahm Brendas Schultertasche aus dem Fußraum des Falcon und ging zurück zum Polizeirevier, wo Martin noch immer herumlungerte. Hatte der Kerl denn gar nichts zu tun?

Wie zur Antwort auf Hirschs innerliches Gebrummel, meinte Martin im Ton des Betriebsleiters: »Ich finde, Sie sollten meine Aussage zu diesem Zwischenfall hier und dem am Pub besser gleich aufnehmen, solange die Einzelheiten noch frisch im Gedächtnis sind.«

»Gute Idee«, meinte Hirsch freundlich.

Er bat Gwynne hinein, schob sich um den Tresen in sein enges Büroeck, stopfte Brendas Tasche in die untere Schublade seines Schreibtischs und suchte den nötigen Formularkram hervor.

Martin, ein Mann, der Ordnung brauchte, sie aber selten vorfand, wartete stirnrunzelnd. »Da wir ja beide bei dem neuesten Zwischenfall mit Brenda beteiligt sind, sollten wir den als Erstes anpacken.«

»Gute Idee«, wiederholte sich Hirsch.

Er suchte sich einen Kugelschreiber, der funktionierte, fing an zu schreiben und murmelte dabei halblaut vor sich hin: »Datum, Uhrzeit, Ort. Wer, was, wo, wann und warum …«

Martin Gwynne las auf dem Kopf mit und sagte: »Es war eher vierzehn Uhr zwanzig, nicht fünfzehn.«

»Gut beobachtet.«

»Ruhiges Wetter«, sagte Gwynne, »klare Sicht, trotz eines leichten Dunstschleiers.«

»Richtig.«

Martin ließ Hirsch Zeit, dann diktierte er ihm einen Augenzeugenbericht: Reihenfolge der Ereignisse, Orte, Entfernungen. Mögliche Zeugen. Drei Fahrzeuge standen in der Nähe – eins neben dem Revier, zwei davor. Nummernschilder.

Hirsch stutzte und blickte auf. Martin las aus einem kleinen Spiralblock ab.

»Sie sind sehr gründlich, Martin.«

Gwynne nickte: Das war seine Pflicht. »Schließlich wurde, dank meiner schnellen Reaktionen, eine mögliche Tötung oder schwere Verletzung Constable Hirschhausens verhindert.«

Hirsch hätte das beinahe hingeschrieben. »Zeugenaussagen sollten, ähm, neutral sein. Nur die Tatsachen.« Als Martin leicht beleidigt wirkte, fügte er noch an: »Keine Ausschmückungen. Wie wärs, wenn wir sagen: ›Ich zog Constable Hirschhausen aus der Spur von Mrs Flanns Wagen‹?«

Gwynne dachte darüber nach und schien den Satz bemängeln zu wollen. »Sie wissen das am besten, Paul. Aber Tatsache ist, wenn ich nicht da gewesen wäre, wären Sie vielleicht ums Leben gekommen.«

Hirsch erkannte, wie sehr es Martin Gwynne nach den Lorbeeren verlangte. Noch immer freundlich gesinnt, schüttelte er angesichts der vielen Möglichkeiten, die das launische Glück einschlagen mochte, den Kopf und sagte: »Da haben Sie verdammt recht, Martin. Es schaudert mich bei dem Gedanken daran.«

Gwynne nickte zufrieden und erzählte weiter, und Hirsch schrieb Wort für Wort mit. Martin würde ohnehin alles noch mal durchlesen, bevor er unterzeichnete, später daran herumzudoktern war also ausgeschlossen.

Dann gab es einen kürzeren Bericht vom Unfall beim Pub. Als sie damit fertig waren, klatschte Gwynne in die Hände. »Schätze, wir könnten beide eine aufmunternde Tasse Tee gebrauchen. Kommen Sie doch einfach mit zu mir auf eine schnelle Tasse, und wenn Sie schon mal da sind, können Sie auch gleich das Kostüm mitnehmen.«

Hirsch stellte es sich bildhaft vor: das öde Esszimmer; Martin, der ihm haarklein erzählte, was nicht stimmte in der Welt; Mutter, die sie umsorgte.

»Ein andermal. Ich muss noch die anderen Zeugenaussagen aufnehmen, Berichte schreiben und Brendas Söhnen Bescheid geben.«

Gwynnes Gesichtszüge verhärteten sich kurz, ein kurzes Aufflackern unterdrückter Enttäuschung. »Also gut. Dinner?«

»Die Weihnachtsbeleuchtung, schon vergessen?«, entgegnete Hirsch. »Am Wochenende vielleicht?«

»Sonntag um halb sieben«, hielt Martin Gwynne fest und machte kehrt.

Hirsch nahm die Aussage eines arbeitslosen Schafscherers auf, der sein Bier verschüttet hatte, als Brenda direkt neben ihm die Veranda hinaufgeschossen kam, die Aussage des Wirts und die einer älteren Frau, die auf der anderen Straßenseite ihre Rosen geköpft hatte. Ihre Aussagen unterschieden sich nur wenig, wenn auch die Gärtnerin meinte, Mr Gwynne sei unnötig grob mit Mrs Flann umgegangen. Dann fuhr Hirsch zum Laden, um mit Ed Tennant zu reden.

Er blinzelte, um sich an das dämmrige Licht zu gewöhnen, als er aus der gleißenden Sonne in den Laden kam. Eine Frau von einer abgelegenen Farm schaute sich mit einem in der Armbeuge baumelnden Einkaufskorb um. Gemma Pitcher, die junge Frau, die gelegentlich an der Kasse saß und die Regale befüllte, blätterte in einem Katalog herum. Davon abgesehen, war der Laden ein stiller, von der Zeit vergessener Ort. Neben der Kasse lag der Postschalter, dahinter ein Bücherregal, sozusagen die Zweigstelle Tiverton der Bücherei Redruth, eine halbe Stunde weiter die Landstraße entlang. An der hinteren Wand befanden sich Gummistiefel, Overalls, Werkzeuge, Sortierkästen mit Muttern und Schrauben, Benzinkanister, eine Aluminiumleiter. In der Mitte des Raums reihte sich der alltägliche Haushaltsbedarf auf Metallregalen: Frühstücksmüslis, Pfirsiche in Dosen, Waschpulver, Tampons, Aspirin, Haarshampoo.

Hirsch stapfte nach hinten. Dort fand er Tennant in dessen Büro vor, einem kleinen Raum voller Aktenschränken, mit einem Tisch, einem Stuhl und einem alten Kasten von Computer.

Ed, ordentlich, pingelig, mittleren Alters, sagte: »Hab gehört, was beinah passiert wäre.«

Hirsch nickte. Was immer es an Neuigkeiten gab, machte sofort die Runde. »Ich war noch nicht an der Reihe. Davon ab, wegen heute Morgen …«

»Um eins gleich vorweg zu sagen: Es war nicht meine Idee, die blöde Brenda nach Hause zu fahren. Das ist Martins Hirn entsprungen.«

»Er kann ziemlich herrisch sein«, räumte Hirsch ein.

»Ich fand, dass sie einen Arzt gebraucht hätte, ehrlich gesagt. Als wir sie nach Hause gebracht hatten, war da niemand, der auf sie achtgab. Keine Ahnung, wo ihre Jungs waren.«

»Wayne war mit der Feuerwehr unterwegs«, sagte Hirsch. »Adam war zu Besuch bei Daryl Cobb.«

Tennant schüttelte den Kopf: ob nun gleichgültig oder nachdenklich, konnte Hirsch nicht sagen. »Eine kurze Frage, Ed: Haben du und Martin Brenda verhaftet? Sind tatsächlich diese Worte gefallen?«

»Du meine Güte, nein.«

»Habt ihr sie auf irgendeine Weise verletzt?«

Tennant starrte ihn an. »So langsam wünschte ich mir, ich hätte mich da erst gar nicht eingemischt. Willst du damit sagen, das wird noch ein Nachspiel haben?«

»Mach dir keine Sorgen, Ed. Ich bezweifle, dass sie sich an irgendetwas erinnert.«

Er schüttelte Ed die Hand und machte sich auf die Suche nach Brenda Flanns Söhnen.

4

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