Hotel Milano - Tim Parks - E-Book

Hotel Milano E-Book

Tim Parks

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Beschreibung

März 2020, die Welt hat sich über Nacht verändert. Frank ist kurzfristig nach Mailand gereist und sitzt nun in seinem Luxushotel fest, wo er eine folgenschwere Begegnung hat. Eine berührende Geschichte über die Freundlichkeit von Fremden und über einen Mann, der angesichts der Möglichkeit, ein Leben zu retten, auch eine Bilanz seines eigenen ziehen muss. Franks zurückgezogene Existenz in einem ruhigen Stadtteil Londons wird empfindlich gestört, als er zur Beerdigung seines alten Freundes Dan nach Mailand kommen soll. Er hofft, dort seine Ex-Frau Connie, die auch Dans Geliebte war, wiederzutreffen, und fliegt selbstvergessen in das Epizentrum einer Krise, die er in den Nachrichten kaum registriert hat. Es ist Frühling, das Hotel Milano, in dem er abgestiegen ist, bietet jeden erdenklichen Komfort – Frank will es sich ein paar Tage gutgehen lassen, um die jähe Konfrontation mit seiner Vergangenheit zu verdauen. Doch dann gilt von einem Tag auf den anderen eine Ausgangssperre, das gesamte öffentliche Leben kommt zum Erliegen, Frank bekommt keinen Heimflug mehr und sitzt auf unbestimmte Zeit fest. Als er nachts vom Geräusch dumpfer Schläge aufwacht und auf der Suche nach deren Ursprung auf dem Dachboden des Hotels landet, trifft er auf Hakim, einen kleinen Jungen, der sich mit Mutter und Großvater hier versteckt hält. Frank muss eine Entscheidung treffen, die sein Leben und das der Familie für immer verändern wird.

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Seitenzahl: 287

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Tim Parks

HOTEL MILANO

★ ★ ★ ★ ★

Roman

Aus dem Englischen vonUlrike Becker

Verlag Antje Kunstmann

Wohl dem, der ausharrt …

Daniel 12:12

Inhalt

ERSTER TEIL

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

ZWEITER TEIL

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

DRITTER TEIL

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

ERSTER TEIL

I

AM FREITAG, DEM 6. MÄRZ 2020, erhielt ich, völlig unerwartet, gegen Mitternacht einen Anruf, mit dem man mich zu Dan Sandows Beerdigung einlud. Sie sollte am folgenden Nachmittag in Mailand, Italien, stattfinden. Der Leichnam befand sich an Bord eines Fluges, der soeben vom JFK-Airport gestartet war.

Das Wort ›einlud‹ ist vielleicht irreführend. Es war mehr ein Appell.

Ich hoffe, mein Anruf kommt nicht zu spät, Mr. Marriot.

Den Namen des Mannes hatte ich nicht verstanden, aber ich nahm an, er sei Junior Editor, einer der vielen Junior Editors bei der renommierten Zeitschrift, die Dan so lange geleitet hatte. Mein alter Freund und Rivale ist also in Amt und Würden gestorben, dachte ich. Saß bis zum Schluss fest im Sattel.

Diese Verfügung hat uns alle überrascht, sagte die Stimme in entschuldigendem Tonfall. Er wollte neben seiner geliebten Vittoria bestattet werden, wissen Sie.

Wusste ich nicht.

Allerdings werden wir, da man uns erst heute Nachmittag darüber informiert hat – er hat uns alle im Dunkeln gelassen –, nicht rechtzeitig anreisen können. Aus New York. Deshalb rufen wir unsere Mitarbeiter in Europa an, in der Hoffnung, dass einige von ihnen dabei sein können. Um die Zeitschrift zu vertreten. Das ist uns wichtig nach allem, was er für uns getan hat.

Es gab tausend gute Gründe, warum ich nicht auf Dan Sandows Beerdigung gehen sollte. Ich gehöre auch nicht zu den Menschen, die unerwarteten Anfragen spontan nachkommen. Trotzdem versprach ich dem Junior Editor, ich würde mich gleich nach Flügen erkundigen.

Wunderbar, sagte der höfliche junge Mann. Wir sind Ihnen sehr dankbar. Ich maile Ihnen in Kürze die Details.

Eine halbe Stunde später hatte ich einen British-Airways-Flug von London Gatwick nach Mailand-Malpensa gebucht. Zu einem unverschämt hohen Preis. Übernahm die Zeitschrift eigentlich die Kosten? fragte ich mich. Ich lag auf dem Bett und war ziemlich aufgeregt. Es war Jahre her, seit ich zum letzten Mal in ein Flugzeug gestiegen war, und noch länger, seit ich für Dans renommierte Zeitschrift geschrieben hatte. Überhaupt für irgendeine Zeitschrift. Warum also betrachtete man mich dort als einen »unserer europäischen Mitarbeiter«? Wie viele andere hatten sie angerufen, ehe sie auf mich gekommen waren? Ein Relikt.

Hatte der höfliche junge Mann vielleicht »unsere historischen europäischen Mitarbeiter« gesagt? Mir war plötzlich so, als hätte ich das Wort gehört. Das würde Sinn machen. Doch als ich die Unterhaltung, die meine übliche mitternächtliche Suche nach dem passenden Lesestoff fürs Bett unterbrochen hatte, im Geiste noch einmal durchging, war ich mir nur einer einzigen Sache sicher, und das war die Höflichkeit des jungen Amerikaners, sein respektvoller Ton. Dan hat sich immer mit höflichen jungen Männern umgeben, fiel mir ein. Respektvollen jungen Frauen. Sie gehörten zu der renommierten Erscheinung, die Dan Sandow abgab, waren Teil des Raums, den er so viele Jahre lang besetzt hatte. Allerdings klaffte ein Abgrund zwischen seiner Erfahrung und ihrem Eifer. Seiner Gerissenheit und ihrer Hingabe. Hatte er Affären mit ihnen? Spielte das eine Rolle? Er hatte MeToo ohne das leiseste Raunen überstanden, um jetzt, ehrenvoll, im Sattel zu sterben, umringt von jungen Gefolgsleuten, die darauf brannten, ihm einen gebührenden Abschied zu bereiten. Nach allem, was er für uns getan hat.

Auf jeden Fall hatte er eine Affäre mit Connie gehabt.

Ich lag ganz still. Dies ist eine bescheidene Wohnung. In Maida Vale. Nichts Anspruchsvolles. Ich putze selbst. Ab und zu. Manchmal sage ich mir, wenn ich wirklich vorhätte, mich zurückzuziehen, gänzlich – manchmal kommt mir das Wort Läuterung in den Sinn –, dann wäre es nur logisch, diese Bleibe hier zu verkaufen, von den Londoner Immobilienpreisen zu profitieren und für das Geld etwas Abgelegenes zu erwerben, an der Grenze nach Wales vielleicht, oder im schottischen Hochland. Oder auch an der irischen Westküste. Manchmal surfe ich durch die Immobilienanzeigen und schaue mir Bilder von einsamen Küsten an, von Heidesträuchern, Farnkraut und steinigen Stränden. Ich stelle mir vor, wie ich in festen Stiefeln über sanfte Hügel wandere, vielleicht mit einem Wanderstock in der Hand, bereit, in Wälder und Fluten einzutauchen, bis mein Geist nicht mehr als ein Gezeitentümpel ist, in dem der Himmel sich spiegelt und der nur auf die nächste heranrollende Welle wartet, die alle Reflexionen mit sich fortträgt. Aber ich habe mich noch kein einziges Mal nach einer diesen entlegenen Immobilien erkundigt. Ich hänge an London. Ein Einsiedler im Tollhaus. Nicht, dass ich mitmache. Die Zeiten sind vorbei. Ich habe kein Verlangen nach höflichen jungen Leuten, die mir zuarbeiten. Aber ich kann mich auch nicht aufraffen, wegzuziehen. Meine Spaziergänge führen mich durch die belebtesten Straßen. Ich beobachte die Menschen. In überfüllten Kneipen. Ich sauge ihre Gespräche ein, ohne daran teilnehmen zu wollen. Zu Hause verfolge ich nicht die Nachrichten. Vade retro Satana. Nur etwa einmal im Monat schaue ich mir die Börsenberichte an. Ich glaube, mein Geld wird reichen.

Connie, sage ich leise. Hatte ich mich zum Besuch von Dan Sandows Beerdigung bereit erklärt, weil ich hoffte, Connie dort zu treffen?

Ich stand auf und fing an, Kleidungsstücke herauszusuchen. Hatte ich etwas Passendes für eine Beerdigung? Etwas Sauberes? Wann hatte ich das letzte Mal einen Anzug getragen? Mit einem Stab konnte man die Bügel von der oberen Kleiderstange herunterholen. So viele Jacketts und Hemden, die ich ganz vergessen hatte. Natürlich würde sich niemand darum scheren, wie ich aussah. Und wenn doch, war es mir egal. Warum stocherte ich also mit meinem Stab oben im Schrank herum und suchte nach dem schwarzen Anzug? Anstrengend war das. Und wie lange wollte ich eigentlich bleiben? Ich hatte keinen Rückflug gebucht. Es wäre zu schade, in eine Stadt wie Mailand zu fliegen und sich nicht ein bisschen umzuschauen. Aber bestimmt nicht länger als ein paar Tage. Ich schleppte die Trittleiter aus dem Bad herüber und zog einen kleinen Rollkoffer vom Schrank. Völlig eingestaubt. Jetzt schwebte der Staub nach unten aufs Bett. Man sah die Flocken im Licht der Lampe. Staub zu Staub. Ich ging in die Küche, um einen Lappen zu holen.

Ob Connie wusste, dass Dan gestorben war? Über seinen Tod war sicher überregional berichtet worden. Das Ende einer Ära. Elder Statesman der amerikanischen Intelligenzia. Aber wusste sie auch über die Beerdigung Bescheid? Vermutlich nicht, wenn selbst der höfliche junge Mann erst heute davon erfahren hatte. Sicher hatten alle mit New York gerechnet. Es sei denn, die beiden hatten noch Kontakt gehabt. Aber selbst wenn sie von seinem Tod und der Verfügung bezüglich der Beerdigung wusste, würde sie dafür anreisen? Aus Berlin. Falls sie noch in Berlin wohnte.

Als ich fertig gepackt hatte, war es fast zwei Uhr morgens. Wenn ich zwei Stunden vor Abflug in Gatwick sein wollte, musste ich den Wecker auf sechs stellen. Lohnte es sich überhaupt, schlafen zu gehen?

Ich legte mich wieder aufs Bett, noch angezogen, und versuchte, ein paar klare Gedanken zu fassen. Durch die Wand hinter mir drang leises Wehklagen aus einem Fernseher. Irgendein Melodram näherte sich seinem Höhepunkt. Es hat mich schon immer gestört, die Fernseher anderer Leute zu hören. Erst recht, seit ich selbst meinen Fernseher abgeschafft hatte. Doch jetzt merkte ich plötzlich, dass diese spätabendlichen Fernsehgeräusche und der Gedanke an die Schauenden, die sich um dieses Melodram versammelt hatten wie um den häuslichen Herd, mich beruhigten. Vielleicht beruhigte mich auch die Aussicht, mich darüber ärgern zu können. Der Gedanke war überraschend. Dans Beerdigung hat dich wachgerüttelt, dachte ich. Und musste lächeln. Wachgerüttelt zur Totenwache.

Aber wenn ich dem höflichen jungen Lektor tatsächlich nur zugesagt hatte, weil ich bereits hoffte, fürchtete oder sonst wie darauf fixiert war, Connie zu begegnen, wäre es dann nicht nur logisch, ihr eine E-Mail zu schreiben und sie zu fragen, ob sie kommen würde? Ich könnte sie sogar anrufen.

Ich lag auf dem Bett und beobachtete eine Spinne in der Ecke über dem Schrank. Ich musste beim Herunterholen des Koffers ihr Netz zerstört haben, und jetzt war sie dabei, es zu reparieren, um die Dinge wieder in den Zustand zu bringen, in dem sie gewesen waren, ehe der höfliche junge Amerikaner mit seiner Geschichte von einem Leichnam, der mit dem Flugzeug von New York nach Mailand unterwegs war, alles durcheinandergebracht hatte. Du kannst immer noch einen Rückzieher machen, dachte ich, falls Connie nicht hinfliegt. So oder so wäre es sicher besser, zu wissen, was dich erwartet, wenn du auf der Beerdigung eintriffst. Die wo stattfand? Wohl kaum in einer Kirche, das konnte ich mir nicht vorstellen. Vielleicht direkt auf dem Friedhof. Ich griff nach meinem Handy und schaute in die E-Mails, aber es war noch nichts von der Zeitschrift gekommen. Wenn sie nach all den Jahren noch meine Telefonnummer hatten, dann hatten sie ja wohl auch meine E-Mail-Adresse. Vielleicht würden sie mich um einen Beitrag bitten, einen kurzen Artikel über die Beerdigung. Mich einladen, in den Schoß der Familie zurückzukehren.

Während ich immer noch beobachtete, wie sich die Spinne, so eine, die wir früher Daddy Langbein genannt haben, mit einem Faden plagte, der jetzt, ohne meinen Rollkoffer, lose herunterhing, wurde mir die Merkwürdigkeit der Situation bewusst. Dans Leichnam befand sich in diesem Augenblick in einer Hochglanzkiste im Frachtraum eines Flugzeugs, das hoch oben über dem Atlantik dröhnend seine Bahn zog. Der Doyen des gehobenen New Yorker Journalismus flog nach Europa, um neben einer Geliebten beigesetzt zu werde, die vor ihm verstorben war. Wie romantisch war das denn? Für einen Mann, den man zwar für seine Großzügigkeit, seine Gründlichkeit, seinen Charme und sein unglaubliches Charisma verehrt hatte, der aber mit Sicherheit nie durch Sentimentalität aufgefallen war. Wer war diese Frau? Victoria soundso. Oder Vittoria. Ein italienischer Name. Vielleicht könnte ich Dan Sandow Vittoria bei Google eingeben. Der Name einer Siegerin. Ich stellte mir eine schöne junge Italienerin vor, höflich und respektvoll, und siegreich. Aber tot. Mit Platz neben sich auf dem Friedhof. War Dan also das Gleiche widerfahren wie mir mit Rachel?

Eine Zeit lang konzentrierte ich mich auf die Spinne, da oben in ihrer Ecke. Die Decken in dieser staubigen alten Wohnung in Maida Vale sind sehr hoch. Sie hatte sich inzwischen von dem losen Faden abgewandt und in das zerstörte Herz ihres Netzes zurückgezogen. Vermutlich lässt sich die Welt nicht in den Zustand zurückversetzen, in dem sie war, bevor sie auseinandergerissen wurde. Hätte ich das Netz rechtzeitig gesehen, hätte ich versucht, meinen Koffer herunterzuholen, ohne dem Tier Schaden zuzufügen. Ich habe nichts gegen Spinnen. Aber der Anruf hatte mich in Aufruhr versetzt. Dan überquerte gerade den Ozean, um sich ein Stelldichein mit einer Toten zu geben; er machte eine Reise, die er zu Lebzeiten beschlossen und gewollt haben musste. Ich würde halb Europa überqueren, weil die winzige Aussicht auf ein Stelldichein mit der Vergangenheit bestand. War unentschlossen und unsicher. Aber noch am Leben. Mehr oder weniger. Mit Sicherheit ist es mir, oder auch Rachel, nie eingefallen, über ein gemeinsames Grab zu sprechen. Das Grab ist ein verschwiegner Ort, doch keiner, glaub ich, küsst sich dort.

Vergiss nicht, sagte ich mir, ein Buch für die Reise auszusuchen.

II

IM GATWICK-EXPRESS ploppte eine Erinnerung auf meinem Handy auf. Meine Lesebrille steckte in meiner Tasche. Samstag, 7. März. Mittagessen. Ben. Ich muss dir etwas Wichtiges mitteilen, hatte mein Sohn mir in der Woche zuvor getextet. Er würde, schrieb er, zu einer Konferenz nach London kommen, und er bat mich um ein Treffen in einem Kaffeehaus am Torrington Place. Was konnte Ben mir sagen wollen, das »wichtig« war, fragte ich mich, während ich zusah, wie die Türen sich schlossen. Diese Masche, Spannung zu erzeugen – Dad, es ist etwas passiert … Dad, ich habe eine Idee, über die ich mit dir sprechen muss … –, hatte er von seiner Mutter gelernt. Frank, wenn du von der Reise zurück bist, dann gibt es etwas, dem du dich unbedingt stellen musst, finde ich … Sofort war ich verunsichert, schuldbewusst. Bei meinem Sohn lief das Etwas jedes Mal auf die Bitte um Geld hinaus. Der Wohnzimmerfußboden hatte sich verzogen. Seine Frau hatte das Auto zu Schrott gefahren. Eine teure Zahnbehandlung. Bei Connie war es immer ein Problem mit unserer Lebensweise, mit unserer Beziehung, mit mir. Ihr Job war nicht so, wie in der Beschreibung versprochen, der Stadtteil, in dem wir wohnten, hatte eine zu hohe Luftverschmutzung, ich war zu sehr auf meine Arbeit fixiert, meine ehrgeizigen Pläne. Connie ließ keine Gelegenheit aus, meine Pläne als ehrgeizig zu bezeichnen. Einmal entpuppte sich das Etwas, über das wir reden mussten, als Schwangerschaft. Wie hatte sie gestrahlt, als ich ihr sagte, dass ich mich freute. Ehrgeizige Pläne hin oder her. Sie sei total erleichtert, sagte sie. Total stolz auf mich. Erst später kapierte ich, was mit Dan abging.

Benny!

Dad, ich hab’s grad eilig.

Ich erklärte ihm, ich müsse das Mittagessen absagen. Falls es also um etwas Dringendes geht …

Was?

Das Etwas, über das du mit mir sprechen musst.

Ach ja. Wessen Beerdigung, sagst du?

Dan Sandow. Er war ab und zu zum Essen bei uns, vielleicht erinnerst du dich. Als du klein warst.

Mein Sohn zögerte. Im Hintergrund hörte ich ein Radio. Es kann warten, Dad, sagte er. Ein andermal.

Gott sei Dank gab es in Gatwick keine Schlange an der Sicherheitskontrolle. Es war angenehm leer, obwohl überraschend viele Leute Masken trugen; noch so ein trostloses Beispiel für die kurzlebigen Modetrends unserer Zeit. Mein Sohn rief zurück.

Wohin fliegst du noch mal?

Mailand.

Dad, dir ist schon klar, dass Mailand das Zentrum der Epidemie ist.

Ben, ich konsumiere keine Nachrichten. Das weißt du.

Dad, das pfeifen die Spatzen von den Dächern.

Aufgeregt und eindringlich redete mein Sohn minutenlang auf mich ein, während ich an dem Tisch stand, auf dem kostenlose Plastiktüten für Flüssigkeiten und Gele bereitlagen. Er malte ein düsteres Bild.

Du bist sechsundsiebzig, Dad, genau das Alter, in dem das Virus zuschlägt.

Fünfundsiebzig.

Flieg nicht.

Das war die zweite unerwartete Entwicklung in weniger als vierundzwanzig Stunden. Nach Jahren der Ruhe.

Ich bin schon durch die Sicherheitskontrolle. Ich hole mir gerade einen Single Malt.

Kehr um. Sag, du hast es dir anders überlegt. Sie werden dich schon wieder rauslassen.

Nicht mit dem Single Malt.

Ach, komm. Sei mal ernst.

Du scheinst ja plötzlich sehr besorgt um meine Gesundheit zu sein, Ben. Ich bin entzückt.

Du bist Sophies Großvater, Dad. Wir möchten dich noch so lange wie möglich um uns haben.

Wir schwiegen kurz.

Kehr bitte um. Wozu dein Leben für eine Beerdigung riskieren? Sonst kommst du nicht mal nach Manchester, und jetzt fliegst du plötzlich wegen einer Beerdigung ins Ausland.

Ich werd’s mir überlegen, sagte ich, beendete den Anruf und ging schnell durch die Sicherheitskontrolle. Mein Sohn war schon immer ein Schwarzseher. Man darf ihn nicht ernst nehmen.

Ich kaufte mir keinen Single Malt. Tatsächlich verbinde ich Whiskytrinken mit Nachrichtenlesen. Spätabends. Oder mit Nachrichtenschauen. Oder Nachrichtenhören. Zu Hause, oder in einem Hotel im Ausland. Während einer Recherchereise für einen Artikel. Man schaltet die Nachrichten an und möchte sofort losbrüllen. Falschdarstellung! Manipulation! Und dann schenkt man sich einen Whisky ein. Um der Empörung Würze zu geben. Meine Artikel waren immer Versuche, etwas ›richtigzustellen‹, ›zu sagen, wie es ist‹, ›das Kind beim Namen zu nennen‹. Dan wusste das zu schätzen. Bis zu einem gewissen Grad. Immer, wenn ich eine Meldung, eine sogenannte Nachricht, las oder hörte, verspürte ich unweigerlich das Verlangen, die Sache richtigzustellen.

Natürlich kam es gelegentlich auch vor, dass jemand aufrichtig war; es gab seltene Momente, in denen man sofort merkte, am Tonfall, an einer Wendung, am konsternierten Blick des Interviewenden, dass jemandem ein ehrliches Wort herausgerutscht war. Dann schenkte man sich zur Feier des Tages noch einen Whisky ein. Am liebsten einen Single Malt. Um die Freude abzurunden. Solche Momente waren unter Umständen gefährlicher als die üblichen Ansichten und Verzerrungen. Man trank mehr Whisky, wenn ein ehrliches Wort fiel, weil man sofort wusste, was für ein seltenes Ereignis das war, eine kleine Jolle, die im Ozean des gängigen Jargons schon bald Schlagseite bekommen und untergehen würde.

Ich wollte, beschloss ich, nicht wieder anfangen, regelmäßig die Nachrichten zu verfolgen, nur weil in Mailand eine Epidemie herrschte. Wenn Flugzeuge nach Malpensa flogen, dann vermutlich, weil die Behörden es als sicher einschätzten, dorthin zu reisen. Halt Abstand, hatte mein Sohn mir eingeschärft. Im Wesentlichen dieselben Vorkehrungen wie bei Schnupfen oder Grippe. Ben, sagte ich, das ist seit Jahrzehnten mein Mantra. Obwohl ich ihnen nie entkommen bin, diesen saisonalen Krankheiten. Egal ob Sommer oder Winter, ich schnappe alles auf, was umgeht. Die Erkältung ist meine Busenfreundin. Ich holte mir eine immerwährende Erkältung – eine meiner Lieblingszeilen der Literatur schlechthin –, meine Stimme ist verheisert und verstummt. Auf dem Weg durch die Parfümabteilung fiel mir ein, dass ich kein Buch mitgenommen hatte.

Natürlich hatte es in meinem Leben auch ein schöneres Whisky-Ritual gegeben. Probier mal, hatte ich am entscheidenden Abend zu Rachel gesagt. Galeotto The Glenlivet, flüsterte sie in den frühen Morgenstunden. Und an jedem Jahrestag schenkten wir uns einen Schluck vom Galeotto-Geist ein, um zu feiern. In der Flughafenfiliale von Waterstones ging ich an den Neuerscheinungen und Bestsellern vorbei, um mich in der kleinen Klassikerecke umzuschauen. Das Neue überdeckt das Wesentliche; zu dem Schluss kam ich, als Rachel im Sterben lag. Wie eine Schaumschicht. Doch bei Waterstones in Gatwick hatten sie kein Exemplar des Inferno. Nicht, dass ich es gekauft hätte. Ich hatte nur plötzlich Lust, die Zeile nachzuschlagen … Galeotto war das Buch. Wie ein Schluck Glenlivet. Eine Weile studierte ich das Inhaltsverzeichnis eines Essay-Bandes von Montaigne. Über die Ähnlichkeit der Kinder mit ihren Vätern. Wie die Seele ihre Leidenschaften an falschen Gegenständen ausläßt, wenn die richtigen ihr fehlen. Ich geriet in Versuchung. Über die Beurteilung von anderer Leute Sterben. Nichts genießen wir in seiner Reinheit. Ich stellte Montaigne zurück. Aufs Geratewohl schlug ich eine Gedichtsammlung von Tennyson auf. Ich wollte jetzt weg aus dem Buchladen. Solche Orte belasten mich. Mein Blick fiel auf den Namen Lanzelot. Doch Lanzelot sinnt eine Weil’ und spricht: »Sie hat ein lieblich Angesicht.« Ich ging zur Kasse.

Es war beunruhigend, dachte ich, als ich mir einen Kaffee holte, dass noch keine E-Mail von dem höflichen jungen Mann von der Zeitschrift gekommen war. Mittlerweile war es Nacht in New York. Wo genau sollte ich hingehen, wenn ich in Mailand ankam? Am Gate fragte ich mich, ob ich am falschen Ort war. Es waren so wenig Leute da. Im Flugzeug hatte ich eine ganze Sitzreihe für mich allein. Was für ein Riesenglück. Ich las. Vermeintliche Bekenntnisse einer empfindsamen Seele zweiten Ranges. Der Sterbende Schwan. Die Dame von Shalott. Der junge Tennyson war eindeutig ein trübsinniger Typ. Die gute Dame von Shalott hatte sich meiner Meinung nach in einer perfekten Lage befunden auf ihrem abgelegenen Inselschloss, wo sie webte und sang. Ein fröhliches Lied. Bis Sir Lanzelot in ihr Blickfeld geriet. Bis der Zauberspiegel Nachrichten aus Camelot brachte.

Während des Landeanflugs, als der Pilot uns mitteilte, es sei ein feuchter, aber milder Tag in Norditalien, durchströmte mich ein unerwartetes Glücksgefühl. Wie Wolkenschwaden stieg es in mir hoch, während das Flugzeug über dem Lago Maggiore eindrehte. Das Wasser glänzte. Das Alter hat dich frei gemacht, dachte ich. Ich konnte mich nicht erinnern, je etwas Ähnliches empfunden zu haben. Eine unerklärte Freude. Ich konnte entspannt für ein paar Tage nach Camelot jetten, ohne einen Fluch fürchten zu müssen. Wenn sie mir nicht mitteilten, wie ich zur Beerdigung kam, würde ich einfach zwei Tage lang Mailand genießen. Wen kümmerte es schon, ob die Zeitschrift vertreten war? Und wenn ich müde wurde, konnte ich mich in einem bequemen Hotel verkriechen und schwelgerisch-trübsinnige Gedichte lesen. Wen kümmerte es schon, ob Connie da war oder nicht? Ich sollte so etwas öfter machen, dachte ich. Ein Kurztrip. Um Zügel strahlt manch Edelstein, / Wie in der Himmelsstraße Schein / sich gold’ne Sterne funkelnd reih’n. Ein schwärmerischer alter Dichter. Bei heit’rer Luft, blau, unbezogen, / Strahlt steinbesä’t sein Sattelbogen. Du hättest schon vor Jahren die Zügel abgeben sollen, Dan, dachte ich. Mein Tag würde großartig werden.

Als ich an den Schalter der Passkontrolle trat, klingelte mein Telefon.

Frank Marriot? Hier ist Deborah Pelton. Sie war die einzige Mitarbeiterin der Zeitschrift, die angereist war. Sie hatte sich den Nachtflug angetan. Können Sie sich, fragte sie, mit uns …

Signore …

Der Beamte an der Passkontrolle wedelte mit dem Zeigefinger.

Kein Telefon, Signore! Sie lesen die Schilder nicht!

Ich reichte dem Mann meinen Pass und schob mein Handy in meine Jackentasche.

Der Beamte zeigte auf ein Schild an der Scheibe zwischen uns. Ein Gesicht mit einem Telefon am Ohr, rot durchgestrichen.

Sie sind unhöflich, beharrte er, während er jetzt in meinem Pass blätterte. Sind die Briten nicht ein höfliches Volk?

Auf solche Köder falle ich nicht mehr rein. Deine Artikel, hat Dan einmal bemerkt, neutralisieren unweigerlich die Beiträge anderer. Es sind Vergeltungsmaßnahmen. Vorschlaghämmer. Der Beamte schaute mich an. Ein gewissenhafter junger Mann mit Brille.

Dieses Dokument läuft am 20. März ab.

Ich versuchte, diese Information zu verarbeiten. In meiner Tasche redete eine gedämpfte Stimme. Ich erklärte, ich sei spontan zu einer Beerdigung hergekommen und würde bald zurückreisen. Der Beamte blätterte erneut in meinem Pass, ehe er ein blasses Lächeln zustande brachte und ihn mir zurückgab.

Jetzt hatte ich eine Mailbox-Nachricht erhalten. Mr. Marriot, wir treffen uns im Bestattungsinstitut Sacro Cuore in der Via Martiri Oscuri 28. Die Stimme wiederholte den Namen und die Adresse noch einmal langsamer. Ab dreizehn Uhr ist für uns ein Raum reserviert. Um sechzehn Uhr dreißig findet auf dem Friedhof eine Zeremonie statt. Vielleicht könnten Sie dort ein paar kurze Worte sagen.

Ich stellte bestürzt fest, dass alle Cafés am Flughafen geschlossen waren. Wie sollte ich etwas essen? Zug, Stadt, Hotel, Taxi, entschied ich. In dieser Reihenfolge. Es war bereits Mittag.

Die Frau am Fahrkartenschalter trug eine OP-Maske und Gummihandschuhe. Es gab eindringliche Durchsagen. Vielleicht sollte ich meine Pläne für nach der Beerdigung noch einmal überdenken, dachte ich. Ich wollte mir anhören, was die anderen zu sagen hatten. Meine Trauergefährten, sozusagen. Ich war jetzt ziemlich sicher, dass Connie nicht da sein würde. Wie hatte ich nur glauben können, dass sie kommen würde? In der Zwischenzeit musste ich die paar kurzen Worte vorbereiten, die ich sagen sollte.

Im Zug fischte ich einen Stift aus meiner Tasche, und da ich nichts Besseres hatte, schrieb ich auf das Vorsatzblatt des Tennyson-Bandes. Kurz darauf fragte ich mich, ob ich es wohl ablehnen konnte. Etwas zu sagen. Hatte sie alle darum gebeten? Der junge Mann mir gegenüber nieste. Abstand halten kam hier nicht infrage; die Sitze waren zu dicht beieinander. Andererseits kam es mir unhöflich vor, aufzustehen und mich umzusetzen.

Dan, schrieb ich. Dan Sandow. Ich unterstrich den Namen. Um mich zu sammeln. Es war ewig her, seit ich zuletzt etwas niedergeschrieben hatte, sei es auch nur eine Notiz. Aber es wurden ja nur ein paar kurze Worte verlangt. Lobende Worte. Das verstand sich von selbst. Urplötzlich traf mich der Gedanke, dass Dan und ich uns einmal nahegestanden hatten. Wirklich. Und dass Dan besser als jeder andere gewusst hätte, dass ich der Letzte war, den man um ein paar kurze, lobende Worte bitten sollte. Deine Beiträge sind alle zu lang, Frank. Und ehrlich gesagt auch zu frank und frei. Er lachte.

Ich zwang meinen Stift zum Schreiben. Kennengelernt im Graduiertenstudium. In den ersten Tagen in den USA. Was noch? Ich suchte nach einem interessanten Detail. Draußen rauschten ein paar niedrige Gebäude vorbei, deren Silhouetten sich am hellen Himmel abzeichneten. Du hast ihm nahegestanden, dachte ich, möchtest dich aber nicht daran erinnern. Doppelter Cheeseburger in einem Diner auf der Massachusetts Avenue. Es war angenehmer, die Bäume anzuschauen. Der Mann nieste erneut, diesmal in ein Taschentuch. Er blickte entschuldigend hoch. Ich war als Outsider nach Harvard gekommen, grün hinter den Ohren, ehrfurchtsvoll und lernbegierig. Dan war voll dabei. Bei allem. Studentenverbindungen, Debatten, Theateraufführungen. Sogar beim Studium. Er übernahm die Führung. Ich war ihm gern zu Diensten. Nicht der ideale Stoff für ein paar Worte auf einer Beerdigung.

Der Zug hielt. Busto Arsizio. Man sieht einen solchen Namen und fragt sich halb, was er wohl bedeutet, oder ob er etwas bedeutet. Dann lässt man es gut sein. Genießt die Fremdartigkeit. Es gibt kaum je einen Grund, es nicht gut sein zu lassen. Vielleicht könnte ich einfach sagen, dass Dan ein großartiger Dirigent gewesen war. Er dirigierte das Orchester der New Yorker Intelligenzia, des amerikanischen Journalismus, der internationalen Fachelite. Sag lieber Experten. Nichts blieb fremd, wenn es nach Dan ging. Keine Bedeutung unerklärt. Er ließ nie etwas gut sein. Ich hielt inne. Hör lieber auf, solange es noch schmeichelhaft ist. Dan war der Meinung, jede Stimme ließe sich in den Chor einfügen, mithilfe seines Dirigentenstabs, durch sein berühmtes zupackendes Lektorat. Sag lieber gründliches. Wieder schaute ich aus dem Fenster. Das alles interessierte mich kein bisschen. Sag einfach, Dan Sandow war ein großartiger Mann, der eine wunderbare Zeitschrift gegründet und geleitet hat, die viele große Denkerinnen und Denker aus der ganzen Welt zusammengeführt hat. Und für mich persönlich auch ein guter Freund. Ein großzügiger, aufmerksamer Freund. Selbst noch, nachdem er eine Affäre mit meiner Frau gehabt hatte. Genau das hatte Connie am Ende wahnsinnig gemacht, dass Dan und ich Freunde bleiben konnten, dass unsere Freundschaft vielleicht sogar noch enger geworden war, trotz ihrer Affäre. Das hatte letztendlich unsere Ehe zerstört. Du solltest ihn umbringen!, brüllte Connie vom oberen Treppenabsatz nach unten und warf mit Bens Spielsachen nach mir. Du elender Versager!

Ich blätterte im Tennyson. Morte d’Arthur, Artus’ Tod. Der Mann gegenüber konnte seine Nase nicht in Ruhe lassen. Er war ganz und gar Nase. Fuchtelte mit Taschentüchern herum. Seine Nasenflügel waren gerötet. Beim Lesen merkte ich, dass ich die Zeilen schon einmal gelesen hatte. Sir Bedivere. Aber ich konnte mich nicht daran erinnern, mich mit Tennyson beschäftigt zu haben. Ich wusste nichts über ihn. Nur, dass er Balaklawa geschrieben hatte, Der Angriff der Leichten Brigade. Vorwärts! Kanonen rechts und links. Vielleicht disqualifizierte ihn die Tatsache, dass er dieses Gedicht geschrieben hatte. Es war schwer, sich für britische Militärheroik zu erwärmen. Aber ich hatte diese Zeilen über Sir Bedivere schon einmal gelesen. Das Leben dauert schon so lange, dass du nicht mehr weißt, wer du bist. So viele Orte, an die du zurückkehren könntest, die sich auf keiner Karte verbinden lassen. Berichtet, las ich, als der Mann nichts weiter als ein Hauch / Im weißen Winter seiner Zeit, denen, / Bei denen er verweilt’, fremde Gesichter rings und fremder Sinn.

Den Fahrschein bitte, Signore.

Schon wieder eine Maske, und Handschuhe. Der Zug fuhr durch die Vorortsiedlungen von Mailand. Die Menschen stapelten sich bis in den Himmel. Ich würde nicht genug Zeit haben, um das ganze Gedicht zu lesen. All das, worauf ich mich gestützt in Weib und Freund / Verrät den Frieden mir.

Worauf ich mich gestützt!

Ich blätterte um. Eine Stimme aus dem Lautsprecher bat uns, Sitz und Gepäckablage zu prüfen. Bitte denken Sie daran, ihre persönlichen Gegenstände mitzunehmen. Und Arthur sagte langsam von dem Boot: / Die alte Ordnung weicht der neuen stets, / Und Gott erfüllt sich in verschiedner Art, / Daß eine Sitte nicht die Welt verdirbt.

Signore? Per favore.

Ein Mann in einem orangefarbenen Overall wollte den Mülleimer unter dem Fenster leeren. Der von Taschentüchern überquoll. Tränen liefen über meine Wangen. Ich war unfassbar glücklich.

Und mietete mich im Grand Hotel Milano direkt am Bahnhof ein. Fünf Sterne. Die teuerste Hotelbuchung meines Lebens. 370 Euro, Sir. Wenn ich meine Reise schon abkürzen musste, dann sollte sie wenigstens luxuriös sein. Und unkompliziert. In meinem Zimmer im sechsten Stock wartete in einem Eiskübel eine Flasche Champagner auf mich, unter einem riesigen Bildschirm, der bereits meinen Namen kannte. Herzlich willkommen, Mr. Marriot!

III

DER SCHWARZE ANZUG erinnerte mich daran, dass ich ihn mir zu Rachels Beerdigung gekauft hatte. In Eile. Trotzdem schien keine Gefahr zu bestehen. Damals war mir die Hose zu eng vorgekommen. Du wirst diese Tortur in einer zu engen Hose ertragen müssen, hatte ich gedacht. Heute fühlte sie sich gut an. Zu Dan Sandows Beerdigung. Ich selbst fühlte mich auch gut. Meine Hände im Spiegel zitterten fast gar nicht, als sie sich daran erinnerten, wie man einen Schlips band. Sollte ich den Korken knallen lassen und ein Glas Champagner auf Rachel trinken? Sie wäre auch für das Hotel Milano gewesen, für die fünf Sterne. Genuss ist nie zu teuer erkauft. Ihr verschmitztes Grinsen. Ich öffnete die Balkontür und trat hinaus auf einen Steinbalkon. Hinter den kahlen Bäumen lag über dem Stadtverkehr ein flirrender Dunst. Die prachtvolle Fassade des Bahnhofs sah im fahlen Sonnenlicht umwerfend aus. Am Horizont, jenseits des Smogschimmers, die Alpen. Erinnerungen ans Skilaufen. Auf der Straße fuhr jetzt ein Rettungswagen Slalom. Weißes Fahrzeug, Blaulicht, ohrenbetäubendes Sirenengeheul. Ich schob Tennyson in die Tasche meines Regenmantels und ging eilig zum Fahrstuhl.

Der Taxifahrer wirkte enttäuscht. Vielleicht war die Via Martiri Oscuri nicht weit genug entfernt. Ich lehnte mich zurück. Die Straßen glänzten matt im hellen Licht. Bäume, Steinfassaden, Straßenbahnlinien. Wenn ich wieder auf eine Beerdigung gehen kann, wurde mir klar. Wenn ich mir nichts, dir nichts eine Reise wie diese unternehmen kann, ohne mir etwas dabei zu denken. Wenn ich in ein Luxushotel einchecken und beim Anblick einer eisgekühlten Flasche Veuve Clicquot lächeln kann – dann kann das doch nur bedeuten, dass ich endlich über Rachel hinweg bin. Der Fahrer wedelte mit der Hand, um einen bärtigen Mann mit Eimer und Schwamm zu verscheuchen. Ein Radfahrer mit einer grünen Lieferbox auf dem Rücken raste über Rot, kraftstrotzend, nackte Knöchel, weiße Turnschuhe. Die ganze Stadt wirkte hell und kraftstrotzend. Vielleicht erwachst du gerade aus einer Art Winterschlaf, dachte ich. Mir fiel ein, dass ich gelesen hatte, Abraham und Moses seien erst im Alter von fünfundsiebzig beziehungsweise achtzig Jahren Vater geworden. Das Beste kommt erst noch.

Ecco, verkündete der Fahrer. Onoranze funebri.

Glastüren glitten zur Seite. Der junge Mann hinter dem Hochglanztresen an der Rezeption sagte etwas auf Italienisch. Dann wiederholte er auf Englisch: Bitte beachten Sie die rote Linie, Sir. Die auf den Boden geklebt war.

Ich hatte Kerzenwachs und Kruzifix erwartet, eine rauchige, sacro-cuore-Düsternis. Aber hier war alles auf Hochglanz poliert. Wir bitten Sie, das Handgel zu benutzen. Der Mann nickte in Richtung eines Spenders. Mein Blick wanderte über modisch geschwungene Wände mit seidiger, bronzefarbener Oberfläche. Helle Spotlights fielen auf ein Arrangement aus fedrigen Pflanzen. Nicht das Blutrot der Rose, das cremefarbene Fleisch der Lilie, sondern vage geometrische Formen in Pink und Gelb. Und im Hintergrund Bach. Ein mäanderndes Cembalo. Ein Hauch von Kiefernduft.

Ich möchte zu Dan Sandow.

Ihre Trauergesellschaft befindet sich in Empfangsraum3, Mr. Marriot. Sogar das Englisch des Mannes war auf Hochglanz poliert. Mr. Sandow liegt in Aufbahrungsraum D. Neben dem Fahrstuhl hängt ein Gebäudeplan. Ich sollte Sie darüber informieren, dass wir den Sarg um – er schaute in sein MacBook – 14.45 Uhr schließen müssen.

Ich hatte eine Entscheidung zu treffen. Der in gebürsteten Stahl gravierte Plan zeigte nummerierte Räume auf der rechten und mit Buchstaben gekennzeichnete Räume auf der linken Seite. Beide Flure wanden sich im Halbkreis um die Treppe und den in der Mitte liegenden Fahrstuhl herum. In beiden plätscherte Bach. Connie war vielleicht schon da. Im Empfangsraum3. Das erste Wiedersehen, seit du dich mit Rachel zusammengetan hast. Mum ist am Boden. Bens Stimme durch eine schwache Telefonleitung, über die Jahre hinweg. Du hast sie zerstört, Dad. Ich beschloss, zuerst Dan die Ehre zu erweisen, und während ich an den Aufbahrungsräumen A, B und C vorbeiging, kam mir der Gedanke, dass ich der Herausforderung der paar kurzen Worte am besten begegnen konnte, indem ich eine Anekdote über Dan, die Zeitschrift und mich selbst ausgrub, etwas, das seine Qualitäten hervorhob und den Anwesenden ein Lächeln entlockte, und das sie vielleicht daran erinnerte, dass ich einst ein wichtiger Mitarbeiter gewesen war.

Die Tür war nur angelehnt. Der harzige Duft stärker denn je. Ich trat ein, respektvoll. Ein korpulenter Mann Mitte vierzig stand neben dem Sarg. Das Licht war gedämpft und weich. Auf einem Podest stand eine elegante Vase. Leer. Vielleicht war es den Trauernden überlassen, sie zu füllen. Der Mann drehte sich um und lächelte. Er kam mir bekannt vor. Die Augen dunkel und engstehend.

Ich gehe jetzt, sagte er.

Bitte, ich kann warten.

Ich war lange genug hier.

Ich trat zur Seite, um ihn durchzulassen. Und da lag er, nach ungefähr fünfzehn Jahren. In seiner Kiste. Dan. Er wirkte kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte. Die Beine und Arme unnötig lang, der Rumpf kompakt und aufgebläht wie bei einem Insekt. Ein Daddy Langbein. Vielleicht weil ich an seinen Füßen stand, wirkte der Kopf klein. Die einbalsamierte Haut war zu einem nichtssagenden Lächeln verzogen worden. Kein gutes Abbild. Die Nase klein und spitz. Die Wangen zu rosig. Wie eine Marionette. Und auf dem immer noch borstigen, silbergrauen Haar zu meiner Überraschung eine Gebetskappe. Wie seltsam. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt, dass Dan praktizierender Jude war.

Guten Flug gehabt? erkundigte ich mich.

Auch er trug einen schwarzen Anzug, die bleichen Hände lagen übereinander auf seinem Bauch. Ich war versucht, sie zu berühren. Er wirkte vollkommen abwesend. Wie ausgetauscht. Ich konnte überhaupt nicht an Dan Sandow denken. Ich starrte ihn angestrengt an. Diese Hände hatten Connie liebkost. Das ließ sich nicht leugnen. Diese dünnen Lippen. Er war ein großer Witzbold gewesen. Mit unglaublich viel Power, für jeden Spaß zu haben, hatte den Racquetball nur so knallen lassen. Ich habe ihn kein einziges Mal geschlagen. Hier ist etwas, worüber du schreiben kannst, Frank. Er würde mir das Buch per Boten zukommen lassen. Es war total angesagt. Ich wusste sofort, dass er sich einen Verriss wünschte. Frank schrieb immer frank und frei. Ich weiß da jemanden, den du interviewen kannst. War ich sein Auftragskiller? Oder nur ein Connaisseur des Schierlingsbechers? Es sei denn, er fügte hinzu: Weißt du, Soundso und ich kennen uns schon sehr lange, Frank. Oder einmal: Sie liegt im Sterben, fürchte ich, es wäre schön, wenn du ihr einen guten Abschied bereiten könntest. Ich würde mir erst recht wie ein Versager vorkommen, entgegnete ich Connie, wenn ich nicht mehr mit ihm spielte.

Aber jetzt hatte ich genug. Ein Leichnam hat so wenig mit dem Menschen zu tun, den wir gekannt haben. Nur die Gebetskappe war interessant. Kurz dachte ich darüber nach, ein Foto zu machen. Falls ich eines Tages etwas schreiben wollte. Vade retro