Ich erkenne eure Autorität nicht länger an - Glenn Bech - E-Book

Ich erkenne eure Autorität nicht länger an E-Book

Glenn Bech

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Beschreibung

Wie kann es sein, dass Kunstschaffende sich in ihrer zur Schau gestellten Queerness sonnen, während sich Schwule andernorts nachts kaum aus dem Haus trauen dürfen – und keinen juckt’s? Wie kann es sein, dass Reiche immer reicher werden, die gebildete Großstadtelite sich in ihrem Elfenbeinturm einkastelt, während andere froh sein müssen, sich überhaupt nur die weiterführende Schule leisten zu können? Und wie vor allem kann es sein, dass die aufgeklärten Menschen in unseren westlichen Gesellschaften das alles gar nicht bemerken oder mit einer paternalisierenden Sonderbehandlung gar noch fördern? Glenn Bech, Jahrgang 1991, praktizierender Psychologe, Provinzschwuler, Mobbingopfer, aus einer Familie, von der sich die braven Bürgerinnen und Bürger im Flugzeug schaudernd abwenden, wie er selbst sagt, legt den Finger in die Wunde unserer westlichen, heterosexuellen, erfolgsverwöhnten Überheblichkeit – und zwar so, dass es schmerzt. In seiner direkten, poetischen Prosa arbeitet er sich ab an Identität und Identitäten, an der Klassengesellschaft, sozialer Gewalt, an der systematischen Diffamierung und Diskriminierung von Homosexuellen, heute, mitten in Westeuropa. Auf der anderen Seite der selbstgerechte Wohlstandsbürger, der keine Ahnung hat, wie privilegiert er eigentlich ist und entsprechend blind ist für die andere Seite. Die Essenz: »wenn etwas leicht ist für dich/ ist das schön für dich«. Sehr subjektiv, schonungslos offen, selbstentblößend, voller Wut, down to earth, bitter, provozierend, berührend – und immer auf den Punkt. Glenn Bech, in Dänemark ein regelrechter Star, hat die Sprache und den Nerv derer getroffen, die sich vergessen und verraten fühlen von Politik und Gesellschaft, der Abgehängten, Ausgegrenzten – und damit auch Leserinnen und Leser erreicht, die mit Ich erkenne eure Autorität nicht länger an zum ersten Mal überhaupt freiwillig ein Buch in der Hand halten.

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Glenn Bech

Ich erkenne eure Autorität nicht länger an

Manifest

Aus dem Dänischen von Andrea Paluch

1. Auflage

Stuttgart, Kröner 2023

ISBN Druck: 978-3-520-62701-8

ISBN E-Book: 978-3-520-62791-9

Originaltitel: Jeg anerkender ikke længere jeres autoritet

Copyright © Glenn Bech & Gyldendal, Copenhagen 2022.

Published by agreement with Gyldendal Group Agency

www.glennbech.dk

www.gyldendal.dk

ALL RIGHTS RESERVED

Diese Übersetzung wurde publiziert mithilfe der finanziellen Unterstützung durch die Danish Arts Foundation

Umschlaggestaltung: Denis Krnjaić

unter Verwendung eines Motivs von unsplash.com

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2023 Alfred Kröner Verlag Stuttgart · Alle Rechte vorbehalten E-Book-Konvertierung: Zeilenwert GmbH Rudolstadt

Dem Klassenkampf

Inhalt

Ich & meine Mutti

Klassengesellschaft

Du

Und andere Privilegien

Priest & Madonna

Provinzschwule sind Gott

Selbstleben

Julius

Anmerkungen

X

komm nicht an und sag

etwas hätte mehr Identität als etwas anderes

alles hat Identität

nimm nur meine Mutti

sie ist voll von Identität

mittelalter, heterosexueller, arbeiterklasseweiblicher Identität

liebt Sanne Salomonsen

hat SS auf die Wade tätowiert und das CD-Regal voll mit

Culture Club, Olivia Newton-John, Duran Duran, Bonnie Tyler, Rocazino, Sneakers

meine Mutti bleicht ihre Haare und geht ins Solarium

für sie bedeutete Leben einen Mann zu heiraten

ein paar Kinder zu kriegen

Urlaubsreisen nach Kreta

Einfamilienhaussiedlung

Autos, Fleisch, Shoppen im Schlussverkauf

heute lebt sie alleine, in einer Wohnung

mit Meerblick

da kann man sehen

meine Mutti ist voll von Identität

mir würde es im Traum nicht einfallen, ihr Greased Lightnin’ leiser zu drehen

ihr heteronormatives identitätspolitisches Gerede

oder was

auf allerkeinsten

diese Vorbilder haben sie über Scheidungen und Todesfälle hinweggerettet

waren allesentscheidend für das

was sie war und ist

das einzige, was ich einwenden möchte, ist:

können wir nicht sämtlichen Kindern und Jugendlichen zusichern, dass hier auch Platz für dich ist?

und bei dich denke ich unter anderem an

mich selbst

die Vergangenheit ist vorbei, und du, ja du, darfst gerne ein wirklicher

Teil von allem werden

du brauchst dir nicht länger deine eigene Grotte im Leben zu erschaffen

in der Harry Potter und Draco Malfoy sich einen einzigen heimlichen Blick zuwerfen

(mit einem schwulen Anflug, ein Kind genau wie du)

nein

du bist nicht verkehrt

hallo

dies ist eine Verantwortung, der wir uns stellen müssen

die Wirklichkeit zu schildern wie sie ist

und nicht nur wie die Mehrheit wünscht

dass sie sein soll

ich schwöre

wenn es bloß eine Version des Disney-Films gegeben hätte,

in der Cap und Cappers Freundschaft sich zu mehr entwickelt hätte

Liebe quer zu Rassen und zwischen gleichen Geschlechtern

selbst ihren Unterdrücker, den Jäger, von dieser seiner

Moby Dick-artigen Ehrenmission befreiend, ja dann

hätte ich mir einen runterholen können in aller Unschuld

say no more

es sind Brotkrumen, von denen ich spreche

aber wir brauchen Brotkrumen

entweder wir haben Gleichstellung

oder wir haben keine Gleichstellung

wir können uns nicht mit etwas Gleichstellung begnügen

die Homosexuellen-Ehe war auch so ein Brotkrumen

ich bin nicht satt

alles ist Identität

kein Mensch kann sich über sein eigenes Interesse daran hinwegsetzen

wer er selbst ist

es ist einfach unsinnig sich

irgendeinen neutralen

leeren Behälter vorzustellen

ohne Werte und Haltungen und Gefühle und Lieblingsfilme

beschuldigst du andere der Identitätspolitik

beschuldigst du sie auch, überhaupt da zu sein, oder

nimmst das jedenfalls in Kauf

X

Mutti und ich sollen interviewt werden

danach fotografiert für eine jütländische Lokalzeitung

ich frage

ich sage, hey

bevor sie kommen

Mama

soll ich mir nicht die Haare zu einem Dutt hochbinden?

sie antwortet, warum denn?

also

um normaler auszusehen

wie ein Junge

und sie antwortet, nein

verdammt nein

du lässt die Haare unten

und ich lächle

OK Mutti

absolviere das Interview

danach das Fotografieren

im Internet wird das Porträt auf der Profilseite der Zeitung hochgeladen

ich bin von vorne zu sehen

mit dem Kopf auf der Schulter meiner Mutter

in einer Umarmung

und die Haare baumeln offen

so dass es tatsächlich schwierig ist mein Geschlecht zu entschlüsseln

das ist mir peinlich

ich denke, fuck, wonach sehe ich aus

ich denke, Entschuldigung

ich verstehe gut, dass ihr keine Lust habt

dieses Bild zu liken

liebe Bürger dieser mittelgroßen dänischen Stadt

der Sinn bestand nicht darin, euch zu ärgern

und das Foto bekommt genauso wenige Likes

wie eins, auf der eine dicke Frau posiert

ach, verdammt

sie sind also nicht nur homophob hier in dieser Gegend

sie sind auch dickophob?

ich fühle direkt eine Form von Gemeinschaft mit ihr, ja

mir geht es plötzlich besser mit mir selbst

die scheiß-auf-euch-Einstellung erwächst aus Scham

und ich stecke das Handy zurück in die Hosentasche

ich spüle

finde meine Mutter vor der Glotze

sage, hey

sie antwortet, hey Mulle

was gibt’s

nichts, sage ich

setze mich einfach

mit meiner Hand auf ihrer

wie in einem Bunker

und drücke sie

X

meine Mutti kann Mette Blomsterbergs Das süße Leben nicht ausstehen

sie findet man macht zu viel Wirbel um nichts

oder sie empfindet es als Hohn

wenn Mette uns versichert

wie leicht das alles ist

»dann macht ihr das einfach so«

am wenigsten kann sie es ab

wenn Mettemaus ihre Geschmackserlebnisse beschreibt

das Wort »Geschmackserlebnis« benutzt

»Schokoladenexplosionen in meinem Mund«

komm runter, um Himmels willen

so dass wir anderen auch folgen können

oder

Mutti?

Zusatzstoffe

Duftstoffe

wenn das gut genug ist

für meine Kinder

ist es auch gut genug

für deine

oder

Mutti?

wie ist deine Sprache eigentlich so grob geworden?

harte, mopedfahrende, lagerarbeitende Mannmutti

Raufschwester

verlassen von Mutter und Vater, viel zu früh

alleine

ohne Ausbildung

mit den Fäusten festgefroren in einem:

»Was gibt es da zu glotzen?!«

bleib weg oder komm einen Schritt näher

und denk nicht mal daran mich

wieder zu verlassen

nein

verlass mich nie wieder

oder

Mutti

habe ich recht?

X

dass meine Mutter nicht versteht was ich schreibe

kümmert mich nicht mehr

als wenn wir wertepolitisch uneins sind

dass meine Mutter nicht versteht was ich schreibe

kümmert mich weniger

als wenn wir wertepolitisch uneins sind

sie kennt meine Ansichten

ich kenne ihre Ansichten

wir müssen einander akzeptieren und uns gegenseitig Raum geben

jaja

gewisse Dinge kann ich einfach nicht akzeptieren

dann kümmert es mich plötzlich kaum noch

dass sie darüber hinaus auch nicht versteht was ich schreibe

nee

bei einem Familientreffen verstehen sie auch nicht

was du da die ganze Zeit treibst

Glenn-in-Kopenhagen?

und ich spüre eine gewisse Gereiztheit allein schon wegen der Tatsache

dass meine Arbeit

eine Arbeit sein soll

X

was haben wir von dem Aufsteiger

bestätigt er nicht die Regel

dass etwas Besonderes passieren muss, bevor ein Einzelner es schafft,

in eine andere Klasse aufzurücken?

Mama

es ist so herzzerreißend

wie du immer noch Vertrauen hast in die Leistungsgesellschaft

dass man bekommt was man verdient wenn man

nur hart genug arbeitet, Mama

wir haben keine Chancengleichheit in diesem Land

wieviele Gegenbeweise braucht es

bevor die Wirklichkeit wirklich erscheint?

was willst du mit den Vorzeigegeschichten?

wenn sie einen wärmen und inspirieren

so wie bei Sanne Salomonsen

dann bin ich mit an Bord

Rockmama, Kämpfermutter

glaubst du wirklich nicht, dass manche bessere Voraussetzungen haben, um im Leben klarzukommen, als andere?

was denkst du über Kinder aus dysfunktionalen Familien?

denkst du

wie die Ministerpräsidentin

dass man sich immer noch mehr zusammenreißen kann?

Mama

das meinst du doch nicht

verdammt nochmal

natürlich sollen Anforderungen gestellt werden

so weit sind wir einig

und auch an die Schwächsten in der Gesellschaft, jawoll

aber Mama

wie kann es verdammt nochmal sein

dass es die Obdachlosen sind

und nicht die Banker

die die Kassen leeren

wenn es nach deinem Baugefühl geht?

X

meine Mutter lässt sich tätowieren

der Regenbogen symbolisiert ihren ältesten Sohn, der schwul ist

der Sportangler ihren jüngsten Sohn, der gerne angelt

die Angelschnur, die zu einem Ewigkeitszeichen gewickelt ist,

ergibt sich von selbst

und dann behauptet sie

meine Mutter verdammt

dass sie klassische Kunst nicht versteht

da bedeutet alles etwas

anderes

X

Mutti ist Gefängniswärterin

mit aufgekrempelten Ärmeln

so dass das Regenbogen-Tattoo sichtbar wird

und die Insassen reißen die Augen auf, oohh

bist du Lesbe, also, wenn du eine bist, daaas

JA, faucht sie

der junge Mann springt im Käfig zurück

fährt zusammen, verliert die Zigarette

ich bin total die Lesbe, faucht sie

denkt in Wirklichkeit an ihren Sohn und fragt:

hast du ein Problem damit?!

nein, nein, Jette, nein, daaas

OK, dann sprechen wir nicht mehr davon

und dann fangen sie tatsächlich an zu plaudern

meine Mutter und die Insassen

über die Rechte von LGBT+-Menschen

was für ein Eisbrecher

ihre Liebe zu mir

kennt keine Grenzen oder gar den Begriff

Aktivismus

sie ist einfach da

und ich weiß bald nicht mehr was ich sagen soll

also sage ich nichts

lächle

verdammt nochmal

ins Gefängnis zu kommen ist scheiße

jaja

aber wie es ist, als Homosexuelle ins Gefängnis zu kommen

das kann meine Mutter, die Gefängniswärterin, nicht einmal beschreiben

X

ich habe gemischte Gefühle gegenüber meiner angeeigneten akademischen Sprache

wenn ich in Horsens bei meiner Mutter bin

spürt man die Sprache wie eine Distanz

in der sie sich belehrt fühlt

umgekehrt fühle ich mich schnell machtlos

wenn ich gebeten werde erklär es mir

SO DASS MAN ES VERSTEHEN KANN

und ich es offenkundig nicht kann

nicht länger auf ihre Weise

dann umarmen wir uns

treffen uns in der Mitte und sagen scheiß drauf

versuch es nochmal wenn du die Sprache zurückhast

Mulle

die Aneignung meiner Sprache war auch befreiend

ich verstehe mich selbst besser

ja, ich glaube, ich verstehe die Welt besser

als meine Mutter

mit der Aneignung der Sprache folgten einige Privilegien

ich machte eine Ausbildung

ich kann versprachlichen, wie es mir in der Kindheit ging

ja, die Aneignung meiner Sprache war auch befreiend

nur ärgerlich wenn ich später

Teile dieser Befreiung bereue

und die Freude zurückerobern muss

am Volkhaften

einige dieser Freuden, die ich mit meiner Mutter gemeinsam hatte

ich vermochte es nicht, die beiden Identitäten zu integrieren

ich tauschte mein Selbst mit einem anderen aus, um dazuzugehören

wo immer ich war

und plötzlich wurde das meine Identität

die gespaltene

die niemals ganz zuhause war

sondern immer halb auswärts spielte

meine Identität war über viele Jahre aversionsgeprägt

meine Identität war eine Nicht-Identität

ich wollte nicht wie meine Mutter enden

ich wollte nicht ihre Fehler wiederholen

ich wollte nicht mit irgendetwas in Verbindung gebracht werden, mit dem sie sich in Verbindung brachte

es gab in meiner Kindheit auch viel

von dem ich mich distanzieren musste

X

heute hat meine Mutter Angst, mir auf die Füße zu treten

ich hatte selber Angst, denen an der Universität auf die Füße zu treten

es gibt viele, denen ich Angst habe auf die Füße zu treten

X

am einen Tag erzählt mir ein Schriftstellerkollege, wie viel Respekt mir Unsereins entgegenbringt

am nächsten Tag drückt ein Psychologenkollege seine Besorgnis über mein Wohlergehen aus

dann finden ein Buchblogger, Hochschullehrer, Schreibkursschüler

mein Roman sei zu heftig

zu barsch, zu unlieb

gleichzeitig bekomme ich eine Zuschrift nach der anderen

Kinder von alkoholkranken Eltern

Homosexuelle

Jugendliche

erwachsene, zum-ersten-Mal-lesende Männer

und Singlemütter fühlen sich gesehen

endlich

das ist es, was sie wollen

soll ich wissen

und ich denke:

hier gibt es eine Verständniskluft in DK

Empathie kommt nicht von alleine

X

bei einem Vorstellungsgespräch als PPR-Psychologe (in Næstved)

drückt der Chef (er ist Ökonom)

seine Besorgnis bezüglich meiner »Robustheit« aus

er hat meinen Roman gelesen

deshalb hat man mich geheadhuntet

er sagte:

hier sind die Psychologen mustergültig

wir haben Verwendung für einen wie dich

Glenn

jemanden der was erlebt hat

du verstehst

aber ich finde du wirkst vielleicht nicht

sonderlich robust?

aber

was meinst du?

du wirkst vielleicht ein bisschen nervös

Glenn

bist du nervös?

als PPR-Psychologe ist man der Experte im Leben eines Kindes

gegenüber den Eltern

gegenüber den Pädagogen

gegenüber den Lehrern

als PPR-Psychologe wird man täglich angeschrien

viele melden sich krank wegen Stress

und ich finde schon

du sitzt da auf dem Stuhl und zitterst

Glenn?

in dem Vorstellungsgespräch saß auch eine gleichaltrige, kürzlich angestellte Psychologin

als ich einwandte

dass es vielleicht ein bisschen weit sei von Kopenhagen nach Næstved hin und zurück jeden Tag

rief sie

dass nein

das fand sie auf keinen Fall

DIE FAHRT VON KOPENHAGEN NACH NÆSTVED HIN UND ZURÜCK JEDEN TAG IST ANGENEHM

DA KANN MAN RICHTIG VIEL ERLEDIGEN

UNTERWEGS

die junge Frau sah sich um unter ihren Kollegen und dem Chef

als sei sie noch immer unsicher ob der Job ihr gehörte

und ich dachte:

du Schwein

du eklige, selbsternannte Verräterin

mögen dir die Dinkelbrötchen im Hals stecken bleiben

und natürlich sollte ich diesen Job nicht haben

Mama, natürlich sollte ich diesen Job nicht haben

X

meine Mutter findet mich schlampig

zu lässig und verträumt

während ich bei meinen linksorientierten Freunden merke

dass sie mich manchmal

ein bisschen zu kontrolliert finden

ein bisschen zu ordentlich

und pflichtbewusst

bei meinen bürgerlichen Freunden ist es ordentlich und aufgeräumt, die Haare sind gewaschen,

der Bart getrimmt

bei meinen linksorientierten Freunden aus der kreativen und akademischen

Mittelklasse dürfen gerne mal ein paar Krümel herumliegen in der Spüle und auf den Teppichen

auf dem Boden, oder das sollen sie vielmehr

während diejenigen, die ich kenne, die Sozialhilfe bekommen oder im Vorruhestand sind

selten den Überschuss haben in besonderem Maße eitel zu sein

man kann sich darüber streiten, was sozial akzeptierter Dreck ist

aber der volle Aschenbecher auf dem Glastisch im Wohnzimmer …

X

als Psychologe sollte man gerne vertrauenserweckend sein, empathisch

und als Schriftsteller, habe ich den Eindruck

dass ich eher cool sein sollte,

gleichgültig, kaputt, trocken, undankbar, zerbrechlich, ausgesetzt

auf jeden Fall nicht besonders erbaulich, bürgerlich angepasst

als ich dann für einen Literaturpreis nominiert wurde, hatte ich den Impuls:

lösch deine Psychologenhomepage, Glenn

lösch den netten und freundlichen Scheiß

bevor die Jury bemerkt

was …

wie langweilig Kunst

an dir aussieht!

X

meine Mutter findet Performancekunst ist

merkwürdig um der Merkwürdigkeit willen

da muss ich ihr schon ein bisschen zustimmen

X

bist du dumm oder was

Mama

bist du so dumm wie die Ministerpräsidentin

glaubt, dass du bist?

fällst auf die Makrelenbrote und die Hundewelpen der Ministerpräsidentin herein?

denkst, Gott

sie ist ja eine von uns?

fällst du auf die volkstümlichen Sprüche der Staatsministerin herein

klaphat, feuchte Augen, Bierchen?

im TV drückt die Moderatorin ihre Bewunderung dafür aus

dass die Prominente mit Tausenden Followern

als Bestsellerautorin debütiert hat

obwohl sie genauso viele Abgüsse von ihrem Hintern hätte verkaufen können

es ist schon beeindruckend

wie die Reichen immer reicher werden

während Mutti zwangsernährt wird mit ihrer eigenen Verdummung

oder vielleicht bin ich auch nur neidisch

meine Mutter frisst die Illusion:

berühmte Menschen sind bessere Menschen und haben einen Platz vor der Kamera verdient

und ich

der mit den Promis Wein trinkt

hinter den Bühnen, in Kopenhagen

ich winde mich auf meinem Stuhl!

Mama, verdammt

was soll ich sagen, was soll ich tun

es sollte alles umgekehrt sein

X

es ist mein Unglück

dass meine Mutter ihre Traumata an mich weitergegeben hat

es ist mein Glück

dass sie gerne über Dinge spricht

ich kenne viele, die nicht so ein Glück haben

X

in armen Familien reicht die Kraft selten für mehr als zum Überleben

das ist meine Erfahrung

wenn mein Freund, Willy, den Namen von diesem und auch noch jenem Baum kennt

oder Blatt

lähmt mich das

es gibt diese Ambivalenz

teils weckt sein Interesse an der Welt

auch meines

teils ist die Freundlichkeit anstrengend

mein Interesse kommt nicht von innen

und ich werde müde

können wir nicht über etwas anderes reden

können wir nicht über etwas reden, das uns selbst betrifft

direkt, ganz praktisch

ich weiß es nicht

meine Mutter kommunizierte meistens indem sie mitteilte

was sie noch alles erledigen musste

und ich?

wenn ich unterbrochen hätte um über einen Schmetterling zu faseln …

X

Rassisten und Homophobe sollten zwangserleuchtet werden

zwangsgebildet

zwangsbehandelt

the one percent sollte eingesperrt werden wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit

aber meine Mutti

sollte sie sich schämen?

meine Mutter war Alleinversorgerin von Zweien

nach dem Selbstmord meines Vaters

sollte sie sich dafür schämen, dass sie lieber konventionelle Milch genommen hat als ökologische?

sie fuhr den Stadtbus

sie war 23

unsere wechselnden Regierungen müssten sich schämen

Facebook müsste sich schämen

die Banken müssten sich schämen

Bauherren, Waffen- und Pharmaindustrie

aber meine Mutter

sollte sie sich schämen?

selbst wenn meine Mutter 55 Stunden die Woche arbeitet

verdient sie nicht einen Bruchteil dessen

was Politiker

die die arbeitende Bevölkerung repräsentieren sollen

einkassieren durch Handwerkerfreibetrag und Eigenkapital

das, was meine Mutter im Jahr verdient, verdient ein Politiker

der sie repräsentieren sollte

allein über sein passives Einkommen

X

in meiner Familie darfst du dich in alles Mögliche einmischen

(mit Familie meine ich eine Handvoll fremder Gesichter

die ich kaum wiedererkenne)

wenn du nur einer Arbeit nachgehst

vielleicht prügelt dich dein Mann

das macht nichts

solange du einen Mann hast

vielleicht ist dein Kind Alkoholiker

das macht nichts

solange du Kinder hast

vielleicht hassen wir uns alle bei dieser Hochzeit hier

das macht nichts

solange es eine Hochzeit gibt

wenn du

A: einem Vollzeitjob nachgehst

B: verheiratet bist

C: Kinder hast

D: einen Haushalt führst

kann es dir gleichgültig sein, wie es dir selbst geht

also darfst du dich richtig in das Leben anderer einmischen

X

ich erkenne eure Autorität nicht länger an

Schluss

Auf Nimmer

wiedersehen

X

Apropos Identität bin ich

echt eine merkwürdige, widersprüchliche Mischung aus Proll und Elite

keine Ahnung was Burrata ist

keine Ahnung was Kombucha ist

ich hatte keine Ahnung, was der Unterschied ist zwischen einer Orangerie und einem Gewächshaus

bevor mein Freund es mir neulich erklärte

und es ist mir immer noch egal, oder

doch nicht?

diese subtilen, feinen, mikroskopisch bedeutungsanreichernden Unterschiede zu kennen

scheint mir überflüssig

oder

diese subtilen, feinen, mikroskopisch bedeutungsanreichernden Unterschiede zu kennen

ist für mein Überleben unerheblich, scheint mir?

meine Alarmbereitschaft ist ausschließlich ausgerichtet auf:

– Tonfall

– Gesichtsausdruck

– Stimmung, Laune

– Gewicht auf den Bodendielen, Schritttempo

– Grauton des Tages

während der Unterschied zwischen einer Eiche und einer Buche mich nicht weniger beunruhigen könnte

X

gibst du mir die Fernbedienung?

nee

her damit!

ich bin neidisch

auf einer Studienreise nimmt meine Lehrerin ihr Kind an die Hand

sie zeigt ihm die Statuen, die Gärten, die Kirche und ihren Schmuck

zeigt, erklärt

wie die Dinge heißen

das ist ein x, und das ist ein y

das ist ein z, und das ist ein ä

ö

ü

und ich

habe noch nicht einmal Worte für meine Gefühle

oder es sind die falschen

ich bin zornig

aber das darf ich nicht sein

gut

es ist nicht die Schuld des Kindes

es ist 10