Ich darf leben - Barbara Miller - E-Book

Ich darf leben E-Book

Barbara Miller

0,0

Beschreibung

Barbara Miller hat am eigenen Leib erfahren, was es heißt, wenn der Realitätsbezug durch Schizophrenie verlorengeht. Die Autorin beschreibt in schlichter und entwaffnend ehrlicher Erzählweise, wie sie die letzten Monate vor Ihrer Erkrankung sowie die Zeit in Behandlung als Patientin erlebt hat. Der langsame Weg aus ihrer Krankheit heraus und die entscheidenden Impulse und Glaubenserfahrungen, die sie hierbei machte, sind eine Fundgrube an bewegenden Einsichten. Ein Buch, das Mut und neue Hoffnung gibt für alle, die selber mit psychischen Problemen zu kämpfen haben oder andere Menschen auf Ihrem Weg begleiten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 163

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ich darf leben

Die Geschichte meiner Heilung

Barbara Miller

Impressum

© 2014 Folgen Verlag, Wensin

Autor: Barbara Miller

Cover: Eduard Rempel, Düren

Lektorat: Jenny Rempel, Düren

ISBN: 978-3-944187-42-6

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

Dieses eBook darf ausschließlich auf einem Endgerät (Computer, eReader, etc.) des jeweiligen Kunden verwendet werden, der das eBook selbst, im von uns autorisierten eBook-Shop, gekauft hat. Jede Weitergabe an andere Personen entspricht nicht mehr der von uns erlaubten Nutzung, ist strafbar und schadet dem Autor und dem Verlagswesen.

Inhalt

Vorwort

Mit vollen Segeln

Zurück im Alltag

Ein Wochenende in Heidelberg

Innere Leere und »offen für alles«

Zwischen Licht und Dunkel

Verwirrung

Der erste Tag hinter verschlossenen Türen

»Ich will hier raus!«

Wie ein alter Indianer

Der Realität auf der Spur

Fortschritte

Kühler Empfang in der Klinik der »Offenen Tür«

Neue Freiheiten

»Heimaturlaub« mit Erinnerungen

Entlassen – und jetzt?

Nachwort

Psalm 116

Ich liebe den Herrn, denn er hat mich gehört, als ich laut zu ihm um Hilfe flehte.

Ein offenes Ohr hat er mir geschenkt, darum will ich mein Leben lang zu ihm rufen.

Der Tod hatte seine Arme schon nach mir ausgestreckt, das Totenreich warf seine Schatten voraus, in Not und Leid war ich geraten.

Da rief ich den Namen des Herrn an: »O Herr, rette doch mein Leben!«

Gnädig und gerecht ist der Herr, ja, voll Erbarmen ist unser Gott!

Der Herr beschützt die Hilflosen. Ich war schwach, doch er hat mich gerettet.

Komm wieder zur Ruhe, meine Seele, denn der Herr hat dir Gutes erwiesen …

Am Glauben habe ich festgehalten, auch als ich sagen musste: »Ich liege am Boden!«

… Wie kann ich dem Herrn jemals danken für alles Gute, was er an mir getan hat?

Als Dank für die Rettung will ich ´beim Festmahl` den Becher erheben und den Namen des Herrn ausrufen.

Vorwort

Es ist ein herrlicher Wintermorgen auf der Schwäbischen Alb. Die Sonne durchdringt die Nebelfelder. Vor mir sehe ich die Hohe Teck aufragen. Wie ein Schattenriss vor dem dunstigen Hintergrund zeichnet sich eine Waldgruppe auf einem kleinen Höhenzug unterhalb der Burg Teck ab. Reif liegt auf den weiten Wiesen und den umgepflügten Feldern. Ich fahre durch kleine, verschlafen wirkende Dörfer mit ihren Gaststätten, die vorwiegend »Ochsen«, »Lamm« und »Adler« heißen. Die Namen dieser Orte habe ich sicher schon einmal gelesen, aber längst wieder vergessen. Ein Mann trägt unter der Jacke ein Brot nach Hause. Sicher ist es noch so frisch, dass es ihn ein wenig wärmt. Eine alte Frau zieht ein Wägelchen mit Gemüse und Eiern hinter sich her, in der einen Hand trägt sie eine Milchkanne.

Ich erreiche das große Lautertal. Für einen Moment schimmert der kleine Fluss golden im Sonnenlicht. Ich freue mich, dass ich lebe, und dass es ein erfülltes Leben ist. Das war damals anders, vor sechzehn Jahren, als sich in dieser friedlichen Landschaft das dunkelste Kapitel meines Lebens abspielte. Ich biege um eine Kurve, und da liegt es vor mir in seiner ganzen Größe, das ehemalige Benediktinerkloster Zwiefalten mit seinen beiden hohen Türmen, umgeben von den Gebäuden der psychiatrischen Landesklinik. Ich habe einen Termin mit dem Oberarzt vereinbart, denn ich möchte Einblick in meine Krankenakte nehmen.

Als diese seelische Krankheit so überraschend auftrat, suchte man verzweifelt nach einer Erklärung für die Ursache. Eine Stoffwechselkrankheit, meinten die Eltern, die Ursachen lägen in der Kindheit, meinten die Psychologen. Und ich selbst als Betroffene? Ich ahnte manche Zusammenhänge, konnte aber keine letzte Erklärung geben. Daran änderte sich auch nach meiner Entlassung nichts. Monate und Jahre vergingen, und dieses Thema wurde immer mehr verdrängt. Heute stelle ich mich nun diesem Teil meiner Lebensgeschichte. Ganz bewusst gehe ich nochmals die beaufsichtigten Wege von damals, vom Hauptgebäude zur Beschäftigungstherapie. Die kleinen Spaziergänge, die ich machen durfte, wenn ich Besuch hatte, werden mir wieder gegenwärtig, auch das »Kreisen« durch den Park.

Ich frage mich, wo ich beginnen soll. Oder vielmehr, wo begann die Krankheit mit dem Namen »Hebephrenie«? (Laut Lexikon eine Unterform der Schizophrenie, die in jugendlichem Alter beginnt und besonders durch Affektstörungen und »läppisches« Verhalten gekennzeichnet ist). Warum ich das tue? Ich möchte nicht melancholisch zurückblicken, aber ich will so ehrlich sein und dieses »Tabu-Thema« nicht mehr ausklammern. Und, was noch wichtiger ist, ich will ein Zeichen der Hoffnung setzen, dass Gott selbst das größte Dunkel wieder hell machen kann.

Meiner Familie und meinen Freunden möchte ich besonders danken, die mir in dieser schwierigen Zeit zur Seite gestanden sind.

Auch meinem Mann Martin möchte ich Dank sagen für seine Geduld und Mithilfe bei der Entstehung dieses Buches.

Mit vollen Segeln

An einem lauen Frühlingsabend schlenderten meine Freundin Moni und ich durch die Fußgängerzone von Stuttgart. Wir hatten uns auf das Wochenende gefreut, aber nun wussten wir nicht recht, was wir mit unserer Zeit anfangen sollten.

»Irgendwas muss uns doch einfallen, was wir unternehmen könnten! Das gibt's doch nicht«, sagte ich zu Moni.

»Ja«, stimmte sie zu. »Da schafft man die ganze Woche, und dann ist es am Wochenende so langweilig.«

»Ich hätte gute Lust, irgendwas zu machen, was aus dem Rahmen fällt. Etwas, wo man auch neue Leute kennenlernen kann. Aber was?« Diese Langweile, ja Leere der letzten Wochen, das konnte doch nicht alles sein.

Lustlos betrachteten wir die gestylten Schaufensterpuppen. Sie trugen bunte Sommerkleider, verrieten uns aber nicht, was man damit machen konnte. Wir kamen an einem Sportgeschäft vorbei. Hier wurden auch Reisen angeboten.

»Eine Woche Anfänger-Segelkurs in St. Gilgen am Wolfgangsee – noch freie Plätze«, lasen wir.

»Lernen wir doch segeln«, schlug ich begeistert vor. Auch Moni gefiel diese Idee. Plötzlich war etwas da, was unserem eintönigen Leben neuen Schwung gab. Wir malten uns aus, wie wir in einem weißen Segelboot über den von Bergen umrahmten See gleiten würden.

Am kommenden Montag meldeten wir uns an und kleideten uns auch gleich – um gegen Sturm und Wind gerüstet zu sein – in leuchtendes Gelb ein. Mit Monis grünem Kadett, der schon älteren Jahrgangs war, ging es dann Mitte Juni los. Es war kurz nach meinem neunzehnten Geburtstag. Allein schon die weite Fahrt war ein Erlebnis. In Salzburg, der Stadt Mozarts, machten wir einen längeren Aufenthalt. Mit der Bahn fuhren wir auf die Festung Hohensalzburg, und ich fotografierte Moni mit der Stadt im Hintergrund. Mozartkugel-essend begaben wir uns in das bunte Treiben der Altstadt. Moni fotografierte mich mit einer Pferdekutsche im Hintergrund. Wir hatten viel Spaß. Schließlich fuhren wir weiter nach St. Gilgen im Salzkammergut. Hier sollte unser Segelerlebnis auf dem »operettenhaften« Wolfgangsee stattfinden.

Es war schon ein erhebendes Gefühl, diesen See zu sehen und sich vorzustellen, dass wir morgen auch in so einem Segelboot sitzen würden. So schnell wie wir gedacht hatten, ging es allerdings nicht, denn der Praxis geht meist die Theorie voraus. Da verging uns die Romantik etwas, denn das, was uns der Segellehrer Linse an theoretischem Wissen beibrachte, war Neuland für uns.

Abends im Zimmer unserer Pension sprachen wir noch einmal über das, was wir gelernt hatten. Mit ihrem »Bändsel«, das Moni für ihre Brille bekommen hatte, um sie an Bord nicht zu verlieren, übte sie an ihren Zehen Kreuzknoten, Achtknoten und Palstek. Erst am zweiten Tag, nach dem theoretischen Unterricht, ging es aufs Wasser. Allerdings mussten erst viele Vorbereitungen getroffen werden, bis die Segel gesetzt waren und sich mit Wind füllen konnten. Wir waren zu fünft auf unserer Jolle »Heulboje«: ein Schweizer Pärchen, Urs, der Segellehrer, und wir zwei Schwäbinnen.

»Ob ich mir je merken kann, wie das alles heißt?«, sagte ich und schaute zu Moni hinüber, die ganz bei der Sache war. »Klar zur Wende«, rief Jürgen. »Ist klar!«, rief Dorothea als Vorschotfrau zurück. »Rhe«, gab er das Kommando, und Dorothea zog das Vorsegel, die Fock, ein. Wir merkten, die beiden hatten Ahnung, während ich mich schon mit den unvertrauten Begriffen schwertat, die nur so hin- und herflogen. Ich sehnte mich nach meinem VW, wo ich genau wusste, wie ich Gas zu geben und zu bremsen hatte ... Aber wir waren ja im richtigen Kurs, einem Anfängerkurs, und Urs, ebenfalls ein Schweizer, war geduldig und gab sich Mühe mit uns.

In einem hübschen Café im Ortskern von St. Tilgen traf man sich nach dem Segeln zum Plausch. Unsere »Mitsegler« waren überwiegend Akademiker mit einer Neigung zu Fachgesprächen. Heute ging es um Geldanlagen bei schweizerischen Banken. Wir schwiegen beeindruckt und tranken unseren Kleinen Braunen. Wie beim Segeln auch, fühlten wir uns etwas unsicher, ja fehl am Platz. Einer aus der Runde, dessen Lächeln mir vom ersten Tag an aufgefallen war, merkte, dass wir da nicht mitreden konnten. Galant sagte er: »Die Damen langweilen sich wohl sehr.«

Es freute mich, dass er uns Beachtung schenkte. Seit diesem Nachmittag schaute ich ihn mir genauer an. Er hieß Werner Bohn und war Lehrer an einer Berufsschule in Heidelberg.

»Rein äußerlich ist er gar nicht mein Typ«, erklärte ich Moni auf dem Nachhauseweg, »aber er hat etwas Charmantes an sich«.

»Mir ist auch aufgefallen, dass er immer ganz genau beobachtet und dann so vor sich hin lächelt.«

»Stimmt. Mich würde interessieren, was er dabei denkt.«

»Auf alle Fälle hat er Humor«, sagte Moni.

»Ja, das tut richtig gut. Das muss doch schön sein, einen Freund zu haben, der einen so zum Lachen bringen kann.«

Bei all den gemeinsamen Unternehmungen wie Kegeln, Kasspatzen-Essen und einem Segelausflug nach St. Wolfgang ins »Weiße Rößl« suchte ich nun seine Nähe.

Am Mittwochabend gingen wir in die »Zwölferalmbar«, in der wir die anderen Segler trafen. Werner forderte mich zum Tanzen auf.

»Ich finde, dass du ein nettes Mädchen bist, das mit großen Augen durch die Gegend läuft«, sagte er zu mir in seinem leicht badenserischen Dialekt.

Ich konnte es nicht fassen. Er interessierte sich für mich!

»Ich habe gleich gemerkt, dass du etwas unsicher bist. Doch ich habe dich trotzdem gern oder gerade deshalb.«

Ich hasste mich wegen der Minderwertigkeitsgefühle, die mir vieles so schwer machten. Dass ich dennoch liebenswert sein sollte, war ein ganz neuer Gedanke.

»Man kann sich gut mit dir unterhalten, und du kannst zuhören. Manchmal brauchst du Schutz, dann wieder gar nicht.«

»Du bist ein guter Beobachter«, antwortete ich distanziert.

Ich musste erst darüber nachdenken, was er da zu mir gesagt hatte. Einsam, wie ich mich oft fühlte, war ich empfänglich für solche Worte.

Dennoch – ganz traute ich ihm nicht. Er war über dreißig, ein erfahrener Mann. Sicher suchte er nur einen kleinen Urlaubsflirt, während ich mir eine feste Beziehung wünschte. Aber ich hatte mir ja vorgenommen, nicht immer so viel nachzudenken, sondern einfach unkompliziert zu leben wie andere auch.

Die fünf Tage Segeln waren in Windeseile um. Es war eine Herausforderung gewesen, hatte uns aber auch großen Spaß gemacht. Und ganz so stürmisch ging es meist nicht zu. Oft dümpelten wir – bedingt durch die Mittagshitze – bei ziemlicher Flaute dahin. Das war dann eine gute Gelegenheit, das Manöver »Frau über Bord« zu üben und eine Runde baden zu gehen.

Am letzten Tag, dem Freitag, sollte als Höhepunkt des Anfängerkurses eine Regatta stattfinden. Allein der Gedanke daran bereitete uns Magenschmerzen. Bisher waren wir immer zu fünft gesegelt, was uns eine gewisse Sicherheit gegeben hatte. Aber nun sollten wir zwei Mädchen allein in einem Boot an einer Regatta teilnehmen. Ein Albtraum! Auf all den anderen Booten kannte sich zumindest einer gut aus.

»Das trübe Wetter passt gut zu dem, was heute auf uns zukommt«, sagte ich zu Moni, als wir auf unserem Balkon standen, um vor dem Frühstück noch einen Blick auf den See zu werfen. Selbst die frischen Brötchen und der duftende Kaffee wollten heute nicht recht schmecken. Wir versuchten, uns mit munteren Sprüchen zu erheitern – es half nicht viel. Es kam leider doch so, wie wir es befürchtet hatten.

»Mast- und Schotbruch«, rief uns unser Segellehrer Urs zu, als wir mutterseelenallein in das von den Wellen stark bewegte Boot stiegen. Wider Erwarten ging es einigermaßen gut. Es machte uns auch nicht viel aus, dass wir als letzte eintrafen. Immerhin waren wir nicht gekentert. So richtig peinlich allerdings wurde es jetzt, wo es nur noch ums Anlegen ging. Immer wieder schossen wir zur Belustigung derer, die schon am Ufer warteten, an der Boje vorbei. Armer Urs. Er musste wohl an seinen pädagogischen Fähigkeiten gezweifelt haben. Als wir es dann – mehr durch Zufall – schafften und die Boje in erreichbare Nähe kam, war das die reinste Erlösung. Unsere sonstigen, mehr angenehmen Segelerlebnisse wurden durch diesen Abschluss gehörig eingetrübt.

Abends gingen Moni und ich wieder in die »Zwölferalmbar«. Auf unsere jüngsten Segelerfahrungen wurden wir nicht mehr angesprochen. Ein Glück. Später kam auch Werner, und wir tanzten wieder miteinander. Ich hatte über Mittwochabend nachgedacht.

Ich konnte das Gefühl nicht loswerden, dass es ihm mit seinen freundlichen Reden nur darum ging, ein Mädchen, das seine Schülerin hätte sein können, zu verführen. Dafür setzte er auch, so vermutete ich, seine Menschenkenntnis ein. Ganz direkt fragte ich ihn: »Du hast in deiner Lehrerausbildung Psychologie sicher gern gemacht.«

Er verstand sofort, was ich damit sagen wollte. Wir setzten uns an den Holztisch, auf dem eine Kerze flackerte.

»Kannst du dir vorstellen, dass dich, so wie du jetzt bist, jemand lieb haben kann? Es wäre ja immerhin möglich.«

»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen«, gab ich zur Antwort. »Ich meine immer, ich müsste erst ganz anders werden.«

Es wurde noch ein fröhlicher Abend. Mit Reden, Tanzen und Lachen verging die Zeit. Die Kerze war inzwischen heruntergebrannt. Moni war schon vor einer Weile nach Hause gegangen. Werner und ich gingen erst mit den letzten Gästen um drei Uhr. Mit seiner orangefarbenen Ente brachte er mich zur Pension. Dann küsste er mich zum Abschied und ich ging auf Abstand. Er sagte: »Auf jeden Fall war es nett, dich kennengelernt zu haben.«

»… auch wenn man sonst nichts mit dir anfangen kann«, hatte er wohl gedacht.

Wir tauschten Adressen aus. Er sagte nicht: »Besuch mich mal oder schreib mal.« Ich hielt seine Adresse wohl mehr deshalb in der Hand, dass wir uns nicht wie Namenlose trennten. Als ich ausstieg, betrachtete ich mir noch einmal ganz bewusst sein lächelndes Gesicht. Ich nahm nicht an, dass ich ihn je wiedersehen würde.

Am anderen Tag reisten Moni und ich ab, Richtung Wien, wo wir noch eine Woche verbringen wollten. Ich warf einen letzten, wehmütigen Blick auf den Wolfgangsee. Was ich hier erlebt hatte, gehörte bereits der Vergangenheit an. Ich hatte kaum geschlafen in dieser ohnehin kurzen Nacht. Ein nettes, österreichisches Ehepaar, das wir beim Segeln kennengelernt hatten, begleitete uns durch die Wachau. Sie wohnten in der Nähe von Wien. Wir mussten ihnen nur hinterherfahren. Die Gegend entlang der Donau mit den Weinbergen, Burgen und Klöstern war reizend, aber in Gedanken kehrte ich immer wieder zu Werner an den Wolfgangsee zurück. Er verbrachte dort noch eine Woche. Immer wieder liefen in meinem Inneren die gleichen Szenen ab, und ich hörte all die Worte wieder, die er zu mir gesagt hatte.

Wir hatten in Wien kein Hotel gebucht. Nach längerer Suche kamen wir am Stadtrand in einem ruhig gelegenen Jugendgästehaus unter. Müde von der Fahrt fielen wir in die Betten. Moni las etwas, und ich grübelte. Ich bereute jetzt, dass ich so sehr auf Abstand gegangen war.

»Nun habe ich blöde Kuh mir die Chance vertan, dass auch ich mal einen Freund bekomme«, dachte ich. »Vielleicht wäre doch etwas daraus geworden, wenn ich nicht so ablehnend gewesen wäre.« Es war zum Heulen.

Beim Einräumen der Nachttischschublade hatte ich eine Bibel entdeckt. Das fiel mir jetzt wieder ein, und ich holte sie heraus. Ich hatte zum ersten Mal ein solches Buch in der Hand. Natürlich hatte ich nichts gegen die Bibel. Ich ging auch öfters zur Kirche. Aber in unserer katholischen Familie war es nicht üblich, eine Bibel zu besitzen. Ich schlug sie auf und las darin. Es lag eine besondere Kraft in diesem Buch, das spürte ich sofort. Von den Worten gingen Zuspruch und Trost aus. Das war genau das, was ich brauchte. Meine innere Spannung löste sich und ein Friede, der mit den Umständen gar nichts zu tun hatte, zog in mich ein. Ich legte die Bibel wieder beiseite und schlief gut ein.

Moni und ich absolvierten das »ganze Wien-Programm«: den Prater mit dem Riesenrad, Grinzing, wo wir eine fröhliche Clique kennenlernten, Schloss Belvedere, den Rosengarten. In der Mariahilferstraße machten wir einen ausgedehnten Einkaufsbummel und gingen dann ins Café Sacher. Ein besonderer Höhepunkt war der Besuch des Burgtheaters. Von unseren Stehplätzen im »Olymp« aus verfolgten wir den »Prinz von Homburg«. Zugegeben, wir kamen bei dem Stück nicht ganz mit, weil wir die nötigen Zusammenhänge nicht kannten. Aber wichtig kamen wir uns dennoch vor in unseren langen, bunt bedruckten Sommerröcken.

Am Abend vor unserer Rückfahrt unternahmen Moni und ich noch einen herrlichen Spaziergang. Die Abendsonne, die die Getreidefelder in rotes, warmes Licht getaucht hatte, stimmte uns heiter. Wir streiften durch die Felder, ausgelassen wie Kinder. Aus Mohn, Getreide und Kornblumen machten wir einen kleinen Strauß. Wir fühlten uns beschwingt und glücklich.

Und wir genossen es, frei von Zwängen und von Menschen zu sein, die uns Vorschriften hätten machen können. Diese unbeschwerten Augenblicke waren wie ein Geschenk, nach dem ich mich später verzweifelt sehnte.

Auf der Heimfahrt am anderen Morgen sang Moni wie ein Trucker-Fahrer alle möglichen Lieder, die ihr gerade in den Sinn kamen. Ich wusste, sie war zufrieden. Ein schönes Gefühl.

Zurück im Alltag

Montag morgen. Mein erster Arbeitstag in einer großen schwäbischen Automobilfirma. Hier hatte ich zusammen mit Moni vor drei Jahren die Ausbildung zur Stenokontoristin begonnen. Besonders der Blockunterricht in der Berufsschule war eine lockere Zeit gewesen. Wir waren eine kleine Clique: Moni, Karin, Andrea, Linda und ich. Wenn wir nachmittags keine Schule hatten, unternahmen wir zusammen Ausflüge. Mit Karins grüner Ente fuhren wir dann einfach so »ins Blaue«. Wir hatten viel Spaß miteinander.

Nach der Ausbildung ließ sich der Ernst des Lebens dann nicht mehr aufhalten. Zuerst kam ich in die Export-Abteilung PKW, die den italienischen Markt bearbeitete. In meiner damaligen Leistungsbeurteilung schrieb der Abteilungsleiter unter dem Punkt Zusammenarbeit mit den Kollegen: »Kollegiale Zusammenarbeit ist nicht erkennbar, kann aber vorausgesetzt werden.« Das bedeutete, dass er wegen meiner Hemmungen und Minderwertigkeitsgefühle mein eigentliches Wesen gar nicht zu charakterisieren imstande war.

Später setzte mich der Hauptabteilungsleiter »als Interimslösung«, wie er sich ausdrückte, in der Abteilung USA ein. In dieser Abteilung mit dem größten Absatzmarkt war ich nun schon ein dreiviertel Jahr tätig.

Ich stellte mein Auto auf dem riesigen Parkplatz ab und stieg in den Werksbus um. Wegen der großen Entfernung vom Parkplatz zum Firmengelände wurden um diese Zeit laufend Busse eingesetzt. Das bedrückende Gefühl war wieder da, ein winziges Rädchen in dieser riesigen Maschinerie zu sein und funktionieren zu müssen wie all die Menschenmassen, die Tag für Tag durch die Werkstore strömten. So schnell hatte mich das also wieder eingeholt. Ich betrat den lang gestreckten Gebäudekomplex, einen von vielen auf dem Werksgelände. Zweiter Stock, Stempeluhr.

Mit meinen Kolleginnen, Frau Geiger und Frau Lenz, beide mütterliche Typen, kam ich recht gut aus. Ich erzählte ihnen von unseren Segelerfahrungen, von unseren Erlebnissen in Wien. Das half mir etwas, über meine »Hürden« hinwegzukommen und mich den Anforderungen wieder zu stellen. Herr Behr, der Leiter unserer kleinen Abteilung, erschien heute eine Viertelstunde nach mir. Er begrüßte mich mit Handschlag und lächelte mich freundlich an. Er war wesentlich jünger als Frau Geiger, die in dieser Abteilung schon jahrelang arbeitete.

Auf meinem Schreibtisch wartete schon ein Stapel mit Kommissionsrechnungen auf mich wie gute alte Feinde. Jede Rechnung stand für ein Fahrzeug, das nach USA verschifft wurde. Mit dem Gummifinger sortierte ich diese Rechnungen und addierte die jeweiligen Auftragsnummern mit der Rechenmaschine zusammen. Als nächstes schrieb ich alle Auftragsnummern untereinander und schickte sie mit Telex in die USA. So ein Telex konnte bei Großaufträgen eine Länge von zwei Metern erreichen. Zur Kontrolle addierte ich dann wiederum die Zahlenkolonnen auf dem Telex. Es war jedes Mal ein Triumph, wenn am Ende das gleiche Ergebnis wie bei der ersten Addition herauskam. Leider erlebte ich das nicht häufig. Heute klappte es auf alle Fälle nicht auf Anhieb und die Fehlersuche begann. Als ich die falsch geschriebene Zahl auf dem Telex gefunden und korrigiert hatte, holte ich – wie meine beiden Kolleginnen auch – einen neuen Packen Rechnungen, um ihn in gleicher Weise zu bearbeiten. Zwei Stunden war ich nun ununterbrochen an dieser Arbeit gesessen. Ich hatte das Gefühl, einen Knoten ins Hirn zu bekommen. Besonders jetzt nach dem Urlaub war es eine Qual, genauso wie in den ersten Tagen in dieser Abteilung.

Ich hatte schon seit der ersten Schulklasse eine Abneigung gegen Zahlen gehabt. Sie waren für mich gleichbedeutend mit Pedanterie und mit Ärmelschoner tragenden Buchhaltertypen. Allein schon das Zählen machte mir Schwierigkeiten. Wenn ich etwas dreimal zählte, bekam ich jedes Mal ein anderes Ergebnis. Mir lagen mehr die Sprachen. Das war auch ursprünglich mein Berufswunsch gewesen.

»Herr Behr, jetzt sollten Sie aber wirklich mal zum Friseur gehen. Das wäre ja schon vor dem Urlaub von Fräulein Miller nötig gewesen, finden Sie nicht?« stichelte Frau Geiger. Herr Behr lachte und um von diesem heiklen Thema abzulenken, fragte er mich nun auch nach meinem Urlaub. Mein Urlaub, wie unwirklich mir diese Zeit nun vorkam.

»Wenn Werner sagen würde, ich sollte zu ihm ziehen, ich würde es sofort tun. Hauptsache weg von hier«, dachte ich. Die Tage am Wolfgangsee und in Wien erschienen mir jetzt nur wie ein kurzer Ausflug, während sich mein eigentliches Leben hier bei diesen Zahlen auf diesem Stuhl abspielte. Es kam mir vor, als ob alle meine Erwartungen in einen Beruf und allgemein in das Leben hier zu Ende wären.

»Das kleinste Gefängnis ist ein Stuhl«, dachte ich resigniert. Eine »Fluchtmöglichkeit« war für mich der Gang zur Toilette, wo ich den Zahlen wenigstens ein paar Minuten entgehen konnte.

Auf dem Rückweg traf ich ein Mädchen, das den gleichen Weg hatte.

»Ja, Fräulein Jesinger, das ist aber nett, dass Sie bei uns reinschauen«, wurde sie von Frau Lenz begrüßt. »Kennen Sie Fräulein Miller?«

Sie verneinte.

»Fräulein Jesinger hat uns hier nämlich geholfen, als Sie im Urlaub waren. Jetzt ist sie drüben bei Frau Schmidt. Gefällt es Ihnen dort, Fräulein Jesinger?«

Ich erinnerte mich wieder, dass Herr Bachmann, der Hauptabteilungsleiter, vor meinem Urlaub gesagt hatte, eine junge Dame würde hier einen Ferienjob machen. Ich fand Fräulein Jesinger nett, so natürlich. Es war leicht, mit ihr ins Gespräch zu kommen und wir waren bald beim Du. Anke hieß sie mit Vornamen. Wir kamen darauf, dass wir beide eine Vorliebe für Sprachen hatten. Sie war etwas jünger als ich und hatte gerade das Abitur hinter sich. Sie hatte vor, Englisch zu studieren, beneidenswert.

Anke verabschiedete sich, und ich wandte mich wieder meiner Rechenmaschine zu. Langsam rückte der Zeiger an der runden Wanduhr auf zehn nach halb zwölf. Hurra. Es war Zeit, zum Mittagessen zu gehen.

Moni wartete schon vor der Eingangstür zur Kantine auf mich. Sie war nach der Ausbildung in der Abteilung Entwicklung gelandet, wo sie nicht unzufrieden war, zumindest zufriedener als ich.

Ich stellte mich in der Reihe für Sahnegeschnetzeltes an, Moni, die gerne Süßspeisen mochte, entschied sich für Kaiserschmarren. Bei mir dauerte es etwas länger. Mit einem Tablett in der Hand hielt ich nach Moni in der Menge Ausschau. Auch an die Kantine musste ich mich erst wieder gewöhnen, an die Geräuschkulisse des Stühleschiebens und des Stimmengewirrs.

Schließlich entdeckte ich Moni an einem der hinteren Tische nahe des Fensters.

»Na, wie war dein Vormittag?«, fragte sie mich.

»Immer das gleiche, Zahlen ohne Ende. Herrn Bachmann habe ich kurz auf dem Flur getroffen. Er sagt keinen Ton mehr, wie es mit mir weitergehen soll. Ich habe das Gefühl, dass aus der Interimslösung langsam eine endgültige Lösung geworden ist. Er scheint sich gar nicht zu bemühen, jemand anderen für diese Stelle zu finden!«

»Rede doch noch mal mit ihm«, schlug Moni vor. »Das hab ich erst kurz vor dem Urlaub getan. Jetzt ist er dran, würde ich sagen.«

Moni erzählte von ihren »Männern« aus der Entwicklung, die sie sehr freundlich empfangen hatten.

»Es hat sich natürlich ein ganzer Berg zum Schreiben angesammelt, aber ich habe heute den nötigen Schwung«, sagte sie.

»Schmeckt der Kaiserschmarren?«, fragte ich.

»Ganz so gut wie in Österreich ist er nicht«, antwortete Moni, womit wir wieder bei dem Thema waren, das uns für eine Weile die Nüchternheit der Kantine vergessen ließ. Inzwischen war ich beim Nachtisch angelangt. Der Sahnequark mit roter Grütze schmeckte lecker, wie immer.

»Einige Vorsätze habe ich schon gefasst seit unserem Urlaub, du auch? Ich denke, wir sollten unbedingt neue Leute kennenlernen. So anödend wie vorher soll es nicht mehr sein. Wir müssen unsere Freizeit mehr planen und nicht mehr nutzlos vertun. Es gibt auch interessante Kurse oder Vortragsabende, z. B. bei der Volkshochschule, die wir machen könnten«, teilte ich Moni meine Gedanken mit.

»Ja, da bin ich dafür. Ich habe vor, in nächster Zeit ein Wochenende nach Heidelberg zu fahren, um meine Verwandten zu besuchen. Du kannst dir ja überlegen, ob du mitkommst. Dann würde ich dieses Mal meine Geschwister nicht mitnehmen«, schlug Moni vor. »Heidelberg?!« Es klingelte in meinen Ohren. Werner wohnte in der Gegend von Heidelberg.

»Ich würde natürlich unwahrscheinlich gern mitkommen und bei dieser Gelegenheit auch Werner besuchen. Aber ich weiß nicht, ob es gut ist. Ich muss es mir noch überlegen. Geschrieben hab' ich ihm übrigens«, erzählte ich Moni.

»Wem? Werner? Du hast doch gesagt, dass du das nicht tun würdest.«

»Ja, ich wollte ihm zeigen, dass mich das Ganze genauso ›cool‹ gelassen hat wie ihn. Aber ich konnte einfach nicht anders, als ihm wenigstens eine Karte zu schreiben, ganz kurz und unverbindlich, weißt du.«

Die Worte auf der Karte hatten wirklich unverbindlich geklungen, aber wenn ich ehrlich war, verbarg sich viel hinter diesen »dürren« Worten. Zuviel, ich wusste es. Ich war dabei, ihn zu etwas zu machen, was er gar nicht war. Je mehr Zeit verging, um so edler und liebenswerter wurde er in meiner Vorstellung.

»Schönes Wochenende, Fräulein Miller«, wünschte Herr Behr. Meine Kolleginnen waren schon gegangen. In guter Stimmung verließ ich das Büro. Freitagnachmittag, ein Wochenende lag vor mir und damit verbunden das Gefühl einer großen Erleichterung. »15.57«, las ich auf der Zeitanzeige, als ich stempelte. Im Treppenhaus traf ich Anke. Es freute mich, sie zu sehen. Ich fühlte mich von ihr verstanden, wohl auch deshalb, weil sie die Nöte mit meiner Arbeit selber durchgemacht hatte.

»In welche Richtung gehst du?«, fragte ich sie. »Zum Zug nach Obertürkheim«, war die Antwort, »ich wohne in Uhlbach.«

»Das ist ein netter Ort, mitten in den Weinbergen gelegen. Wenn du willst, fahre ich dich nach Hause.«

»Wenn es dir nichts ausmacht?«, sagte Anke zögernd.

»Nein, gar nicht.«

So gingen wir zusammen zum Parkplatz. Ich weiß nicht mehr wie es gekommen war, plötzlich sprachen wir über Gott.

»Ich habe nie daran gezweifelt, dass es Gott gibt. Das ist schon seit meiner Kindheit so. Vielleicht ist es auch Erziehungssache«, erklärte ich.

»So war es bei mir auch. Ich habe auch eine christliche Erziehung. Allerdings habe ich vor einiger Zeit gemerkt, dass es ein Unterschied ist, allgemein an Gott zu glauben oder ...«. Sie suchte nach Worten. »Weißt du, Jesus ist für mich wie ein Freund«, sagte Anke. Beinahe schüchtern klang es.

Wir waren bei meinem beige-farbenen Käfer angelangt, den mein Bruder günstig an mich weiterverkauft hatte. Es war mein erstes Auto, und ich war stolz darauf. Da es noch ziemlich heiß war an diesem Sommernachmittag, öffnete ich das Schiebedach.

»Wenn es regnet, sammelt sich das Wasser in der Rinne des Schiebedachs. Wenn ich dann abrupt bremse, schießt der ganze Schwall auf mich herunter«, erzählte ich Anke. »Neulich fuhr eine Freundin mit. Als ich bremste, wurde sie ganz nass. Ich griff ganz automatisch nach hinten, wo mein Badehandtuch lag. Sie dachte, ich hätte es für solche Fälle absichtlich dabei und musste sehr lachen.«

Als wir vor dem Haus von Ankes Eltern angekommen waren, fragte sie, was ich am Wochenende vorhabe. Das beeinträchtigte meine gute Stimmung etwas, denn mir wurde bewusst, dass zwar die Arbeit hinter mir lag, aber noch kein Programm für das Wochenende feststand. Das liebte ich gar nicht. Ich zuckte die Achseln und sagte: »Bis jetzt noch nicht viel, aber irgendwas wird mir schon einfallen.«

Anke antwortete nichts, und das ermutigte mich, ihr zu erzählen, was in mir vorging. Ich machte den Motor aus.

»Seit ich vom Urlaub zurück bin, lebe ich nur noch von den Erinnerungen an so einen Typ, den ich da kennengelernt habe. Jeden Tag warte ich sehnlichst auf Post, aber es kommt nichts. Dabei weiß ich, dass es mit ihm nichts wäre. Nicht nur wegen des Altersunterschiedes. Heute nacht träumte ich sogar, er wäre verheiratet.«

»Tatsächlich?«, fragte Anke interessiert.

»Ja, im Traum unterhielt ich mich mit Irena, die beim Segeln am Wolfgangsee dabei war. Sie sagte mir, er sei verheiratet. Sie sei auch auf ihn hereingefallen. Andererseits sagte mir meine Freundin Moni, dass sie bald nach Heidelberg fährt, ganz in die Gegend, in der Werner wohnt. Ich weiß nicht, ob es gut wäre, wenn ich mitkäme. Aber ich komme von diesem Gedanken nicht los. Was soll ich nur tun? Ich bin so hin- und her-gerissen«, seufzte ich.

»Manchmal treffen Träume zu«, gab Anke zu bedenken.

»Mag sein, aber das Alleinsein habe ich langsam satt. Alles ist nichts, wenn man allein ist. Meine Freundin Silvie denkt schon ans Heiraten! Was kann sich an meiner Lage schon verschlechtern, wenn ich mitfahre?«

Ich merkte, sie dachte anders darüber, wollte mir aber nicht dreinreden. Wir verabschiedeten uns. Sie winkte mir nach, als ich um die Ecke bog. Dann fuhr ich an der kleinen Uhlbacher Kirche vorbei Richtung Obertürkheim zur Bundesstraße.

Ein Wochenende in Heidelberg

»Heute hast du einen Brief bekommen«, begrüßte mich meine Mutter eines Abends, als ich von der Arbeit kam. Natürlich war ihr nicht entgangen, wie sehnsüchtig ich Tag für Tag auf Post wartete. Oft hatte ich das Gefühl, Mutti wisse alles.

»Wo?«, bestürmte ich sie.

»Oben in deinem Zimmer!»

Mit klopfendem Herzen rannte ich die Treppen hinauf. Da lag ein Brief von Werner auf meinem Schreibtisch. Endlich eine Antwort auf meine Karte und den Brief, den ich vergangene Woche geschrieben hatte. Ich riss den Umschlag förmlich auf und las:

»Hallo Babsi!

Das war ein schöner Brief weil er echt ist. Du hast mir damit eine große Freude gemacht. Du bist einfach als Mensch auf mich zugegangen. Toll, dass Du das kannst. Du bist sehr erwachsen.

Werner.«

Begeistert las ich den Brief immer wieder. Etwas kurz war er ja, leider. Was er geschrieben hatte, klang so gar nicht nach Fortsetzung, aber das störte mich nicht weiter. Hauptsache, er hatte geschrieben! Ich war ihm wichtig. Plötzlich war dieser Montagabend nicht mehr so öde. Das Leben hatte wieder eine Richtung bekommen. Meine Erinnerungen an den Wolfgangsee, das Tanzen und Lachen mit ihm, all das lebte wieder in mir auf. In dem gleichförmigen Alltag kamen mir diese Erlebnisse unwirklich wie ein Traum vor. Um so größer die Sehnsucht.

Nach dem Abendessen war Gelegenheit, ungestört im Wohnzimmer zu telefonieren. Ich rief Moni an.

»Hallo, Moni, ich fahre mit nach Heidelberg«, platzte ich heraus.

»Ja, super. Wie kommst du plötzlich darauf?»

»Ich habe heute Post von Werner bekommen. Abgesehen davon freue ich mich natürlich auch, mit dir wieder mal ein Fährtchen zu machen«.

»Dann mache ich es mit meinen Verwandten fest aus. Das übernächste Wochenende wäre ganz günstig«, meinte sie noch.

»Okay, ich bin dabei. Weißt du, Werner hat so nett geschrieben, dass ich richtig ein schlechtes Gewissen habe, dass ich ihn mit meinem Misstrauen vor den Kopf gestoßen habe. Wenn ich so darüber nachdenke, hat er mir doch sehr geholfen, Moni. Er hat mich dazu ermutigt, zu mir selber zu stehen. Vieles, was er gesagt hat, fällt mir immer wieder ein.«

»Neulich habe ich einen schönen Vers gehört. ›Sei du selbst, wer könnte das besser?‹ So sollte es doch sein, oder?«, sagte Moni.

Es machte uns Freude, uns über die Aussagen solcher Verse zu unterhalten. Immer wieder entdeckten wir neue, die in unsere Situation passten.

Ich legte auf und entschloss mich, einen neuen Brief an Werner zu schreiben. Allerdings wollte ich ihn erst Ende der Woche einwerfen. Er sollte nicht den Eindruck haben, dass mir so viel daran lag. Dann legte ich mich auf die Hollywoodschaukel auf der Terrasse und träumte vor mich hin. Ich sah mich schon als seine Frau und malte mir aus, wie es an dem Wochenende in Heidelberg sein würde.

Die Tage, bis wir endlich fuhren, vergingen mir viel zu langsam. Anke hatte inzwischen ihren Ferienjob in unserer Abteilung beendet. Schade. Es hatte sich so eine gute Beziehung zwischen uns entwickelt. Aber wir würden ja weiterhin in Kontakt bleiben.

Endlich, der ersehnte Samstagmorgen! Ich war das erste Mal in Heidelberg. Die. Altstadt mit ihren Fachwerkhäusern und den kleinen Studentenkneipen, die winkeligen Gassen, die Neckarbrücken, das gefiel mir alles sehr. Moni und ich spazierten über den Philosophen weg und schauten uns das große Fass im Schloss an. Oft ertappte ich mich dabei, dass ich nach Werner in der Menschenmenge Ausschau hielt. Besonders, als wir in einem Café saßen, wanderten meine Blicke durch das Fenster zu den Passanten auf der Straße. Natürlich war es äußerst unwahrscheinlich, dass er vorbeigehen würde. Ich wusste noch nicht, wie ich es anstellen sollte, mit ihm in Kontakt zu kommen. Vielleicht würde ich es auch gar nicht versuchen.

Wir übernachteten bei Monis Oma. Am Sonntagmittag waren wir bei Monis Vetter Bernd zum Mittagessen eingeladen. Seine Frau Margit hatte sich viel Mühe mit einem Rinderbraten gemacht. Bernd reichte zum zweiten Mal die Platte mit Spätzle herum.

»Nimm dir doch noch mal von den Spätzle!«, forderte mich Margit auf. Ich sträubte mich innerlich dagegen, noch etwas zu essen, obwohl es sehr gut schmeckte. Der Gedanke, dick zu werden, nahm mir jeden Appetit. Ja, ich verabscheute es, mich übermäßig satt zu fühlen. Ich nahm nur wenig und versuchte, möglichst langsam zu essen, um den Teller nicht noch einmal gefüllt zu bekommen.

Bernd erzählte, dass heute nachmittag in Rauenberg ein Straßenfest stattfinden würde.

»Da könnten wir doch später hingehen. Das soll immer recht nett sein«, schlug Moni vor.

»Na klar«, stimmte ich gleich zu. Das schien mir die Gelegenheit zu sein, Werner zu treffen. Rauenberg war ganz in der Nähe von Werners Wohnort. Ich würde ihn einfach anrufen und ihm vorschlagen, dorthin zu kommen.

Mein Herz klopfte aufgeregt, als ich dann Werners Nummer wählte. Er meldete sich mit fröhlicher Stimme. Ich hatte schon ein paar Mal angerufen und, feige wie ich war, einfach wieder aufgelegt. Als ich mich mit Namen meldete, klang er gar nicht mehr so erfreut. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und erzählte ihm, dass ich in Heidelberg sei.

»Ich habe gehört, dass heute in Rauenberg ein Straßenfest ist. Vielleicht könnten wir uns da treffen ... Wenn du Lust hast«, sagte ich unsicher.

»Das geht nicht. Jetzt habe ich keine Zeit. Ich habe noch einen ganzen Berg zum Korrigieren. Ich schreibe dir mal. Vielleicht heute oder morgen. Oder vielleicht in einem Monat.« Das klang irgendwie fies.

Ich verabschiedete mich kurz. Ich kam aus der Telefonzelle heraus und war ganz durcheinander. Mir war, als würde mir der Boden unter den Füßen schwinden. Meine Güte, was hatte ich alles hineingelegt in diesen Mann! Dieses Hoffnungskarussell, in dem ich mich wieder einmal hochgeschaukelt hatte, um dann ins Bodenlose zu stürzen! Ich versuchte, meine Tränen zurückzuhalten. Natürlich konnte ich Moni nichts vormachen. Sie merkte sofort, als ich ins Auto stieg, dass ich eine Abfuhr bekommen hatte. Sie versuchte, mich zu trösten.

»Jetzt brauche ich mir wenigstens keine falschen Hoffnungen mehr zu machen. Am besten versuche ich, alles in guter Erinnerung zu behalten und nicht verbittert zu werden«, sagte ich ihr. Das klang sehr vernünftig. Ich wusste, dass es so sein sollte. Aber Gefühle sind nun einmal nicht »vernünftig«. Jetzt war ich das kleine Mädchen, das Schutz brauchte, wie er einmal gesagt hatte. Ich wollte nicht mehr selbst stark und erwachsen sein. Ich konnte es nicht mehr.

Nun wollte ich nicht mehr zu dem Straßenfest. Moni war es egal. Der restliche Nachmittag, den wir bei Monis Oma verbrachten, lief einfach an mir vorbei. Ich musste mit meiner Enttäuschung fertig werden. Auch auf der Heimfahrt war ich schweigsam.

»Was hat das eigentlich alles für einen Sinn? Manchmal denke ich, es ist das beste, ich pfeife auf meine ganze moralische Erziehung. Vielleicht ende ich dann mal in der Gosse, wer weiß?«, sagte ich bitter. Das war Moni zuviel. »Sei nicht verrückt!«

»Ich bin nicht verrückt!«, schrie ich. Ich wusste ja, sie hatte das nicht wörtlich gemeint. Aber allein das Wort »verrückt« brachte mich in diesem Moment zur Raserei. Nein, bloß nicht verrückt werden wie Tante Resi. Meine größte Angst war, dass es mir genauso gehen könnte wie ihr. Oh, diese Bilder liefen immer noch in meinem Innern ab. Voller Aggression hatte meine Tante eines Nachts versucht, nur mit einem Nachthemd bekleidet, mit großen Holzknüppeln die Terrassentür unserer Nachbarn einzuwerfen. Auch ihr wildes Schreien, als sie mit sanfter Gewalt von Sanitätern abgeholt wurde, all das verband ich mit diesem Wort »verrückt«. Es war alles wieder da, wie auf Knopfdruck, aber ich konnte es nicht artikulieren.

»Reg dich doch nicht so auf!« Moni war fassungslos.

»Ich will mich aber aufregen!«, gab ich wütend zur Antwort.

Arme Moni. Sie war so geduldig und mitfühlend und musste mich jetzt auch noch mit diesen Aggressionen ertragen.

»Lass uns einen Kaffee trinken gehen. Was hältst du davon?«, schlug ich vor. Moni hatte nichts gegen eine kleine Pause einzuwenden.

Es war mir schon oft so gegangen, wenn ich besonders traurig war. Während dieser Heimfahrt erinnerte ich mich wieder an einen Film, den ich vor etwa drei Jahren im Religionsunterricht gesehen hatte. Er handelte von einer Gruppe junger Christen. In diesem Film kam zum Ausdruck, dass Jesus für sie eine Realität war, so wie für Anke. Das hatte mich damals sehr beeindruckt und mir Mut gemacht, selbst damit zu beginnen, Jesus meine Nöte mitzuteilen. Ich überlegte gar nicht lange, ob es ihn gibt oder nicht. Erstaunlich war, dass ich mich, nachdem ich mein Herz »geleert« hatte, sehr getröstet fühlte und das Weinen aufhörte. Inspiriert durch diesen Film begann ich auch, meine Gedanken und Erlebnisse während des ganzen Tages mit ihm zu teilen. Das waren keine vorgegebenen Gebete, wie ich sie als Kind gelernt hatte. Es war auch nicht anstrengend. Ein schwer zu beschreibendes Gefühl der Geborgenheit und einer liebevollen Gegenwart begleitete mich ständig. Diese Liebe, die ich fühlte, wirkte sich auf mein ganzes Umfeld aus, sogar auf die Menschen, die ich nur so flüchtig auf der Straße traf.

Außerdem war es Frühling, vielleicht spielte das auch eine Rolle. Im Frühling taute ich immer richtig auf. Mit meinem Bruder Berthold machte ich zusammen einen Spanischkurs. Auch das war etwas Besonderes für mich. Bald konnten wir die erste Lektion des Lehrbuches auswendig aufsagen. »En la frontera« hieß sie. Ich kann sie teilweise heute noch. Wir hatten viel Spaß miteinander. Die Zeit zwischen dem Zeichenunterricht in der Schule und dem Abendkurs verbrachte ich lesend auf einer Bank am Neckar und genoss die laue Frühlingsluft. Manchmal gingen Berthold und ich nach dem Kurs noch in eine Pommes-frites-Bude. Dort sah ich bewusst die Augen der enttäuschten Menschen, derer, die am Rande lebten und die einsam waren in einem für sie fremden Land. Ich fühlte eine nie gekannte Liebe für sie. Ich wusste, Jesus liebte jeden einzelnen.

Leider hielt dieses Gefühl, so intensiv es war, nicht lange an, nicht einmal so lange wie der Spanischkurs dauerte. Das ständige innere Gespräch mit Jesus hörte auf und ich suchte es, wie vorher auch, nur noch in Notsituationen. Es war gut zu wissen, dass Gott dann da war, aber ansonsten erwartete ich für mein Leben nicht viel von ihm. Die Sache mit Gott war mir in letzter Zeit so nebensächlich geworden, dass ich mich an die Zeiten des vertrauten Gesprächs mit ihm gar nicht mehr erinnert hatte.

Auch jetzt schien mir Gott weit weg zu sein. Aber der Zusammenbruch meines Kartenhauses ließ mich wieder an ihn denken. Trotzdem – einen Freund zu haben, mit dem man lachen und nächtelang reden, Sonnenuntergänge beobachten und Zukunftspläne machen konnte, das war es, was ich mir wünschte. Das war doch nur zu verständlich, fand ich. Warum half mir Gott nicht dabei, einen Freund zu finden?

Innere Leere und »offen für alles«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe.

Zwischen Licht und Dunkel

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe.

Verwirrung

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe.

Der erste Tag hinter verschlossenen Türen

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe.

»Ich will hier raus!«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe.

Wie ein alter Indianer

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe.

Der Realität auf der Spur

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe.

Fortschritte

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe.

Kühler Empfang in der Klinik der »Offenen Tür«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe.

Neue Freiheiten

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe.

»Heimaturlaub« mit Erinnerungen

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe.

Entlassen – und jetzt?

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe.

Nachwort

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe.

Unsere Empfehlungen

Anton Schulte: Christsein - Die große Chance

Folgen Verlag, ISBN: 978-3-944187-34-1

Was ist Besonderes an einem Leben als Christ? Kann man auch in anderen Religionen Erfüllung finden? Ist das Christentum nicht hoffnungslos veraltet? Fragen wie diese bewegen viele Menschen unserer Tage. Anton Schulte, weit gereist und viel unter Menschen, hat sich selbst kritisch mit den Fragen des Christseins auseinandergesetzt. Er fand bestätigt, dass es weit mehr bedeutet, als nur Mitglied einer Kirche zu sein und auch Kindertaufe und eine christliche Trauung niemand zum Christen im biblischen Sinn macht.

Entsprechend seinen eigenen Erfahrungen räumt er mit den vielfach irrigen Vorstellungen über ein christliches Leben auf und zeigt, dass Christsein nicht nur eine wundervolle Bereicherung für den einzelnen, sondern auch die große Chance für unsere Welt ist.

Heinz Böhm: Wenn der Glaube schwindet

Folgen Verlag, ISBN: 978-3-944187-37-2

Wer kennt solche Zeiten nicht! Die Freude des Glaubens erlischt wie eine niedergebrannte Kerze und stattdessen steigt wie aus einem Abgrund die Angst empor. Gerade dann sollen die Angefochtenen wissen, dass die Sonne, Jesus Christus, niemals ihren Schein verliert.

Und es kommt die Stunde, wo Jesus selbst in den verzagten Herzen sein Licht aufleuchten lässt. Dann wiederholt sich für die Angefochtenen die Erfahrung der Psalmbeter: »Als der Elende rief, hörte der Herr und half ihm aus allen seinen Ängsten.«

Rudolf K. Berger: Wer bin ich - wie soll ich sein

Folgen Verlag, ISBN: 978-3-944187-45-7

Der Mensch leidet heute vielfach unter Orientierungslosigkeit und Manipulation. Dennoch bohrt die Frage »Wer bin ich?« in uns allen den Nerv unserer Identität an. Im Spiegel der Gesellschaft und in dem der Bibel soll gezeigt werden, wie wir uns als Kinder, Frauen und Männer neu finden und begreifen können.Ganz wesentlich ist hierfür die Begegnung mit dem anderen Menschen und mit Gott durch Jesus Christus.