Im Banne Der Liebe - Barbara Cartland - E-Book

Im Banne Der Liebe E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Gisela Ferrans trifft mit ihrem Vater, Paul Ferrans, einem begnadeten Violinisten in Wien ein. Der Tod der Mutter hatte den Vater so erschüttert, dass sie seit zwei Jahren auf Reisen waren und der Vater aber wenige Konzerte gegeben hatte. Sie finden sich in einer schwierigen finanziellen Lage und Paul Ferrans hofft, dass er in Wien, das er seit seiner Jugend liebt, sein Können wieder unter Beweis stellen kann. Es ist die Stadt der Musik und der Liebe wo Johann Strauß und seine Walzer gerade einen riesigen Erflog feiern. Gisela, die sehr jung und hübsch ist trifft den mysteriösen und sehr gutaussehenden Miklos Toldi, der ihr aus einer misslichen Lage hilft. Gisela und Miklos treffen sich wieder und Gisela tanzt mit ihm ihren ersten Walzer. Wird Miklos Geheimnis das Ender der jungen Beziehung bringen? Und wird Paul Ferrans in Wien sein Künstlerruhm und seine Lebensfreude wieder finden? Und welche Rolle wird Lady Milford dabei spielen?

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1

»Ich bin müde, Gisela.«

»Dann musst du zu Bett gehen, Papa Du musst dich einfach mal richtig ausruhen.«

»Das habe ich auch vor.«

»Ich bin sicher, dass du hier draußen im Wald gut schlafen wirst.«

Die große, dicke Besitzerin des Gasthofes, die gerade in diesem Moment mit einer dampfenden Kaffeekanne zur Tür hereinkam, hörte noch den letzten Satz und wandte sich daraufhin um.

»Sie werden nicht aufwachen, Herr Ferrans Ich habe Ihnen ein Zimmer gegeben, das nach hinten hinaus liegt. Es ist ganz unmöglich, dort etwas von dem zu hören, was vorne vorgeht, selbst wenn meine jungen Gäste laut werden sollten. Ich werde doch nicht dulden, dass man Ihren Schlaf stört.«

»Sie waren schon immer so freundlich, Frau Bubna«, gab Paul Ferrans zur Antwort.

Die Wirtin stellte die Kaffeekanne auf den Tisch und lächelte ihn wohlwollend an Sie machte einen freundlichen, fast mütterlichen Eindruck.

»Ich werde nie vergessen, was für ein schlaksiger junger Mann Sie doch waren, als ich Sie das erste Mal sah. Ein neuer Student, der eher furchtsam den Dingen entgegensah, die ihn erwarteten Aber als ich Sie dann spielen hörte «, sie warf ihre Arme hoch, » da wusste ich, dass Sie ein Genie sind.«

»Sie waren die Einzige, die das damals erkannt hat.«

»Ich habe mich noch nie geirrt«, sagte Frau Bubna und drohte scherzhaft mit dem Finger »Noch nie! Und bei Ihnen hatte ich sowieso keine Möglichkeit, mich zu irren."

Gisela klatschte in die Hände.

Sie wusste, es machte ihren Vater glücklich, solche Worte zu hören Besonders, da dieses Lob in seinem geliebten Österreich an ihn gerichtet wurde, wo er doch an der Universität zu Wien studiert hatte.

Während der ganzen Anreise konnte er über nichts anderes reden als über die Leute, die so freundlich zu ihm gewesen waren, und wie sehr er doch hoffe, sie alle noch gesund anzutreffen.

Sie waren am frühen Nachmittag in Wien eingetroffen, nach einer langen, ermüdenden Bahnfahrt, die, wie es schien, kein Ende nehmen wollte.

Mit einer Kutsche waren sie aus der Stadt hinausgefahren, hinauf in den Wienerwald, wo der Gasthof lag, von dem Paul Ferrans glaubte, dass seine Besitzer ihn auch nach fünfundzwanzig Jahren noch willkommen heißen würden.

Gisela hatte schon befürchtet, das Haus konnte geschlossen sein oder den Inhaber gewechselt haben. Das wäre eine große Enttäuschung für ihren Vater gewesen.

Doch als er Frau Bubna seinen Namen nannte, dauerte es nur einen Moment, bis sie ihn umarmte und ausrief.

»Das ist ja Paul, mein dürrer, kleiner Engländer, der wie ein Engel die Violine spielen konnte und sich doch so vor Wien gefürchtet hat. Willkommen in Wien, herzlich willkommen.«

Danach wurde von den alten Zeiten geplauscht, wurden Trinksprüche ausgebracht und Neuigkeiten über Bekannte ausgetauscht, deren Namen für Gisela aber keine Bedeutung hatten.

Sie war zufrieden, einfach zuzuhören, und es genügte ihr zu wissen, dass sich ihr Vater besser zu fühlen schien und glücklicher war als jemals nach dem Tod ihrer Mutter.

Seit zwei Jahren wanderten sie jetzt schon von Ort zu Ort. Nirgendwo ließen sie sich nieder, und erst als ihr Geld zur Neige ging, weil der Vater so wenig verdiente, hatte er gesagt

»Lass uns nach Wien gehen. Ich wollte schon immer nach Wien zurückkehren, doch deine Mutter zog es vor, in Frankreich zu leben.«

Ihre Mutter war es auch gewesen, die sich um alles gekümmert hatte in den vergangenen Jahren. Mochte ihr Mann auch spielen wie ein Engel  - und er spielte für seine Frau und seine Tochter genauso brillant und mit ebenso großem Einsatz wie vor einem vollbesetzten Theater - so machte er sich doch kerne Gedanken darüber, dass die Familie auch essen musste.

Paul Ferrans war in Paris gefeiert worden. Bis der Deutsch-Französische Krieg ausbrach und die Deutschen einmarschierten, gab es für die Familie keinerlei finanzielle Sorgen. Nun aber verließen alle, die es sich leisten konnten, Paris so schnell als möglich

Kurz nach Kriegsbeginn verstarb seine Frau unter tragischen Umständen nach einer plötzlichen Krankheit, und Paul Ferrans verbrachte mit seiner Tochter Gisela einige Zeit in Südfrankreich.

Dort gab es kaum die Möglichkeit, Konzerte zu geben und Geld zu verdienen, und so reisten sie weiter nach Italien und Griechenland. Doch zuletzt hatte es Paul Ferrans danach verlangt, Österreich zu sehen, ganz besonders aber Wien.

Gisela, die in die Fußstapfen ihrer Mutter treten wollte, die alle Konzerte organisiert hatte, fragte ihren Vater, wen sie deswegen aufsuchen oder wer für ihn ein Engagement am besten Theater arrangieren konnte.

Als Gisela darauf drängte, Namen von Freunden zu erfahren, war er jedoch ziemlich ausweichend.

Sie machte sich Sorgen, war aber sicher, dass sein Ruf ihm vorausgeeilt war, und Johann Strauß, dessen Musik überall zu hören war, würde ihn sicher zumindest als Kollegen willkommen heißen.

Während des Gesprächs nun mit Frau Bubna entschloss sich Gisela, mit ihr alleine zu sprechen, sobald sich die Gelegenheit dazu bot.

»Sie haben gut zu tun hier. Mir erscheint der Gasthof grösser, als ich ihn in Erinnerung habe«, sagte ihr Vater gerade.

»Grösser. Er ist doppelt so groß«, erklärte Frau Bubna voller Stolz »Wir sind bekannt in der Stadt! Jeder kommt früher oder später, um meinen Wein zu trinken oder meine Schnitzel zu essen.«

»Wenn sie so gut sind wie die, die wir heute Abend gegessen haben, überrascht mich das nicht«, meinte Paul Ferrans.

»Morgen werde ich Ihnen meinen Palatschinken zubereiten.«

Paul Ferrans lächelte erfreut.

»Keiner bereitet ihn so gut wie Sie, liebe Frau Bubna, ich habe schon meiner Tochter davon erzählt. Nichts auf der Welt schmeckt besser.«

Gisela erinnerte sich, dass Palatschinken hauchdünne Pfannkuchen waren, die gerollt mit Honig, Fruchten und anderen Köstlichkeiten zum Dessert gereicht wurden Ihr Vater hatte ihr während ihrer langen Reise immer wieder davon vorgeschwärmt.

»Dann werde ich bald zunehmen, wenn wir lange hierbleiben.«, entfuhr es Gisela.

»Umso dick zu werden, wie ich es bin.« fragte Frau Bubna »Das ist aber unwahrscheinlich! Ihrem Vater konnte ich nie etwas anfuttern, obwohl ich keinen anderen Studenten kannte, der so viel aß.«

Vater ist immer noch sehr schlank, dachte Gisela. Wenn er im Abendanzug auf der Konzertbühne steht und seine kostbare Violine unters Kinn hebt, um zu spielen, sieht er wirklich elegant aus.

Schon oft hatte sie gedacht, dass die Damen unter den Konzertbesuchern ebenso von seiner Erscheinung begeistert sein mussten wie von seinem Spiel. Sicherlich richteten sich ihre Augen bewundernd auf sein hübsches Gesicht, an dessen Schläfen sein Haar langsam grau zu werden begann.

»Ich bin eifersüchtig auf die Bewunderung, die dir diese wunderschönen Ladies zuteilwerden lassen«, äußerte ihre Mutter einmal.

»Dazu besteht keine Veranlassung, denn die einzige bezaubernde Lady in meinem Leben bist du«, hatte ihr Vater geantwortet.

Anders nämlich als sonstige Künstler, konzentrierte sich ihr Vater vor allem auf sein Heim. Dann lag sein ganzes Glück. Zum Beispiel nahm er nur selten nach einer Vorstellung eine Dinner Einladung an, was unverständlich für seine Bewunderer war, die ihn feiern wollten.

Stattdessen fuhr er lieber zu seiner jeweiligen Unterkunft zurück, um mit seiner Familie zu speisen.

Als ihre Mutter verstarb, war es Gisela klar, wie verloren, verlassen und unglücklich sich ihr Vater fühlen musste.

Jemanden so tief in Verzweiflung zu sehen, machte ihr Angst. Sie liebte ihren Vater und musste ihm aus dieser Depression heraushelfen. Das einzige Mittel dazu war die Musik.

Alles wird besser in Wien, dachte Gisela, während sie beobachtete, wie angeregt er sich mit Frau Bubna unterhielt.

Gleichzeitig sah sie die Linien unter seinen Augen, und die Art, in der er bei manchen Worten ins Stocken geriet, ließ sie erkennen, wie müde er war.

Als er seinen Kaffee mit der dicken Sahnehaube obendrauf austrank, sagte sie.

»Geh zu Bett, Papa, und morgen solltest du schlafen, solange du nur kannst. Es gibt keinen Zug, den wir erreichen müssen, und auch kein Engagement, das du einhalten musst.«

»Das ist vernünftig«, stimmte Frau Bubna zu und stand auf »Und Sie, junge Dame, brauchen auch Ihren Schönheitsschlaf Gute Nacht, und Gott behüte Sie.«

Sie verließ das Zimmer, und Gisela lächelte ihren Vater an.

»Frau Bubna ist wunderbar.« rief sie »Ich kann jetzt verstehen, dass du sie wiedersehen wolltest.«

»Sie muss schon weit über sechzig sein und spricht noch so enthusiastisch. Wie ein junges Mädchen ist sie, quicklebendig« stimmte ihr der Vater zu.

Beide lachten.

»Morgen, wenn wir beide richtig ausgeschlafen haben, zeige ich dir Wien. Ich fühle mich so, als wäre ich nach Hause gekommen«, meinte er.

Gisela sagte weiter nichts dazu, aber ihr war die Tatsache bekannt, dass Österreich seine Wahlheimat war. Sie wurde ihren Vater kränken, wenn sie ihn jetzt daran erinnerte, dass er zur Hälfte Engländer war.

Er war so unglücklich bei seinem Vater in England gewesen, dass sie annahm, dieser musste ein strenges Regiment geführt haben. Außerdem hatte die zweite Frau ihres Vaters für den Mann nichts übriggehabt.

Seine Großeltern mütterlicherseits waren Österreicher, und Paul besuchte sie während der Ferien. Als sie einmal erfuhren, wie unglücklich er in England war, behielten sie ihn in Wien.

Sie schickten ihn auf die Universität, und als sein großes musikalisches Talent entdeckt wurde - ganz besonders für die Violine -, da sollte er ihren Namen annehmen, was Paul auch tat.

»Wie kann dich jemand als Musiker ernst nehmen, wenn du Engländer bist« meinte seine Großmutter verächtlich. »Als ein Ferrans werden sie dir mit gebührendem Respekt zuhören, und das ist der erste Schritt im Kampf um die Anerkennung.«

Paul, der ein intelligenter junger Mann war, erschien es logisch, was die Großmutter sagte. England hasste er sowieso, und es verlangte ihn auch nicht danach, dort immer an die unglückliche Zeit nach dem Tode seiner Mutter erinnert zu werden.

Bald betrachtete er sich ganz der Familie seiner Mutter zugehörig, doch Gisela entdeckte manchmal englische Charakterzüge an ihrem Vater, deren er selbst sich gar nicht bewusst war.

Ihre Mutter hatte immer darauf bestanden, dass sie Englisch sowie andere Sprachen gründlich lernte.

»Es wäre dumm zu leugnen, dass du auch Engländerin bist, meine Liebe«, bemerkte sie oft, »und ich war immer der festen Überzeugung, dass wir uns letzten Endes zu dem Land bekennen, wo wir unsere Wurzeln haben. Vielleicht wirst du eines Tages nach England gehen, und es wird dir dort besser gefallen als an irgendeinem anderen Ort.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen, Mama«, antwortete Gisela. »Aber wenn du England liebst, dann werde ich es auch lieben. Doch wenn Papa über Österreich spricht, klingt es immer so romantisch und aufregend.«

»Bequemerweise pflegt dein Vater immer zu vergessen, dass auch ungarisches Blut in seinen Adern fließt. Seine Urgroßmutter war Ungarin. Um es deutlich und frei herauszusagen, meine Liebe. Dein Vater entstammt einer Rassenmischung, er ist nur nicht bereit, es zuzugeben.«

Darüber mussten beide lachen, doch für Gisela war es ein aufregendes Gefühl. Sie spürte eine Verbundenheit mit der Geschichte Englands, Österreichs und Ungarns und nicht zuletzt auch mit Frankreich, denn sie lebten ja hier.

Außerdem fiel es Gisela leicht, die Sprachen aller vier Länder zu lernen.

Jetzt, da sie Frau Bubna ohne Schwierigkeiten verstehen konnte und nicht mehr gedanklich alles in eine andere Sprache umsetzen musste, schätzte sie die vielen Stunden, die sie mit ihrer Gouvernante über ihren Sprachlektionen gesessen hatte, auch wenn sie damals lieber im Sonnenschein gespielt hatte.

Morgen werde ich die Österreicher reden hören in, den Straßen, Geschäften und Restaurants - und natürlich im Theater, dachte sie. Und ich werde sie singen hören.

Erst da fiel ihr auf, dass sie genau das vermisst hatte, seit ihrer Ankunft hier draußen im Wald von Wien.

Wie oft hatte ihr Vater von den Studenten erzählt, die hier saßen und sangen, von den Stimmen der Offiziere aus ihren Unterkünften, und wie jeder in den Gesang einfiel.

Plötzlich, als ob er ihre Gedanken erraten hatte, sagte der Vater.

»Wenn ich zu Bett gehe, Gisela, solltest du das auch tun. Frau Bubna hat recht, du brauchst deinen Schlaf «

»Es ist noch so früh, Papa«, schreckte sie aus ihren Gedanken hoch.

»Wenn erst die Gäste zum Abendessen eintreffen, dann hat Frau Bubna keine Zeit mehr, sich um dich zu kümmern. Jetzt am frühen Abend ist es noch so ruhig«, entgegnete der Vater. »Ungewöhnlich ruhig.«

Die Art, wie er das sagte, überraschte Gisela »Du meinst, es konnte zu Raufereien kommen« fragte sie sofort.

Ihr Vater zögerte.

»Nicht direkt«, meinte er. »Soweit ich es von früher her kenne, ist alles nur ein großer Spaß. Aber du bist ein sehr hübsches Mädchen, ähnelst deiner Mutter von Tag zu Tag mehr. Mir wird bewusst, dass du mit deinen achtzehn Jahren einen Beschützer brauchst und dich nicht mehr länger so frei bewegen kannst wie ein Kind.«

Gisela war erstaunt.

»Das ist ja etwas ganz Neues, Papa. Du hast noch nie so zu nur gesprochen.«

»Wir haben das letzte Jahr auch sehr zurückgezogen gelebt«, gab der Vater zur Antwort. »Wie du sehr wohl weißt, haben wir keine Stadt besucht, die so voller Leben ist und wo schöne Frauen die Augen der Männer wie Magneten anziehen.«

»Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen, Papa. Ich kann auf mich selbst aufpassen«, meinte Gisela. »Sicher wäre es besser, wir redeten morgen darüber und nicht mehr heute Abend.«

Sie sah, wie seine Augen vor Erschöpfung und Müdigkeit zufielen. Wie alle großen Künstler sprudelte auch er in einem Moment voller Leben und Energie über und konnte im nächsten Augenblick so erschlaffen, als wäre alle Lebenskraft von ihm gewichen. Dann, so glaubte Gisela, war der Punkt gekommen, da er ihre Unterstützung brauchte.

Wie zur Bestätigung stand Paul Ferrans auf, gähnte und ging auf die Türe zu.

»Dann also, meine Liebe, wünsche ich eine gute Nacht. Du bist so vernünftig, wie es deine Mutter immer war. Reden wir also morgen weiter«, stimmte er zu.

Dann verließ er den kleinen privaten Raum, der im hinteren Bereich des Hauses lag und in dem Frau Bubna ihnen ihr Abendessen serviert hatte.

Es gab auch noch ein Restaurant auf der Vorderseite des Gasthofes und eine Reihe von Tischen, draußen im Schatten der Bäume. Insgeheim hatte Gisela sich gewünscht, die Mahlzeit dort einzunehmen, denn es wäre interessant für sie gewesen, auch die anderen Gäste beobachten zu können.

Doch Frau Bubna hatte darauf bestanden, dass sie ihr Abendessen schon frühzeitig entnahmen, um ihnen selbst servieren zu können. Da beide, Paul Ferrans und auch Gisela, sehr hungrig gewesen waren, hatten sie bereitwillig zugestimmt.

Gisela griff nach der weichen Jacke, die sie vorsichtshalber mitgenommen hatte, hängte sie sich über den Arm und trat an das Fenster. Egal, was Vater sagen wird, es ist noch zu früh, zu Bett zu gehen, dachte sie.

Der Wunsch, den Wald von Wien in näheren Augenschein zu nehmen, war übermächtig. Nach allem, was sie darüber gehört und gelesen hatte, gab es keine Frage, dass dieser Wald ungeheuer romantisch sein musste. Der Eindruck von der Fahrt zum Gasthof bestätigte nur ihre Vorstellung.

Silbrig schimmernde Birken, Weiden und Pappeln bedeckten die Hänge. Hier und da blühten noch einige verspätete Fliederbusche, und eine verschwenderische Fülle von Bluten überzog Bäume und Sträucher, deren Namen Gisela nicht kannte

Fast ohne nachzudenken, verließ sie den Raum. Sie nahm nicht die Treppe zu ihrem Zimmer, sondern ging durch eine offene Tür, die zum rückwärtigen Garten des Hauses führte.

Eigentlich bestand der Garten nur aus einem kleinen Fleckchen Erde, auf dem dicht gedrängt Blumen blühten, die mit ihrem Duft die Luft erfüllten. Ohne Übergang geriet man in den Wald, in dem die Bäume so nahestanden, als ob sie das Haus umzingeln wollten.

Sie war verzaubert Und da es noch nicht völlig dunkel war, schritt sie weiter durch die milde Nacht. Über ihr wölbte sich ein dichtes Blätterdach. Schon bald sah sie vor sich die Lichter von Wien schimmern. Erst vereinzelt, dann stärker zunehmend, tauchten sie zwischen den Bäumen auf.

Aber außer der großen Turmspitze der Kathedrale und der Donau, die in der Dämmerung wie ein silbernes Band leuchtete, konnte sie keine Einzelheiten erkennen.

Die Lichter der Stadt blinkten wie heruntergefallene Sterne.

Es war aufregend. Ihr war, als wurde sie über den Boden schweben.

Ihre Füße schienen nach einer zauberhaften Musik zu tanzen, die ihr aus den Blättern und Blumen zuzuströmen schien.

Zu ihrer Linken wurde es plötzlich heller, und sie befand sich auf einer Lichtung, von der aus sie einen Ausblick auf das Donaubecken unter sich hatte.

Sie wusste, irgendwo dort in der Dämmerung lagen die Inseln Gänsehaufen und Korneuburg. Beides wurde sie morgen genau ansehen können.

Ebenso freute sie sich schon jetzt auf Schloss Schonbrunn und die Karlskirche, die in der Nähe lagen. Der Vater hatte ihr fest versprochen, sie dorthin zu führen.

Es gab so viel zu sehen, so viel zu hören, dass es ihr schon fast wie ein Verbrechen erschien, auch nur an Schlaf zu denken.

Als mehr und mehr Lichter angingen und die ganze Stadt in einem Flammenmeer zu stehen schien, vermisste sie etwas. Sie wartete auf etwas Bestimmtes, Pulsierendes und Unbekanntes

Vielleicht, so sagte sie zu sich selbst, erwarte ich von Wien, dass hier etwas geschieht, dass sich etwas erfüllt,

wonach ich mich immer gesehnt habe, auch wenn ich nicht weiß, was es ist

Ihr Vater hatte ihr so oft von Wien erzählt, dass es in ihren, Gedanken schon fast etwas Mystisches besaß Sie konnte es nicht in Worte fassen, fühlte aber, dass Musik es - ausdrücken konnte.

Plötzlich vernahm sie Musik. Nicht solche, wie ihr Vater sie spielte, sondern sie hörte Stimmen – Männerstimmen.

Sie erkannte die Melodie, denn seit sie die Grenze Österreichs passiert hatten, war ihnen die Melodie überall zu Ohren gekommen. Gesungen, geflötet und gesummt - im Zug, auf jeder Station, an der sie gehalten, und in jedem Gasthof, in dem sie übernachtet hatten.

Es war ein bekannter Walzer. Dass die Worte dazu je nach Bedarf und Laune der Sänger wechselten, wusste Gisela allerdings nicht.

Jetzt kamen die Stimmen näher, und sie konnte verstehen, was sie sangen

Oh, meine Liebste. Wo verbirgt sie sich nur? Oh, meine Liebste.  Wo mag sie nur sein? Ob tanzend und lachend, ob spielend und singend bald ist sie mein.

Auch wenn sie nicht ganz sicher war, so glaubte Gisela doch, dass es Studenten waren, die dieses Lied sangen. Und nachdem sie den Refrain ‘Bald ist sie mein’ beendet" hatten, erscholl ein solches Gelächter, dass die Zweige über ihr sich scheinbar dadurch zu schütteln begannen.

Die Stimmen kamen näher. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie riskant ihr Standort war.

Die Studenten konnten sich einen Spaß mit ihr erlauben. Ein Mädchen allein im Wald. Auch wenn sie nicht glaubte, dass sie ihr ernstlich Böses wollten, sie konnten doch versucht sein, sie küssen zu wollen, oder sie vielleicht dazu zwingen, mit ihnen zu gehen.

Diese Gedanken versetzten sie in Panik Schon war sie versucht, so schnell wie möglich zum Gasthof zurückzurennen.

Aber als sie in die Richtung blickte, aus der sie gekommen war, bemerkte sie, wie dunkel es inzwischen unter den Bäumen aussah, und sie befürchtete, in der Eile zu stolpern und zu stürzen.

Ohne Frage leuchtete ihr weißes Kleid, und es war nicht ausgeschlossen, dass es Aufmerksamkeit erregte.

Verzweifelt sah sie sich um, und da entdeckte sie, was ihr vorher entgangen war - eine Art Unterstand. Er war offensichtlich für Liebespaare errichtet worden.

In ihm befand sich eine Holzbank. Dichtes Gestrüpp und wilder Wem rankten sich schützend über die Hütte, als ob sie die Menschen dann vor Wind und Wetter oder vielleicht auch vor den neugierigen Augen anderer bewahren wollten.

Rasch, denn die Stimmen der Männer wurden von Minute zu Minute lauter, schlüpfte Gisela hinein, kauerte sich in die äußerste Ecke.

Sie lauschte Die Stimmen grölten jetzt übermütig, denn offensichtlich hatten die Männer schon dem wohlschmeckenden Bier oder aber dem Wein kräftig zugesprochen.

Selbst der ärmste Student konnte sich ein oder zwei Glas Wein nach einem harten Studientag leisten, so hatte ihr der Vater berichtet.

Gisela zitterte. Sie fürchtete sich, als die Stimmen noch näherkamen und der Gesang fast wie auf sie persönlich bezogen in ihren Ohren klang.

‚Ob tanzend oder lachend, ob spielend oder singend, bald ist sie mein.‘

‚Wenn sie mich nun finden.‘ dachte sie.

Verzweifelt wünschte sie sich, auf ihren Vater gehört zu haben. Im Haus würde sie jetzt sicher sein und sich nicht so allem wie hier im Wald fühlen. In ihrer Vorstellung und ihrer Unternehmungslust war es ihr völlig harmlos und ungefährlich vorgekommen, in den Wald zu gehen.

Doch ihre jetzige Situation war die raue Wirklichkeit.

Sie vernahm schon die stampfenden Schritte der Sänger auf der Höhe des Verstecks und bekam Angst, dass das weiße Kleid sich gegen den Schatten der Wand abheben wurde, als ein Mann in den Eingang trat.

Gisela blieb fast das Herz stehen, bis sie bemerkte, dass der Mann ihr den Rücken zuwandte.

Sie erkannte nur schemenhaft, dass er groß war. Sein Kopf reichte bis unter das Dach der Hütte. Er stand ganz still. Für die vorbeimarschierenden Sänger war es jetzt unmöglich, sie zu sehen.

Nachdem sie den ersten Schock über sein Erscheinen überwunden hatte, erfasste sie eine große Dankbarkeit, denn jetzt wurde der Gesang fast ohrenbetäubend. Sie grölten ‚Sie wird mir nicht entkommen‘, worauf ein unbändiges Gelächter und Geschrei einsetzte.

Der Mann im Eingang der Hütte stand noch immer still, als sie an ihm vorbeizogen. Irgendjemand sagte schließlieh »Komm mit uns! Es ist noch früh, und der Wein im Gasthof bei Frau Bubna ist gut.«

»Ich komme später nach«, gab der Mann zur Antwort.

Dann zog der letzte der Sanger vorüber, und der Lärm ihrer Stimmen ließ allmählich nach, bis er bald nur noch ein Murmeln in der Ferne war. Gisela hatte ihren Atem angehalten. Erst jetzt traute sie sich, wieder durchzuatmen, doch vermied sie es, sich zu bewegen.