Ich gab mein Herz für Afrika - Mark Seal - E-Book

Ich gab mein Herz für Afrika E-Book

Mark Seal

4,9
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ihr Leben war ein einziges Abenteuer – das mutige Leben der Tierfilmerin Joan Root

Ihr Leben war ein einziges Abenteuer: Joan Root (1936-2006) filmte in den entlegendsten Winkeln der Erde, immer auf der Suche nach den besten Tiermotiven. Gemeinsam mit ihrem Ehemann drehte sie häufig für Bernhard Grzimek und seine Sendung »Ein Platz für Tiere«, sie wurden weltberühmt mit der Dokumentation »Ballon-Safari über den Kilimandscharo«, ihr Film »Mysterious Castles of Clay« war für den Oscar nominiert. Sie durchquerten einen großen Teil Afrikas mit ihrer einmotorigen Cessna und ihrem Amphibienfahrzeug, nahmen Jacqueline Kennedy mit in ihrem Heißluftballon und brachten die Zoologin Dian Fossey zu den Gorillas im Nebel. Als ihr Mann sie nach zwanzig Jahren verließ, beschloss Joan Root, sich fortan mit Haut und Haar dem Tier- und Umweltschutz zu widmen. Sie zog an den Naivashasee in Kenia, wo sie sich für den Erhalt des bedrohten Ökosystems einsetzte – bis sie 2006 unter mysteriösen Umständen ermordet wurde. Anhand von Interviews, ihren Tagebüchern und Briefwechseln zeichnet Mark Seal die einzigartige Geschichte einer Frau nach, die neben Karen Blixen und Dian Fossey endlich für ihr Lebenswerk gewürdigt wird.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 409

Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
16
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

WidmungVorbemerkung des AutorsVorwortEinleitungKapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtKapitel neunKapitel zehnKapitel elfPostscriptumNachwortDanksagungEndnotenCopyright

Für Laura Blocker, meine Ehefrau, beste Freundin und strengste Lektorin, deren Liebe, Kraft und Geduld dieses Buch möglich machten.

Und für Wayne Lawson, den leitenden Literaturredakteur von Vanity Fair, der mich mit seiner beständigen Gunst, Großzügigkeit und seinem redaktionellen Genie lenkt und leitet, seit wir uns 1986 in Dallas, Texas, kennenlernten.

Wie immer widme ich dieses Buch auch Jan Miller Rich, die mir 1989 die Tür zu ihrer literarischen Agentur öffnete und mich in eine völlig neue Welt der Möglichkeiten eintreten ließ.

Vorbemerkung des Autors

Mehrere Weltmeere entfernt, las ich von dem Mord an einer Frau in Kenia. Ihren Namen hatte ich noch nie zuvor gehört. Doch – Wunder der Technik – ich erreichte ihren Ex-Ehemann per E-Mail, und er lud mich binnen einer Woche ein, an der Trauerfeier für die Frau teilzunehmen und über ihr Leben zu schreiben. »Sie bekämen sicherlich eine Menge Material, da ein guter Querschnitt durch die kenianische Gesellschaft anwesend sein wird«, schrieb der Exmann der Frau, dessen Name Alan Root war. Alan stellte mich nicht nur den Leuten vor, die mir etwas über die Ermordete erzählen konnten (dieses Buch besteht zu einem großen Teil aus meinen Gesprächen mit ihnen), er überließ mir auch ihre Briefe und Tagebücher. Dadurch versetzte er mich in die Lage, Ereignisse zu rekonstruieren, Dialoge in Erinnerung zu rufen und einige Wahrheiten herauszufinden. Außerdem öffnete Alan mir sein Herz und erzählte mir wirklich alles, was für ihn sicherlich schwierig, sehr bewegend und häufig auch schmerzhaft war. Alan Root gebühren meine absolute Bewunderung und mein Dank für seine schonungslose Offenheit und unerschrockene Freimütigkeit. Ohne ihn hätte dieses Buch nicht geschrieben werden können.

Vorwort

SIE HATTE IMMER gewusst, dass er zu ihr zurückkehren würde.

Beim ersten Tageslicht würde er in Nairobi in seinen Hubschrauber klettern und über das lärmende Tollhaus dieser Stadt aufsteigen, um dann gen Westen über den größten Slum Ostafrikas abzudrehen und hinaus ins Wunder zu fliegen, über den Großen Afrikanischen Grabenbruch, die Wiege der Zivilisation, einen fünftausend Kilometer langen Riss in der Erde, der sich von Syrien bis nach Mosambik erstreckt, am eindrucksvollsten jedoch hier in Kenia ist. Wenn der Boden der Welt sich absenkte und dem unendlichen Himmel und einer atemberaubenden Aussicht wich, würde er durch diesen Korridor fliegen, direkt zurück zu ihr.

Es gab Dinge, die sie ihm unbedingt erzählen wollte, Dinge, die nur er verstehen konnte. Alles, was sie bisher nicht ausgesprochen hatte, weil sie zu schüchtern war, würde nun aus ihr heraussprudeln, wie in all den Briefen, die sie ihm geschrieben, jedoch nie abgeschickt hatte:

Ein ganzes Leben ist vergangen, seit wir uns getrennt haben, und doch kommt es mir vor, als hätten wir manches erst gestern erlebt. So vieles möchte ich dir sagen und mit dir teilen – jetzt, da ich weiß, dass ich dir nicht unterlegen bin.

In ihrem blauen Haus am See, der aus der Luft so vollkommen und friedlich aussah, wartete sie auf ihn. Doch das war nur ein Extrem von vielen in einem Land, wo große Schönheit gleich neben unvorstellbarer Brutalität liegt, wo zwischen Leben und Tod eine hauchdünne Linie verläuft, wo nichts jemals ist, wie es scheint.

Seit ich Kontakt zu anderen Menschen habe, wird mir bewusst, wie viel ich über die Natur weiß.… Heute werde ich respektiert. Aber die einzige Liebe meines Lebens gilt einem der wenigen Menschen, mit denen ich mich nicht verständigen kann, nicht einmal als Freundin.

Sobald er wieder in ihr Leben trat, hätte sie eine Aussicht, all diese Qual zu vergessen. Nachdem er über die Berge und die ruhenden Vulkane geflogen wäre, die ein natürliches Amphitheater um den See herum bilden, würde er über dem smaragdfarbenen Wasser schweben und die große grüne Fläche voller wilder Tiere in sich aufnehmen.

Wenn du über das blaue Haus geflogen bist, warst du wahrscheinlich froh, nicht mehr hier zu leben, aber ich habe mich so sehr verändert, dass ich mich selbst kaum mehr wiedererkenne. Ich habe dir im Geiste viele Briefe geschrieben, doch es gelingt mir einfach nicht, sie zu Papier zu bringen.1

Sie stellte sich vor, wie er um das Haus herumflog, spielerisch wie immer, dann auf der Graspiste landete und ausstieg, als kehrte er nur nach einer kurzen Safari zurück und nicht nach einem halben Leben. Dann wollte sie ihn endlich damit beeindrucken, wie unabhängig sie geworden war und was sie geleistet hatte – und ihm die Beständigkeit ihrer Liebe beweisen.

Letztendlich kehrte er zu ihr zurück. Mit der Morgendämmerung des 13. Januar 2006 kam er eingeflogen. Jedoch nicht, um wieder mit der Frau, die einst seine Ehefrau, seine Gefährtin und seine beste Freundin gewesen war, zusammenzukommen, der Frau, die er verlassen hatte und die danach sechzehn Jahre lang allein in Afrika gelebt hatte.

Er war zurückgekehrt, um ihre sterblichen Überreste zu holen.

Einleitung

Die Meldung war erschreckend kurz.

Naturschützerin ermordet

Die Tierfreundin und Naturschützerin Joan Root, bekannt durch die Tierfilme, die sie in den 70er Jahren mit ihrem Ehemann Alan drehte, wurde am 13. Januar in Naivasha, Kenia, ermordet. Laut polizeilichen Angaben erschossen Eindringlinge die 69-Jährige in ihrem Farmhaus. Es habe zwei Festnahmen gegeben. Mysterious Castles of Clay, ein gemeinsamer Film des Ehepaars, bei dem Orson Welles als Sprecher fungierte, zeigt das Innenleben eines Termitenhügels. Er wurde 1978 für einen Oscar nominiert.2

Als schreibender Redakteur der Zeitschrift Vanity Fair bin ich immer auf der Suche nach guten Geschichten, und diese hier schien mir genügend richtige Zutaten zu haben: eine Naturschützerin und Tierfilmerin, nominiert für einen Oscar mit einem Film, der von dem legendären Orson Welles gesprochen wurde, aus unbekannten Gründen in Kenia ermordet.

Kurz nachdem ich mit meiner Recherche begonnen hatte, begriff ich, dass Joan Root mehr war als bloß irgendeine Tierfilmerin. Sie und ihr Mann Alan Root waren in den 70er und 80er Jahren die bedeutendsten Tierfilmer überhaupt, Sagengestalten für Naturfreunde aller Altersgruppen. In ganz Afrika und Großbritannien sah man sich Joan und Alan nicht einfach nur im Fernsehen oder über eine Klassenzimmerleinwand flackernd an, man reiste mit ihnen, egal ob sie sich stolz mit wilden Krokodilen oder Flusspferden in exotischen Seen präsentierten, in einem Heißluftballon über den Kilimandscharo schwebten oder von jedem erdenklichen Geschöpf gejagt, malträtiert, gebissen, aufgespießt und gestochen wurden, während sie durch Afrika fuhren, flogen und schwammen, fest entschlossen, den Kontinent und seine Wunder auf Film zu bannen, bevor diese wilde Welt für immer verloren ging. Sie waren Pioniere, die das Verhalten von Tieren ohne Einmischung des Menschen filmten, und zwar Jahrzehnte bevor Filme wie Nomaden der Lüfte oder Die Reise der Pinguine entstanden. Oft konnten bekannte Filmstars wie David Niven, James Mason oder Ian Holm als Sprecher verpflichtet werden, und im Jahr 1967 erlebte einer ihrer Filme eine königliche Premiere in London, bei der das Paar der Queen vorgestellt wurde.

Sie führten die amerikanische Zoologin Dian Fossey zu den Gorillas, deren Rettung sie später das Leben kosten sollte, sie nahmen Jacqueline Kennedy in ihrem Heißluftballon mit, und sie durchquerten einen großen Teil Afrikas mit ihrer einmotorigen Cessna und ihrem Amphibienfahrzeug. Aus Gründen, die der Öffentlichkeit verborgen blieben, verschwanden sie plötzlich vom Bildschirm, genauso mysteriös wie einige der gefährdeten Arten, die sie gefilmt hatten. Sie trennten sich und ließen sich später scheiden. Der extrovertiertere Alan wurde zu einer Ikone des Tierfilms, er bekam Preise, Anerkennungen und Auszeichnungen. Die blonde, braungebrannte, bezaubernde Joan, die extrem schüchtern war und sich immer im Hintergrund hielt – sowohl als wichtige Stütze ihres Mannes wie auch als unbekannte Produzentin ihrer Filme –, zog sich ganz aus der Welt des Filmemachens zurück. Sie lebte alleine auf einem 35 Hektar großen Grundstück in Naivasha, Kenia, wo sie sich der Rettung des ökologisch gefährdeten Sees widmete, an dem ihr Haus lag. Genau dort, in ihrem Schlafzimmer, wurde sie am 13. Januar 2006 um halb zwei Uhr morgens von Eindringlingen mit einer Kalaschnikow erschossen. Auf Swahili drohten sie ihr brüllend an, sie zu durchlöchern, bis sie aussehe »wie ein Sieb«. Sie feuerten durch die Scheibe und das Gitter ihres Schlafzimmerfensters, bis Joan – die mit neunundsechzig Jahren mittlerweile zu den engagiertesten Naturschützern der Welt gehörte – tot in ihrem eigenen Blut lag.

Eine Woche nachdem ich die Meldung in Times Digest gelesen hatte, sollte ich für Vanity Fair einen Artikel über Joan Root schreiben.3 Ich verschickte eine Menge E-Mails, um Menschen zu finden, die mit ihr zu tun gehabt haben könnten. Vor allem wollte ich Alan Root ausfindig machen. Ein paar Tage später bekam ich eine einzeilige Mail von ihm: »Es heißt, Sie suchen mich.«

Nachdem ich ihm mein Beileid zum Tod seiner Exfrau ausgesprochen hatte, bat ich ihn um seine Unterstützung, wenn ich nach Kenia reiste. Zwei Tage darauf antwortete er:

Lieber Mark,

verzeihen Sie, aber Anfang dieser Woche war mir einfach nicht nach einem späten und langen Telefonat zumute. Am Dienstagmorgen habe ich Joans Asche vergraben und einen Feigenbaum über sie gepflanzt – (so wird sie immer von »Roots«, von Wurzeln, umgeben sein). Ich musste auch einige Zeit bei der Polizei verbringen und war wie vor den Kopf geschlagen.

Es freut mich, dass Sie Adrian (Luckhurst, Joans Geschäftsführer) kontaktieren konnten, er hat Ihre Nachricht weitergeleitet. Bitte verstehen Sie mein Schweigen nicht als Desinteresse. Ich möchte, dass Sie diesen Artikel schreiben, und ich werde alles tun, um Ihnen zu helfen. Falls es keine zu große Verzögerung darstellt, wäre es auf jeden Fall gut, wenn Sie an der Feier ihres Lebens teilnehmen, die wir am 4. März in Naivasha abhalten. Sie wären ein gern gesehener Gast und bekämen sicherlich eine Menge Material, da ein guter Querschnitt durch die kenianische Gesellschaft anwesend sein wird …

Mit freundlichen Grüßen

Alan4

Wenige Tage später saß ich in einem Flugzeug nach Nairobi, Kenia. Bis zu diesem Moment kannte ich weder diese Stadt noch dieses Land. Ich hatte keine Ahnung, dass ich mich auf eine Reise begab, die mich mehr als drei Jahre lang immer wieder nach Kenia führen würde.

Nach der Landung in Nairobi fuhr ich fünfundfünfzig Meilen westwärts zu Joan Roots Haus am Naivashasee, wo die Gedenkfeier stattfinden sollte. Führende Naturforscher, Wildtierexperten und Filmemacher aus aller Welt saßen zu Hunderten draußen auf der herrlichen Wiese, um diese außergewöhnliche Frau zu ehren. Der Trauergottesdienst wurde auf Joans Seegrundstück abgehalten, einem Zauberland voller wilder Tiere und Pflanzen, das direkt aus einem Disney-Film stammen könnte. Ein Freund von Joan sagte, es sei wie »Doctor Dolittle mal tausend«.5 1200 Flusspferde schwimmen tagsüber dort herum. Nachts mähen sie den Rasen zur Musik der 350 Vogelarten, die es in dieser Gegend gibt. Während des sehr emotionalen Gottesdienstes stellten ihre Freunde und Kollegen immer wieder laut die Frage, warum Joan diesen sinnlosen Tod sterben musste.6 Wer sollte diese freundliche, liebenswürdige Frau ermorden wollen, die selten die Stimme über ein Flüstern hinaus erhoben und sich jahrzehntelang leidenschaftlich für die Armen und Bedürftigen in Kenia engagiert hatte? Manche waren mit der Polizei einer Meinung, der Mord sei die Folge eines einfachen Einbruchsversuchs gewesen. Aber wenn Diebstahl das Ziel war, fragten wiederum andere, weshalb wurde dann nichts aus ihrem Haus gestohlen? Und warum der Kugelhagel, wo doch allein schon die Androhung die meisten Menschen in dem häufig von Verbrechen heimgesuchten Naivasha oder im nahe gelegenen Nairobi (derzeit auch »Nairobbery« genannt) dazu gebracht hätte, ihr Geld herauszugeben?

Viele von Joans Freunden glaubten, die wahrscheinlichste Erklärung sei, dass Joan wegen ihrer Naturschutzaktivitäten um den See herum Opfer eines Auftragsmords wurde – in Kenia lässt sich das leicht für etwa hundert Dollar arrangieren.7 Die sanftmütige Tierfreundin gehörte mittlerweile zu den wenigen Nonkonformisten in einem bizarren Szenario, das es nur in Afrika geben konnte und das aus ihrem geliebten See ein Kriegsgebiet gemacht hatte. Es ging um einen Konflikt, der sich ausgerechnet an Rosen entzündete. Während der vergangenen zwei Jahrzehnte waren ganze Armeen von Blumenzüchtern an dem idyllischen Naivashasee eingefallen, um dort mit die größten Blumenplantagen der Welt zu errichten. Diese Plantagen überzogen das Seeufer mit gewaltigen Treibhäusern aus Plastik, sie behinderten die natürlichen Wanderbewegungen der Wildtiere und zogen eine Flut Hunderttausender armer Wanderarbeiter an, was wiederum Slums, Schmutz, Kriminalität und, wie manche betonten, eine ökologische Apokalypse bedeutete. Verbrechen waren in dieser Gegend mittlerweile an der Tagesordnung, Mord gehörte zum Alltag, Fische und Wildtiere wurden massenhaft gewildert. Der See, aus dem die Blumenplantagen das Wasser absaugten und in den man Pestizide einleitete, war bald so verunreinigt, dass es hieß, ohne sofortige Maßnahmen werde er innerhalb von fünf Jahren sterben. Während die anderen lediglich darüber redeten, setzte Joan ihre Worte furchtlos und, wie manche sagten, auf gefährliche Weise in Taten um. Ihre Selbstschutzkampagne, mit der sie ihr Land und den angrenzenden See erhalten wollte, verstimmte die Behörden, gegen die sie sich zur Wehr setzte, und gleichzeitig sogar die verzweifelten afrikanischen Arbeiter, deren Lebensgrundlage sie doch zu retten versuchte. Das alles mag letztlich zu ihrem Tod geführt haben. Nach dem Mord an ihr wurden zwar vier Verdächtige in Gewahrsam genommen, aber man ließ sie alle wieder frei. Es war eine seltsame und brutale Geschichte, bei der am Ende mehr Fragen als Antworten blieben.

»Alle Anwesenden wissen, was ich meine, wenn ich sage, dass Joans Tod nur Teil der dunklen Fluten ist, die dieses Land langsam überschwemmen«, sagte Joans Freund Ian Parker in seiner Trauerrede.8»Dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung zusammenbricht, ist die finsterste Folge der Korruption und des Mangels an politischen Prinzipien. Wenn die Gesetzeshüter Bürger nicht mehr schützen oder Kriminelle vor Gericht bringen können und wenn Einzelnen die Mittel verweigert werden, sich zu verteidigen – die meisten Kenianer dürfen keine Waffen besitzen –, dann nehmen die Leute das Gesetz selbst in die Hand. Das ist keine Drohung irgendeines verrückten alten mzungu«, fuhr er fort und benutzte dabei das Swahili-Wort für »Weißer«, »sondern eine Lektion, die uns die Geschichte immer wieder lehrt. Wenn eine wehrlose, bekannte Wohltäterin wie Joan einfach aufgesucht und ermordet werden kann, spricht die Geschichte erneut zu uns. Gebt Acht! Diese Gesellschaft befindet sich in einem gefährlichen Zustand. Joans Tod gebietet es, jetzt endlich die Stimme zu erheben, aufzubegehren und Farbe zu bekennen.« Er fügte hinzu, dass drei seiner Freunde, Joan nicht mitgerechnet, im vergangenen Jahr, 2005, ermordet worden waren, »gegenüber 2004 eine Verbesserung um fünfzig Prozent«. Damals hatte man fünf Freunde von ihm ermordet, und zwei wurden »bei Mordanschlägen schwer verletzt«.

Die Trauerreden waren etwas Besonderes – leidenschaftlich und tief empfunden. Als ich Parker auf dem Podium sah, wurde ich Zeuge, wie ein alter Mann wieder jung wurde. Er reckte die Faust in den Himmel und machte seinem Zorn über die Brutalität, die seiner langjährigen Freundin widerfahren war, Luft. Parker, ein Abenteurer, Naturschützer, Pilot und Naturfotograf, war nun ein schmächtiger, weißhaariger Mann von siebzig Jahren. Er ähnelte dem Schauspieler Frank Morgan, dem strahlenden Marktschreier mit der hohen Stirn, der die Titelrolle in Der Zauberer von Oz spielte.

Parker und ich trafen uns im Getränkepavillon bei der Gedenkfeier. Er erzählte mir wehmütig, wie Joan und er sich als Teenager bei einem Spaß kennengelernt hatten. Im Alter von neunzehn Jahren war Joans Schönheit in Nairobi bereits legendär. Fünf Soldaten aus dem Kenya Regiment beschlossen, fünf der schönsten Mädchen Nairobis zu einem Rendezvous einzuladen – egal, ob sie sich bereits kannten oder nicht –, und Ian Parker suchte sich Joan aus. Frech fuhr er hinauf zur Kaffeeplantage von Joans Vater, ohne sich vorher angekündigt zu haben. Er klingelte, klärte Joan über seine Mission auf und bat sie um das Rendezvous. »Vielen Dank«, sagte sie höflich, »leider nein.« Dann war sie verschwunden, ohne ein weiteres Wort.9

Ian Parker mochte es versucht haben, aber der einzige Mann, der Joans Herz gewinnen sollte, war Alan Root – auch wenn er sie, wie er selbst zugab, letztlich im Stich gelassen hatte. Am Tag nach der Gedenkfeier wollte mir Alan Root aus Joans Leben erzählen, und wir vereinbarten einen Gesprächstermin. Es gelingt ihm immer noch, seinen Auftritt zu inszenieren. Er hatte mich gebeten, im Garten seines Geschäftsführers in Karen, einem Vorort von Nairobi, zu warten. Ich stand da und rechnete damit, dass er den Garten durch die Hintertür betreten würde, doch plötzlich unterbrach die Stille das laute Knattern eines Helikopters, der vom Nairobi Nationalpark hergeflogen kam. Als er zur Landung ansetzte und Gras und Erde im Garten aufwirbelte, sah ich Alan am Steuerknüppel in der Glaskabine sitzen, ganz der Draufgänger, den man aus seinen Filmen kennt, nur mit dem Unterschied, dass er mittlerweile achtundsechzig Jahre alt war. Er hatte eine dicke Brille und einen grauen Bart, aber er war immer noch von kräftiger Statur und trug schwarze Jeans und ein legeres Hemd.

»Ich habe schon zwei Bruchlandungen hinter mir«, sagte er, sobald ich neben ihm im Hubschrauber saß.10 Wir hoben ab, und er flog schräg auf die Ngong-Berge zu, die blau und schattig in der Ferne lagen. Mit hoher Geschwindigkeit überquerten wir die von Wildtieren bevölkerten Ebenen. Ich entdeckte Zebras, Kaffernbüffel und Gazellen in dem Nationalpark unter uns, als Alan Gas gab und wir wie eine Kugel durch den klaren afrikanischen Himmel schossen. Ich spürte sofort die außerordentliche Energie, die ihn antrieb und die ihn im echten Leben wie in seinen Filmen so charismatisch machte.

Dieses Leben hatte Alan Root gefährlich, rücksichtslos, zu hundert Prozent gelebt: Er wurde von wilden Tieren aufgespießt, stürzte mit Flugzeugen ab, fuhr Autos zu Schrott, sprang in reißende Flüsse, trank ordentlich, ging Hals über Kopf Liebesaffären ein. Doch von allen Frauen, die er gekannt hatte, war es Joan, die stille schöne Joan, die den größten Einfluss auf ihn gehabt hatte, besonders in jungen Jahren, und er wollte mich dabei unterstützen, ihre Geschichte zu erzählen. An diesem Tag beförderte er mich mit seinem Helikopter in eine andere Welt, und das sollte zu der besten Geschichte werden, der ich als Journalist je begegnet war. Bis zu diesem Moment hatte ich hauptsächlich kalte, harte Fakten gesammelt. Dann flog mich Alan Root quer über Afrika, und die Fahrt meines Lebens begann.

Der Artikel, den ich schrieb und der in der Vanity Fair vom August 2006 erschien, war nur ein weiterer kleiner Beitrag in dem immer unergründlicher werdenden Geheimnis um eine erstaunliche Frau. Doch der Artikel schien einen Nerv bei den Lesern zu treffen, so wie die erschreckende Meldung, die mich selbst ganz zu Beginn fasziniert hatte. Ich wurde auf der Straße auf die Geschichte dieser unbezwingbaren Frau angesprochen. Ein Dutzend Dokumentarfilmer interessierten sich für die Rechte an dem Artikel. Mehrere Verlage drängten mich, ein Buch daraus zu machen.

Die meisten Zeitschriftenartikel kommen und gehen, aber dieser hielt sich noch, nachdem es bereits die nächste Ausgabe am Kiosk gab. Er schien ein Eigenleben zu haben. Working Title Films erwarb die Option auf einen Spielfilm, Julia Roberts’ Produktionsgesellschaft Red Om sollte koproduzieren und Julia selbst die Rolle der Joan Root übernehmen.11 Das wurde auf den Filmfestspielen in Cannes 2007 bekanntgegeben und machte international Schlagzeilen. Trotzdem ging ich davon aus, dass es nun vorbei war, zumindest für mich. Joan Root war tot, und weil sie sehr selten ihre Gefühle ausgedrückt hatte, nicht einmal ihren engsten Freunden gegenüber, war wahrscheinlich der größte Teil ihrer persönlichen Geschichte mit ihr begraben.

Dann geschah etwas Unglaubliches. Joan Root begann zu sprechen.

»Sie glauben ja offenbar, diese Frau hätte nicht viel geredet. « Aus heiterem Himmel kam eine E-Mail von Alan Root. »Was das Reden betrifft, so haben Sie recht«, fuhr er fort. »Aber ich habe hier ein paar Millionen Wörter, die sie an ihre Mutter schrieb, dazu Tagebücher und so weiter.« Das reizte mich sofort, und ich freute mich, mehr über diese außergewöhnliche Persönlichkeit erfahren zu können.

Dann hatte ich noch einmal Glück, als ich Anthony Smith, den Londoner Bestsellerautor, Forschungsreisenden, BBC-Moderator, Abenteurer und besten Freund von Alan Root ausfindig machte.12 Zweimal hatte er auf dem Motorrad Afrika längs durchquert, und er war der erste Brite, der nach dem Zweiten Weltkrieg eine Ballonlizenz erwarb und die Alpen in einem Ballon überflog. Anthony war mittlerweile achtzig Jahre und lebte in einer kleinen, vollgestopften Wohnung in London. Er hatte mich zu seinen »berühmten Spaghetti«, wie er sie anpries, eingeladen. Ich brachte eine Flasche kalifornischen Chardonnay mit. »Großartige Idee mit dem Wein«, sagte er beim Empfang. Er war sehr groß, witzig und quirlig. In seinem abgehackten britischen Akzent, gespickt mit »hmmm« und »Oh, my!«, gab er phantastische Geschichten aus seiner Zeit mit Alan und Joan vor wie nach ihrer Scheidung zum Besten.

Er war mir sofort sympathisch. Anthony Smith erzählte völlig ohne Vorbehalte. Er erzählte mir nicht nur ehrlich und ausführlich alles über die Roots, er gab mir auch einen dicken Ordner mit Briefen an und von Alan und Joan. »Sie haben Glück«, sagte er. Er zog wegen seiner Scheidung gerade um und hatte die Briefe einen Tag vor meinem Besuch gefunden. »Wären Sie eine Woche später gekommen, hätte ich sie weggeworfen gehabt.«

Was andere über Joan berichteten, als sie noch lebte, war fesselnd, noch interessanter aber waren ihre eigenen Eröffnungen in Tausenden von Briefseiten an ihre Mutter, ihren Mann und an Freunde sowie ihre Tagebücher, die sie jahrzehntelang gewissenhaft geführt hatte. Den letzten Eintrag machte sie kurz vor ihrem Tod. Beim Lesen ihrer Tagebücher und Briefe wurde mir klar, dass die Geschichte dieser erstaunlichen Frau vollständig erzählt werden musste und dass sie vieles davon bereits selbst der Nachwelt überliefert hatte.

In jeder Zeile, die Joan Root schrieb, von ihrer abenteuerlichen Jugend bis zu den gefahrvollen Tagen kurz vor ihrem Tod, ist ihre Zuneigung zu Afrika und seinen wilden Tieren zu spüren, und zu Alan, dem einzigen Mann, der ebenso wild und frei war, dem einzigen Mann, den sie je geliebt hatte.

Kapitel eins

MAN KANN SICH allenfalls ausmalen, wie es den britischen Kolonialisten erging, als sie vom kühlen und korrekten England aus ins heiße und exotische Kenia aufbrachen. Es waren raubeinige Pioniere, die dieses gewaltige, geheimnisvolle Land zähmen wollten, das die Krone 1895 beansprucht hatte. Sie kamen im Namen der Zivilisation, bauten Eisenbahnen, errichteten Nairobi und andere Städte und vertrieben die Massai vom Weideland ihrer Vorfahren. In Büchern und Filmen berühmt wurden sie jedoch für ihren Hedonismus: Eine Handvoll wohlhabender und aristokratischer britischer Kolonialisten lebte den sogenannten »Happy Valley«-Lifestyle, die kenianische Version der Roaring Twenties. In Khaki gekleidete, schießwütige, ihre Frauen tauschende britische Aussiedler schockierten mit ihren Eskapaden die Welt.13

Wirklich gab es in Kenia vielleicht nur eine Handvoll dieser Happy-Valley-Hedonisten, aber sie veranstalteten eine Menge Radau. Die meisten Kolonialisten waren im Gegenteil hart arbeitende, fleißige Bürger, wie sie die Schriftstellerin Karen Blixen berühmt machte. Die dänische Autorin schrieb unter dem Pseudonym Isak Dinesen Jenseits von Afrika und weitere Bücher über die Zeit, in der sie nahe Nairobi mit ihrem Cousin Baron Bror von Blixen-Finecke, den sie 1914 heiratete, eine Kaffeeplantage betrieb. »Als die Briten nach Kenia kamen, brachten sie ein bisschen Großbritannien mit«, erinnert sich ein Freund von Joan Root.14 »Sie hissten die britische Flagge, holten sie bei Sonnenuntergang wieder ein, trugen Abendgarderobe zum Dinner, auf der Veranda wurde Gin gereicht, dann kam der uniformierte Oberkellner mit einem Gong und sagte: ›Das Dinner ist bereitet.‹ Die Gläser wurden erhoben, und alle riefen: ›Auf die Queen!‹«

Diese Ära fand in den 50er Jahren einen abrupten Abschluss, als die Kolonialzeit mit einem Blutbad endete. 15 1952 gab es gewalttätige Aufstände der Kikuyu, Kenias bedeutendstem Stamm (ihm gehörten 1,5 Millionen der 5 Millionen Einwohner Kenias an), sowie Angehöriger mehrerer anderer Stämme gegen die Briten. Bekannt wurde diese Rebellion unter der Bezeichnung Mau-Mau-Aufstand. »Ein Kikuyu wurde ein Mau Mau, indem er einen frevlerischen Eid ablegte, mit dem er sich von seinem alltäglichen Leben lossagte und sich in ein menschliches Kamikazegeschoss verwandelte, das auf seinen Arbeitgeber, den aus Europa eingewanderten Farmer, gerichtet war«, schrieb Patrick Hemingway in seinem Vorwort zu Die Wahrheit im Morgenlicht, eine Erinnerung an Kenia von seinem Vater Ernest Hemingway. »Das gebräuchlichste landwirtschaftliche Gerät im Lande hieß auf Swahili Panga, ein schweres einschneidiges, schwertartiges Werkzeug, das in den englischen Midlands hergestellt wurde und mit dem man Buschwerk roden, Löcher graben und im Falle eines Falles Menschen töten konnte. Fast jeder Landarbeiter besaß eins.«16 Die Kikuyu töteten zweitausend afrikanische Abweichler und griffen die britische Armee und die Polizei an.

»Die europäischen Einwanderer reagierten wie auf eine zweite Luftschlacht um England und ließen Infanteriekommandos aus Großbritannien kommen. Die gesamte weiße Zivilbevölkerung bewaffnete sich«, schrieb John Heminway in seinem Buch No Man’s Land. »Vier Jahre lang setzte sich in Kenia niemand an den Esstisch, ohne einen Revolver neben dem Teller liegen zu haben.«

Die britische Regierung verhängte den Ausnahmezustand und nahm Jomo Kenyatta fest, den gebildeten und weit gereisten Anführer der Kikuyu. Er war nach Kenia zurückgekehrt, um den Mau-Mau-Aufstand unter seinen Kikuyu-Stammesbrüdern anzuzetteln. Er hatte zu Recht behauptet, die aus Europa eingewanderten Farmer hätten ihnen ihren wertvollsten Besitz gestohlen: ihr Land.17 Aber um Kenyatta aufzuspüren, bedurfte es guter Ortskenntnisse. Joan Root erzählte später einem Freund, bei der Verfolgung habe ein Mann namens Edmund Thorpe zu den Anführern gehört, ihr eigener mutiger, jedoch ruhiger und überaus wohlgesitteter Vater.18 Nach der Festnahme von Kenyatta töteten die britischen Bataillone mehr als 11 000 Rebellen, 1000 knüpften sie auf, und 150 000 schickten sie in Gefangenenlager, als Vergeltung für die lediglich dreißig Europäer, die während des gesamten »Notstands« umgebracht worden waren, bevor die Briten 1960 die Revolte niederschlugen.

Die Briten gingen zwar mit roher Gewalt gegen die Rebellion vor, aber ihnen wurde bald klar, dass sie die Herrschaft der Weißen in Kenia nicht aufrechterhalten konnten. 1960 billigten sie die Wahl der politischen Führer Kenias nach dem Grundsatz »One man – one vote« (»Ein Mensch – eine Stimme«). Kenyatta wurde 1961 aus dem Gefängnis entlassen und verhandelte ein Jahr später die Bedingungen, die 1963 zu Kenias Unabhängigkeit führten. Fortan regierte er die neue Nation.

Edmund Thorpe, Joan Roots Vater, äußerte sich später in einem Brief über die Sinnlosigkeit des Blutbads: »Als die Briten kamen, waren die Kikuyu ein kleiner Stamm, der sich in den Wäldern der Aberdare-Berge und des Mount Kenya versteckte. Sie wurden aus dem Süden von den Massai und aus dem Norden von den Somali stark dezimiert. Um den Übergriffen ein Ende zu bereiten, errichteten die Briten einige Farmen im Niemandsland. Die Kikuyu waren alles andere als große Krieger und wären vernichtet worden, wenn man die Angriffe nicht unterbunden hätte. Alle anderen Stämme verachteten sie, als ich 1928 nach Kenia kam. Heute trifft das natürlich nicht mehr zu, denn mittlerweile sind sie der Stamm mit den meisten Angehörigen, und außerdem sind sie klug.«19

Kenyatta wurde ein pragmatischer Anführer: Er beteiligte Nicht-Kikuyus und sogar Weiße an der Verwaltung und verwandelte Kenia in eine Art Oase der politischen Stabilität und wirtschaftlichen Stärke. Währenddessen blieb er seinen Mau-Mau-Wurzeln treu: »Als die Missionare kamen, besaßen die Afrikaner das Land und die Missionare die Bibel«, sagte er einmal. »Sie lehrten uns, mit geschlossenen Augen zu beten. Als wir die Augen wieder aufschlugen, hatten sie das Land und wir die Bibel. «20

Viele schwarze Kenianer sind der Meinung, ihr Land sei nie richtig in afrikanische Hände zurückgegeben worden, und sie fühlen sich weiterhin als Sklaven des kolonialen Systems und der britischen Herrschaft, die eine schwärende, noch immer nicht verheilte Wunde hinterlassen hat. Dieses Gefühl herrschte zu der Zeit vor, als Joan starb; eine ganze Menge Leute hielten es sogar für wahrscheinlich, dass dies mit ein Grund für den Mord an ihr gewesen sein könnte. Aber die Welt, in die sie 1936, beinahe zwanzig Jahre vor dem Aufstand, hineingeboren wurde, war eine völlig andere.

Joan Wells-Thorpe kam am 18. Januar in Nairobi zur Welt. Nach der Geburt wurde sie in die Lehmhütte gebracht, die ihre Eltern damals bewohnten, solange das Haus auf der Kaffeeplantage noch nicht fertig war. Ihr Vater Edmund stammte aus einer britischen Seglerfamilie. 1928 hatte er das graue, kalte Devon in England verlassen, denn er hatte genug von seinem tristen Posten bei der National Westminster Bank. In der Familie Thorpe gab es ein Abenteurer-Gen: Als Edmund und sein Bruder Richard die zwanzig überschritten, machten sie den Traum ihres Lebens wahr und brachen in die Kolonien auf. Richard ging nach Indien, um Tee anzupflanzen. Edmund entschied sich für Kenia.

Edmund Thorpe war stattlich gebaut, ein freundlicher Brillenträger und Mann der leisen Töne. Sein wildes Leben endete am 1. März 1997. Wie viele andere britische Pioniere betonte Edmund stets, er sei nach Kenia gekommen, um zu arbeiten, nicht um zu spielen. »Die Depression habe ich überlebt, indem ich Gold schürfte«, schrieb er in einer undatierten Lebenserinnerung. 1929, ein Jahr nach seiner Ankunft, trat er der Kenya Defense Force bei. Plündernde Banden von Wilderern fielen regelmäßig in den Busch ein, töteten alles auf ihrem Weg und transportierten das Wild ab. Edmund bekam die Wilderei unter Kontrolle, nur mit einer Handvoll weiterer Aufseher und ein paar einheimischen kenianischen Spähern. Nachdem er zahllose Male einem gewaltsamen Tod entronnen war, behauptete Edmund Freunden gegenüber gerne, er habe einen Schutzengel.

In seiner Lebenserinnerung erzählt Edmund einige seiner Abenteuer: wie er die Meere nach Minen absuchte, wie er nebenberuflich Polizist in einem wilden Land war, in dem Banditen Schulkinder ermordeten, wie er als Playboy auf einer Jacht posierte, obwohl er eigentlich für die Marine spionierte, und wie er schließlich sesshaft wurde, um eine Familie zu gründen. 1933 heiratete er Lillian Walker, eine weiße Südafrikanerin. Sie ergänzten sich perfekt; sie organisierte sein Leben, kümmerte sich darum, dass er alles zu Ende führte, und bereitete ihm ein Heim, in das er von seinen zahllosen Abenteuern zurückkehren konnte.21

Irgendwann beschloss Edmund dann, ins Kaffeegeschäft einzusteigen. Mit seinem Geschäftspartner kaufte er ein knapp hundert Hektar großes, brachliegendes Grundstück im hochgelegenen, fruchtbaren Kaffeeanbaugebiet außerhalb von Nairobi.22 Sie teilten es auf in einzelne acht Hektar große Parzellen. Drei davon behielt Edmund für sich, insgesamt 26 Hektar, mit einer Kaffeefabrik an einem Fluss. Seine Farm nannte er Lyntano. Er pflanzte 39 000 Kaffeebäume.23 Später behauptete er, dass er in jeder Vegetationsperiode eine ganze Meile Kaffeebohnen auf Tischen zum Trocknen liegen habe24, und hundert Arbeiter, die sie in der Sonne ernteten. 25

Für ihn war Kenia das Paradies. »Ich konnte im Indischen Ozean schwimmen, in einem naturbelassenen Fluss angeln oder unterhalb der Schneegrenze zelten«, erzählte er einmal.26 Flusspferde und Krokodile lebten in seinem Garten, Nektarvögel, Kraniche und alle möglichen Affen. Die Landschaft war so üppig, dass an dem Fluss, der durch Edmunds Grundstück floss, Tarzan-Filme gedreht wurden.27 (In einem dieser Filme trug Tarzan jedoch Gummistiefel und brauchte Hilfe beim Herumschwingen an mit Farn getarnten »Lianen« aus Draht. Edmund Thorpe hingegen war ein wahrer Abenteurer.)

Eines idyllischen Nachmittags picknickten Edmund und Lillian auf Crescent Island, einer grünen Halbinsel, die in den Naivashasee hineinragt, etwa anderthalb Stunden von Nairobi entfernt, und zeugten ihr einziges Kind. So begann der Kreislauf von Joan Roots Leben am See, wo sie geboren wurde und wo sie auch sterben sollte. Seit dem Augenblick ihrer Geburt unterschied sich Joans Leben von dem anderer Mädchen. »Ein Freund hatte Mabel bei mir gelassen, eine große rote Äffin mit sehr langen Armen«, erzählte Edmund später einem Zeitungsreporter.28 »Sie klaute Kätzchen, Hundewelpen, alles, was klein war. Eines Tages schaute jemand zufällig in Joans Zimmer und sah Mabel im Fenster hocken, mit Joan in den Armen. Wir tauschten unsere Kleine gegen eine Banane ein.«

Ganz bekamen sie ihre Tochter nicht mehr zurück. Von jenem Tag an sollten die Arme der Wildnis Joan Thorpe nie wieder loslassen.

In einem Land, in dem es wenig pädagogische Beratung für junge Eltern gab, hielten sich Edmund und Lillian an offizielle Behördenratgeber, die auf Selbstständigkeit in der Erziehung setzten.29 Ein weinendes Baby tröstete man nicht, egal, wie laut es brüllte. Die kleine Joan lag stundenlang wach und schreiend in ihrer Wiege, aber niemand durfte eingreifen. Nie bekam sie die Aufmerksamkeit, um die sie bettelte – und ließ das Weinen für immer bleiben. Als Jugendliche und später als junge Erwachsene bemühte sich Joan, keine Schwäche zu zeigen und niemanden um Hilfe zu bitten.

Sie wuchs in der Wildnis auf und begleitete bereits als kleines Kind ihren Vater auf seinen Safaris. Edmund war mittlerweile professioneller Jäger30 und führte Touristen durch den Busch. Er organisierte Expeditionen von Kenia bis Uganda und Tanganjika (das heute in Tansania, Ruanda und Burundi aufgeteilt ist). Als ihm eines Tages die Schüsse in den Ohren klingelten, kam ihm eine Idee: Er könnte doch die Gewehre gegen Kameras eintauschen! So wurden Afrikas früheste Fotosafaris geboren. Er gab seiner Firma den Namen »Kenya Thru the Lens«.31

Die Fotosafaris waren ein Wagnis, sowohl hinsichtlich der Größe als auch des Umfangs: zwanzig Tage, einundzwanzig Teilnehmer pro Tour, zweitausend Dollar pro Person, der Flug von New York aus inklusive. Sie wurden ein solcher Erfolg, dass Edmund Unterstützung brauchte. Seine Frau arbeitete mit, sie organisierte die Touren und kümmerte sich um die Durchführung. Bald nahmen Größe wie Umfang noch mehr zu, und die Teilnehmer waren am Ende völlig erschöpft von all den Wundern, die sie gesehen hatten – jeden Tag begegneten sie Elefanten, Flusspferden, Löwen, Krokodilen, Giraffen und Nashörnern, hoch oben auf Afrikas zerklüfteten Vulkanen und unten in den weiten, kargen Ebenen. Man musste sie quasi ins Flugzeug schieben und wieder nach Hause bringen.

Mit dem zunehmenden Erfolg der Fotosafaris erreichten Edmund und Lillian irgendwann einen Punkt, an dem sie es nicht mehr schafften. Sie brauchten unbedingt Hilfe und wandten sich schließlich an den zuverlässigsten, genauesten, stoischsten Menschen, den sie kannten: ihre Tochter. Zum damaligen Zeitpunkt war Joan neunzehn Jahre alt, groß, attraktiv, intelligent. Nach den Jahren in einem Schweizer Internat sprach sie fließend Französisch, fühlte sich aber zu Hause im afrikanischen Busch am wohlsten. Doch die strenge Erziehung in ihrer Kindheit hatte sie extrem schüchtern gemacht. In Gegenwart anderer Menschen fühlte sie sich unbehaglich, die Gesellschaft von Tieren war ihr lieber.

Nachdem sie in der Schweiz »den letzten Schliff« erhalten hatte, war sie zurück nach Kenia gegangen und hatte begonnen zu arbeiten. Damals setzten nur wenige Weiße in Kenia ihre Ausbildung fort, denn es gab genügend Stellen.32 Sie arbeitete seit vier Jahren als Sekretärin für Shell Oil in Nairobi33, als ihr Vater ihr ein Angebot machte: Hilf mir jetzt bei den Fotosafaris, solange wir dir noch alles beibringen können, dann wird die Firma eines Tages dir gehören. Joan fing sofort bei ihren Eltern an, in der Rolle, die sie fortan definieren sollte: als Koordinatorin. Ihr fiel alles leicht. Sie erstellte die Routen, plante die Ankunft und die Abfahrt der Touristen, kümmerte sich um die Angestellten, kaufte Proviant und Ausrüstung ein, überwachte Aufbau und Vorbereitung, betreute die Karawane von Land Rovern. (Der Wagen, den sie selbst fuhr, hatte einen Dachgepäckträger voller Stroh, in dem Käfige mit gackernden Hühnern transportiert wurden – frisches Fleisch und Eier für die Kunden.) 34 Sie half beim Aufbau der Zelte, sorgte für ein brennendes Feuer, kochte das Essen, legte Filme in die Kameras ein, wies sogar auf die Tiere hin – kurz und gut, sie machte alles, außer auf den Auslöser der Kameras der Kunden zu drücken.

Wir fahren in östlicher Richtung durch die Serengeti. Immer wieder bietet sich die Möglichkeit, Wildtiere zu fotografieren. Wir übernachten in einer gut ausgestatteten Safari-Lodge hoch oben auf der Kante des gewaltigen Ngorongoro-Kraters, eine der wichtigsten Hochburgen von Afrikas wilder Tierwelt. Wir verbringen einen ganzen Tag auf dem Boden des Kraters, wohin wir nach einer spektakulären Fahrt über Serpentinen gelangten, die in die Wände des Kraters gehauen wurden. Wahrscheinlich werden wir am Ngorongoro nicht nur Tieraufnahmen machen können, sondern auch unsere ersten manyattas (Hüttendörfer) der nomadischen Massai sehen.

Aus dem Prospekt von »Kenya Thru the Lens«35

In dem Prospekt wurde beinahe untertrieben. Der Ngorongoro-Krater, im Hochland Nordtansanias gelegen, gilt als Garten Eden Afrikas.36 Auf dem Ngorongoro soll es die höchste Dichte von Wildtieren auf dem ganzen Kontinent geben – Leoparden, Löwen, Geparden, Elenantilopen, Spitzmaulnashörner, Goldschakale, Thomson-Gazellen, Ohrengeier – alles inmitten eines gigantischen eingestürzten Vulkans, einer umrandeten Enklave, die beinahe so groß ist wie Paris. Am Nordrand befindet sich die Olduvai-Schlucht, neunzig Meter tief und knapp fünfzig Kilometer lang. Sie führt in die Serengeti mit ihren endlosen gelben Ebenen, die für die imposanten Tierzüge berühmt ist, zum Beispiel die jährliche Wanderung von fast einer Million Gnus.

»Diese Amerikaner sind sehr angenehm, und sie genießen die Reise«, schrieb Joan 1960, während sie eine Fotosafari in Uganda betreute. »Der Dachträger auf dem Land Rover hat sich wirklich bewährt. Bin ich froh, dass ich den Anhänger los bin! Das Fahren macht mir gar nichts aus. Es ist mir sogar lieber, als einfach nur dazusitzen. «37

Joan war immer die Fahrerin. Sie führte die Karawane an, führte alles an, bis sie an einem verregneten Tag in Afrikas Garten Eden auf Alan Root traf. Alan sagte später, er habe Joan schon gelegentlich in und um Nairobi gesehen, hätte aber nie gewusst, wie er sie auf sich aufmerksam machen sollte. Endlich bekam er seine Chance.

Als Alan Root im Alter von zehn Jahren zum ersten Mal kenianischen Boden betrat, hatte er das Gefühl, für ihn würde ein neues Leben beginnen.38 Von diesem Augenblick an sollten weder er noch der afrikanische Busch derselbe bleiben. Alan war eine seltene Kombination aus Esprit und Intelligenz, ein geborener Komiker, der immer aus der Menge herausstach.39 Als wahrer Draufgänger fürchtete er weder Mensch noch Tier, und es gefiel ihm, mit beiden seine Späße zu treiben und sie auf die Probe zu stellen. John Heminway schrieb in seinem Buch No Man’s Land über ihn: »Seine Geschichte repräsentiert DIE Erfolgsstory im Busch. Zur großen Freude und auch zum Leidwesen seiner Freunde ist er stets der absolute Exzentriker, der Clown, der Draufgänger, der Darsteller, der Misanthrop, der Partymittelpunkt, der unbezähmbare Idealist und Naturfreund … Er gibt alles für eine Filmszene, einen Witz, ein Tennismatch. Kurz gesagt, Alan wird vom Leben so aufgezehrt, dass er jeden Tag aufs Neue dem Tod ein Schnippchen schlagen muss.«40

Im Gegensatz zu Joan, die sich immer noch nicht sicher war, welche Richtung sie ihrem Leben geben wollte, hatte sich Alan schon bald nach seiner Ankunft in Kenia dafür entschieden, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Sein Vater, ein Cockney, arbeitete als Fleischer.41 Er war aus London ausgewandert, um in Nairobi einen Schlachthof und eine Fleischverarbeitungsfabrik zu betreiben. Alan beschloss schon in jungen Jahren, dass er sein Leben lieber lebendigen Tieren widmen wollte. Sein Wissen über die Natur erwarb er zunächst mit ganz kleinen Geschöpfen – Insekten, Reptilien, Vögeln.

Die Roots wohnten auf der Athi-Ebene am Rande des Nairobi Nationalparks, wo man, wie Alans Vater schrieb, an einem klaren Tag den Schnee auf dem Mount Kenya durch das eine Fenster sehen konnte und den Schnee auf dem Kilimandscharo durch das andere. 42 An den Wochenenden verbrachte Alan jede freie Minute im Busch mit den Kamba, einem Jägervolk, dessen Angehörige im Haus seiner Eltern als Köche und Gärtner arbeiteten. Bald kannte der englische Junge die Wildnis ebenso gut wie sie. Er wuchs zu einem klugen, kräftigen und attraktiven Jugendlichen mit sonnengebleichten blonden Haaren heran, dessen Zukunft von seinen Erfahrungen in der Natur geprägt wurde – er beobachtete Tiere nicht nur, er sammelte sie auch. »Roots Reptilien« hieß eine seiner frühen Ausstellungen an der Prince of Wales School in Nairobi. Den Unterricht besuchte er meist mit einer Schlange in der Tasche und einem Streich im Kopf. Verrückt, lustig, wild, provozierend – das war Alan Root.

Statt Tiere nur zu sammeln, filmte er sie auch bald, und zwar mit einer 8-mm-Bolex, die er auf Schlangen und Nashörner richtete. Das Ergebnis nannte er einen Heimkinofilm, den er eines Abends vor einem kleinen Publikum im Nairobi Museum vorführte. Im Anschluss wurde er einem Piloten der East African Airways vorgestellt, der sich als Amateurtierfilmer betätigte und Alan fragte, ob er ihn bei einem Filmprojekt unterstützen würde, für das ihm die Zeit fehle. Und ob er das wollte! Mit einer geborgten Kamera drehte Alan seinen ersten richtigen Film, über einen Vogel: das Blatthühnchen. Das Blatthühnchen verbringt sein ganzes Leben auf den weitläufigen, rosa blühenden Seerosenfeldern im Naivashasee. Die auffällig braun-weiß-gelb gefiederten kleinen Vögel haben extrem lange Zehen und Krallen. Dadurch wird ihr Gewicht über eine große Fläche verteilt, und sie können auf den Blättern laufen. Alan kampierte wochenlang in einem Zelt am See und zeichnete Tag für Tag die Aktivitäten der Blatthühnchen auf. Dass er sie unbemerkt in ihrem natürlichen Lebensraum ohne menschlichen Eingriff filmte, sollte zu Alans Markenzeichen werden.43

Bald wurden zwei weitere potentielle Förderer auf das Blatthühnchen-Material aufmerksam: Armand Denis und seine hübsche blonde Frau Michaela, in den 50er und 60er Jahren das amtierende Königspaar des Tierfilms. 44 Allerdings drehte sich ihre halbstündige BBC-Serie On Safari mehr um die beiden selbst als um Tiere – Michaela sagte einmal vor der Kamera, sie würde niemals in einen Fluss voller Krokodile steigen, bevor sie sich nicht die Augenbrauen nachgezogen habe –, und daher ließen sie sich die Tieraufnahmen von Buschkameramännern liefern.

Ursprünglich engagierten sie Alan nicht, um Tiere zu filmen, sondern um die gezähmten Tiere zu versorgen, die sie auf ihren Reisen mitnahmen. Als Armand Denis erwähnte, er brauche Aufnahmen von einer Eierschlange, traf es sich, dass Alan nicht nur eine Eierschlange in seiner Reptiliensammlung besaß, sondern sie sogar dabei gefilmt hatte, wie sie ein Ei fraß. Armand Denis sah Alans Amateurfilm und fragte ihn: »Warum zum Teufel arbeiten Sie denn als Tierpfleger? Wieso filmen Sie die Tiere nicht?«45

Sie setzten Alan als Assistenten ihres Kameramanns Des Bartlett in der Serengeti ein, wo er rasch einen noch wichtigeren Unterstützer fand: Dr. Bernhard Grzimek, dessen Film Kein Platz für wilde Tiere aus dem Jahr 1956 ein Manifest gegen Jagdsafaris in Belgisch-Kongo war und als einer der ersten Naturschutzfilme galt. Grzimek war mit seinem Sohn Michael in die Serengeti gereist.46 Sie suchten einen geeigneten Kameramann für ein Filmprojekt. Nachdem der örtliche Wildhüter Alan empfohlen hatte, fragten die Grzimeks den jungen Kameramann, ob er die Wanderpfade in der Serengeti für sie drehen würde. Der Film, der daraus entstand, Serengeti darf nicht sterben, wurde 1959 als Bester Dokumentarfilm mit dem Oscar ausgezeichnet. Der zweiundzwanzigjährige Alan Root war als Kameramann aufgeführt.

Dann kam Joan Thorpe in sein Leben gefahren.

An diesem besonderen Tag stand Alan knietief im Schlamm des Ngorongoro und filmte.47 Plötzlich fuhr der Thru-the-Lens-Konvoi vorbei. Sie waren unterwegs zum Rand des Ngorongoro-Kraters, wo die Gruppe übernachten sollte. Als Alan aufblickte, sah er etwas Unglaubliches durch das Objektiv seiner Kamera: die große einundzwanzigjährige Blondine am Steuer des Land Rovers. Joan, in Khakishorts und einer kurzärmeligen Bluse, stieg aus – Alan hatte noch nie solche Schönheit gesehen. Als sie die Gruppe ins Gästebuch einschrieb, wagte sich Alan vor: »Hi, ich bin Alan Root.«48 Gerade in diesem Moment kamen ihre Eltern dazu und luden den jungen Mann ein, mit der Gruppe zu Abend zu essen. 49

Joan musste bereits gewusst haben, wer Alan war, aber sie hatte noch nie mit ihm gesprochen. Sie hörte zu, während er sich den anderen im Camp vorstellte und ihnen erzählte, wo er schon gewesen war. Es verstand sich von selbst, dass er den einen oder anderen Witz riss. Die anderen lachten dankbar, doch von Joan kam nichts. Sie war zu schüchtern für Smalltalk, insbesondere mit Fremden. Bei den Drinks und während des Abendessens verhielt sich Alan absolut bezaubernd. Er schien alles über den Krater und jedes Tier darin zu wissen. Man lauschte gespannt seinen Abenteuern in der Wildnis, die er am Lagerfeuer zum Besten gab. Von Joan kam immer noch nichts, noch nicht einmal ein Lächeln. Als sie sich schließlich zum Essen setzten, gelang es Alan, den Platz neben ihr zu ergattern.

Irgendwann an diesem Abend erwähnte Edmund, dass er Joan am nächsten Morgen nicht als Fahrerin brauche, da die meisten im Camp bleiben würden. Er schlug ihr vor, den Tag freizunehmen.50 Alan sah seine Chance gekommen. »Verbringen wir doch Ihren freien Tag gemeinsam!«, schlug er vor. Er wollte sie morgens abholen, dann könnten sie zusammen in den Krater fahren.

Alan war am nächsten Morgen so aufgeregt, dass er das Pfund Butter vergaß, das er am Abend zuvor im Handschuhfach seines Wagens verstaut hatte.51 Als er und Joan in der zunehmenden Hitze die Serpentinen hinunter in den Ngorongoro-Krater fuhren, tropfte Joan die schmelzende Butter auf ihre langen Beine. Joan war an Überraschungen auf afrikanischen Safaris gewöhnt und wischte sich ruhig die Butter ab. Alan konnte den Blick nicht von den glänzenden Beinen lassen, während er sich für seine Vergesslichkeit entschuldigte und alle Mühe hatte, sich auf die vorüberziehenden Löwen und Büffel und auf die weidenden Gnuherden unter ihnen zu konzentrieren. Dabei tat er, was er am besten konnte: reden.

Er erzählte ihr, wie er mit seiner Familie nach Kenia gekommen war und dass sie dann nach Rhodesien gezogen waren, wo sein Vater ein weiteres Schlachthaus besaß. Doch die Eltern vertrugen sich nicht gut, daher ging er mit seiner Schwester und seiner Mutter 1951 zurück nach Nairobi.

Joan nickte, gelegentlich lächelte sie auch, aber sie sagte nichts.

Er erzählte ihr von seinem Dienst im Kenya Regiment während des Mau-Mau-Aufstands, der antibritischen Rebellion. Er war in eine Uniform geschlüpft und ausgeschickt worden, Flüchtlingen im Bergwald der Aberdares hinterherzujagen. Er fing keine Mau Mau, aber es gelang ihm, einen Bongo aufzuziehen – damals den einzigen, der in Gefangenschaft lebte.

Sie sah zu ihm hinüber und nickte. In Nairobi wusste jeder, auch Joan, dass Alan einen Bongo aufgezogen hatte, das scheueste Tier im ostafrikanischen Busch. Die große kenianische kastanienbraune Antilopenart mit den leuchtend weißen Streifen und den leierförmigen Hörnern war nur selten zu sehen und kaum je lebend gefangen worden, bis ein Freund von Alan ein verwaistes Junges in einer Falle gefunden und es zu ihm gebracht hatte. Dieser Fund war so wertvoll, dass Alan den Bongo im Schlafzimmer hielt. Von dort aus begleitete er ihn in den Zoo von Cleveland, was ihm die stattliche Summe von 1100 Pfund für das Tier einbrachte und ihn darüber hinaus zu einer lokalen Berühmtheit machte.

Alan wohnte noch mit seiner Mutter und Schwester zusammen, in einem sehr rustikalen Haus. Sein Zimmer hatte Lehmwände, ein strohgedecktes Dach und einen gestampften Erdboden. Daher duldete es seine Mutter, dass er einen Bongo in seinem Schlafzimmer hielt. Außerdem war sie an Tiere im Haus gewöhnt. Er hatte sogar einmal einen Pavian bei sich, bis der Affe etwas zu aggressiv wurde und auf seine Mutter losging.

Wieder schaute er hinüber zu Joan. Sie hatte immer noch kein einziges verdammtes Wort gesagt.52

Mittlerweile sammelte Alan alle möglichen Tiere, um sie an Zoos zu verkaufen und zu filmen. Damit verdiente er jetzt hauptsächlich sein Geld. Er erzählte ihr von seiner Freundschaft mit Michael Grzimek, der vor kurzem bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war. Alan betrachtete es nun als seine Aufgabe, das Wesen Afrikas auf Film zu bannen. Nicht gestellt und zuckersüß, wie man es so häufig sah. Er wollte die herrlichen Tiere des Kontinents einfangen, wie sie leibten und lebten, ohne technische Tricks. Ob Joan beeindruckt davon war, sagte sie nicht, sie starrte einfach nur geradeaus.

Alan sollte bald erfahren, dass sie verlobt war, mit Ted Goss, einem jungen Mann aus Nairobi.53

Den größten Teil der weiteren Fahrt verbrachten sie schweigend. Alan kannte »Goosey-Goss«, so sein Spitzname in der Schule, wie sein Freund Ian Parker erzählte. 54 Wie zum Teufel war Ted Goss bloß an Joan Thorpe gekommen? Ted Goss wurde später zu einem legendären Wildhüter, der entscheidend dazu beitrug, den Tsavo Nationalpark (den größten Nationalpark Ostafrikas) von Wilddieben zu befreien. Er bekämpfte Banden, die mit Kalaschnikows bis hin zu raketengesteuerten Granaten Elefantenherden dezimierten.55 Doch damals, Anfang der 60er Jahre, war Goss lediglich ein stämmiger, vierschrötiger weißer Kenianer, der eine gute Gelegenheit suchte. Und ausgerechnet der hatte sich Joan Thorpe geangelt! Alan wusste einfach nicht, wie er sie für sich gewinnen und ihre Schüchternheit durchbrechen sollte.

Die Fotosafari zog bald weiter. Alan blieb im Schlamm des Ngorongoro-Kraters stecken und filmte, aber die Frau, die gerade weggefahren war, ließ ihn nicht mehr los. Die beiden wären ein perfektes Paar, obwohl er gar nicht wissen konnte, dass er sie viel dringender brauchte als sie ihn. Sie war organisiert; er flog mit dem Hintern. Sie kümmerte sich mit Leichtigkeit um alles Praktische und die Logistik; er war der Mann fürs große Ganze. Sie war eine fähige Produktionsleiterin, die alles gleichzeitig bewältigte; er war der geborene Star. Er musste nur einen Weg finden, um sie zu bekommen.

Nicht lange danach erschien ein Tier, das für Alan die große Chance darstellte – so war das immer bei ihm. Auf der Suche nach geeigneten Plätzen für zukünftige Fotosafaris waren Joan und ihr Vater nach Wamba im Nördlichen Grenzdistrikt gefahren, eines der entlegensten und unzugänglichsten Naturschutzgebiete. Diese schöne Berglandschaft – von Flüssen durchzogen und Heimat des friedlichen, gastfreundlichen Samburu-Stamms – war perfekt geeignet für Kamelexpeditionen, und Edmund und Joan wussten, dass es ein lohnendes Ziel für Fotosafaris sein würde.

Sie suchten nach möglichen Lagerplätzen, als sie einen Schrei aus einem der breiten und tiefen Wasserlöcher hörten, die die Samburu gruben, um ihr Vieh und ihre Kamele zu tränken.56

Sie gingen zu dem Wasserloch, schauten hinein und entdeckten ein ölschwarzes, drei Wochen altes verlassenes Elefantenbaby, das im Schlamm feststeckte.

Mit Hilfe einer Gruppe Samburu gelang es ihnen, es aus dem Wasserloch zu bergen, aber dies war nur ein erster Schritt. Damals hatte es noch nie ein Mensch geschafft, ein Elefantenjunges aufzuziehen. Ein Elefantenbaby zu füttern, das war so gut wie unmöglich, denn Elefantenmilch ist wesentlich fettreicher als Kuhmilch, und Elefanten konnte man nicht melken.57 (Die bedeutende Naturforscherin Daphne Sheldrick entwickelte die Mischung, die der Milch einer Elefantenmutter entsprach, erst viel später.58)