Ich liebe einen Asperger! - Bob Fischer - E-Book

Ich liebe einen Asperger! E-Book

Bob Fischer

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Beschreibung

<p><strong>Liebe im Autismus-Spektrum</strong></p> <p>Corinna Fischer und ihr Mann Bob erzählen in diesem Buch die Geschichte ihrer außergewöhnlichen Partnerschaft und vom Leben mit Autismus in der Familie.</p> <p>Lange Zeit ist die Beziehung von Unverständnis für die unterschiedlichen Gefühlswelten geprägt. Erst als Bob und die älteste Tochter die Diagnose Asperger-Syndrom erhalten, ist Corinna erleichtert: "Endlich gab es eine Erklärung für all die merkwürdigen Verhaltensweisen und Empfindlichkeiten. Doch die Andersartigkeit blieb natürlich trotz Diagnose bestehen. Jetzt mussten wir lernen, damit umzugehen."</p> <p>Anhand konkreter Stationen auf ihrem gemeinsamen Weg – Kennenlernen, Heirat, gemeinsame Kinder – berichtet das Autorenteam von seinem besonderen Alltag. Hierbei beleuchtet vor allem Corinna Fischer aus Sicht der Partnerin eines Aspergers, wie sie ihr Familienleben mit Autismus arrangieren und was ihnen geholfen hat.</p>

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Seitenzahl: 408

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Ich liebe einen Asperger!

Unsere Partnerschaft, unsere Kinder und das Asperger-Syndrom

Corinna Fischer, Bob Fischer

2. Auflage 2023

7 Abbildungen

Ich werde kein Buch schreiben!

Wie oft habe ich mir diesen Satz gesagt. Denn ich wusste lange nicht, wie ich über unsere Erlebnisse berichten kann, ohne jemanden zu kränken. Kann ich die Kindheit meiner autistischen Tochter beschreiben, ohne sie traurig darüber zu machen, was ich fremden Menschen von ihrer Andersartigkeit offenbare? Darf ich über die Probleme in meiner Ehe mit einem Autisten berichten, wenn das bedeutet, zu schildern, welches Verhalten meines Mannes mich verletzt, belastet oder traurig gemacht hat? Ist es in Ordnung, Außenstehende an unserem schwierigen Familienleben teilhaben zu lassen? Wie beschreibe ich, wie allein gelassen ich mich fühlte, ohne jemandem vorzuwerfen, dass er mich allein gelassen hat?

Die Kluft zwischen Verletzungen einerseits und den Vorwürfen und Schuldzuweisungen andererseits kann nicht überwunden werden, solange man nach einem Schuldigen sucht. – Doch was, wenn es keinen »Schuldigen« gibt? Wenn es einen Grund gibt, für all die Lasten, die wir in unserer Familie zu tragen haben? – Heute kennen wir diesen Grund: Es ist das Asperger-Syndrom.

Mein Mann und auch meine älteste Tochter waren lange Zeit »unsichtbar autistisch«.

Mein Mann und auch meine älteste Tochter waren lange Zeit »unsichtbar autistisch«. In der Außenwelt »funktionierten« sie so gut, dass andere Menschen (ich auch) und selbst Ärzte den Autismus lange Zeit nicht erkannten. Dieser »unsichtbare Autismus« führt zu einer unglaublichen Überforderung der Betroffenen und ihrer Familien. Davon handelt dieses Buch. – Ich habe es doch geschrieben, weil es mir ein so großes Anliegen ist, diesen »unsichtbaren Autismus« für andere sichtbar zu machen. Man kann das Asperger-Syndrom nur dann annähernd erfassen, wenn man hinter die Kulisse schaut. Denn vor der Kulisse, auf der »Bühne«, bekommen wir nur die Rolle zu sehen, die die Asperger spielen, weil es von ihnen erwartet wird.

Mit meinem heutigen Wissen sehe ich so viel typisch Autistisches an meinem Mann Bob und meiner Tochter Laura. Doch damals hatte ich keine Erklärung für die vielen Merkwürdigkeiten, Kränkungen und für mich unverständlichen Verhaltensweisen. Ich war verzweifelt und irgendwann am Ende meiner Kräfte angelangt. Doch nicht nur ich habe jahrelang gelitten, sondern auch Bob und Laura waren permanent überfordert. – Je stärker ihre Überforderung wurde, desto sichtbarer wurde ihr Autismus.

Asperger unterscheiden sich von anderen Menschen so grundlegend, dass man wirklich von einem Leben in zwei Welten sprechen kann. Wie sich diese Andersartigkeit im Alltag und Zusammenleben zeigt, lernen Sie im Laufe des Buches sehr genau kennen. Ich schildere auch unsere Strategien, mit denen wir heute unseren Alltag gestalten, damit er beiden Seiten möglichst gerecht wird. Auch Lösungsversuche, welche nicht hilfreich waren, will ich Ihnen nicht vorenthalten. Sie erfahren, wo wir welche Hilfen erhalten haben, und welche vermeintlich kompetenten Stellen wir vergeblich anliefen.

Je besser ich die Andersartigkeit meines Mannes verstehe, desto größer werden mein Respekt und meine Dankbarkeit für das, was er tagtäglich leistet: Als Autist, der keinen Menschen »braucht« und doch Familienvater ist. Ich bin auch sehr dankbar, dass ich mich heute wieder auf den nächsten Tag freuen und wieder lachen kann. Meine Lebensfreude ist zurückgekehrt und ich blicke voller Dank auf das, was sich in unserer Familie verbessert hat.

Je besser ich die Andersartigkeit meines Mannes verstehe, desto größer werden mein Respekt und meine Dankbarkeit für das, was er tagtäglich leistet

Das meiste ist aus meiner Sicht geschildert. Bob hat nur wenige Beiträge selbst geschrieben, aber natürlich alles gelesen und bei Bedarf korrigiert. Mein Mann, meine betroffene Tochter und mein Sohn Sven, der autistische Züge zeigt und auch beschrieben wird, haben dem Inhalt und der Veröffentlichung ausdrücklich zugestimmt. Was natürlich eine Voraussetzung war, um das Buch überhaupt schreiben zu können. (Um unsere Familie und auch alle anderen beschriebenen Personen zu schützen, sind sämtliche Namen geändert.)

Wir hoffen, dass Sie von diesem Bericht profitieren können – als Partner oder Freund eines Aspergers, als Elternteil eines betroffenen Kindes oder als Lehrer, Therapeut oder sonstige Fachkraft, die mit diesem Thema konfrontiert wird. Und wir wünschen uns, dass die Einblicke, die wir Ihnen in unser Familienleben gewähren, zu mehr Verständnis und Anerkennung für Menschen mit Autismus beitragen. Dabei meine ich nicht, dass die Erfahrungen unserer Familie auch die von anderen sein müssen. Ich kann nur das berichten, was wir erlebt haben, was uns geholfen hat und wie wir die Dinge wahrgenommen und verstanden haben.

Ihre Corinna Fischer

Eine zweite Auflage?

Es war für uns keine Selbstverständlichkeit, dass unser Buch ein zweites Mal aufgelegt wird. Einen Asperger zu lieben und gemeinsam eine Beziehung zu führen bringt große Herausforderungen für beide Seiten mit sich. Für einige wird schnell klar, dass diese Herausforderungen zu groß sind, andere führen die Beziehung weiter. Als ich eine Zeit lang in einer Selbsthilfegruppe war, musste ich feststellen, dass dort kaum eine Frau war, die noch in einer Beziehung mit ihrem Asperger-Partner war. Es gab Frauen, die bereits getrennt waren, andere in der Trennungsphase und eine Trennung habe ich mitbekommen. Dieser Weg ist immer mit viel Traurigkeit und Leid verbunden. Wenn man vielleicht bereits viele Jahre und viel Kraft, Zeit und Mühe in die Beziehung investiert hat, so sind die Traurigkeit und der Frust umso größer.

Wenn man vielleicht bereits viele Jahre und viel Kraft, Zeit und Mühe in die Beziehung investiert hat, so sind die Traurigkeit und der Frust umso größer.

Wir sind immer lösungsorientiert, aber das heißt nicht, dass wir die Botschaft geben wollen, dass man sich nur genug Mühe geben muss, nur genug Bücher lesen muss oder genug Ratschläge einholen muss und dann würde eine solche Beziehung dauerhaft gelingen. Ich persönlich könnte keinem dazu raten, dieses »Abenteuer« einzugehen, wenn eine Beziehung noch nicht fest ist. Aber vielleicht sind andere ja viel geschickter darin und empfinden diese Belastung nicht. Ich kann nur von meinen ganz persönlichen Erfahrungen ausgehen. Jeder muss selbst seine Entscheidungen treffen, denn er selbst muss die Folgen dieser tragen. Jeder lebt in unterschiedlichen Umständen, hat unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Jeder hat seine Stärken, aber auch seine Schwächen. Ich denke, dass fast jede Frau, die eine Beziehung mit einem Asperger eingeht, eine Kraftquelle braucht, die (schier unerschöpflich ist und) ihr Kraft für den Alltag gibt. Denn diese wird sie brauchen. Und das auch noch nach zehn oder zwanzig Jahren.

Wenn ich Verhaltensweisen meines Mannes verstanden hatte, so musste ich mir selbst sein Verhalten im Kopf permanent »übersetzen«. Dies konnte heißen, dass ich mir selbst sagen musste »er meint das nicht so«, »er ist überfordert«, »er hat Dich nicht wahrgenommen«, »ich bin so weit weg wie auf einem anderen Planeten, sonst hätte er das nicht gemacht«, »wenn Du ihm erklärst, dass Dich das traurig macht, dann tut es ihm leid«, »er wollte Dich nicht traurig machen«, »er weiß nicht, dass Dich das traurig macht«, »er hat das vergessen, weil sein Kopf den ganzen Tag den Autismus kompensieren muss«, »er ist zu erschöpft heute«, »er hat Dich falsch verstanden«, »das liegt an dem Autismus«, und so weiter …

Für mich sind diese Erklärungen wie ein Schutz für mein Herz. Denn wenn ich sie mir nicht sage, so macht mich sein Verhalten ja (noch) traurig(er), ich fühle mich nicht geliebt und werde emotional ausgelaugt. Diese Übersetzungen machen meine Beziehung auch überhaupt erst möglich. Sonst würde mein Herz mir sagen: Er liebt mich nicht, ich bin ihm egal und auch meine Gefühle sind ihm egal. Doch auch nach vielen Jahren sind diese Übersetzungen für mich nicht überflüssig. Ich finde, sogar eher noch nötiger. Denn irgendwann kommt der Gedanke: »Ich habe es ihm doch erklärt, warum handelt er nicht danach? Bin ich ihm nicht wichtig, dass ich es immer wieder sagen muss?« Doch diese Fremdsprache kostet ihn ja weiterhin Kraft und man kann schnell aus dem Blick verlieren, dass er diese Leistung weiterhin bringen muss.

Selbst wenn ich mir alle Situationen erklären könnte ... Ich bin und bleibe ein Mensch und habe Gefühle. Werde ich oder wird ein anderer Asperger-Partner auch nach zwanzig Jahren noch die Kraft aufbringen für diese »Übersetzungsleistung«? Können wir ständig in dieser geradezu therapeutischen Denkweise bleiben? Jeder möchte doch auch mal einfach er selbst sein. Der Asperger und der Partner. Doch wenn wir uns fallen lassen und nicht übersetzen, einfach nur direkt fühlen auf ein Verhalten hin, … könnten wir das aushalten?

Jede Erklärung oder jedes Verständnis, dass ich als Partnerin im Laufe der Zeit gewonnen habe und in unserem Bericht beschreibe, lasse ich daher im Normalfall als solches stehen und betone nicht bei jedem einzeln, dass es mich trotzdem Kraft kostet, mir dieses selbst im Stillen zu sagen oder, dass mich diese Situationen nicht auch trotzdem traurig machen. Ich halte es aber für wichtig, sich vor Augen zu halten, dass Verständnis nicht automatisch bedeutet, dass auch die Kraft für diese Übersetzung vorhanden ist. Es mag sein, dass die Liebe zum Asperger-Partner bleibt, aber trotzdem die Kraft für einen gemeinsamen Alltag schwindet oder der Schmerz über das Miteinander die Liebe geradezu untergehen lässt. Durch die genetische Disposition kann es gerade bei der Gründung einer Familie dazu kommen, dass auch der Umgang mit den Kindern diese Übersetzung nötig macht.

Durch die genetische Disposition kann es gerade bei der Gründung einer Familie dazu kommen, dass auch der Umgang mit den Kindern diese Übersetzung nötig macht.

Ob auch die Kinder in ihrer Wahrnehmung autistische Züge zeigen, überempfindliche Sinne haben, AD(H)S haben, gar in Kombination mit oppositionellem Verhalten ... es kann zu weiteren ungeahnten Herausforderungen führen und die sozialen Situationen potenzieren die Notwendigkeit der Übersetzungsleistung oder gar die Ausprägung der Besonderheit. Dann muss die Übersetzungsleistung sogar in mehrere Richtungen getätigt werden und die Besonderheiten mehrerer Menschen bedacht werden, die in Kombination noch zusätzlich komplexer werden. Wie ein Asperger eine gelungene Beziehung zu seinen Kindern aufbauen kann ist ein so großer und umfassender Themenkomplex, dass wir ihn bewusst außen vor lassen möchten.

Von den Dingen, die wir seit dem ersten Buch erlebt haben, möchten wir Ihnen eine Erfahrung nicht vorenthalten, da sie auch für andere betroffene Familien hilfreich sein könnte. Bezüglich der Hyperakusis (Überempfindlichkeit des Gehörs) haben wir eine Therapie kennengelernt, die es ermöglicht hat, dass unser Sohn Sven ca. seit seinem 15. Lebensjahr nach einer Musiktherapie keinerlei andere Unterstützung für diese Problematik mehr braucht und sich nach und nach sehr gut entwickelt hat und seinen Weg findet.

Die Therapeutin Sonja Heinrich begleitete uns durch diese Zeit und leitete uns an, die Reaktionen des Kindes auf die Musik gut zu beobachten. Sie war die erste Therapeutin in Deutschland für diese Musiktherapie, die sich auf die Forschung von Stephen Porges gründet. Mittlerweile gibt es mehrere Therapeuten, die Zusatzqualifikation im Bereich Autismus ist jedoch sicherlich hilfreich.

Für das sogenannte »Sound System Protokoll (SSP)« musste Sven über fünf Tage jeweils eine Stunde am Tag Musik hören. Die Musik ist dabei speziell aufgearbeitet und hört sich an, als wären alle Tiefen rausgefiltert. Schon in der Therapiewoche merkten wir, dass die Musik eine Wirkung hatte. Sie machte ihn teilweise müde, teilweise aber auch aggressiver. Der entscheidendste Teil begann sich jedoch erst danach bemerkbar zu machen. Die Musik war nur der Anfang eines Entwicklungsprozesses, der im Gehirn in Gang gesetzt bzw. nachgeholt wurde und auch nach Monaten verbesserten sich sein Befinden und seine Leistungen noch stetig.

Heute wissen wir, dass es sogar besser ist, die Musiktherapie viel vorsichtiger umzusetzen, die Musik über einen längeren Zeitraum zu verteilen und dabei, wie erwähnt, sehr auf emotionale Reaktionen des Kindes zu achten und dann entsprechend bei Bedarf zu pausieren. Da wir aber mit zu den Ersten gehörten, die die Therapie anwendeten, war dies noch nicht in dem Umfang bekannt. Seit dem Jahr hat Sven sich sehr gut weiterentwickelt und ohne Probleme eine handwerkliche Ausbildung absolviert.

Wir wünschen Ihnen alles Gute auf Ihrem Weg und für Ihre Entscheidungen.

Herzlich Ihre Corinna Fischer

Inhaltsverzeichnis

Titelei

Ich werde kein Buch schreiben!

Eine zweite Auflage?

Mein Mann ist unsichtbar autistisch

Bob: meine große Liebe

Immer auf die Minute pünktlich

Mir gefiel sein »trockener Humor«

Bob versteht alles nur wortwörtlich

Es wird ernst

Heiratsantrag

2000: zu zweien und doch oft allein

Gefühlsarm, aber sensorisch überempfindlich

Sensorische Überreizung

Bob reagiert »gefühllos«

Eingeschränkte Wahrnehmung

»Teleskopblick«

»Habe ich heute Abend eigentlich schon gegessen?«

Bob erledigt alles am liebsten sofort

Mein Mann geht auf Distanz

Er hält alle Höflichkeitsfloskeln für unnötig

Mir fehlte seine Zuwendung

Bob redete kaum mit mir

Ich fühlte mich zurückgesetzt

Ich weinte – und er schwieg

Wenn ich ihn brauchte, ließ er mich allein

Um-Armung

Endlich umarmte er mich »richtig«

»Fass ohne Boden«

Der Kreislauf der Kränkungen

Für Bob ist Kommunikation anstrengend

Klare Rückmeldungen geben

Liebloses Verhalten?

Entschuldigungen

Für ihn existiert keine Beziehungsebene

Ich schreibe Bob Briefe

Meine Gefühle überforderten ihn

Er suchte nach einem »Schema«

Stimmungsbarometer

Kindersegen und neue Fragezeichen

2001–2003: im Mutterglück

2002 – ein (fast) glückliches Jahr

Babyglück

Laura lächelte kaum

Sie gewöhnte sich ein starres Grinsen an

Sven war lebhaft und niedlich

Bob wurde immer schweigsamer

2004: Mit Jammern fing es an …

»Daut!« – Sven war vieles zu laut

Laura und Sven tobten gern heftig

Ich suchte vergeblich Rat bei Ärzten

Unser drittes Kind: Yasmin

Körperwahrnehmung: »Kannst du doller drücken?«

Auch die Tipps der »Super Nanny« halfen nicht

Auch unsere Sprachen der Liebe könnten unterschiedlicher nicht sein

Ich will Zweisamkeit – er seine Ruhe

Auf dem Rückzug

Unsichtbare Überlastung

Wo war das Gefühl?

Die Individualität von Menschen mit Autismus

Die sechste Sprache der Liebe

Er lebte in seiner »Höhle«

»Das ist dein Problem«

Viele Tränen und eine leise Hoffnung

2005: weinen, schreien und Wutanfälle

Die Abwärtsspirale

Wie oft sagte ich »das tut doch nicht weh!«

Die Krankengymnastik tut Laura gut

Kastanienbad und Gewichtsdecken

»Nicht überbewerten!«

Viele Geräusche sind purer Stress für Bob

Wenn die Kinder weinen, hält er sich die Ohren zu

Wir bauten ein Haus

2006/2007: endlich ein eigenes Haus!

Was ist nur mit Sven?

Nach jedem Schaukeln folgte ein Wutanfall

Ich schützte ihn vor zu starken Reizen

Hurra, sie spielen!

Erschöpft und voller Fragen

Vaterpflichten

Selbst das Spielen macht Bob keinen Spaß

Warum wir eine Großfamilie sind

Laura ist oft wie weggetreten

Abweisend zu mir, distanzlos bei Fremden

Logopädie

Psychologische Tests

Auswendiglernen statt Verstehen

Ein Verdacht kommt auf

Die Geburt unseres fünften Kindes

Laura hielt das Baby gern im Arm

Vermeintliches Mitspielen

Laura kam in die Vorschule

2008: Ist es Autismus?

Das Kinderzentrum schloss Autismus aus!

Der Arzt verweigerte die Asperger-Diagnose

Laura entwickelte Routinen

Punkte auf Karopapier

Eingeschränktes Spielen

Tarnstrategien

Der Zollstock heißt Anna

Keine Freundinnen

Sven: Das Diagnose-Puzzle geht weiter

Immer schreckhafter und empfindlicher

Eine weitere Station

»Da sind Zähne in meinem Kopf«

Bob erhielt seine Asperger-Diagnose

In Bobs Kindheit wurden die Auffälligkeiten nicht beachtet

Die Ärztin stellte die richtigen Fragen

Gut gemeint ist nicht gut gemacht

Er bietet keine Hilfe an

Beziehungen sind »unnötig« oder »nervig«

Jede Frage bedeutet eine Anforderung

»Gespielte« Gefühle

Ich lernte Bob »neu« kennen

Einzelgänger

Auch Laura hat das Asperger-Syndrom

Laura kommt in die Schule

Waschen und Kämmen: unmöglich!

Karierte Krippenfiguren

Dramen beim Anziehen

Es muss rosa sein

Zu erschöpft, um sich zu entscheiden

Nicht zu weit, nicht zu rau, nicht zu eng …

Kleidung als zweite Haut

Bloß keinen Druck ausüben!

Wetterangepasste Kleidung

Einfinden und aushalten

Ich kann nicht mehr!

Endlich kompetente Unterstützung

Bonbons lutschen zur Stressreduktion

Vor Überforderung schützen

Besuch bedeutet Stress

Sich nicht mehr verstellen

Kategorien erkennen

Ich finde Trost und Hilfe in Büchern

Vorsicht Fehldiagnosen!

Sven: schlau, ängstlich und überempfindlich

»Guck nicht!«

Er verkriecht sich im »Ei-Stuhl«

Trampolin springen

Noiser: Svens Rettung

Hilfreiches Rauschen

Tragzeit langsam steigern

»Schonzeit« in der Schule

Kirchgang mit Noisern

»Das war der beste Schultag!«

Ihn nervte das Rauschen

Wir erhalten endlich Hilfe

Schulbegleitung für Laura

Totale Erschöpfung

Geburtstagsfeier

Eingeschränkte Alltagskompetenz

»Ich bin ein anstrengendes Kind«

Sie riecht an allem

Laura kann nicht mehr einschlafen

Medikamente wirken anders

Die Sackgasse wurde zum Weg

Maike: Hilfe für den Alltag

Auf der Asperger-Insel isoliert

Unverständnis und Zweifel

Rechtfertigungen

Unser Leben in zwei Welten

2010: Ich schöpfe Hoffnung

Essen hinter einem Vorhang

Lebewesen oder Ding?

»Ich bin gar nicht weggelaufen!«

Ungebremster Fall

ABA – zum Lernen motivieren

Verstärkung

Beziehungsaufbau

Am Anfang steht ein Wunsch des Kindes

Konsequenzen

Sofortige Rückmeldung

Unsere »Anzieh-Sitzung«

Laura freut sich über Lob

Kurzfristig nur kleine Ziele setzen

Kein Zeitgefühl

Wochenende

Fotos

Belohnung

So fühlt sich also Überreizung an

Wie ist man freundlich?

Was ist Trauer?

Es gibt nur 1 oder 0

Egoistisch wirkende Selbstlosigkeit?

Melatonin sei Dank: Sie schlafen!

Gemeinsames Spiel

Nachahmung

Laura hat zusätzlich ADS

Atomoxetin

Es geht aufwärts!

Anstrengende Weihnachtslieder

Gelernte Romantik

Was ist überhaupt romantisch?

Tanzabend

In die Augen schauen

Kurzurlaub nur zu zweit

Unser zehnter Hochzeitstag

Wie schön! Die Kinder spielen zusammen

Laura und Sven helfen mit

Bobs Tricks, um den Alltag zu verkraften

»Das ist also süß?«

»Haben wir auch Fleisch im Gemüsebeet?«

Laura ist großzügig

Nicht so viel auf einmal!

Zu hohe Ziele

Individuelle Förderung

Routinen helfen Laura

Ein Teelöffel ist nicht für Joghurt

Die Brotdose

Enger Blickwinkel

Smiley-Liste zur Belohnung

Angst vor der Mikrowelle

Die Kommunikation bleibt besonders

Keine Scherze!

Eine ganz »normale Großfamilie« – beinahe

ABA: Lernmethode für autistische Kinder

Unsere Reaktion ist Teil des Problems

Autistische Kinder lernen anders

Die Vorlieben des Kindes nutzen

Bei jeder Situation drei Punkte beachten

Die Eltern als »Spaßmaschine«

Wie es weitergeht

Jedes Ding hat seinen Platz

Warum wir nur »ABA-light« machen

Beziehungsaufbau

Verhaltenstherapie allein reicht nicht

Recovery

Ich sehe was, was du nicht siehst

Heute ist vieles leichter

Ich albere mit Laura herum

Bob spielt immer öfter mit den Kindern

Sven ist »Forscher« oder »Indianer«

Liebevoll autistisch

Schön verzierte Briefe

Fotografieren

Laura hilft mit

Ich erhole mich immer mehr

»Das war nicht Bups, sondern Bong«

Genug Kraft für den Alltag

»Der lügt immer – ich glaub, der hat ’nen Scherz gemacht«

Es braucht alles seine Zeit

Was fehlende Empathie im Alltag bedeutet

Bob bemerkt alle »Fehler« automatisch

Sein Ärger ärgert mich

Nichts bemängelt bedeutet Lob

Unausgesprochen ausgesprochen

Erklären statt erwarten

Bob: »Nun freu dich doch einfach!«

Drehbuch statt »Feeling«

Einfältig im besten Sinne

Treuherzig und ehrlich

Der Wahrheit verpflichtet

»Ich geb’ mir immer Mühe«

Kommunikative Sackgassen

Ich finde den Pfad nicht

Ich male mein »Kräftefass« auf

Auch Bob erkennt nun die Sackgasse

Fehlende Feinabstufung

Feinabsprachen sind nicht mein Ding

Zwischen den Stühlen

Hilfreiche Ernährungsumstellung

»Ich weiß, dass du mich liebst«

Unsichtbar autistisch

Dankschreibung

Service

Stationen auf dem Weg zur Diagnose und Therapie

Hilfreiche Adressen

Empfehlenswerte Bücher

Autorenvorstellung

Sachverzeichnis

Impressum

Mein Mann ist unsichtbar autistisch

Als wir uns ineinander verliebten und uns später das Jawort gaben, wussten weder Bob noch ich, dass er Autist ist. Mir gefiel seine bodenständige, verlässliche Art. Er war nicht nur intelligent, sondern auch sehr anziehend. Dass wir so unterschiedlich sind, als kämen wir von zwei Planeten, konnten wir beide damals noch nicht ahnen.

Bob: meine große Liebe

Ich kannte Bob schon seit Jahren aus der Gemeindejugend. Nachdem ich alt genug war, an den Aktivitäten der Jugend teilzunehmen, hatte ich schon genügend Zeit gehabt, ihn auch bei Freizeiten kennenzulernen. Ich schätzte seine gerade, ehrliche Art und seinen Tiefgang. Dazu kam sein ausgeprägter Sinn für soziale Gerechtigkeit und seine starken moralischen Überzeugungen.

Bob war zielstrebig, bodenständig, selbstständig, sachlich, verlässlich, gut organisiert, ordentlich, gepflegt, systematisch, produktiv, intelligent, fleißig und auch höflich-korrekt, ohne leichtfertig mit Mädchen zu flirten. Darüber hinaus hatte bzw. hat er eine äußerst stattliche Figur, die nicht nur auf mich anziehend wirkte. Doch er merkte es nicht, wenn ein Mädchen versuchte, mit ihm zu flirten, denn er konnte diese Signale nicht richtig deuten.

Vielleicht ist das der Grund, weshalb wir monatelang zaghafte Signale austauschten, bevor wir beschlossen, unsere Zuneigung in Worte zu fassen. Er wusste nicht, ob ich ernsthaftes Interesse an ihm hatte; und ich war – nachdem ich meinte, deutliche Signale gegeben zu haben, – wiederum irritiert von seiner Zurückhaltung. Das war unser erstes Missverständnis.

Seine kräftige Statur und der unbewegliche Gesichtsausdruck(aufgrund der eingeschränkten Mimik) waren wohl auch ein Grund, weshalb er – bevor wir uns kennenlernten – eine Zeit lang bei Schuldiskos als Türsteher tätig war. Ihn lockten weder die vielen Menschen, noch das Tanzen (er nennt es »Rumzappeln«), geschweige denn die Musik. Durch seine »unabhängige Art« war er dafür prädestiniert, für Ordnung zu sorgen und die Party auf »seine Weise« pünktlich auf die Minute zu beenden: Deckenlicht an, Stromzufuhr für Musik aus. Dafür musste er nicht einmal den lauten und vor allem menschengefüllten Saal betreten. Das konnte er ganz einfach vom Hausmeisterbüro erledigen. Er hörte aus der Ferne nur den Aufschrei der Leute aus dem Saal. Da die Uhrzeit, zu der die Disko enden sollte, doch vorher bekannt war, kann er die »überraschte Reaktion« der anderen bis heute nicht verstehen.

Immer auf die Minute pünktlich

Überhaupt war und ist Bob immer sehr pünktlich. Er kann seine Aktivitäten teilweise minutiös planen. Selbst wenn er hunderte von Kilometern durch Deutschland fährt, kann er meist genau vorhersagen, wann er wo sein wird. Kurz nach unserer Hochzeit waren wir zu einer größeren Feier bei Freunden eingeladen. Um die Badnutzung der Übernachtungsgäste möglichst unproblematisch zu gestalten, wurde kurz gefragt, wie lange jeder im Bad brauchen würde. Als Bob »sieben Minuten« sagte, mussten wir natürlich lachen. Kaum einer gibt es auf die Minute genau an. Doch das hatten wir doch gefragt, oder? Für ihn war es mal wieder eine Situation, in der er nicht wusste, warum gelacht wird, wenn er einfach eine Frage beantwortet. Und exakt nach sieben Minuten kam er aus dem Bad heraus. Warum wurde schon wieder gelacht?

Natürlich kommt seine Zeitplanung nur hin, wenn keine andere Person mit im Spiel ist. Andere Menschen sind stets ein Unsicherheitsfaktor für ihn. Sie sind fast nie pünktlich. Und mit pünktlich meint er auch pünktlich und nicht zwei Minuten zu spät. Das ist eben nicht pünktlich. Auch die Deutsche Bahn ist nach seiner Definition so gut wie immer unpünktlich und für ihn demzufolge ein äußerst schlecht kalkulierbares Transportmittel. Er verlässt sich lieber auf sich selbst.

Wenn er einmal mit jemandem verabredet ist, der es mit der Zeit nicht so genau nimmt, muss er sich entscheiden zwischen seinem überaus starken Drang zur Pünktlichkeit und der Erwartung der anderen Person, diesen Drang einfach beiseite zu schieben.

Nach der Schule kam seine Zeit bei der Bundeswehr. Sie begann mit dem Maßnehmen. »Sie können jetzt ausatmen«, wurde ihm gesagt. Seine Antwort war: »Hab’ ich schon.« Über diese Begebenheit kann er heute noch lachen. Manchmal schwärmt er heute geradezu von der Zeit bei der Bundeswehr. Da war alles so klar strukturiert, einheitlich, eindeutig und ohne, dass man immer überlegen musste, was derjenige denn nun wirklich meint. Wenn ein Befehl gebrüllt wurde, so war der auch so gemeint. Es gab dabei keinen »Hintergedanken«, keine »Gefühlsebene«, kein »zwischen den Zeilen lesen«, auf das man Rücksicht nehmen musste. Jeder Spint hatte dieselben Maße, war gleich eingeräumt und es gab nichts Überflüssiges. Der Tag war klar geregelt und jeder wusste, was er zu tun hatte. Sogar das Merken der Namen war nicht erforderlich, denn alle trugen ein Namensschild. Eigentlich die »Welt«, in der er sich am ehesten zuhause fühlen konnte. Doch so gut kannte er sich damals selbst noch nicht.

Zuerst bewunderte ich seine Vorgehensweise bei Problemen und fand ihn nett. Er war immer sehr beständig in allem, was er tat, und flippte als junger Erwachsener nie aus. Auch hatte er keine Kumpels, mit denen er sich ständig treffen wollte; und weder Fußball noch eine andere Sportart interessierten ihn.

Mir gefiel sein »trockener Humor«

Außerdem war er oft ungewollt witzig, was wohl damit zusammenhing, dass seine Denkstrukturen so anders sind als unsere. Wenn er Redewendungen oder gebräuchliche Phrasen wortwörtlich auslegte, so wirkte das wie trockener Humor. In Wirklichkeit war es von ihm oftmals keineswegs als Witz oder humorvoll gemeint, sondern einfach das, was er als Erstes dachte. Mit den Jahren lernte er mehr und mehr, dies gezielt einzusetzen und andere damit zu unterhalten. Doch es gibt nach wie vor Situationen, in denen er nicht weiß, warum die anderen lachen.

Auf die Frage »Wie komme ich am schnellsten aus diesem Gebäude raus?« zeigte er stumm auf das Fenster. Für uns ist das ein Grund zum Lachen. Für ihn ist es eine inhaltlich korrekte Antwort und die nächstliegende Möglichkeit, wenn er auch aus dem Kontext nach und nach erkannte, dass die Frage vermutlich auf eine andere Antwort abzielte.

Bob versteht alles nur wortwörtlich

Ihm fallen ständig unpräzise Äußerungen auf, die er jedoch früher immer für sich behielt. Es kam oft einfach nicht gut an oder wurde als Spitzfindigkeit interpretiert. So muss er für jeden Satz einzeln lernen, wie er wirklich gemeint ist, und wann es angebracht ist, auf die »Fehler« hinzudeuten. Er weiß ja mittlerweile im Normalfall, wie etwas gemeint ist, und die meisten Gedanken behält er für sich. Aber manchmal sagt er mir, was ihm spontan in den Kopf kommt. Bei »Bergrettung« denkt er, »Na, wie viele Berge die wohl schon gerettet haben?« Bei »Klangschalenmassage«: »Wäre eigentlich interessant zu sehen, ob die so eine Schale damit wirklich weich kriegen.« Auch »Bahnhofsmission« ist für ihn logischerweise »die frohe Botschaft für Bahnhöfe«. Als wir an einem Bus mit der Aufschrift »DLRG Wasserrettung« vorbeifahren, überlegt Bob: »Was die wohl mit dem geretteten Wasser machen?«

Es wird ernst

Lange Zeit war Bob für mich einfach nur ein toller Kumpel. Doch langsam wuchs die Freundschaft, wir empfanden mehr und scherzten miteinander. Irgendwann hatten wir eine Unterredung und Bob meinte, wir sollten doch diese Scherze besser lassen. Das wäre vielleicht nicht so angemessen. Ich war erst bestürzt, da ich ihn doch so gern hatte. Doch es war unser erster gemeinsamer Schritt. Denn durch den Wegfall des Kumpelhaften war der Weg frei für eine echte Beziehung. Die begann beim »Spiel des Wissens«. Wenn wir damals gewusst hätten, was wir alles nicht wussten!

Zuerst einmal wusste ich nicht, dass Bob sonst nie Gesellschaftsspiele spielt. In seiner Kindheit hatte er das getan, wobei er aber stets die Rollen von allen drei oder vier Spielern übernommen hatte. Bei Monopoly, »Öl für uns alle« oder Mau mau. Das mit der Taktik hatte sich dann natürlich erledigt, aber es ging dabei auch hauptsächlich darum, sich irgendwie zu beschäftigen und nicht darum, mit anderen Menschen etwas zu spielen.

Natürlich gewann er beim Spiel des Wissens haushoch. Aber das war mir egal. Ich wollte einfach nur bei ihm sein und endlich das klären, was die letzten Monate immer im Raum stand.

Der Rest meiner Familie schaute in einem anderen Raum einen Film, doch wir beide hatten an jenem Tag so gar kein Interesse daran. Wir hatten etwas zu klären. Und es wurde geklärt. Die anderen waren schon ins Bett gegangen, da nahm er zum ersten Mal meine Hand und unser gemeinsamer Weg begann. Wir waren befreundet. Ich war fast achtzehn und er dreiundzwanzig. Meine Eltern fanden am nächsten Morgen einen Zettel: »Mich hat jemand gern und ich ihn.«

Wir wollten uns in aller Ruhe kennenlernen, waren uns aber auch einig, dass unsere Freundschaft nur so lange besteht, wie eine Hochzeit nicht ausgeschlossen ist. Als Erstes sahen wir gemeinsam unsere Fotoalben durch und erzählten uns gegenseitig von unseren Vorlieben und Abneigungen. Ich machte sogar eine Liste, in der wir Noten für verschiedene Gerichte vergaben. Wir sind eben beide sehr systematisch.

Ich war unglaublich verliebt und dachte in den ersten Wochen unserer Beziehung fast ununterbrochen an ihn! Ich musste mich sehr zusammenreißen, um mich auf die Schule zu konzentrieren. Es war eine unkomplizierte Freundschaft und da ich ein anhänglicher Typ bin, vermisste ich ihn die Woche über unheimlich. Da wir entschlossen waren, eine gute Beziehung auf solider Grundlage zu führen, lasen wir gemeinsam etliche Bücher über Beziehung, Familie und alles, was uns wichtig schien, um später nicht unnötig viele Beziehungsprobleme zu haben.

Heiratsantrag

Nach über einem Jahr fester Beziehung sehnten wir uns sehr danach, uns nicht mehr trennen zu müssen. Das erste halbe Jahr in der Ausbildung zur Kinderkrankenschwester hatte ich hinter mir, als wir uns verlobten. Als Bob mich fragte, ob ich ihn heiraten will, musste ich vor Glück und Rührung weinen, vergaß aber, eine Antwort zu geben.

Das war für ihn eine Qual, denn er wusste meinen Gefühlsausbruch nicht zu deuten. Er hielt es für möglich, dass ich Nein sagen würde. Doch das erfuhr ich erst im Nachhinein, als wir schon Jahre verheiratet waren. Er fragte also einige Minuten später nochmal nach, und endlich gab ich die ersehnte Antwort. Ich war verlobt und sehr glücklich!

Auch die Verlobungszeit war unkompliziert. Ich war erleichtert, da ich viele Beziehungen kannte, in denen es stundenlange Gespräche, Meinungsverschiedenheiten und scheinbar unüberbrückbare Hindernisse gab. – Sollten wir da eine Ausnahme bilden?

Bob war in dieser Zeit relativ entspannt. Er war zwar ein sehr zielstrebiger Mensch und es kam auch durch, dass er den Weg, den er für richtig hielt, meist sehr direkt – manchmal auch stur – ging, aber dass dies nur ein Hauch dessen war, was an »Besonderheit« in ihm schlummerte, war für mich in keiner Weise ersichtlich. Ein Beziehungsmensch war er auf jeden Fall nicht. Das merkte auch ich sehr früh. Deutlich war auch zu spüren, dass er große Probleme mit der Kraftdosierung hatte. Er konnte nicht spüren, wie viel Druck er auf etwas (nicht nur Dinge) ausübte. So gingen unter seinen Händen Klappstühle, Spaten, ein Ruder, ein Zimmermannshammer, Schraubenzieher, eine Säge, verschiedene Werkzeuge und noch so einiges einfach kaputt. Seine Erklärung dafür war stets, dass das alles »Billigzeug« war. Bei einigen Sachen stimmte das sicherlich auch. Wir hatten den Eindruck, dass er einfach noch nicht so viel Feingefühl entwickelt hatte.

Schon damals sagte er mir, dass er »gefühlsarm« ist. Da ich selbst sehr gefühlvoll bin, konnte ich mir aber überhaupt nicht vorstellen, wie wahr diese Aussage ist und wie sehr ich darunter leiden würde. Ich dachte, er würde schon auftauen, wenn wir liebevoll miteinander umgehen.

Bob

Warum ich Corinna geheiratet habe

Zunächst: Die Verheiratung an sich war nicht infrage gestellt und damit Ziel. Die Kriterien für die Partnerwahl waren überschaubar: Verständnisvolles und pragmatisches Wesen innerhalb der Teilmenge, welche dasselbe Lebensziel verfolgt, nämlich den eigenen Willen Gottes guter Führung zu unterstellen. Ein Verliebtsein war auch durchaus vorhanden.

2000: zu zweien und doch oft allein

Nach der Hochzeit hatten wir ein paar Tage Zeit, bevor die Hochzeitsreise losgehen sollte. Es gab Berge von Geschenken, die wir ganz in Ruhe auspackten. Organisatorisch waren wir ein super Team. Die Rollenverteilung war klassisch. Wir wurden uns schnell einig, wer was übernimmt.

Doch schon in den ersten Wochen nach der Hochzeit kam es vor, dass ich mich von Bob allein gelassen, nicht beachtet und zurückgesetzt fühlte. Ich fühlte mich teilweise gar nicht wahrgenommen – und war es oft wohl auch nicht. Er brauchte nun viel Kraft, um von einem Alltag der Ruhe auf einen Alltag der Zweisamkeit umzulernen. So oft jemandem in seiner Wohnung zu begegnen, so oft (bewusst!) zurückzulächeln, auf eine Frage zu reagieren und sich in seinem routinierten Alltag mit einer zweiten Person zu arrangieren, war neu für ihn.

Die Zeichen seiner Liebe in Form von Blumen, Gedichten oder anderen Aufmerksamkeiten blieben ebenfalls abrupt aus. Die Zeit des Werbens war vorbei. Dieses Kapitel schien für ihn abgehakt zu sein. Wir waren ja jetzt verheiratet. Für ihn war klar, dass wir uns liebten. Eine bekannte Tatsache zu erwähnen oder für ein bereits erreichtes Ziel Kräfte zu investieren, ist für Bob nicht sinnvoll. Und damals wusste er auch nicht, dass es für mich weiterhin wichtig war! So, wie es nicht sinnvoll ist, bei einem Computer eine Information zweimal einzugeben, so brauche ich meinem Mann ihm bereits bekannte Fakten auch nicht zweimal zu sagen. Bin ich einmal von einer Sache so begeistert und emotional erfüllt, dass ich das tue, so erinnert er mich sachlich: »Das sagtest du bereits.« Doch seitdem er weiß, dass es mein innerstes Bedürfnis und oft Ausdruck meiner tief empfundenen Freude ist, bemüht er sich, diese Rückmeldung für sich zu behalten.

Die ausbleibenden Geschenke wären für mich kein Problem gewesen, wenn er die emotionale Zuwendung nicht auch drastisch reduziert hätte. Die brauchte ich sehr dringend. Doch das Verhalten in einer Ehe hatte er nirgendwo lernen, trainieren, wirklich abgucken oder nachmachen können. Das Umwerben mit einer Blume war eine recht leicht zu erlernende Geste, die in jedem Film oder in der Öffentlichkeit vorkam und so gut wie kein Einfühlungsvermögen erforderte. Doch waren meine Bedürfnisse komplexer und situationsbedingt, so waren weitaus größere Anforderungen an seine emotionale Kompetenz gestellt.

Gefühlsarm, aber sensorisch überempfindlich

Er hatte sich zwar schon früher als gefühlsarm bezeichnet und es wurde langsam deutlich, dass meine emotionale Bandbreite wesentlich weiter und intensiver war als seine; doch wie groß der Unterschied wirklich war und wie groß damit auch unsere unterschiedlichen Bedürfnisse waren, ahnten wir beide damals nicht. Wir dachten, der Unterschied wäre so groß, wie er eben beim Durchschnittsmann und der Durchschnittsfrau ist. Männer sind meist sachlicher und Frauen emotionaler. Bob kennt Gefühle, doch diese sind meist im sensorischen Bereich zu finden. Alle Reize, die von außen kommen und die man sehen, hören und mit der Haut fühlen kann, nimmt er teilweise extrem stark wahr. Sensorisch ist er überempfindlich. Bei Gefühlen seines eigenen Körpers, auf der emotionalen und Beziehungsebene ist das anders. Manchmal hat er ein Gefühl, doch es ist etwa so leise wie unser Herzschlag, den wir im normalen Alltag auch nicht wahrnehmen können. Er »geht unter«. Manchmal kann er leise Ansätze von Gefühlen spüren, doch nur, wenn er sich bewusst darauf konzentriert und seine ganze Aufmerksamkeit darauf fokussiert. Vielleicht ein wenig so, wie wir unseren Herzschlag hören, wenn wir uns zum Schlafen legen. Doch für viele Gefühle fehlt selbst bei der größten Anstrengung die Wahrnehmung. Und er kann sie sich auch nicht mit seiner Intelligenz greifbar machen. Hiervon sind Frust, Ärger, Ekel und Platzangst ausgenommen. Da positive Gefühle, wie Freude und Begeisterung, kaum zu spüren sind, überwiegen diese negativen Emotionen oft im inneren Erleben.

Sensorische Überreizung

Seine überempfindlichen Sinne führen oft zu gereizten Reaktionen, die wir nicht nachvollziehen können. Oft wirkt es so, als würde er einfach seinem Temperament freien Lauf lassen und keinerlei Bemühungen anstellen, sich um einen freundlichen Umgang zu bemühen. Die meisten Menschen, die eine Situation als zu belastend empfinden, entziehen sich dieser, doch er kann ja nicht aus seinem Körper heraus. Kurzfristig mag jeder eine gewisse Toleranz haben, um Schmerzen wegzustecken und eine Überreizung zu ertragen. Doch Menschen mit Autismus haben oft nicht nur einen überempfindlichen Sinn, sondern mehrere. Viele Reize sind so unangenehm, als würde plötzlich jemand unangekündigt den Lautstärkeregler bis zum Anschlag aufdrehen.

Wir kennen auch eine Überforderung durch Gefühle. Wenn man z.B. gerade einen nahen Angehörigen verloren hat, ist man emotional sehr belastet und wird nicht viel Kraft für Dinge haben, die nebensächlich auf der »Sachebene« sind. Wird dann eine nebensächliche Anforderung nach der anderen an uns gestellt, so kann es sein, dass wir unfreundlich reagieren, obwohl wir es uns anders wünschen würden. Doch erklären wir unsere Situation, so stoßen wir in der Regel auf Verständnis, da andere verstehen können, dass wir unter diesen Umständen natürlich nicht so belastbar sind. Sie können sich in unsere emotionale Belastung hineinversetzen. Sie können verstehen, dass unsere Kräfte am Ende sind. Doch Menschen mit Autismus kommen vielleicht gar nicht auf die Idee, ihre Situation einem anderen Menschen zu erklären, da ihnen der Gedanke, dass die Kommunikation darüber zu Verständnis führen könnte, nicht automatisch kommt. Haben sie bezogen auf eine Situation gelernt, dass dies hilfreich war, führt dies nicht automatisch zu dem intuitiven Verständnis, dass dies auch in anderen Situationen hilfreich sein kann. Wenn ein Mitmensch versucht, seine Situation einem Menschen mit Autismus zu erklären, so fühlt dieser wiederum nicht intuitiv mit seinem Gegenüber mit. Er kann eine gelernte Reaktion abrufen, aber er kann nicht intuitiv spüren, was wir brauchen.

Bob

Wie soll man in schwersten Turbulenzen freundlich bleiben?

Jetzt muss ich das mal aus meiner Sicht schildern und gebe Ihnen einen Einblick, wie sich sensorische Überreizung als Betroffener anfühlt: Stellen Sie sich vor, Sie fliegen in einem Flugzeug mit vielen anderen Menschen. Der Flug gerät in schwerste Turbulenzen, die eine unbeschadete Landung unwahrscheinlich erscheinen lassen. Auf diese Tatsache werden Sie mit Sicherheit fokussiert sein! Damit nicht genug, dass Sie gestresst sind von der Frage, ob und wie Sie Ihr Ziel erreichen, sind alle anderen Menschen im Flugzeug unendlich entspannt und quaken Sie pausenlos von der Seite mit allen erdenklich unwichtigen Sachen voll (»Möchten Sie eine Zeitung?« »Fliegen Sie eigentlich öfter diese Strecke?« »Schöne Krawatte tragen Sie da!«). Wie lange werden Sie auf diese Fragen freundlich reagieren können? Hoffentlich bis zur Landung, denn sonst wird der Mitmensch brüskiert zurückschrecken und etwas sagen wie »Man wird ja noch fragen dürfen«.

Bob reagiert »gefühllos«

Es kam vor, dass mein Mann mich in sehr emotionalen Situationen überforderte, da er meine Belastung nicht mitfühlen konnte. Ich reagierte gereizt und fühlte mich im Recht, weil er in dieser so emotionalen Situation so »gefühllos« war und etwas Sachliches klären wollte, was meines Erachtens auch gut warten konnte. Mir wurde erst vor Kurzem bewusst, dass es andersherum ja oft genauso ist.

In Bezug auf seine sensorische Überempfindlichkeit war ich ja genauso »gefühllos« wie er in Bezug auf meine emotionalen Gefühle. Und ich hätte seinen Ekel bei schmierigen oder stinkenden Dingen ja auch mit Willensanstrengung nicht in dem Maße nachempfinden können. Ich konnte nur vom Kopf her Rücksicht darauf nehmen. Wir kannten die Intensität der Gefühle des jeweils anderen nicht und konnten daher die Überforderung auch schlecht nachempfinden. Wobei ich noch im Vorteil war, da ich seine Gefühle zumindest aus anderen Situationen ansatzweise kannte. Er dagegen kannte viele meiner Gefühle wie Trauer und Freude nicht wirklich.

Bob wollte mich gern glücklich machen. Ich wusste jedoch nicht, welche Anforderung es an ihn stellte, auf mein Bedürfnis nach Nähe und Zuwendung einzugehen. Denn seine Gefühle gingen ja so schnell unter, und er konnte sie selbst noch weniger wahrnehmen, wenn es so viele andere Dinge in seinem Blickfeld gab, die sein Bedürfnis nach Nähe aus seiner Wahrnehmung verdrängten.

Heute klingelt zweimal täglich sein Handywecker und erinnert ihn an sein vergrabenes Bedürfnis nach einer Umarmung. Aber vor allem an mein Bedürfnis nach seiner Nähe.

Bobs Welt ist überwiegend rational. Gefühle kann er kaum wahrnehmen. Alles Zwischenmenschliche belastet ihn. Er muss für jede soziale Situation lernen, wie man sich verhält. Diese gesellschaftliche Anpassung gelang ihm so perfekt, dass sein Autismus lange Zeit unsichtbar blieb.

Eingeschränkte Wahrnehmung

Ich habe einmal – leider erst sehr viel später – von einer Art »Teleskopblick« gelesen, was mir sehr hilft, die Wahrnehmung meines Mannes besser zu verstehen. Wo wir die Möglichkeit haben unseren Blickwinkel stufenlos groß oder klein zu stellen, schützt sich Bob vor der Überreizung durch den Fokus auf das Detail. Bei Bob ist der Blickwinkel wohl weiter als »nur« ein Teleskop, aber für einen Nichtbetroffenen kann der Blick durch ein Teleskop hilfreich sein, seine Wahrnehmung besser zu verstehen. Wenn Bob gedanklich mit einer Sache beschäftigt ist, so ist es für ihn geradezu ein Kraftakt, sich auf einen Dialog mit mir einzulassen; und der Versuch, es zu tun, ist schon ein Liebesbeweis.

Viele Frauen kennen diese Andersartigkeit in Zügen von ihrem Mann. Männer und Frauen haben nun einmal (wenn sie »durchschnittliche Gehirne« haben) verschiedene Blickwinkel und so dachte ich, dass jetzt eben die übliche Arbeit beginnen müsse. Die Arbeit an unserer Ehe. Ich wunderte mich nur, warum mir niemand gesagt hatte, dass die Schwierigkeiten in der Kommunikation zwischen Mann und Frau so immens sein würden.

»Teleskopblick«

Wenn die Wahrnehmung so stark eingeschränkt bzw. beschränkt ist, wie beim Blick durch ein Teleskop, so ergeben sich daraus verschiedene Belastungen: Man kann die Dinge, die außerhalb dieses Blickwinkels liegen, nicht wahrnehmen, die Dinge im Blickwinkel aber umso stärker. Das kann dazu führen, dass für andere scheinbare Kleinigkeiten einen unheimlich großen Stellenwert einnehmen; und wenn der Blick auf ein anderes Detail »geschwenkt« wird, die Bewertung wiederum sehr überraschend anders ausfallen kann.

Diese oft unerwarteten Änderungen seines Blickwinkels, seine überraschenden Entscheidungen und Meinungsänderungen stellten eine große Anforderung an unsere Beziehung, verwirrten mich häufig und machten auf so manche andere Person einen sehr befremdlichen Eindruck. Doch er konnte – wie jeder Mensch – immer nur in der jeweiligen Situation die Entscheidung treffen, die für ihn am sinnvollsten erschien. Und seine Entscheidung hing davon ab, worauf sein Fokus – sein »Teleskop« – gerade gerichtet war.

Hatte er sich z.B. vorgenommen, Geld zu sparen, so überlegte er schon morgens beim Brotschmieren, ob hier nicht eine Einsparmöglichkeit wäre. Er kam zu dem Schluss, dass es viel billiger wäre, wenn er einfach nur Kräuterbutter auf sein Brot schmieren würde (teils nahm er – wenn er sein Brot selbst schmierte – sogar nur noch Salz, weil das nicht schlecht werden kann und seiner Ansicht nach »fast« wie Salami schmeckte). Und da er beim Essen auch nicht unbedingt Abwechslung braucht, rechnete er im Kopf aus, wie viel er sparen könne bei dieser Änderung. In der gleichen Woche stellte er fest, dass ihm der Kaffee morgens so gar nicht mehr schmeckte, und der Fokus seiner Gedanken war auf eine bessere Kaffeemaschine gerichtet. Da er nicht lange fackelt, waren wir zwei Tage später stolze Besitzer eines super Kaffeevollautomaten. Kostenpunkt: 700 Euro. Er war ein wenig stolzer als ich auf diese Errungenschaft, denn ich musste erst einmal gedanklich diesen Sprung von »Aufschnitt einsparen« zu diesem Luxusteil schaffen. Nachdem ich ihn vollzogen hatte und mich freute, dass es nun etwas gab, worauf er sich freuen konnte, ließ ich mir den Latte Macchiato schmecken.

Allerdings kann die Wahrnehmung so schwankend sein und so von der Tagesform abhängig, dass es kaum möglich ist einzuschätzen, ob etwas von einem Menschen mit Autismus gar nicht oder besonders stark aufgenommen wird. Ist nichts Konkretes fokussiert, wird so viel aufgenommen, dass es eventuell zu einer völligen Überlastung und Überreizung führt. Denn dass etwas vom Gehirn »aufgenommen« wird, heißt damit nicht auch zwangsläufig, dass es auch »verarbeitet« werden kann!

»Habe ich heute Abend eigentlich schon gegessen?«

Obwohl Essen und Trinken zu den wenigen Dingen gehören, bei denen Bob positive Gefühle wahrnehmen kann, sind diese jedoch anscheinend nicht so ausgeprägt wie bei uns, weshalb er in diesem Punkt meist extrem anspruchslos ist. Wenn er etwas nicht mag, so ist seine Abneigung dann wiederum so groß, dass er das Essen verweigert. Zum Beispiel isst er (zuhause) keine Suppen, da er sie aufgrund seiner Ungeschicklichkeit nicht auf dem Löffel balancieren kann. Auch Käsefäden, die sein Gesicht unerwartet berühren, große Salatblätter, Dinge, die mit den Händen zu essen sind oder optisch unangenehm wirken, weil die Farben nicht eindeutig getrennt sind, wecken solches Unbehagen in ihm, dass er lieber trocken Brot essen würde. Auch an einer »Hot Dog Station« geht er lieber hungrig vorbei.

Während seines Studiums wurde er mit Frühstück und Mittag in der Fachhochschule versorgt. Um das Abendbrot »abzuhaken«, besorgte er sich jede Woche eine Packung Brot und eine Packung Salami. Da es immer die gleiche war, wusste er von vornherein, dass er damit genau auskommt und nicht einmal Reste hat. Der Ausgang war vorhersehbar und damit ein Unsicherheitsfaktor weniger. Damit war das Thema ohne große Überlegung erledigt. Aber der Aufschnitt bleibt ja ein gewisser Unsicherheits- und damit ein Stressfaktor, da er schlecht werden kann. »Eigentlich brauche ich keinen Aufschnitt, der hat ja keine Funktion« meinte er mal.

Für ihn gilt beim Essen die Devise: »Hauptsache es ist warm, macht satt und bleibt drin.« Das traf ja meistens zu.

Kaum ein Gefühl für Hunger und Sättigung: Ich: »Habe ich einen Hunger!«

Bob: »Ich glaube, echten Hunger kennen wir hier in Deutschland gar nicht. Das ist wohl eher die Lust auf etwas.«

Ich: »Nein, das meine ich eben nicht. Ich spreche nicht von Appetit, sondern mein Magen knurrt und ich werde schon zitterig. Kennst du das nicht, wenn dein Magen knurrt?«

Bob: »Nein, ich hör’ das nur manchmal bei den anderen in der Runde.«

Also kannte er das Gefühl des Hungers nicht so intensiv wie ich und konnte es bei anderen so auch schwerlich ernst nehmen. Genauso musste es in Bezug auf andere Gefühle sein. Irgendetwas sagte ihm zwar schon, dass er jetzt was essen müsse, aber er konnte nicht immer genau sagen, was es war. Es kam zwar auch sehr selten vor, dass er Hunger äußerte, aber oft ging das Gefühl einfach unter. Auch die Menge musste ihm seine Erfahrung sagen. Jahrelang aß er zu viel und merkte immer erst an den Bauchschmerzen danach, dass er die eintretende Sättigung wieder nicht hatte wahrnehmen können. Irgendwann sagte Bob, heute hätte ihm der Magen geknurrt, aber er konnte mir nicht sagen, ob er es gefühlt oder nur gehört hatte.

Ich bin dann mal weg: Bob schaut mir zu, während ich den Einkaufszettel einpacke und meine Jacke überziehe. Ich verabschiede mich mit den Worten: »Ich bin dann mal weg.«

Bob: »Ja? Sieht man gar nicht.«

Bob erledigt alles am liebsten sofort

Bob kann nur eine Sache zurzeit machen. Und da er sehr pflichtbewusst ist, sind immer Dinge in der Wohnung zu erledigen, die seine Wahrnehmung beanspruchen. Tendenziell ist das bei Männern und Frauen ja sehr unterschiedlich. Der »typische Mann« lässt sich nicht gern stören, wenn er eine Arbeit begonnen hat, und wohl die wenigsten lieben es, ständig von der Seite angequatscht zu werden, wenn sie gerade Zeitung lesen. Doch bei ihm ist die Zielstrebigkeit extrem ausgeprägt und es gibt zwischen den Zielen auch kaum eine Lücke! Denn er ist mit einer Sache nicht erst gedanklich beschäftigt, wenn er sie begonnen hat, sondern er hat sie in dem Moment begonnen, in dem er sich gedanklich damit beschäftigt. Kommt eine Frage auf, so muss er die Entscheidung, wie die Frage gelöst wird, auch fast immer gleich treffen.

Später ist kein definierter Zeitpunkt: Ich: »Du musst immer alles sofort entscheiden.«

Bob: »Ja, wann denn sonst?«

Ich: »Na, später!«

Bob: »Später ist kein definierter Zeitpunkt und kann zu spät sein.«

Ungeklärte Fragen, unerledigte Dinge und Aufgaben kann er nicht gut liegen lassen. Auch ist er ein so pflichtbewusster Arbeitnehmer, dass er ab dem Zeitpunkt des Aufstehens eigentlich schon auf der Arbeit ist. Und ist sein Fokus auf die Arbeit gerichtet, so ist alles, was ihn von diesem Ziel abhält ein Störfaktor. Einer davon bin ich. Hat er den Arbeitstag hinter sich gebracht, so sind andere Fragen und Aufgaben aufgekommen. Die gilt es abzuarbeiten. Einen Moment ohne Aufgaben gibt es fast nicht. Sein Blick ist immer auf etwas gerichtet und Menschen mit ihren Bedürfnissen stören ihn dann extrem. Zumal er viele dieser Bedürfnisse damals nicht kannte, geschweige denn mit seinem Gegenüber mitfühlen konnte und auch nicht wusste, dass seine extreme Zielstrebigkeit dazu führte, dass ich mich zurückgesetzt fühlte. Doch solange die Dinge nicht erledigt sind, belasten sie ihn vielleicht so stark, wie uns eine riesige Leuchtreklame im Wohnzimmer stören würde. Eine ziemlich hässliche.

Mein Mann geht auf Distanz

Bisher hatten wir uns in der Woche immer nur stundenweise gesehen, und unser Bedürfnis nach der Nähe des anderen war nie ausreichend gestillt gewesen. Nach der Heirat kehrte der Alltag ein, und wenn wir auch noch verliebt und glücklich miteinander waren, so stellte sich doch eine gewisse Gewöhnung ein. Mein Mann suchte meine Nähe nicht mehr so wie früher, sondern brauchte einen gewissen - recht großen - Abstand. Auch kommunizierte er nicht mehr so bewusst wie früher mit mir. Er verhielt sich »normal«. So, wie es für ihn normal war. Doch wenn er sich »natürlich« verhielt, ohne bewusst den Blick auf die anderen zu richten, so waren die anderen auch nicht in seinem Blickwinkel. Und wenn er sich »entspannte« (soweit er überhaupt in der Lage ist, sich zu entspannen) und zuhause fühlte, so war sein Verhalten oft so, als wäre ich gar nicht da.

Er hält alle Höflichkeitsfloskeln für unnötig