Im Bereich des Unmöglichen - Cees. A. Vandersahr - E-Book

Im Bereich des Unmöglichen E-Book

Cees. A. Vandersahr

0,0

Beschreibung

Ein internationales Team von Ingenieuren und Wissenschaftlern arbeitet seit Monaten zusammen an einem äußerst exponierten Ort: der Internationalen Raumstation (ISS). Ihre Mission verläuft planmäßig, bis sich ein Zwischenfall ereignet, in dessen Folge es zu Komplikationen kommt: Es beginnt mit vereinzelten Ausfällen von elektronischem Equipment, denen zunächst niemand große Bedeutung zumisst. Aber schon bald häufen sich auf unerklärliche Weise Defekte, und die Besatzung der ISS sieht sich einer unsichtbaren Bedrohung gegenüber. Während die Lage von Tag zu Tag kritischer wird, macht sich das Team mit wissenschaftlicher Akribie daran, die Natur dieser Bedrohung zu entschlüsseln. Als schließlich klar wird, womit man es zu tun hat, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit…

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 631

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Im Bereich des Unmöglichen
Roman
Cees A Fandersahr
Copyright: © 2015 Cees A. Fandersahr
www.fandersahr.de
Verlag: epubli GmbH, Berlin
http://www.epubli.de
ISBN 978-3-7375-6158-7
Covergestaltung: M.S. Fowle, Melchelle Designs
www.melchelledesigns.com

Blau

„Was wir wissen, ist ein Tropfen;was wir nicht wissen, ein Ozean“

Isaac Newton, Englischer Physiker,Mathematiker und Astronom (1643 - 1727)
Jener verhängnisvolle Tag war bis dahin ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag gewesen, der 144ste, ohne außerplanmäßige Tätigkeiten oder bemerkenswerte Vorkommnisse. Gegen Abend hatte er sich an seinen Lieblingsplatz, in die Cupola,zurückgezogen, um das Tagesgeschehen zu reflektieren und in seinem Tagebuch festzuhalten. Das kleine, in schwarzes Leder gebundene Buch, war einer der wenigen persönlichen Gegenstände, die er hatte mitnehmen können. Seine Frau hatte es ihm zum Abschied geschenkt und eine Widmung hineingeschrieben, die er hin und wieder las. Entgegen seiner anfänglichen Erwartung nutzte er es mittlerweile regelmäßig. Mit der Zeit war es zu einer Art privatem Logbuch geworden, dem er nahezu täglich einen neuen Eintrag hinzufügte. Dabei ging es ihm nicht so sehr darum, das Erlebte für die Zukunft zu protokollieren. Vielmehr half ihm das Schreiben seine Gedanken im Hier und Jetzt zu sortieren und diese einzigartige Phase seines Lebens so bewusst wie möglich wahrzunehmen. Er rechnete nicht damit, dass er nach seiner Rückkehr häufig hineinschauen würde.
Doch wie schon oft fand er auch an diesem Abend den Einstieg nicht und mühte sich mit dem ersten Satz herum. War es die Müdigkeit nach einem prall angefüllten, straff durchorganisierten, zehnstündigen Arbeitstag? Nein, das konnte es nicht sein, denn war dieser erste Satz geschrieben ging ihm der Eintrag stets leichter von der Hand. Der erste Satz war wie eines der ersten Teile in einem Puzzlespiel, schwierig, aber wenn gelegt, gab es immer Anknüpfungspunkte für die nächsten. Vielleicht war es auch ein gewisser Unwille, sich mit bereits Vergangenem zu beschäftigen. Seine Gedanken bewegten sich in der Tat meist um unmittelbar anstehende Aufgaben oder waren auf die nahe Zukunft gerichtet. Aber es war wohl eher sein Hang zur Perfektion: Der erste Satz legte den Grundstein, gab seinen Gedanken Struktur, er war ein Kristallisationspunkt, um den herum sich der restliche Inhalt seines Eintrages zwanglos gruppieren und entwickeln konnte. Mit dem ersten Satz musste er einfach zufrieden sein.
Er spürte, wie seine Konzentration nachließ, immer wieder schweiften seine Gedanken ab. Der grandiose Ausblick aus den Panoramafenstern der Cupola tat ein Übriges. Wie immer, wenn er sich in der Cupola aufhielt, musste er daran denken, wie privilegiert er war, diesen Ausblick genießen zu dürfen. Sicher, er hatte sich seine Chance hart erarbeitet, aber nicht zuletzt war eine Reihe von Faktoren im Spiel gewesen, die er nicht durchweg hatte beeinflussen können. Und ohne die fortwährende Unterstützung durch seine Familie hätte er es nie geschafft. Das Gefühl der Dankbarkeit, welches ihn an diesem Ort oft erfüllte, hatte er entsprechend schon mehrfach in seinem Logbuch festgehalten.
Schließlich schaffte er es, ein paar Zeilen über eines seiner Experimente zu schreiben, an dem er die meiste Zeit des Tages gearbeitet hatte. Kein sonderlich origineller Eintrag, wie er sich eingestehen musste, aber das Ergebnis des Experimentes war unerwartet gewesen, hatte zu einigen Diskussionen geführt und damit den Tag in der Tat ein wenig geprägt.
Als er aber in einer Schreibpause aufblickte, zog unter ihm ein Anblick vorbei, der seine Aufmerksamkeit sofort und vollständig fesselte:
Dieses Blau war absolut atemberaubend!
An seinen Rändern ins Hellblaue, Weiße oder Grünliche changierend, war der mittlere Bereich der riesigen Fläche, auf die er hinunterblickte, von einem Blau, wie es keine künstlich gefärbte Fläche je hervorbringen konnte. Es war ein Blau, das durch räumliche Tiefe zustande kam und dessen dreidimensionale Natur nicht nur zu ahnen, sondern geradezu greifbar war. Er war unfähig, den Blick wieder abzuwenden und vergaß den ohnehin etwas faden Eintrag ins Tagebuch.Stattdessen ließ er dieses magische Blau auf sich einwirken, stellte sich vor, wie es wäre, darin einzutauchen. Es erinnerte ihn seltsamerweise an seine Kindheit, die er in einer deutschen Kleinstadt verbracht hatte. An einen der klaren Spätsommertage, an denen er nach dem Fußballspiel auf dem Rücken im Gras liegend in das Blau eines wolkenlosen Himmels geschaut hatte. Ja, blau war die Farbe, die er mit seiner Kindheit verband, warum wusste er nicht so genau. Es war eher ein vages Gefühl, das sich in seinen Erinnerungen kristallisiert hatte, ähnlich etwa wie der Geruch der Ledertasche, in der er immer seine Pausenbrote und das Obst für die Schule mitbekommen hatte.
Wie durch das tiefe Blau unter ihm hervorgerufen, kamen und gingen diese Erinnerungen nun in loser Folge. Er sah sich mit Freunden durch die Gassen zwischen alten Fachwerkhäusern streunen, im Freibad toben oder an Sonntagen im Stadtpark Garten-Schach spielen. Er sah vor seinen Augen die Kirchtürme, die sich in einen natürlich blauen Himmel reckten und das Stadtbild dominierten. Diese Erinnerungen waren so tief wie das Blau, auf das er herunterschaute, und gelangten nur sehr selten an die Oberfläche. Während ihm die Augen vollends zufielen, war ihm, als könne er nun sogar die Schläge der Kirchenglocken vernehmen, die - niemals synchron - die halben und vollen Stunden ankündigten, oder an Sonntagen zum Gottesdienst riefen. Aber noch während sich sein Körper entspannte, begann sein Unterbewusstsein Dissonanzen zu registrieren: Irgendetwas stimmte nicht! Wachsam geworden entschied es, dass bewusste Aufmerksamkeit erforderlich war, und holte ihn unsanft aus seinen Träumereien zurück. Innerhalb von Sekundenbruchteilen war er hellwach und realisierte, dass er statt Glockengeläut die Alarmsirene seiner jetzigen Heimstatt, der„„International Space Station““, der ISS hörte, deren durchdringender Ton unmissverständlich klarmachte, dass seine besinnliche Zeit in der Cupola zu Ende war.
Er warf noch einen letzten Blick durch die Panoramafenster und sah, wie die blaue Fläche des Pazifiks unvermittelt einer braungrünen Landmasse wich, die im küstennahen Bereich von mäandernden Flussdeltas wie von schmutzig-schlammfarbenen Adern durchzogen wurde.Dann riss er sich los und schob sich mit perfekt eingeübtem Bewegungsablauf durch die Schleuse ins Tranquility-Modul, um sich auf den Weg zur restlichen Crew zu machen. Dort würde er erfahren, was passiert war. Vielleicht ein Fehlalarm oder wieder mal eine unangekündigte Übung. Allerdings fühlte er eine dumpfe Vorahnung in sich aufsteigen, dass es diesmal ein ernsterer Anlass sein könnte.
Er würde es bald wissen!

Impakt!

„Schlägst Du erst diese Welt zu Trümmern, –die andre mag darnach entstehen!”“

Aus „„FaustI“ -Der Tragödie erster Teil“(1808) Szene„Studierzimmer“Johann-Wolfgang von Goethe,Deutscher Dichter undNaturwissenschaftler (1749 - 1832)
„Tranquility““, übersetzt „„Stille“, war eines von drei Verbindungsmodulen in der Endausbaustufe der Internationalen Raumstation ISS. Diese Verbindungs- oder Kopplungsmodule waren zentrale Knotenpunkte, die Verzweigungen in der Grundstruktur der ISS ermöglichten. Als ein solcher Knotenpunkt verfügte Tranquility über insgesamt sechs Kopplungsvorrichtungen, von denen aber infolge Streichung anfänglich geplanter Ausbaustufen nur drei mit weiteren Modulen belegt waren. Auf seinen knapp sieben Metern Länge war das Modul mit wertvollstem Equipment vollgestopft, darunter Komponenten des Lebenserhaltungs-Systems mit Anlagen zur Wasseraufbereitung, zur Reinigung und Überwachung der Qualität der Raumluft, sowie zur Sauerstoffversorgung. Es enthielt eine kleine Nasszelle mit einer Hightech-Toilette, sowie Geräte für die täglichen Übungseinheiten, die jedes Besatzungsmitglied absolvieren musste, um den in der Schwerelosigkeit zwangsläufig einsetzenden Schwund an Muskel- und Knochenmasse so gering wie möglich zu halten.
Fast fünf Monate waren seit dem Start der Mission vergangen, und nach dieser Zeit im All hatte er jegliches Gefühl für das Gewicht des eigenen Körpers verloren.Dabei herrschte an Bord der ISS genau genommen keine perfekte Schwerelosigkeit: Auf der mittleren Bahnhöhe der Station von etwa 360 Kilometern über der Erde war das Erdgravitationsfeld schließlich kaum abgeschwächt. Nur weil die Anziehungskraft der Erdkugel durch die Fliehkraft der kreisenden Station kompensiert wurde, entstand ein Zustand, der vollkommener Schwerelosigkeit ähnelte - aber eben nicht perfekt entsprach. Stets gab es kleinste physikalische Störeffekte, etwa durch Lagekorrekturen der Station, oder durch Vibrationen, hervorgerufen durch Maschinen oder Bewegungen der Crew. Man sprach daher genauer von„„Mikrogravitation““. Der Unterschied aber war eher von wissenschaftlichem Interesse denn von praktisch erfahrbarer Natur.Sein Gehirn hatte sich nach einigen unliebsamen Erfahrungen und einem leichten Anflug von Raumkrankheit während der ersten Tage rasch adaptiert. Es hatte die Dimensionen und Eigenheiten der einzelnen Module gespeichert und gelernt, die Kraft beim Abstoßen so zu dosieren, dass er einigermaßen elegant durch den Innenraum des Habitats schweben konnte, jedenfalls ohne Beulen am Kopf oder Schäden an wertvollem Inventar zu riskieren. Leider war im Laufe der Monate auch jenes Hochgefühl abhandengekommen, welches ihn in den ersten Tagen erfüllt hatte, wann immer er durch das Habitat geschwebt war.
Der Alarm schrillte weiterhin durch die Station und erfüllte seinen Zweck, auf die Ohren und die Nerven zu gehen und das dringende Bedürfnis auszulösen, die Ursache seiner Existenz so rasch wie möglich zu beseitigen. Dazu meldete sich jetzt noch die stets etwas überlaute, durchdringende Stimme von Aleksei Simorenko über die Interkom-Anlage.
Aleksei Simorenko war einer von drei Kosmonauten an Bord der ISS, die vorwiegend im russischen Teil der Station wohnten und arbeiteten. Aleksei war Jahrgang 1963 und damit der älteste Teilnehmer der Mission und mit vier Weltraumflügen gleichzeitig das Crewmitglied mit der größten Erfahrung. Er hatte bereits zwei Aufenthalte auf der ehemaligen sowjetisch-russischen MIR-Station, sowie eine Mission zur ISS absolviert, bevor er zum Stationskommandanten für diese ISS-Mission ernannt worden war, die die Nummer 60/61 trug.
Wie fast alle Kosmonauten hatte Aleksei eine militärische Ausbildung bei der russischen Luftwaffe absolviert, in deren Verlauf er nicht nur eine umfassende Pilotenausbildung erhalten, sondern auch einen Abschluss als Flugingenieur erworben hatte. Obgleich er nach seiner Aufnahme ins Kosmonauten-Korps den überwiegenden Teil seiner Karriere in der zivilen Raumfahrt verbracht hatte, hatte Aleksei seinen militärischen Habitus nicht vollständig abgelegt.So trug er seine braunen Haare stets kurz geschnitten und sprach meist laut und überbetont,was während des Kennenlernens beim ersten gemeinsamen Training für die Mission zunächst etwas befremdlich gewirkt hatte. Der erste Eindruck hatte sich aber rasch als falsch erwiesen und die Crew hatte Aleksei in der Folgezeit als jemanden erlebt, der offen und herzlich auf Menschen zuging, gerne persönliche Nähe suchte, und viel lachte. Während dieser Mission hatte sich der Veteran bislang als ein souveräner und kompetenter Stationskommandant erwiesen, der seine Funktion verbindlich und bestimmt ausfüllte, aber dabei nie in einen offenen Befehlston verfiel.
Seine Stimme übertönte den Alarm:
»Markus, das ist keine Übung!Mission Control hat uns soeben über akute Kollisionsgefahr informiert. Auf den Radarschirmen ist ein Objekt aufgetaucht, das unsere Flugbahn kreuzen könnte. Offensichtlich bleibt uns diesmal keine Zeit mehr für ein Ausweichmanöver. Sie möchten, dass wir uns sofort in die Sojus begeben. Bitte verliere keine Zeit und denke daran, alle Luken hinter Dir zu schließen.«
Markus bestätigte kurz, das er verstanden hatte und auf dem Weg sei.Wie jeder an Bord der Station kannte er den Evakuierungsplan in- und auswendig, der Ablauf war während ihrer mehrmonatigen Vorbereitung auf die Mission in diversen Simulationen sorgfältig einstudiert worden. Schließlich hing im Ernstfall das Überleben der Crew davon ab, dass reibungslos und schnell evakuiert werden konnte.Er schloss die Luke zur Cupola, der Aussichtskuppel der Station, und begab sich rasch von Modul zu Modul, weitere Luken hinter sich schließend, aus dem internationalen in den russischen Teil der ISS. Hier befand sich, gekoppelt an das „„Nauka““ („Wissenschaft““)-Modul, das ihm zugeteilte„„Sojus“-Raumschiff.Vor dem Einstieg in die Kapsel wartete sein US-amerikanischer Crewkollege Josh Idleman auf ihn, eine Hand an der weit offenstehenden Luke und mit der anderen ungeduldig wedelnd.
»Markus, es bleibt nicht viel Zeit, Kathy ist bereits drin.«
Josh hatte den Reißverschluss des Oberteils seines Overalls wie immer weit geöffnet, darunter trug er ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift „„No coffee - no work from this flight engineer!““ Sein jugendlich wirkendes Gesicht, das von leicht gewellten, rotblonden Haaren eingerahmt wurde, hatte im Laufe des Aufenthaltes auf der Station die sonst so charakteristischen Sommersprossen eingebüßt.
»„Ich hoffe wir müssen nicht allzu lange Zeit in dieser Sardinenbüchse zubringen“«, sagte er und schob sich mit dem Oberkörper voran durch die Einstiegsluke in das Orbitalsegment des Sojus-Raumschiffs.
Josh war mit fast 1,90 Meter Körperlänge deutlich größer und gleichzeitig auch korpulenter als die meisten Astro- und Kosmonauten. Markus wusste, dass er die Enge in den Sojus-Raumschiffen nicht besonders mochte. Er wartete, bis Josh im Innern verschwunden war und folgte ihm dann, die Luke hinter sich schließend. Mit etwa drei Meter Länge und etwas mehr als zwei Meter Breite bot das kugelförmige Orbitalmodul ausreichend Platz für zwei Personen, für drei hingegen wurde es bereits zu eng.
Markus sah sich um. Das letzte Mal war er vor etwa sechs Wochen im Rahmen einer Übung kurz in der Sojus gewesen. Sojus-Raumschiffe hatten für ihn noch immer etwas vom Flair der Pionierzeit der Weltraumfahrt. Immerhin wurden sie bereits seit 1966 von der gleichnamigen Trägerrakete ins All gebracht. Das Gespann hatte mit großem Abstand die meisten Starts und Missionen der bemannten Raumfahrt hinter sich gebracht und galt als unkompliziertes und zuverlässiges Arbeitspferd, von dem die Internationale Raumstation seit dem Ende der Shuttle-Ära in hohem Maße abhängig war. Das hatte sich 2011 auch einer breiteren Öffentlichkeit offenbart, als sich bei einer glücklicherweise unbemannten Mission aus zunächst ungeklärter Ursache ein Fehlstart einer Sojus-Rakete ereignet hatte. Die nachfolgende Fehleranalyse hatte einige Monate in Anspruch genommen, während derer keine neuen Starts erfolgen durften. Das hatte zu einer zeitweiligen Versorgungslücke der ISS geführt. Einige Wochen lang wurde sogar erwogen, die Station komplett zu evakuieren, bis schließlich wieder grünes Licht für weitere Starts gegeben werden konnte.
Zweimal war es bei einem bemannten Sojus-Flug zu einem tödlichen Unfall gekommen: 1967 war ein Kosmonaut bei der Landung ums Leben gekommen, als die Auslösung des Landefallschirms versagte und seine Kapsel am Boden zerschellte. Der zweite folgenschwere Unfall hatte sich 1971 ereignet: Die Crew von Sojus 11 hatte ein erfolgreiches Kopplungsmanöver an die russische Raumstation„Saljut 1““absolviert. Während der Rückkehr der Kapsel aber war es beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre zu einem Druckverlust gekommen, der die dreiköpfige Mannschaft das Leben gekostet hatte.
Das den Raumschiffen zugrunde liegende Konzept hatte zwar über die Jahrzehnte eine gewisse Evolution durchlaufen, und natürlich hatte viel moderne Elektronik und Computertechnologie Einzug gehalten. Die derzeit im Einsatz befindlichen Kapseln waren vom neuesten Typ „TMA-M““, welcher seit 2010 verwendet wurde. Dennoch hatte sich das Design nicht wesentlich verändert und mutete im Vergleich etwa zu den amerikanischen Space-Shuttles immer noch etwas antiquiert an.Sojus-Raumschiffe bestanden stets aus drei Modulen: dem kugelförmigen Orbitalmodul, einem glockenförmigen Wiedereintrittsmodul in der Mitte und einem zylinderförmigen Servicemodul mit Instrumenten und Motoren, an dessen Außenseiten zwei Solarpaneele zur Energieversorgung angebracht waren.Markus schob sich an Josh vorbei in Richtung Service-Modul.
»Markus, schön, dass Du auch mal vorbeischaust“«, begrüßte ihn Kathy Presbill beiläufig und ohne von den Instrumenten aufzuschauen, mit deren Check sie beschäftigt war.
Markus kannte Kathy Presbill bereits seit mehreren Jahren. Sie hatten gemeinsam einige Trainings im Johnson Space Center in Houston und im europäischen Astronautenzentrum der ESA in Köln absolviert, bevor sie erfuhren, dass sie zusammen das Trainingsprogramm zur Mission 60/61 durchlaufen würden. Nach Abschluss aller Vorbereitungen waren sie schließlich vom russischen Weltraumbahnhof Baikonur in Kasachstan an der Spitze einer Sojus-Trägerrakete zur ISS aufgebrochen.Kathy war klein, sie maß nicht einmal 1.60 Meter und Markus schätzte, dass sie kaum mehr als fünfzig Kilogramm auf die Waage bringen würde. Sie hatte stets wache, blaue Augen und trug ihr rotes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der in der Schwerelosigkeit machte, was er wollte. Dazu verfügte sie über einen ausgeprägten trockenen britischen Humor, den Markus sehr zu schätzen wusste.Kathys drahtige Figur ließ die Ausdauersportlerin in ihr erkennen. In ihrer Freizeit war sie eine begeisterte Läuferin, die sich auf Ultra-Langstrecken spezialisiert hatte. So hatte sie bereits mehrfach am„West Highland Way Race“teilgenommen, einem in der Szene berühmt-berüchtigten Rennen, welches alljährlich über 152 Kilometer von den schottischen Lowlands nonstop in die Highlands führte und als eines der härtesten der Welt gilt. Dabei hatte sie das Rennen stets beendet und zum Teil sogar vordere Plätze belegen können.Kathy beschäftigte sich auf der ISS mit Materialforschung. Auch sie hatte zunächst eine Karriere beim Militär begonnen. Irgendwann hatte sie sich freiwillig als Testperson für Belastungsprüfungen gemeldet. In physiologischen Tests hatte sie mehrere Rekorde in Toleranz und Ausdauer gebrochen und war darüber zum europäischen Astronauten-Korps gekommen. Sie hatte ihre Armeekarriere an den Nagel gehängt, parallel ein Chemiestudium nachgeholt und sich als Wissenschaftsastronautin spezialisiert.
»Ich war in der Cupola und musste auf dem Weg noch alle Luken schließen«“, erklärte Markus.
»„Das sieht Dir ähnlich, wir arbeiten hier und Du vergnügst Dich mit einer schönen Aussicht. CAPCOM gibt uns nur noch etwa zehn Minuten«“, sagte Kathy und schaute ernst zu ihm hoch, »wir sollten besser die Anzüge anlegen“.«
Jedes Sojus-Raumschiff verfügte seit jenem tödlichen Unfall über drei Raumanzüge vom „Sokol“-Typ, die als leichte Rettungsanzüge für Notfälle, wie etwa einem plötzlichen Druckverlust in der Kapsel, vorgesehen waren. Sie waren nicht tauglich für längere Außeneinsätze, aber dafür einfach und rasch anzulegen. Einmal unter Druck gesetzt blähten sich die Anzüge aber auf und beeinträchtigten erheblich die Bewegungsfreiheit, von der in den Kapseln ohnehin recht wenig vorhanden war.
In den folgenden Minuten halfen sie sich in die Anzüge und kontrollierten gegenseitig den korrekten Sitz. Dabei legten sie besondere Sorgfalt auf die Prüfung der Verschlüsse. Während sie damit beschäftigt waren, nutzte Markus die Zeit, um sich auf einen aktuellen Informationsstand zu bringen:
»Was habt Ihr von CAPCOM erfahren?“«
»Ein größeres Objekt, war bislang wohl nicht in der Überwachung. Ist erst im letzten Scan aufgefallen, auf einer ungewöhnlichen, stark exzentrischen Flugbahn. Daher wohl die kurze Vorwarnzeit«“, erklärte Josh.
Markus nickte.Wahrscheinlich handelte es sich um Weltraumschrott, der in der Geschichte der ISS bereits mehrfach Anlass für diverse Ausweichmanöver und Evakuierungen in die angekoppelten Sojus-Raumschiffe gewesen war. Auch während Mission 60/61 hatte es bereits einmal eine vorsorgliche Bahnänderung gegeben. Im erdnahen Orbit wimmelte es von Altlasten der bemannten und unbemannten Raumfahrt. Seit sich die Menschheit in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ins All aufgemacht hatte, sammelten sich rund um den Erdball ausgebrannte Raketenstufen oder defekte Satelliten, die nicht zu einem kontrollierten Absturz gebracht werden konnten. Der weitaus größere und insgesamt gefährlichere Anteil aber entfiel auf eine Unzahl kleinerer Fragmente, die aus militärischen Versuchen mit Killersatelliten resultierten, oder durch Kollisionen etwa ausgedienter Satelliten erzeugt wurden. So schoss die chinesische Regierung internationalen Protesten zum Trotz 2007 ihren alten Wettersatelliten„Fengyun 1C“mit einer Rakete ab, und sorgte damit in einer Höhe von 700 bis 900 Kilometern für eine dauerhafte Gefahr für Erdbeobachtungs-Satelliten. 2009 entstanden unzählige Trümmerteile, als ein ausrangierter russischer Satellit der „Kosmos“ Baureihe mit einem Kommunikations-Satelliten kollidierte. Markus wusste von Modellerfassungen der Europäischen Raumfahrtagentur (ESA), deren zufolge sich mittlerweile bis zu 600.000 Objekte mit einem Durchmesser von mehr als einem Zentimeter und einem Gesamtgewicht von mehr als sechstausend Tonnen in diversen Umlaufbahnen um die Erde tummelten. Die Tendenz war mit dem Hinzukommen der neuen Raumfahrtnationen China, Indien und Brasilien weiter stark ansteigend. 2011 hatte eine Studie des National Research Council in den USA davor gewarnt, dass Weltraumschrott in den erdnahen Umlaufbahnen bald eine kritische Dichte erreichen würde. Bei Überschreiten dieser Schwelle würde sich die Zahl der Trümmerteile durch Kollisionen automatisch vervielfachen. Raumfahrt - bemannt oder unbemannt - könnte dann auf viele Jahre hinweg unmöglich werden.Um Gefährdungen für neue unbemannte oder bemannte Missionen zu vermeiden, war jedenfalls eine ständige Überwachung dieser Objekte unerlässlich geworden. Glücklicherweise hatte die technologische Weiterentwicklung von Radarsystemen in den letzten Jahrzehnten Schritt gehalten und zu äußerst leistungsfähigen Systemen geführt, die es erlaubten noch Objekte bis zu wenigen Millimetern Größe zu erfassen.
Mit Hilfe des amerikanischen „Space Surveillance Systems“etwa wurden an die 13.000 potenziell gefährliche Objekte kontinuierlich beobachtet. Software-gestützte Modelle erlaubten Vorhersagen über Flugbahnen und mögliche Wechselwirkungen. Das ermöglichte den Kontrollzentren günstige Startfenster zu berechnen, teure Satelliten zu schützen, oder die Crews bemannter Expeditionen rechtzeitig zu warnen. Aufgrund der meist hohen Relativgeschwindigkeiten im Bereich von einigen Kilometern pro Sekunde konnte der Einschlag bereits winzigster Objekte zu größeren Schäden und gefährlichen Lecks in Raumanzügen oder Habitaten führen.Bei hinreichender Vorwarnzeit konnte die ISS über den Schub angekoppelter russischer Versorgungsfrachter vom„Progress“-Typ oder über die bordeigenen Schubdüsen aus der kritischen Flugbahn bewegt werden.
Eine Evakuierung in die Sojus-Raumschiffe, wie jetzt angeordnet, war daher selten und der letzte Ausweg, wenn die Zeit für ein Ausweichmanöver nicht ausreichte. Für die Normbesatzungsstärke von sechs Crewmitgliedern verblieben für diesen Zweck meist zwei Sojus-Raumschiffe ständig an den russischen Modulen der ISS angekoppelt. Sie verfügten über eigenständige Lebenserhaltungs-Systeme und erlaubten jederzeit eine vorzeitige Rückkehr zur Erde. In den seltenen Fällen, in denen die Crews früherer Missionen in die Sojus-Raumschiffe fliehen mussten, waren sie jeweils für eine überschaubare Zeit in den Kapseln geblieben, bis die Bodenstationen Entwarnung gegeben hatten. Markus rechnete auch diesmal nicht damit, dass die Station dauerhaft verlassen werden musste oder gar eine frühzeitige Rückkehr zur Erde bevorstand.
»Müssen wir abkoppeln?«, fragte er.
»Das Objekt ist schon sehr nah, die Wahrscheinlichkeit einer Kollision liegt laut Houston bei etwa zehn - bis zwanzig Prozent«“, führte Josh weiter aus. »Bei der gegebenen Unschärfe macht es wohl keinen Unterschied mehr, ob wir dran bleiben oder abkoppeln“.«
»CAPCOM sagt FLIGHT hat Anweisung gegeben die Sache auszusitzen“«, fügte Kathy hinzu.
Josh drehte sich an Markus vorbei und suchte sich etwas mehr Platz für seine Beine.
»Ich erinnere mich noch an die letzten Zwischenfälle dieser Art: Ich glaube es war 2011, als ein Stück Schrott direkt auf die Station zuflog, und die Crew in einer ähnlich hektischen Aktion in die Rettungskapseln fliehen musste. Das Fragment passierte dann die ISS in nur 250 Meter Abstand. Ein Jahr später waren es Trümmerteile eines alten russischen Kosmos-Satelliten und 2015 eines russischen Wettersatelliten, die der Station zu nahe gekommen waren. Ich hoffe, wir haben Glück und es geht so glimpflich ab wie damals.«
In seiner Stimme klang Besorgnis mit.
Wenige Minuten später waren die Helme aufgesetzt und die Anzüge standen unter Druck. Über das aktivierte Kommunikations-System meldete Aleksei aus der zweiten Sojus-Kapsel den Abschluss der Evakuierungsaktion an CAPCOM, und stellte zur allgemeinen Erleichterung endlich den Alarm ab. Aleksei nutzte die Gelegenheit, um sich darüber zu beschweren, dass er wegen Mission Control ein laufendes Schachspiel hatte abbrechen müssen - und das, wie er betonte, bei eindeutigem Stellungsvorteil.Wie viele Russen war Aleksei ein leidenschaftlicher und virtuoser Schachspieler. Da er auf der Station keinen spielstarken Gegner fand, spielte er in der knapp bemessenen Freizeit oft Kurzpartien über ein internetbasiertes Schachportal mit „„bodenständigen““ Gegnern.
»Also dann, jetzt heißt es wohl warten“«, seufzte Josh, und brachte sich in eine möglichst bequeme Position. Markus sah zu ihm hinüber und nickte ihm zu. Für Josh war Mission 60/61 der erste Einsatz im All. Seine Laufbahn hatte als Kampfpilot der US-Luftwaffe begonnen. Anfang des neuen Jahrtausends hatte Josh einen Job als Testpilot für neue Flugzeugtypen und bereits mehr als 3.000 Flugstunden absolviert, bevor er an einem Auswahlprogramm der NASA teilnahm. Nach Durchlaufen mehrerer Trainingsprogramme, einige davon in Star City in Russland, hatte er zunächst als Reserve-Crewmitglied sowie als Kommunikations-Kommandeur - im NASA Jargon„Capsule Communication Commander“oder kurz„„CAPCOM““ genannt - der Mission 58/59 gedient, bevor er als Teilnehmer der Mission 60/61 zu seinem ersten Einsatz kommen sollte. Während seiner militärischen Laufbahn hatte Josh einen Abschluss als Elektroingenieur erworben und fungierte auf dieser Mission als dritter Flugingenieur. An technischem Gerät gab es an Bord kaum etwas, das Josh im Falle eines Defektes nicht umgehend reparieren konnte.
Kathy beendete den Check der Instrumente und verstaute die Checklisten in einer Schublade. Der Funkverkehr ebbte jetzt ab und nach der Hektik der Evakuierung wurde es langsam still im Innern der Sojus-Raumschiffe.
Markus dachte über die Informationen nach, die sie bekommen hatten: Es war klar, dass im Unterschied zu ihren Übungen die Gefahr diesmal nur allzu real war. Eine derart hohe Wahrscheinlichkeit für eine Kollision hatte es in der Geschichte der ISS noch nicht gegeben, und ein größeres Objekt konnte katastrophale Schäden anrichten. Ein direkter Treffer der Kapsel würde den sicheren Tod bedeuten. Zum ersten Mal seit dem Start fühlte er, wie sich sein Puls merklich beschleunigte. Er blickte seine beiden Kollegen an und meinte, durch die Sichtscheiben der Helme in ihren Gesichtern ebenfalls Anspannung und Nervosität lesen zu können. Bei jeder bemannten Weltraum-Mission gab es eine Reihe sehr konkreter Gefahren, derer sich alle Astro- und Kosmonauten bewusst waren. Neben den greifbaren Risiken, vor allem während des Starts und des Wiedereintritts in die Atmosphäre, war vor allem die erhöhte Strahlenbelastung ein Problem. Ein Mensch war an Bord der ISS einer etwa 100-mal höheren Strahlenbelastung ausgesetzt als auf der Erde. Bei Außeneinsätzen stieg diese Belastung nochmals deutlich an. Das Ausmaß dieser Strahlenbelastung an Bord und außerhalb der ISS war von früheren Missionen recht genau ermittelt worden. Dafür hatte man eine siebzig Kilogramm schwere Puppe,„Matroschka“genannt, mit Sensoren vollgestopft und an der Außenwand der ISS befestigt. Hauptverursacher der Belastung war die kosmische Strahlung, die aus energiereichen, geladenen Teilchen besteht, die größtenteils von der Sonne stammen. Dazu gab es noch energiereichere Strahlung, deren Ursprung in exotischen Quellen wie Quasaren und schwarzen Löchern vermutet wurde. Das Erdmagnetfeld und die Atmosphäre bildeten einen wirksamen Schutzschirm, der die Strahlenbelastung auf der Erdoberfläche hinreichend reduzierte. Die ISS aber, die in Höhen von 350 bis 400 Kilometern den Planeten umkreiste, war dieser Strahlung in deutlich stärkerem Maße ausgesetzt. Das damit verbundene Gesundheitsrisiko gehörte zum Berufsrisiko. Ebenso natürlich wie eine Kollision mit Weltraumschrott. Im Vergleich zu den anderen Risiken war Letzteres als vergleichsweise gering eingestuft worden. Allerdings half diese Tatsache in der jetzigen Situation nicht allzu viel. Markus erinnerte sich daran, dass es in der Vergangenheit immer wieder zu Ereignissen gekommen war, die als„extrem unwahrscheinlich“und„nahezu auszuschließen“eingestuft worden waren. Beispiele waren Flugzeugabstürze, bei denen mehrere Triebwerke gleichzeitig ausgefallen waren, Personen, die in ihrem Leben gleich mehrfach von einem Blitz getroffen worden waren - und überlebt hatten, oder die Kernschmelze im Atomkraftwerk Fukushima in Japan im Jahre 2011, verursacht durch die Kombination eines extrem schweren Erdbebens und eines nachfolgenden gewaltigen Tsunami, der die Notkühlsysteme ausschaltete.
Markus betrachtete die ihn umgebende Metallhülle des Sojus-Raumschiffes. In diesem Raumschiff waren Kathy, Markus und der erste Flugingenieur, Anatoli Sokolov, zur Station geflogen. Mit ihm, so war der Missionsplan, würden sie auch in etwa einem Monat zur Erde zurückkehren. Für die Dauer ihres Aufenthaltes auf der ISS hatten Josh und Anatoli die Plätze in den Sojus-Raumschiffen getauscht, sodass sie entsprechend ihrer Arbeitsaufteilung an Bord als ein internationales und ein russisches Team auf die beiden Kapseln verteilt waren. Markus wurde wieder bewusst, dass sie nur dünne Aluminiumwände von der lebensfeindlichen, luftleeren Kälte des Raumes trennten. Ganz ähnlich musste sich die Besatzung eines U-Bootes gefühlt haben, welches von einem Zerstörer aufgespürt worden war: Schweigend den sich nähernden Schraubengeräuschen und Pings lauschend, und nicht wissend, ob ihre stählerne Röhre im nächsten Moment von Wasserbomben durchschlagen und sie vom Wasserdruck zermalmt würden - oder das Schicksal sie noch einmal verschonen würde.Endlose Minuten hing die Crew nun schon schweigend ihren Gedanken nach. Es gab nichts mehr zu tun, als auszuharren und auf die erlösende Entwarnung durch die Bodenstationen zu hoffen. Aber die ließ weiterhin auf sich warten. Die Sekunden und Minuten verstrichen, ohne dass ein Zeichen von CAPCOM kam. Markus hätte jetzt gerne sein privates Logbuch genommen und seine Gedanken notiert, aber da er den Sokol-Anzug trug, gab es keine Chance, an das Büchlein in der Tasche seines Overalls zu kommen. Stattdessen befingerte er die Taschen seines Raumanzuges und fand darin die kleine Photonenpumpe, die er vor dem Start von seinem Sohn geschenkt bekommen hatte:»Falls bei Euch da oben mal das Licht ausfällt«, hatte er gesagt, und Markus hatte lachen müssen. Er hatte sie seit seiner Ankunft auf der Station nicht gebraucht und zwischenzeitlich völlig vergessen.Je länger sich das Warten hinzog, desto stärker wuchsen Anspannung und Nervosität. Josh schaute auf seine Uhr, die er über dem Anzugärmel trug.
»Die zehn Minuten sind längst rum, CAPCOM sollte ...«
Weiter kam er nicht.Urplötzlich wurde die Station von heftigsten Vibrationen erfasst und durchgeschüttelt. Der Impuls übertrug sich augenblicklich auf die Insassen: Markus´ Helm machte unliebsame Bekanntschaft mit der Innenwandung der Kapsel. Kathy wurde herumgewirbelt und kollidierte mit Josh, der fluchend versuchte Halt zu finden. Starke Schockwellen liefen durch die Kapsel. Gleichzeitig hörten sie furchtbare Geräusche wie von berstendem Metall. Geschosse trafen auf ihre Kapseln und erzeugten beim Aufprall Geräusche laut wie Pistolenschüsse. Es dauerte nur Sekunden, die der Crew aber wie eine Ewigkeit vorkamen, dann ließen Vibrationen und Lärm langsam nach – und dann war es vorbei.
Die blanke Panik stand ihnen in den Augen. Während des Aufenthaltes auf der ISS hatte jeder in der Crew die Gedanken an die durchaus realen Gefahren ihrer Mission verdrängt. Die mit Arbeit vollgestopften Tage und die Routinen an Bord ließen keinen Platz für Grübeleien. Nun aber war Verdrängung nicht mehr möglich, war aus einem Risiko mit einer geringen Eintrittswahrscheinlichkeit eine Realität geworden, mit der sie sich auseinandersetzen mussten: Die Station war getroffen und mit Sicherheit schwer beschädigt worden!
Markus verspürte nach seinem unsanften Kontakt mit der Kapselwand einsetzende Kopfschmerzen. Immerhin hatte sein Helm Schlimmeres verhindert. Nachdem die Vibrationen und das Bombardement aufgehört hatten, gingen sie umgehend an die Schadensanalyse.Die ISS war mit diversen internen und externen Kommunikations-Einrichtungen ausgestattet. Der US-Teil der ISS nutzte Sende- und Empfangsvorrichtungen, die am Trägergerüst der Station angebracht waren und über ein Satellitensystem Kommunikation in Echtzeit mit dem Kontrollzentrum in Houston ermöglichten. Im russischen Teil der Station erfolgte die Kommunikation mit den Bodenstationen meist über die sogenannte„Lira“-Antenne, die am Wohn- und Servicemodul„Swesda“ („„Stern““) angebracht war und eine direkte Verbindung ermöglichte. Ferner gab es ein älteres,„Voskhod-M“genanntes System für eine interne Kommunikation zwischen den russischen Modulen Swesda,„Zarya“(„„Morgenröte““),Nauka und„Poisk“(„„Suche““) per Telefon. Darüber hinaus war für die Kommunikation zwischen allen Modulen der Station auch noch ein moderneres, digitales „wireless“ Netzwerk verfügbar.
Wie sich rasch herausstellte, waren die wesentlichen Kommunikations-Einrichtungen intakt geblieben, was die Crew erleichtert zur Kenntnis nahm. Aleksei meldete sich mit ruhiger Stimme:„»Sojus 1, bitte um Schadensmeldung!“«
Markus antwortete: „»Wir sind kräftig durchgeschüttelt worden und haben einige Treffer abbekommen, aber die Kapsel ist intakt, der Druck ist konstant. Kathy, kannst Du etwas erkennen?“«
Kathy klebte an dem kleinen Fenster im Orbitalmodul, das im angekoppelten Zustand allerdings nur ein eingeschränktes Sichtfeld freigab.
„»Einige kleine Trümmerteile schweben noch um uns herum, ich kann aber nicht sehen, woher sie kommen“.«
Grigorij Jegorow, einer der beiden anderen Kosmonauten, die sich mit Aleksei in der zweiten Sojus befanden, erwiderte:»„Ich habe ebenfalls Trümmerteile gesehen, der Form nach könnte es sich um abgesprengte Teile der Stützstruktur handeln, und“«- so fügte er nach einer kurzen Pause hinzu -»„vielleicht eines Sonnensegels“.Sie haben sich aber zu rasch aus dem Sichtfeld bewegt, um sicher sein zu können“.«
Dann meldeten sich in kurzer Folge die Bodenstationen. Die beiden Kontrollzentren in Houston (USA) und in dem nahe Moskau gelegenen Koroljow waren für den Gesamtbetrieb der ISS verantwortlich. Ohne Zustimmung oder Anweisung der verantwortlichen Flug-Direktoren in den beiden Kontrollzentren - kurz „„„FLIGHT““ genannt - ging auf der ISS gar nichts. Sie koordinierten auch die Kommunikation und den Datenaustausch mit den nachgeordneten Bodenstationen in den jeweiligen Partnerländern. Der amerikanischen Zentrale in Houston kam dabei die primäre Verantwortung für die Sicherheit der Station zu.
»„CAPCOM an Sojus, hier ist Richard, ich stehe für die nächste Zeit zu Eurer Verfügung“.«
Markus horchte auf: Richard Wellesley war für die ISS-Besatzung ein alter Bekannter und für Markus nahezu ein Freund. Richard war für die Mission 60/61 als Crewmitglied eingeplant gewesen und hatte das gesamte Trainingsprogramm mit der Crew durchlaufen. Zwei Wochen vor dem Abflug hatten sie zusammen mit ihren Familien einen schönen Abend in einem russischen Restaurant in Moskau bei gutem Essen und einem erstklassigen roten Wein aus Georgien verbracht.Markus und Richard hatten extra verabredet, an diesem Abend einmal nicht über die Mission zu sprechen. Aber Marjorie und Richards Frau Dana hatten dann nahezu ohne Unterlass über die bevorstehende Mission und die Zeit ohne ihre Männer geredet. Markus und Richard hatten lächelnd danebengesessen und den Wein genossen. Selbst die Kinder hatten sich mit einem einfachen Würfelspiel vergnügt, das Marjorie mitgebracht hatte und für das nicht allzu viel sprachliche Verständigung erforderlich gewesen war.
Dann aber, einige Tage vor dem Start der Mission, war das Unglück passiert: Richard war im Hallenbad am Rand des Schwimmbeckens unglücklich ausgerutscht und hatte sich das Handgelenk angebrochen. Es war keine schwerwiegende Verletzung gewesen, aber Richard hatte sofort gewusst, dass sie ihm den Startplatz kosten würde. Und das hatte ihm sehr viel mehr Schmerzen bereitet als die Verletzung selbst. Der frei gewordene Platz war entsprechend einem Mitglied der Ersatzcrew, in diesem Falle Kathy, zugefallen.
Richard hatte sich in sein Schicksal ergeben und unterstützte die Mission nun vom Boden aus. Er sprach stets langsam und mit einer schleppenden, leisen Stimme, die ihn für Unbekannte leicht phlegmatisch erscheinen ließ. Markus dagegen wusste, dass Richard einer der fähigsten Astronauten im amerikanischen Korps war, jemand, der auch in schwierigen Situationen einen ruhigen Kopf bewahrte. Er war froh, ihn als Unterstützung am Boden zu haben.
„»Rich, tut wirklich gut Dich zu hören, wie schlimm sieht es aus für uns?«“, fragte er.
»„Ahh, Markus, zum jetzigen Zeitpunkt noch schwer zu sagen, die Bodenstationen sind dabei, einen gemeinsamen Krisenstab zu bilden. Wie Ihr wisst, sind für eine solche Situation ausgearbeitete Notfallpläne vorhanden. Man hat sich bereits darauf geeinigt, dass Houston die primäre Kommunikation mit Euch da oben übernehmen wird, und damit bin ich für die nächsten Stunden Euer CAPCOM. Der Krisenstab unterzieht alle wichtigen Systeme einem Check. Bis wir damit fertig sind müsst Ihr in jedem Falle in den Kapseln bleiben“.«
Er machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu:
„»Ahm, wartet mal, ich schaue gerade mit einem Auge auf die Monitore, die uns Schwenks einer intakt gebliebenen Außenkamera zeigen. Sieht so aus, als ob der primäre Einschlag im S0-Modul der Stützstruktur erfolgt sein könnte. Wir müssen uns das aber im Detail anschauen und auch mögliche Sekundärschäden analysieren. Wir werden darüber hinaus die Trümmerteile auf dem Radar beobachten und entscheiden, ob wir eine Bahnkorrektur vornehmen müssen, noch bevor Ihr die laufende Umrundung abgeschlossen habt und die Unfallstelle wieder passiert wird. Soweit wir das beurteilen können, besteht aber derzeit keine akute Gefahr. Deswegen bleibt Ihr mit den Kapseln an der ISS angekoppelt. Wir durchlaufen mit Hochdruck sämtliche Routinen, ahh, ich melde mich bei Euch, sobald wir Genaueres wissen“.«
Markus hörte Aleksei sagen: „»Verstanden CAPCOM, warten auf die Ergebnisse Eurer Analysen“.«
Markus haderte mit der Situation. Einen Monat noch - und die Mission wäre erfolgreich beendet gewesen.Er war sich des Risikos in der bemannten Raumfahrt stets bewusst gewesen. Er lebte und arbeitete damit, aber er war keineswegs ein Typ, der dieses Risiko gesucht hätte. Es war nicht primär die Erwartung von Extremerfahrungen - schon gar nicht dieser Art - gewesen, die ihn zur Raumfahrt gebracht hatte.Markus hatte eine Laufbahn als Wissenschaftler eingeschlagen und war erst auf Umwegen zur Raumfahrt gekommen. Nach dem Abitur hatte er zunächst ein Studium der Biologie in Marburg begonnen und sich auf Molekulargenetik spezialisiert. Seine Diplomarbeit hatte er über sogenannte „Biofilme“ geschrieben. Darunter verstand man komplexe mikrobielle Lebensgemeinschaften, in denen unterschiedlichste Mikroorganismen in enger Nachbarschaft existierten und dabei einen lebhaften Austausch genetischer Information betrieben. Markus hatte Biofilme aus Sedimenten einer nah gelegenen Kläranlage isoliert und mit den damals modernsten verfügbaren Methoden der Molekularbiologie analysiert.
Innerhalb eines einzigen, sehr produktiven Jahres hatte er das Erbmaterial einer Vielzahl der Mikroorganismen entschlüsselt, die in diesem Verbund koexistierten. Er begann, nebenher Bioinformatik zu studieren, um die enormen Datenmengen, die dabei anfielen, auswerten zu können. Fortschritte in der modernen Biologie, so begriff er rasch, würden in Zukunft ohne begleitende Fortschritte in der Informationsverarbeitung kaum noch denkbar sein.
Markus´ Eltern hatten nie über viel Geld verfügt und sie konnten sein Studium finanziell nur unzureichend unterstützen. Er gab daher abends noch diverse Kurse an der Volkshochschule, um über die Runden zu kommen, bis ihm der Erfolg seiner Diplomarbeit ein Stipendium bescherte, mit dem er eine Promotion finanzieren konnte. Das Thema seiner Dissertationsarbeit drehte sich zunächst um die Entwicklung eines neuartigen optischen Detektors zur Untersuchung molekularer Wechselwirkungen sowie um entsprechende Auswerteverfahren für die komplexen Datensätze, die dieser Detektor liefern würde. Er gründete einen Arbeitskreis für Bioinformatik, lud Experten anderer Arbeitsgruppen und Universitäten zu Seminaren ein, und hielt vermehrt Vorträge auf Tagungen und Konferenzen über seine Forschungsarbeiten. Als sein Doktorvater einen Ruf an die Universität Bielefeld erhielt, wechselte Markus mit ihm und begann an der neuen Wirkungsstätte mit dem Aufbau eines neuen Forschungslabors.In seiner Freizeit ging er aus Interesse in Vorlesungen des dortigen Fachbereichs für biologische Kybernetik, eines ebenfalls noch jungen Wissenschaftszweiges, der Verhaltensphysiologie, Elektrophysiologie, Bionik, Molekularbiologie und Informatik zusammenführte. Durch eine genaue Beobachtung von Patentlösungen, die die Natur in vier Milliarden Jahren Evolution erfunden und optimiert hatte, konnten neue technische Lösungen abgeleitet werden. Klassische Beispiele waren Anwendungen des Lotuseffektes, oder die Optimierung von Flugzeug-Tragflächen auf der Basis kybernetischer Analysen an Vogelflügeln. Ihm gefiel der interdisziplinäre Ansatz dieses neuen Forschungsgebietes und er begann, sich intensiv damit zu beschäftigen.Wie immer, wenn ihn etwas gefangen nahm, tat er das nahezu obsessiv und er musste bald erkennen, dass sich diese Nebenaktivität nicht förderlich auf seine laufende Promotion auswirken würde. Aber Kybernetik hatte es ihm angetan und so entschloss er sich kurze Zeit später zu einem Wechsel der Fakultät. Er begann mit einer neuen Dissertation und arbeitete über die Selbstorganisation biologischer Systeme anhand von Virusmodellen, speziell über die Proteinhülle von Viren, die Bakterien befielen. Die Hülle dieser„Bakteriophagen“wurde aus verschiedenen Proteinkomponenten gebildet, die sich bei der Entstehung neuer Partikel scheinbar spontan und ohne äußere Hilfe fanden undaneinanderfügten. Selbstorganisation war kein unbekanntes Phänomen, aber die Erkenntnisse, die Markus während seiner Promotion gewinnen konnte, führten zu einer wertvollen Erweiterung des Verständnisses der zugrunde liegenden Prinzipien. Zweieinhalb Jahre später schloss er seine Promotion mit der Auszeichnung „„Summa Cum Laude““ ab, hatte einige Publikationen in bedeutenden Fachzeitschriften untergebracht, und die Tür zu einer wissenschaftlichen Karriere war für ihn weit geöffnet.
Nach den hinter ihm liegenden Jahren intensivster Arbeit, beschloss er aber zunächst einmal Pause vom wissenschaftlichen Betrieb zu machen. Er unternahm mit Freunden eine dreimonatige Reise durch Nordeuropa. Dabei traf er in Lettland auf eine Studentin aus Köln mit dem etwas ausgefallenen Namen Marjorie und stellte fest, dass es auch andere Dinge gab, die seine Aufmerksamkeit dauerhaft zu fesseln vermochten.
Unmittelbar nach seiner Rückkehr bekam Markus die Chance für einen PostDoc Aufenthalt am Whitehead Institute für biomedizinische Forschung, dessen Professoren dem naheliegenden MIT, dem „Massachusetts Institute of Technology“ in Cambridge angehörten, einem Vorort von Boston an der Ostküste der USA. Das MIT war eine der weltweit führenden Forschungsstätten rund um neueste Technologien. Ein Angebot, das er einfach nicht ablehnen konnte. Er nahm sich eine kleine Wohnung im Stadtteil Cambridgeport. Sie waren sicher, dass Ihre Beziehung die Trennung überstehen würde, doch schon nach einigen Monaten musste er sich eingestehen, dass dem nicht so war. Die anfangs häufigen Telefonate und Briefe wurden seltener und blieben schließlich ganz aus.
Markus begrub seinen Kummer unter einem enormen Arbeitspensum. Erst nach und nach begann er, seine Umgebung zu erkunden. Das Whitehead und das MIT bildeten einen regelrechten Innovationsvulkan, dessen stetige Eruptionen dazu geführt hatten, dass sich rund um das Gelände am Charles River eine Vielzahl kleiner Spin-off Firmen gebildet hatten, die die geistige Lava in gewinnbringende technische Neuentwicklungen umzusetzen suchten. Zudem gab es gegen Ende des 20. Jahrhunderts keinerlei Mangel an Risikokapital. Zeitweise reichte eine interessante Idee, die nicht unbedingt mit einem soliden Geschäftsplan belastet sein musste, bereits aus, um an Anschubfinanzierungen in Millionenhöhe zu kommen.
Markus entwickelte Prototypen eines neuartigen optischen Detektors, mit dem Wechselwirkungen von Biomolekülen mit Rezeptoren auf Licht leitenden Oberflächen untersucht werden konnten. Im Zuge dieser Forschungen kam er in Kontakt mit dem Geschäftsführer einer Firma, einem ehemaligen Professor des MIT, der dem Universitätsbetrieb den Rücken gekehrt und sich in das Abenteuer der freien Wirtschaft gestürzt hatte. Dieser interessierte sich für die Technologie und den Prototypen, den Markus entwickelt hatte. Es entstand eine intensive Kollaboration, in deren Verlauf Markus zeitweise in den Labors des Whitehead, und zeitweise in denen der Firma arbeitete. Als sein PostDoc Vertrag auslief und er ein Angebot erhielt, in dieser Firma als Projektleiter dauerhaft tätig zu werden, war er drauf und dran zuzusagen. Dann aber erreichte ihn die Nachricht, dass sein Vater einen Herzinfarkt erlitten hatte und auf der Intensivstation lag. Schweren Herzens sagte er zunächst einmal ab und kehrte nach Deutschland zurück, um einige Zeit wieder bei seinen Eltern zu verbringen und seiner Mutter zu helfen. Während dieser Zeit nahm er alte Kontakte wieder auf und führte ein Gespräch mit seinem ehemaligen Doktorvater, der inzwischen eine Professur in Köln angenommen hatte. Markus erfuhr, dass das Institut seines Doktorvaters mit einer Firma in Köln kollaborierte, die einen Projektleiter für die Entwicklung neuartiger Nachweisverfahren für Infektionserreger suchen würde. Das Gespräch endete damit, dass Markus zusagte, seine Bewerbungsunterlagen zu übersenden. Einige Wochen und zwei ausgiebige Bewerbungsgespräche später hatte er eine neue Stelle und kehrte der Option in Cambridge endgültig den Rücken. Er suchte sich eine Wohnung im Kölner Süden und fand sich mit seiner Erfahrung aus den USA in dem kleinen Unternehmen rasch zurecht.
In den darauf folgenden zwei Jahren etablierte sich Markus in der rasant wachsenden Firma. Für jemanden, der Erfahrung und Talent vereinte und bereit war, Verantwortung zu übernehmen, gab es kaum ein Limit. Als er am Abend eines langen Arbeitstages mit seiner Arbeitsgruppe in einer der typischen Kölner Szenekneipen saß, um die Markteinführung eines neuen Produktes zu feiern, fiel sein Blick auf eine Person am Tisch gegenüber. Er verstummte mitten in einem Satz der kleinen Ansprache, die er sich zurechtgelegt hatte, sein Kinn klappte herunter, und er fühlte sich von vielen Augen beobachtet, als er langsam aufstand und zu Marjorie hinüberging.So hatten sie sich wiedergefunden und noch am gleichen Abend zu einem Treffen verabredet. Es dauerte nicht lang und sie waren wieder ein Paar. Einige Monate später zogen sie zusammen in eine großzügigere Altbauwohnung nahe der Universität.
Obgleich Marjorie seine beruflichen Interessen nicht immer teilte - sie hatte Psychologie studiert und arbeitete in der Personalabteilung des Westdeutschen Rundfunks WDR - fühlte er in ihr eine enge Wesensverwandtschaft. Stets zeigte sie großes Interesse an allem Neuen und sie sprühte vor Wissbegierde.
Eines Morgens im September las ihm Marjorie aus der Zeitung vor, dass auf dem Gelände des Europäischen Astronauten Zentrums in Köln-Porz und dem Flughafen Köln-Bonn ein„Tag der deutschen Luft- und Raumfahrt“veranstaltet würde. Ausrichter waren das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und die ESA, die Europäische Weltraumorganisation, das europäische Gegenstück zur NASA. Kurz entschlossen fuhren sie hin und schauten sich auf dem weitläufigen Gelände um. Sie stellten sich in die Schlange für Hubschrauber-Rundflüge und sahen sich einige der auf dem Flughafen-Gelände aufgestellten Maschinen an. Anschließend wandelten sie durch die vielen Pavillons, in denen neue Missionen vorgestellt wurden oder auch die vielfältigen Forschungsergebnisse vergangener Missionen dargestellt wurden. Es gab ein Modell des europäischen Columbus-Moduls für die Internationale Raumstation, sowie Europas tiefstes Schwimmbecken, in denen angehende Astronauten in voller Montur Arbeitseinsätze an Modellen unter schwerelosigkeitsähnlichen Bedingungen demonstrierten. Die Tätigkeiten der Astronauten in dem zehn Meter tiefen Becken wurden gefilmt und auf Monitore übertragen, während Kollegen den Zuschauern Erklärungen gaben und Fragen beantworteten.
Markus stand in der Menge und hörte fasziniert zu.
Er hatte sich Astronauten immer als große, kräftige, athletisch gebaute Menschen vorgestellt. Die Frauen und Männer, die er hier vor sich sah, wirkten ohne Zweifel durchtrainiert, aber waren keineswegs muskelbepackt und athletisch, die meisten waren von mittlerer Statur, einige sogar eher klein und drahtig. Er kannte diesen Typus Mensch, es waren eher Ausdauer- als Hochleistungssportler, keine Sprinter, sondern Langstreckler. Er selbst hatte eine ähnliche Statur und hatte seit jeher Ausdauersport betrieben. Während seiner Zeit in den USA hatte er einige Marathons, unter anderem den berühmten Boston-Marathon absolviert, und hatte auch nach seiner Rückkehr nach Deutschland stets drei bis viermal pro Woche trainiert. Trotz der feuchtheißen Luft in der Halle kam er in ein längeres Gespräch mit einem der Trainer und erfuhr so, dass man für eine Ausbildung als Astronaut heutzutage keine Militärkarriere mehr hinter sich gebracht haben musste. Wissenschafts-Astronauten gehörte die Zukunft. Man musste sehr guter Gesundheit und physiologischer Konstitution sein, gut, das stand außer Frage. Darüber hinaus aber waren Eigenschaften wie Stress-Resistenz, zielorientiertes Handeln, ausgeprägte Teamfähigkeit, interdisziplinäre Erfahrung, sehr gute Kenntnisse zumindest der englischen Sprache sowie exzellente Kommunikationsfähigkeiten wichtige Voraussetzungen.
Nebenbei erfuhr er auch, dass das Europäische Astronauten-Korps (EAC) eine Erweiterung plante. Bewerben könnten sich Personen aus allen Mitgliedsstaaten der EU, Informationen würden sich auf der EAC Homepage finden.
Er hätte sich gerne noch weiter unterhalten, aber Marjorie zog ihn mit dem Hinweis aus der Halle, dass sie keine Luft mehr bekommen würde und unbedingt nach draußen müsse. Sie hielten sich noch einige Zeit auf dem Gelände auf und fuhren dann zurück.
Die Lunte aber war gelegt.
In den folgenden Wochen informierte er sich zunächst im Internet über die Bewerbungsrunde und reichte einen Tag vor Ende der Frist seine Unterlagen inklusive eines medizinischen Gutachtens ein. Einige Wochen passierte nichts, dann fand er eines Abends einen Brief der EAC im Briefkasten.Es war eine Einladung für ein erstes Gespräch.
Darin stand auch, dass mehr als 7.500 Bewerbungen für sechs Ausbildungsplätze eingegangen waren. Mehr interessiert als ambitioniert absolvierte er das Eingangsgespräch, in dem sein Erfahrungshintergrund ausgeleuchtet und seine grundsätzliche fachliche Eignung festgestellt wurde.
Zu seiner Überraschung wurde er dann im Januar des Folgejahres zu einem Eingangstest nach Hamburg eingeladen, eine Ganztages-Veranstaltung mit Überprüfungen von Fach- und Allgemeinwissen, sowie zahllosen psychologischen Tests.Erst als er zu einem zweiten Auswahlverfahren im März in Köln eingeladen wurde, begann sich Markus erste Hoffnungen zu machen. Wieder ging es primär um psychologische Tests sowie um Testreihen zur Beurteilung der kognitiven Fähigkeiten. Nochmals einige Wochen später kam eine weitere Einladung, diesmal nach Toulouse, und ihm wurde klar, dass er sich jetzt ernsthaft mit der Möglichkeit auseinandersetzen musste, in Kürze vor einer weitreichenden Entscheidung zu stehen.Marjorie hatte er bislang von „Fachtagungen“ erzählt, er wollte nicht, dass sie sich unnötig Sorgen machte. Aber mittlerweile wusste er, wie seine Entscheidung ausfallen würde und er nahm all seinen Mut zusammen. Er lud Marjorie zum Abendessen ein und berichtete ihr vom Stand seines Bewerbungsverfahrens. Sie hörte ihm zu, sah ihn an und sagte dann:
»Ich weiß, Du hast Deine Entscheidung schon getroffen, ich habe gesehen, wie es Dich gepackt hat. Ich hatte schon geahnt Du würdest Dich bewerben. Wenn Du diese Chance bekommst, bin ich dafür, dass Du sie annimmst!“«
Erleichtert nahm er ein Flugzeug nach Toulouse, absolvierte dort umfangreiche medizinische Tests, Belastungsprüfungen und Laboruntersuchungen. Zu seiner Verwunderung nahm er auch diese Hürde und dann auch noch die letzte, ein Gespräch im Mai vor dem Auswahl-Ausschuss der ESA. An das Gefühl, als ihn in der Woche darauf der Anruf der ESA erreichte und er erfuhr, dass er im Juli mit dem Basistraining beginnen würde, konnte er sich noch immer gut erinnern, obgleich das mittlerweile mehr als dreizehn Jahre her war. Es war weniger ein Glücksgefühl als ein Gefühl ungläubigen Staunens gewesen.
Er kündigte seinen Job und begann mit dem Training. Bald darauf wurde Marjorie schwanger und ihre Tochter Isa kam zur Welt, zwei Jahre später folgte Sohn Linus, während er ein Trainingsprogramm in Houston absolvierte. Nach sieben Jahren Ausbildung absolvierte er seine erste Mission, und jetzt, nach weiteren acht Jahren, war er Teil der Mission 60/61.Er dachte an all jene Zufälle und Kreuzungspunkte auf dem langen Weg, den er hinter sich gebracht hatte, an denen sein Schicksal leicht eine andere Wendung hätte nehmen können. Aber er war sicher keine Ausnahmeerscheinung. Im Lebensweg der meisten Menschen wimmelte es von folgenschweren Zufällen, unverhofften Begegnungen, unerwarteten Chancen, von denen manche genutzt, andere verpasst wurden. Er war ausgesprochen dankbar, dass ihn der Zufall und seine Entscheidungen bis hierher auf die ISS geführt hatten.
Jetzt aber war die Situation nicht wirklich angenehm.Seit etwa zweidreiviertel Stunden war die Besatzung nun schon in den Sojus-Rettungskapseln. Gemäß der an Bord vorgegebenen UTC („„Coordinated Universal Time“) hatte der Einschlag kurz vor 20:00 Uhr stattgefunden.Markus rechnete um: Um von der jeweiligen UTC auf die Mitteleuropäische Zeit (MEZ) zu kommen musste man eine Stunde aufschlagen und um auf die Mitteleuropäische Sommerzeit (MESZ) umzustellen zwei Stunden. Die „koordinierte Weltzeit“ war seit 1972 ein allgemeiner Standard für Zeitangaben in der Luft- und Seefahrt, im Amateurfunk sowie bei vielen internationalen Projekten, die sich über mehrere Zeitzonen erstreckten.Auf der ISS war die UTC eingeführt worden, um für die Crews einen geregelten Tagesablauf zu gewährleisten. Schließlich sah die Station, die mit fast 28.000 Kilometern in der Stunde die Erde umkreiste, die Sonne jeden Tag gleich sechzehn Mal auf- und untergehen.
Markus schaute auf Joshs´ Uhr, die er über dem Ärmel seines Sokol-Anzuges trug. Sie zeigte 22:55 Uhr. Josh bemerkte seinen Blick:
„»Das dürfte ein langer Abend werden“.«
Um diese Zeit hätte die Crew an einem normalen Tag bereits die Blenden der Fenster geschlossen und sich zur Nachtruhe begeben. Von Normalität konnte jetzt allerdings keine Rede sein, und niemandem in den beiden Sojus-Raumschiffen war nach Nachtruhe zumute.
In der zweiten Kapsel lief ein Gespräch, welches sich um das Objekt drehte, mit dem sie kollidiert waren. Grigorij Jegorows Stimme drang aus dem Lautsprecher.Grigorij war einer der drei Wissenschaftsastro- oder -Kosmonauten an Bord und als ausgebildeter Physiker für die meisten der physikalisch-astronomischen Experimente auf der Station zuständig. Grigorij, der von den anderen meist kurz „„Grigo““ genannt wurde, hatte ein altersloses, breites Gesicht mit einem mongolischen Einschlag, dazu eine Vollglatze und einen stets kurz geschnittenen Schnurrbart. Er hatte in Moskau über das Strömungsverhalten verschiedener Raketenformen während der Startphase promoviert. Anschließend hatte er dann einige Jahre beim russischen Raumfahrtkonzern „„Energija““ gearbeitet, bevor er sich nach erfolgreichem Durchlaufen einer der letzten Rekrutierungsrunden dem russischen Raumfahrer-Korps angeschlossen hatte und nun mit der Mission 60/61 zum ersten Mal ins All flog.
»Mir ist schleierhaft, warum sie ein so großes Objekt nicht auf dem Radar hatten und uns nicht eher warnen konnten“.«
„»CAPCOM hatte Informationen, nach denen es sich auf einer stark exzentrischen Bahn befand“«,erinnerte ihn Aleksei.
„»Wenn das zutrifft«, sagte Grigorij nachdenklich, »dann scheint es keines der üblichen verdächtigen Objekte zu sein, die sich im erdnahen Orbit tummeln.«
„»Du glaubst es war kein Artefakt, sondern ein Objekt natürlichen Ursprungs?“«,ließ sich nun auch die Stimme von Anatoli Sokolov vernehmen. Anatoli war der 1. Flugingenieur der Mission 60/61 und zum zweiten Mal auf der ISS. Bei ihrer ersten Begegnung war er Markus durch die seltene Kombination von stahlblauen Augen und pechschwarzen Haaren aufgefallen. Er war klein und schmal gebaut, und von seiner Natur her ein eher schweigsamer Typ, der neben Aleksei kaum auffiel. Anatoli meldete sich selten zu Wort, aber wenn er es tat, hatte er meist Bedeutsames beizutragen. Markus wusste von ihm, dass er nach Abschluss seiner Militärlaufbahn und seines Studiums einige Jahre als Ingenieur beim russischen Raumfahrtkonzern„NPO Lawotschkin“angestellt gewesen war. Dort hatte er am„Phobos-GruntProject“gearbeitet, der Entwicklung einer Sonde, die auf dem Marsmond Phobos landen, dort Bodenproben entnehmen und zur Erde zurückbringen sollte. Nach mehreren Verschiebungen des Zeitplanes infolge von Finanzierungsproblemen wurde der Ionenantrieb, an dem Anatoli mit seinem Team gearbeitet hatte, ad acta gelegt und durch einen konventionellen chemischen Antrieb ersetzt. Als sich eine Chance ergab, sich dem russischen Kosmonauten-Korps anzuschließen, kehrte er dem Projekt frustriert den Rücken. Später dann erfuhr er vom Fehlschlag der Mission Phobos-Grunt: Der Antrieb der Sonde hatte beim Versuch, sie aus der Erdumlaufbahn in Richtung Mars zu beschleunigen, versagt ...
„»Ich weiß nicht, vielleicht werden wir morgen die Chance haben das herauszufinden«, meinte Grigorij, »sollten wir auf der Station bleiben können werden wir sicher den Auftrag bekommen, uns den Schaden aus der Nähe anzuschauen“.«
„»Ich glaube kaum, dass wir etwas finden werden«, erwiderte Anatoli, »vom Objekt wird wohl nichts mehr übrig geblieben sein“.«
„»Mich beschäftigt eher der Zustand der Station“«, war dann wieder Alekseis durchdringende Stimme zu vernehmen. »Wenn es wirklich S0 getroffen hat könnten wir Glück im Unglück haben. S0 steht nicht unter Druck, und wenn es keine gravierenden Kollateralschäden gibt, könnten die anderen Module weiterhin Atmosphäre haben und bewohnbar sein. Auch scheint unsere Energieversorgung nicht wesentlich beeinträchtigt zu sein, die Verteiler an der Basis des S0-Moduls sind also offensichtlich unbeschädigt.«
Nach einer kurzen Gesprächspause sagte Anatoli: „»Da wäre aber noch etwas: Die Station hat durch den Aufprall ihre Lage verändert, das kann ich fühlen. Wenn tatsächlich S0 getroffen wurde, werden vermutlich einige unserer Lagekontroll-Systeme ausgefallen sein“.«
“»Ja, Du hast recht, daran habe ich auch schon gedacht. Das wäre einer der ersten Punkte, die wir überprüfen müssen, gegebenenfalls werden wir eine Lagekorrektur mithilfe anderer Systeme vornehmen müssen.“«
Josh schaltete sich in das Gespräch ein:»Vielleicht komme ich nun doch noch zu meiner ersten EVA, was meint Ihr?“«
„„EVA“ stand für„Extravehikuläre Aktivität“, und damit für einen Außeneinsatz an der ISS. Der einzige planmäßige Weltraumspaziergang der Mission 60/61 hatte den Austausch einer Kamera, die Reparatur eines defekten Sonnensegels sowie die Bergung von biologischen Proben umfasst, die an der Außenseite der ISS für einige Monaten den Bedingungen des Alls ausgesetzt worden waren. Diesen einen Einsatz hatten Aleksei und Grigorij absolviert.
»„Josh, Du bist unser Küken, Du wirst noch genug EVAs bekommen, lass erst einmal die alten Hasen ran“«,kam es von Kathy.
»„Ich nehme an, Du gehst bereits als alter Hase durch, oder?“«
Es sollte eher neckisch klingen, aber Markus entging die leichte Verärgerung in Joshs´ Stimme nicht, und er war froh, dass Kathy nicht noch einen obendrauf legte. Obgleich alle Crewmitglieder ausgeprägte Teamplayer waren, hatte sich in den letzten Wochen eine unterschwellige Spannung zwischen den beiden aufgebaut. In der Regel waren sie bemüht, sich unter Kontrolle zu halten, was ihnen aber immer seltener gelang, je mehr sich die Mission ihrem Ende entgegen neigte. Schon während des Trainings am Boden war Kathy das ein- oder andere Mal mit ihrem trockenen britischen Humor bei Josh aufgelaufen.
Das Gespräch in der zweiten Kapsel verebbte und es kehrte wieder Stille ein. Markus dachte an seine Familie. Die Nachricht würde sich sicher schnell verbreiten. Im Zeitalter von Internet und sozialen Netzwerken reisten Nachrichten wie diese gewöhnlich mit Überlichtgeschwindigkeit. Bilder der Außenkameras der ISS wurden live ins Internet übertragen. Seine Tochter Isa hatte den Link auf dem Desktop ihres Computers. Vielleicht wussten sie schon, was passiert war und machten sich große Sorgen.
Seine Gedanken wurden durch ein Knacken in den Lautsprechern unterbrochen, dem Richards Stimme folgte: »„Aah, CAPCOM an ISS, ich habe gute Nachrichten für Euch! FLIGHT hat vorerst Entwarnung gegeben, Ihr könnt auf der Station bleiben, die Mission wird wie geplant zu Ende geführt. Ich kann Euch jetzt bestätigen, dass die Kollision einen Teil des S0-Moduls und wahrscheinlich der darin befindlichen Systeme zerstört hat. Ahm, sieht so aus als wurde der Mobile Transporter zerstört und der Canadarm2 scheint auch was abbekommen zu haben. Querschläger haben zwei der Sonnensegel beschädigt. Die Außenhülle einiger Module hat jetzt wahrscheinlich einige, ahh sagen wir Gebrauchsspuren, die Module zeigen aber ansonsten keine Auffälligkeiten und stehen weiterhin unter Druck, alle Systeme sind auf Normalfunktion. Ihr hattet wirklich unglaubliches Glück im Unglück! Unsere Radarüberwachung hat festgestellt, dass alle größeren Trümmerteile Eure Bahnebene mittlerweile verlassen haben. Der Impuls, den sie durch die Kollision erhalten haben, hat augenscheinlich ausgereicht, um sie aus der Gefahrenzone zu katapultieren. Ach ja, und noch etwas: Ich habe veranlasst, dass Eure Familien über die Situation informiert werden, bevor sie es aus den Medien erfahren. Ahh, die ersten Pressevertreter belegen bereits unsere Leitungen. Ihr werdet sicher zu Hunderten Interviews und Talkshows eingeladen, wenn Ihr zurück seid.«Aleksei antwortete: „»Danke, Richard, heißt das, wir können unsere Rettungskapseln verlassen?“«
„»Ahh ja, bestätige, Euer erster Durchgang war ohne weitere Kollisionen und in etwa zehn Minuten werdet Ihr die Unfallstelle wieder passieren. Wenn es dabei weiterhin ruhig bleibt, könnt Ihr in die Station zurückkehren“.«
„»Richard, das sind gute Neuigkeiten, danke auch, dass Du an unsere Familien gedacht hast. Wir benötigen noch Anweisungen, wie wir die Nacht verbringen sollen und was für den morgigen Tag geplant wird“.«
„»Hier wird mächtig dran gearbeitet, wir werden Euch dazu in Kürze Instruktionen geben.“«
Aleksei beendete den Dialog mit der Bodenstation und sagte:»Wir öffnen die Luken in fünfzehn Minuten, sicherheitshalber bleiben wir noch im Raumanzug. Anschließend sollten wir uns für ein Briefing versammeln. Ich schlage vor, wir treffen uns im Swesda-Modul“.«
Das russische Swesda-Modul war als eines der ersten Module im Juli 2000 mit einer Proton-Rakete ins All gebracht worden und diente als zentrales Wohn- und Servicemodul für die Crew. Mit über dreizehn Metern Länge und vier Metern Breite war es das größte der unter Druck stehenden Module der ISS und bot für ein Weltraumhabitat geradezu luxuriösen Platz. Es war vom Basismodul der Vorgänger-Station „MIR“ abgeleitet worden und bestand aus einem kugelförmigen Eingangsbereich, an den sich der zylindrische zentrale Teil anfügte. In diesem Hauptabteil fanden sich Lebenserhaltungs- und Lagekontroll-Systeme, Toiletten, Trainingsgeräte - und die Bordküche. Der abschließende Heckabschnitt war hermetisch verschließbar und barg eine Austrittsschleuse. Das Modul diente überdies als Andockstation für Sojusraumschiffe und Progress-Versorgungsfrachtern, oder für die europäischen mobilen Transporter vom Typ„ATV“.
Swesda verfügte auch über einen ausklappbaren Tisch, um den herum die Crew sich nun allmählich versammelte. Markus stellte fest, dass die Geschehnisse ihre Spuren in den Gesichtern hinterlassen hatten. Er blickte in müde Augen, aber als Aleksei das Briefing eröffnete kehrte rasch die Professionalität zurück, die sie sich in so vielen Trainings und Einsätzen antrainiert hatten.
„»Wir werden vielleicht eine verminderte Energieversorgung haben, wenn zwei der Sonnensegel beschädigt wurden. Das sollte nicht weiter schlimm sein, wir werden einige der nicht benötigten Geräte abschalten, womöglich werden wir die Sonnensegel auch reparieren können“.«
Grigorij meinte ernst: „»Wir müssen davon ausgehen, dass wir noch nicht alle Schäden kennen. Durch den Einschlag müssen sich Scharen von Trümmerteilen gebildet haben, die sich mit hoher Geschwindigkeit vom Einschlagsort wegbewegt haben. Es wäre sehr erstaunlich, wenn wir nicht einige schwerwiegendere Schäden sehen werden. Es ist schon verwunderlich, dass wir keine Leckagen an den Modulen haben“.«
Richard meldete sich vom Boden und bekräftigte Grigorijs Vermutungen:„»Aah, wir sollten wachsam sein, FLIGHT möchte, dass Ihr Euch abwechselt und jeweils zwei von Euch wach bleiben, um die Systemtests zu unterstützen und im Notfall rasch reagieren zu können. Morgen werden eine Lagekorrektur und ein umfangreicher Außeneinsatz zur Schadenserhebung anstehen. Ah, bitte einigt Euch darauf, wer die EVA übernehmen wird, und trefft die notwendigen Vorbereitungen!“«
Aleksei bestätigte und sah in die Gesichter seiner Kollegen: „»Grigo und ich fallen weg, wir bleiben an Bord. Wer fühlt sich gut und möchte gehen?“«
»„Ich wäre dabei“«, sagte Josh umgehend. Kathy und Anatoli schwiegen und erwiderten Alekseis prüfenden Blick nicht. Aleksei sah Markus an und sagte nach einiger Zeit:
„»Dann ist es entschieden: Markus und Josh werden den Außeneinsatz durchführen. Wir nehmen die Schleuse im „Quest“ („„Suche““) -Modul. Ich schlage vor, dass Kathy und Anatoli Euch begleiten und die notwendigen Vorbereitungen unterstützen. Wir sollten keine Zeit verlieren, damit Ihr rasch ins camp out kommt. Ihr müsst morgen fit sein. Wir anderen teilen uns die Nachtwache. Grigo und ich übernehmen die erste Hälfte“.«
Richard verabschiedete sich mit den Worten: „»FLIGHT möchte Euch zum Briefing gegen 07:00. Ich wünsche Euch eine gute Nacht, ich hoffe Ihr findet etwas Ruhe. Ahh, ich soll Euch übrigens vom gesamten Team hier am Boden ausrichten, dass Ihr Euch prächtig geschlagen habt! Ab heute habt Ihr einen prominenten Platz in den Annalen der bemannten Raumfahrt sicher!“«
Unmittelbar nach dem Briefing wechselten Josh, Markus, Kathy und Anatoli ins Quest-Modul, in dem Josh und Markus auch die Nacht verbringen würden. Für einen Außeneinsatz waren umfangreiche Vorbereitungen zu treffen, für die im Normalfall mehr Zeit eingeplant wurde.Das Quest-Modul war eine sechs Tonnen schwere Luftschleuse, die an der Steuerbordseite des Verbindungsmoduls „„Unity““ („„Einheit““) angebracht worden war. Sie bestand aus zwei zylindrischen Segmenten, aus einer Ausrüstungs- und einer Ausstiegs-Schleuse. Sie wurde auch „„Joint Airlock““, oder „gemeinsame Schleuse“ genannt, da von ihr ausgehend Ausflüge sowohl mit Raumanzügen des US-amerikanischen Typs „„„EMU““ als auch mit russischen des Typs „„Orlan““ unternommen werden konnten. Meist war die Ausrüstungs-Schleuse allerdings mit zwei EMU-Anzügen und dem dazugehörigen Equipment ausgestattet. EMU stand dabei für„Extravehicular Mobility Unit“, was übersetzt etwa„Externe Bewegungseinheit“bedeutete. Zur Ausrüstung der Schleuse gehörten die Lebenserhaltungs-Systeme der EMUs und diverse Anschlüsse für Pumpen, die die Versorgung der Anzüge mit Wasser zur Kühlung übernehmen konnten. Dazu noch Batterien, sowie Spannungswandler, die die Spannung des ISS-Stromnetzes auf die notwendige Volt-Zahl transformierten, um die Batterien der Anzüge aufzuladen. Daneben beherbergten diverse Schubladen und Staufächer in den Wänden Werkzeuge und Utensilien, die für die Vorbereitung eines Außeneinsatzes gebraucht wurden.
Am Tag vor einer EVA musste die Quest-