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Wie kann es sein, dass Kunstschaffende sich in ihrer zur Schau gestellten Queerness sonnen, während sich Schwule andernorts nachts kaum aus dem Haus trauen dürfen – und keinen juckt’s? Wie kann es sein, dass Reiche immer reicher werden, die gebildete Großstadtelite sich in ihrem Elfenbeinturm einkastelt, während andere froh sein müssen, sich überhaupt nur die weiterführende Schule leisten zu können? Und wie vor allem kann es sein, dass die aufgeklärten Menschen in unseren westlichen Gesellschaften das alles gar nicht bemerken oder mit einer paternalisierenden Sonderbehandlung gar noch fördern? Glenn Bech, Jahrgang 1991, praktizierender Psychologe, Provinzschwuler, Mobbingopfer, aus einer Familie, von der sich die braven Bürgerinnen und Bürger im Flugzeug schaudernd abwenden, wie er selbst sagt, legt den Finger in die Wunde unserer westlichen, heterosexuellen, erfolgsverwöhnten Überheblichkeit – und zwar so, dass es schmerzt. In seiner direkten, poetischen Prosa arbeitet er sich ab an Identität und Identitäten, an der Klassengesellschaft, sozialer Gewalt, an der systematischen Diffamierung und Diskriminierung von Homosexuellen, heute, mitten in Westeuropa. Auf der anderen Seite der selbstgerechte Wohlstandsbürger, der keine Ahnung hat, wie privilegiert er eigentlich ist und entsprechend blind ist für die andere Seite. Die Essenz: »wenn etwas leicht ist für dich/ ist das schön für dich«. Sehr subjektiv, schonungslos offen, selbstentblößend, voller Wut, down to earth, bitter, provozierend, berührend – und immer auf den Punkt. Glenn Bech, in Dänemark ein regelrechter Star, hat die Sprache und den Nerv derer getroffen, die sich vergessen und verraten fühlen von Politik und Gesellschaft, der Abgehängten, Ausgegrenzten – und damit auch Leserinnen und Leser erreicht, die mit Ich erkenne eure Autorität nicht länger an zum ersten Mal überhaupt freiwillig ein Buch in der Hand halten.
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Seitenzahl: 152
Glenn Bech
Ich erkenne eure Autorität nicht länger an
Manifest
Aus dem Dänischen von Andrea Paluch
1. Auflage
Stuttgart, Kröner 2023
ISBN Druck: 978-3-520-62701-8
ISBN E-Book: 978-3-520-62791-9
Originaltitel: Jeg anerkender ikke længere jeres autoritet
Copyright © Glenn Bech & Gyldendal, Copenhagen 2022.
Published by agreement with Gyldendal Group Agency
www.glennbech.dk
www.gyldendal.dk
ALL RIGHTS RESERVED
Diese Übersetzung wurde publiziert mithilfe der finanziellen Unterstützung durch die Danish Arts Foundation
Umschlaggestaltung: Denis Krnjaić
unter Verwendung eines Motivs von unsplash.com
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© 2023 Alfred Kröner Verlag Stuttgart · Alle Rechte vorbehalten E-Book-Konvertierung: Zeilenwert GmbH Rudolstadt
Dem Klassenkampf
Ich & meine Mutti
Klassengesellschaft
Du
Und andere Privilegien
Priest & Madonna
Provinzschwule sind Gott
Selbstleben
Julius
Anmerkungen
X
komm nicht an und sag
etwas hätte mehr Identität als etwas anderes
alles hat Identität
nimm nur meine Mutti
sie ist voll von Identität
mittelalter, heterosexueller, arbeiterklasseweiblicher Identität
liebt Sanne Salomonsen
hat SS auf die Wade tätowiert und das CD-Regal voll mit
Culture Club, Olivia Newton-John, Duran Duran, Bonnie Tyler, Rocazino, Sneakers
meine Mutti bleicht ihre Haare und geht ins Solarium
für sie bedeutete Leben einen Mann zu heiraten
ein paar Kinder zu kriegen
Urlaubsreisen nach Kreta
Einfamilienhaussiedlung
Autos, Fleisch, Shoppen im Schlussverkauf
heute lebt sie alleine, in einer Wohnung
mit Meerblick
da kann man sehen
meine Mutti ist voll von Identität
mir würde es im Traum nicht einfallen, ihr Greased Lightnin’ leiser zu drehen
ihr heteronormatives identitätspolitisches Gerede
oder was
auf allerkeinsten
diese Vorbilder haben sie über Scheidungen und Todesfälle hinweggerettet
waren allesentscheidend für das
was sie war und ist
das einzige, was ich einwenden möchte, ist:
können wir nicht sämtlichen Kindern und Jugendlichen zusichern, dass hier auch Platz für dich ist?
und bei dich denke ich unter anderem an
mich selbst
die Vergangenheit ist vorbei, und du, ja du, darfst gerne ein wirklicher
Teil von allem werden
du brauchst dir nicht länger deine eigene Grotte im Leben zu erschaffen
in der Harry Potter und Draco Malfoy sich einen einzigen heimlichen Blick zuwerfen
(mit einem schwulen Anflug, ein Kind genau wie du)
nein
du bist nicht verkehrt
hallo
dies ist eine Verantwortung, der wir uns stellen müssen
die Wirklichkeit zu schildern wie sie ist
und nicht nur wie die Mehrheit wünscht
dass sie sein soll
ich schwöre
wenn es bloß eine Version des Disney-Films gegeben hätte,
in der Cap und Cappers Freundschaft sich zu mehr entwickelt hätte
Liebe quer zu Rassen und zwischen gleichen Geschlechtern
selbst ihren Unterdrücker, den Jäger, von dieser seiner
Moby Dick-artigen Ehrenmission befreiend, ja dann
hätte ich mir einen runterholen können in aller Unschuld
say no more
es sind Brotkrumen, von denen ich spreche
aber wir brauchen Brotkrumen
entweder wir haben Gleichstellung
oder wir haben keine Gleichstellung
wir können uns nicht mit etwas Gleichstellung begnügen
die Homosexuellen-Ehe war auch so ein Brotkrumen
ich bin nicht satt
alles ist Identität
kein Mensch kann sich über sein eigenes Interesse daran hinwegsetzen
wer er selbst ist
es ist einfach unsinnig sich
irgendeinen neutralen
leeren Behälter vorzustellen
ohne Werte und Haltungen und Gefühle und Lieblingsfilme
beschuldigst du andere der Identitätspolitik
beschuldigst du sie auch, überhaupt da zu sein, oder
nimmst das jedenfalls in Kauf
X
Mutti und ich sollen interviewt werden
danach fotografiert für eine jütländische Lokalzeitung
ich frage
ich sage, hey
bevor sie kommen
Mama
soll ich mir nicht die Haare zu einem Dutt hochbinden?
sie antwortet, warum denn?
also
um normaler auszusehen
wie ein Junge
und sie antwortet, nein
verdammt nein
du lässt die Haare unten
und ich lächle
OK Mutti
absolviere das Interview
danach das Fotografieren
im Internet wird das Porträt auf der Profilseite der Zeitung hochgeladen
ich bin von vorne zu sehen
mit dem Kopf auf der Schulter meiner Mutter
in einer Umarmung
und die Haare baumeln offen
so dass es tatsächlich schwierig ist mein Geschlecht zu entschlüsseln
das ist mir peinlich
ich denke, fuck, wonach sehe ich aus
ich denke, Entschuldigung
ich verstehe gut, dass ihr keine Lust habt
dieses Bild zu liken
liebe Bürger dieser mittelgroßen dänischen Stadt
der Sinn bestand nicht darin, euch zu ärgern
und das Foto bekommt genauso wenige Likes
wie eins, auf der eine dicke Frau posiert
ach, verdammt
sie sind also nicht nur homophob hier in dieser Gegend
sie sind auch dickophob?
ich fühle direkt eine Form von Gemeinschaft mit ihr, ja
mir geht es plötzlich besser mit mir selbst
die scheiß-auf-euch-Einstellung erwächst aus Scham
und ich stecke das Handy zurück in die Hosentasche
ich spüle
finde meine Mutter vor der Glotze
sage, hey
sie antwortet, hey Mulle
was gibt’s
nichts, sage ich
setze mich einfach
mit meiner Hand auf ihrer
wie in einem Bunker
und drücke sie
X
meine Mutti kann Mette Blomsterbergs Das süße Leben nicht ausstehen
sie findet man macht zu viel Wirbel um nichts
oder sie empfindet es als Hohn
wenn Mette uns versichert
wie leicht das alles ist
»dann macht ihr das einfach so«
am wenigsten kann sie es ab
wenn Mettemaus ihre Geschmackserlebnisse beschreibt
das Wort »Geschmackserlebnis« benutzt
»Schokoladenexplosionen in meinem Mund«
komm runter, um Himmels willen
so dass wir anderen auch folgen können
oder
Mutti?
Zusatzstoffe
Duftstoffe
wenn das gut genug ist
für meine Kinder
ist es auch gut genug
für deine
oder
Mutti?
wie ist deine Sprache eigentlich so grob geworden?
harte, mopedfahrende, lagerarbeitende Mannmutti
Raufschwester
verlassen von Mutter und Vater, viel zu früh
alleine
ohne Ausbildung
mit den Fäusten festgefroren in einem:
»Was gibt es da zu glotzen?!«
bleib weg oder komm einen Schritt näher
und denk nicht mal daran mich
wieder zu verlassen
nein
verlass mich nie wieder
oder
Mutti
habe ich recht?
X
dass meine Mutter nicht versteht was ich schreibe
kümmert mich nicht mehr
als wenn wir wertepolitisch uneins sind
dass meine Mutter nicht versteht was ich schreibe
kümmert mich weniger
als wenn wir wertepolitisch uneins sind
sie kennt meine Ansichten
ich kenne ihre Ansichten
wir müssen einander akzeptieren und uns gegenseitig Raum geben
jaja
gewisse Dinge kann ich einfach nicht akzeptieren
dann kümmert es mich plötzlich kaum noch
dass sie darüber hinaus auch nicht versteht was ich schreibe
nee
bei einem Familientreffen verstehen sie auch nicht
was du da die ganze Zeit treibst
Glenn-in-Kopenhagen?
und ich spüre eine gewisse Gereiztheit allein schon wegen der Tatsache
dass meine Arbeit
eine Arbeit sein soll
X
was haben wir von dem Aufsteiger
bestätigt er nicht die Regel
dass etwas Besonderes passieren muss, bevor ein Einzelner es schafft,
in eine andere Klasse aufzurücken?
Mama
es ist so herzzerreißend
wie du immer noch Vertrauen hast in die Leistungsgesellschaft
dass man bekommt was man verdient wenn man
nur hart genug arbeitet, Mama
wir haben keine Chancengleichheit in diesem Land
wieviele Gegenbeweise braucht es
bevor die Wirklichkeit wirklich erscheint?
was willst du mit den Vorzeigegeschichten?
wenn sie einen wärmen und inspirieren
so wie bei Sanne Salomonsen
dann bin ich mit an Bord
Rockmama, Kämpfermutter
glaubst du wirklich nicht, dass manche bessere Voraussetzungen haben, um im Leben klarzukommen, als andere?
was denkst du über Kinder aus dysfunktionalen Familien?
denkst du
wie die Ministerpräsidentin
dass man sich immer noch mehr zusammenreißen kann?
Mama
das meinst du doch nicht
verdammt nochmal
natürlich sollen Anforderungen gestellt werden
so weit sind wir einig
und auch an die Schwächsten in der Gesellschaft, jawoll
aber Mama
wie kann es verdammt nochmal sein
dass es die Obdachlosen sind
und nicht die Banker
die die Kassen leeren
wenn es nach deinem Baugefühl geht?
X
meine Mutter lässt sich tätowieren
der Regenbogen symbolisiert ihren ältesten Sohn, der schwul ist
der Sportangler ihren jüngsten Sohn, der gerne angelt
die Angelschnur, die zu einem Ewigkeitszeichen gewickelt ist,
ergibt sich von selbst
und dann behauptet sie
meine Mutter verdammt
dass sie klassische Kunst nicht versteht
da bedeutet alles etwas
anderes
X
Mutti ist Gefängniswärterin
mit aufgekrempelten Ärmeln
so dass das Regenbogen-Tattoo sichtbar wird
und die Insassen reißen die Augen auf, oohh
bist du Lesbe, also, wenn du eine bist, daaas
JA, faucht sie
der junge Mann springt im Käfig zurück
fährt zusammen, verliert die Zigarette
ich bin total die Lesbe, faucht sie
denkt in Wirklichkeit an ihren Sohn und fragt:
hast du ein Problem damit?!
nein, nein, Jette, nein, daaas
OK, dann sprechen wir nicht mehr davon
und dann fangen sie tatsächlich an zu plaudern
meine Mutter und die Insassen
über die Rechte von LGBT+-Menschen
was für ein Eisbrecher
ihre Liebe zu mir
kennt keine Grenzen oder gar den Begriff
Aktivismus
sie ist einfach da
und ich weiß bald nicht mehr was ich sagen soll
also sage ich nichts
lächle
verdammt nochmal
ins Gefängnis zu kommen ist scheiße
jaja
aber wie es ist, als Homosexuelle ins Gefängnis zu kommen
das kann meine Mutter, die Gefängniswärterin, nicht einmal beschreiben
X
ich habe gemischte Gefühle gegenüber meiner angeeigneten akademischen Sprache
wenn ich in Horsens bei meiner Mutter bin
spürt man die Sprache wie eine Distanz
in der sie sich belehrt fühlt
umgekehrt fühle ich mich schnell machtlos
wenn ich gebeten werde erklär es mir
SO DASS MAN ES VERSTEHEN KANN
und ich es offenkundig nicht kann
nicht länger auf ihre Weise
dann umarmen wir uns
treffen uns in der Mitte und sagen scheiß drauf
versuch es nochmal wenn du die Sprache zurückhast
Mulle
die Aneignung meiner Sprache war auch befreiend
ich verstehe mich selbst besser
ja, ich glaube, ich verstehe die Welt besser
als meine Mutter
mit der Aneignung der Sprache folgten einige Privilegien
ich machte eine Ausbildung
ich kann versprachlichen, wie es mir in der Kindheit ging
ja, die Aneignung meiner Sprache war auch befreiend
nur ärgerlich wenn ich später
Teile dieser Befreiung bereue
und die Freude zurückerobern muss
am Volkhaften
einige dieser Freuden, die ich mit meiner Mutter gemeinsam hatte
ich vermochte es nicht, die beiden Identitäten zu integrieren
ich tauschte mein Selbst mit einem anderen aus, um dazuzugehören
wo immer ich war
und plötzlich wurde das meine Identität
die gespaltene
die niemals ganz zuhause war
sondern immer halb auswärts spielte
meine Identität war über viele Jahre aversionsgeprägt
meine Identität war eine Nicht-Identität
ich wollte nicht wie meine Mutter enden
ich wollte nicht ihre Fehler wiederholen
ich wollte nicht mit irgendetwas in Verbindung gebracht werden, mit dem sie sich in Verbindung brachte
es gab in meiner Kindheit auch viel
von dem ich mich distanzieren musste
X
heute hat meine Mutter Angst, mir auf die Füße zu treten
ich hatte selber Angst, denen an der Universität auf die Füße zu treten
es gibt viele, denen ich Angst habe auf die Füße zu treten
X
am einen Tag erzählt mir ein Schriftstellerkollege, wie viel Respekt mir Unsereins entgegenbringt
am nächsten Tag drückt ein Psychologenkollege seine Besorgnis über mein Wohlergehen aus
dann finden ein Buchblogger, Hochschullehrer, Schreibkursschüler
mein Roman sei zu heftig
zu barsch, zu unlieb
gleichzeitig bekomme ich eine Zuschrift nach der anderen
Kinder von alkoholkranken Eltern
Homosexuelle
Jugendliche
erwachsene, zum-ersten-Mal-lesende Männer
und Singlemütter fühlen sich gesehen
endlich
das ist es, was sie wollen
soll ich wissen
und ich denke:
hier gibt es eine Verständniskluft in DK
Empathie kommt nicht von alleine
X
bei einem Vorstellungsgespräch als PPR-Psychologe (in Næstved)
drückt der Chef (er ist Ökonom)
seine Besorgnis bezüglich meiner »Robustheit« aus
er hat meinen Roman gelesen
deshalb hat man mich geheadhuntet
er sagte:
hier sind die Psychologen mustergültig
wir haben Verwendung für einen wie dich
Glenn
jemanden der was erlebt hat
du verstehst
aber ich finde du wirkst vielleicht nicht
sonderlich robust?
aber
was meinst du?
du wirkst vielleicht ein bisschen nervös
Glenn
bist du nervös?
als PPR-Psychologe ist man der Experte im Leben eines Kindes
gegenüber den Eltern
gegenüber den Pädagogen
gegenüber den Lehrern
als PPR-Psychologe wird man täglich angeschrien
viele melden sich krank wegen Stress
und ich finde schon
du sitzt da auf dem Stuhl und zitterst
Glenn?
in dem Vorstellungsgespräch saß auch eine gleichaltrige, kürzlich angestellte Psychologin
als ich einwandte
dass es vielleicht ein bisschen weit sei von Kopenhagen nach Næstved hin und zurück jeden Tag
rief sie
dass nein
das fand sie auf keinen Fall
DIE FAHRT VON KOPENHAGEN NACH NÆSTVED HIN UND ZURÜCK JEDEN TAG IST ANGENEHM
DA KANN MAN RICHTIG VIEL ERLEDIGEN
UNTERWEGS
die junge Frau sah sich um unter ihren Kollegen und dem Chef
als sei sie noch immer unsicher ob der Job ihr gehörte
und ich dachte:
du Schwein
du eklige, selbsternannte Verräterin
mögen dir die Dinkelbrötchen im Hals stecken bleiben
und natürlich sollte ich diesen Job nicht haben
Mama, natürlich sollte ich diesen Job nicht haben
X
meine Mutter findet mich schlampig
zu lässig und verträumt
während ich bei meinen linksorientierten Freunden merke
dass sie mich manchmal
ein bisschen zu kontrolliert finden
ein bisschen zu ordentlich
und pflichtbewusst
bei meinen bürgerlichen Freunden ist es ordentlich und aufgeräumt, die Haare sind gewaschen,
der Bart getrimmt
bei meinen linksorientierten Freunden aus der kreativen und akademischen
Mittelklasse dürfen gerne mal ein paar Krümel herumliegen in der Spüle und auf den Teppichen
auf dem Boden, oder das sollen sie vielmehr
während diejenigen, die ich kenne, die Sozialhilfe bekommen oder im Vorruhestand sind
selten den Überschuss haben in besonderem Maße eitel zu sein
man kann sich darüber streiten, was sozial akzeptierter Dreck ist
aber der volle Aschenbecher auf dem Glastisch im Wohnzimmer …
X
als Psychologe sollte man gerne vertrauenserweckend sein, empathisch
und als Schriftsteller, habe ich den Eindruck
dass ich eher cool sein sollte,
gleichgültig, kaputt, trocken, undankbar, zerbrechlich, ausgesetzt
auf jeden Fall nicht besonders erbaulich, bürgerlich angepasst
als ich dann für einen Literaturpreis nominiert wurde, hatte ich den Impuls:
lösch deine Psychologenhomepage, Glenn
lösch den netten und freundlichen Scheiß
bevor die Jury bemerkt
was …
wie langweilig Kunst
an dir aussieht!
X
meine Mutter findet Performancekunst ist
merkwürdig um der Merkwürdigkeit willen
da muss ich ihr schon ein bisschen zustimmen
X
bist du dumm oder was
Mama
bist du so dumm wie die Ministerpräsidentin
glaubt, dass du bist?
fällst auf die Makrelenbrote und die Hundewelpen der Ministerpräsidentin herein?
denkst, Gott
sie ist ja eine von uns?
fällst du auf die volkstümlichen Sprüche der Staatsministerin herein
klaphat, feuchte Augen, Bierchen?
im TV drückt die Moderatorin ihre Bewunderung dafür aus
dass die Prominente mit Tausenden Followern
als Bestsellerautorin debütiert hat
obwohl sie genauso viele Abgüsse von ihrem Hintern hätte verkaufen können
es ist schon beeindruckend
wie die Reichen immer reicher werden
während Mutti zwangsernährt wird mit ihrer eigenen Verdummung
oder vielleicht bin ich auch nur neidisch
meine Mutter frisst die Illusion:
berühmte Menschen sind bessere Menschen und haben einen Platz vor der Kamera verdient
und ich
der mit den Promis Wein trinkt
hinter den Bühnen, in Kopenhagen
ich winde mich auf meinem Stuhl!
Mama, verdammt
was soll ich sagen, was soll ich tun
es sollte alles umgekehrt sein
X
es ist mein Unglück
dass meine Mutter ihre Traumata an mich weitergegeben hat
es ist mein Glück
dass sie gerne über Dinge spricht
ich kenne viele, die nicht so ein Glück haben
X
in armen Familien reicht die Kraft selten für mehr als zum Überleben
das ist meine Erfahrung
wenn mein Freund, Willy, den Namen von diesem und auch noch jenem Baum kennt
oder Blatt
lähmt mich das
es gibt diese Ambivalenz
teils weckt sein Interesse an der Welt
auch meines
teils ist die Freundlichkeit anstrengend
mein Interesse kommt nicht von innen
und ich werde müde
können wir nicht über etwas anderes reden
können wir nicht über etwas reden, das uns selbst betrifft
direkt, ganz praktisch
ich weiß es nicht
meine Mutter kommunizierte meistens indem sie mitteilte
was sie noch alles erledigen musste
und ich?
wenn ich unterbrochen hätte um über einen Schmetterling zu faseln …
X
Rassisten und Homophobe sollten zwangserleuchtet werden
zwangsgebildet
zwangsbehandelt
the one percent sollte eingesperrt werden wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit
aber meine Mutti
sollte sie sich schämen?
meine Mutter war Alleinversorgerin von Zweien
nach dem Selbstmord meines Vaters
sollte sie sich dafür schämen, dass sie lieber konventionelle Milch genommen hat als ökologische?
sie fuhr den Stadtbus
sie war 23
unsere wechselnden Regierungen müssten sich schämen
Facebook müsste sich schämen
die Banken müssten sich schämen
Bauherren, Waffen- und Pharmaindustrie
aber meine Mutter
sollte sie sich schämen?
selbst wenn meine Mutter 55 Stunden die Woche arbeitet
verdient sie nicht einen Bruchteil dessen
was Politiker
die die arbeitende Bevölkerung repräsentieren sollen
einkassieren durch Handwerkerfreibetrag und Eigenkapital
das, was meine Mutter im Jahr verdient, verdient ein Politiker
der sie repräsentieren sollte
allein über sein passives Einkommen
X
in meiner Familie darfst du dich in alles Mögliche einmischen
(mit Familie meine ich eine Handvoll fremder Gesichter
die ich kaum wiedererkenne)
wenn du nur einer Arbeit nachgehst
vielleicht prügelt dich dein Mann
das macht nichts
solange du einen Mann hast
vielleicht ist dein Kind Alkoholiker
das macht nichts
solange du Kinder hast
vielleicht hassen wir uns alle bei dieser Hochzeit hier
das macht nichts
solange es eine Hochzeit gibt
wenn du
A: einem Vollzeitjob nachgehst
B: verheiratet bist
C: Kinder hast
D: einen Haushalt führst
kann es dir gleichgültig sein, wie es dir selbst geht
also darfst du dich richtig in das Leben anderer einmischen
X
ich erkenne eure Autorität nicht länger an
Schluss
Auf Nimmer
wiedersehen
X
Apropos Identität bin ich
echt eine merkwürdige, widersprüchliche Mischung aus Proll und Elite
keine Ahnung was Burrata ist
keine Ahnung was Kombucha ist
ich hatte keine Ahnung, was der Unterschied ist zwischen einer Orangerie und einem Gewächshaus
bevor mein Freund es mir neulich erklärte
und es ist mir immer noch egal, oder
doch nicht?
diese subtilen, feinen, mikroskopisch bedeutungsanreichernden Unterschiede zu kennen
scheint mir überflüssig
oder
diese subtilen, feinen, mikroskopisch bedeutungsanreichernden Unterschiede zu kennen
ist für mein Überleben unerheblich, scheint mir?
meine Alarmbereitschaft ist ausschließlich ausgerichtet auf:
– Tonfall
– Gesichtsausdruck
– Stimmung, Laune
– Gewicht auf den Bodendielen, Schritttempo
– Grauton des Tages
während der Unterschied zwischen einer Eiche und einer Buche mich nicht weniger beunruhigen könnte
X
gibst du mir die Fernbedienung?
nee
her damit!
ich bin neidisch
auf einer Studienreise nimmt meine Lehrerin ihr Kind an die Hand
sie zeigt ihm die Statuen, die Gärten, die Kirche und ihren Schmuck
zeigt, erklärt
wie die Dinge heißen
das ist ein x, und das ist ein y
das ist ein z, und das ist ein ä
ö
ü
und ich
habe noch nicht einmal Worte für meine Gefühle
oder es sind die falschen
ich bin zornig
aber das darf ich nicht sein
gut
es ist nicht die Schuld des Kindes
es ist 10