Im ersten Augenblick - Grégoire Delacourt - E-Book

Im ersten Augenblick E-Book

Grégoire Delacourt

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Beschreibung

Über die Launen der Liebe und den Unterschied von Schein und Sein. Arthur ist Automechaniker und liebt Hollywoodfilme. Eines Abends klingelt es an der Tür, er öffnet, und vor ihm steht - Scarlett Johansson. Sie ist genauso schön wie im Film, nur dass sie eigentlich Jeanine heißt, wie er aus einem kleinen Provinznest stammt und es längst leid ist, immer für die berühmte Schauspielerin gehalten zu werden. Arthur ist erst zwanzig, aber er hat schon einiges erlebt: Während seine Mutter sich mit Edith Piaf und Martini tröstet, flüchtet er sich in die funkelnde Welt von Hollywood und kennt jeden Film und jeden Star. Mit den Frauen hat er bisher kein Glück gehabt, auch wenn er aussieht wie der Schauspieler Ryan Gosling, nur besser. Als nun plötzlich die vermeintliche Scarlett Johansson bei ihm einzieht, wird sein Leben auf den Kopf gestellt. Doch dann gesteht Scarlett ihm, dass sie eigentlich Jeanine heißt. Längst hat sie sich in Arthur verliebt. Aber wen liebt er? Jeanine - oder doch Scarlett? Erkennt er, wer sie wirklich ist, oder sieht er in ihr nur den Filmstar?

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Seitenzahl: 192

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Grégoire Delacourt

Im ersten Augenblick

Roman

Frauenromane

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Atlantik

Für Faustine, Blanche

Grâce und Maximilien

Can you see the real me preacher?

Can you see the real me doctor?

Can you see the real me mother?

Can you see the real me?

 

Quadrophenia

Pete Townshend, The Who

Arthur Dreyfuss liebte große Brüste.

Er hatte sich sogar gefragt, ob er, wäre er zufällig ein Mädchen geworden, große oder kleine gehabt hätte, denn die Brust seiner Mutter war ebenso flach gewesen wie die seiner Großmutter ausladend, zumindest in der Erinnerung an erstickende Umarmungen.

Er fand, ein ordentlicher Busen nötige zu einem ganz besonderen, weiblichen Gang, und gerade die Anmut dieser Gestalten in unsicherem Gleichgewicht bezauberte ihn, überwältigte ihn oft geradezu. Ava Gardner in Die barfüßige Gräfin, Jessica Rabbit in Falsches Spiel mit Roger Rabbit. Und viele andere. Diese Bilder ließen ihn selig erröten. Der Busen beeindruckte, verlangte nach Stille, erzwang Respekt. Es gab keinen Mann auf Erden, der bei seinem Anblick nicht wieder zum kleinen Jungen wurde.

Dafür würden sie alle sterben.

Solche Vorzüge waren Arthur Dreyfuss zwar noch nie unter die Finger gekommen, aber er hatte sie in unzähligen Versionen in alten, zerfledderten, bei PP ausgegrabenen Ausgaben von L’Homme moderne betrachtet. Und im Internet.

In echt gab es die von Madame Rigautmalolepszy, die er erblickte, wenn sie im Frühling aus ihren Blusen quollen: zwei glänzende Melonen, so hell jedoch, dass sich blassgrüne, fiebrig pulsierende Bächlein darauf abzeichneten, die plötzlich in Aufruhr gerieten, wenn sie schneller lief, um den Autobus zu erwischen, der zweimal am Tag in der Grand Rue (einer kleine Straße, in der am 1. September 1944 ein Schotte, ein gewisser Haywood, für die Befreiung der Gemeinde gefallen war) anhielt, oder wenn ihr scheußlicher rothaariger Kläffer sie aufgeregt zu einem Kothaufen zerrte.

In der neunten Klasse hatte der junge Arthur Dreyfuss aus Zuneigung für diese Leibesfrüchte die Nähe einer gewissen Nadège Lepetit gesucht, die, obwohl recht unattraktiv, gegenüber der bezaubernden Joëlle Ringuet, Trägerin einer platten 80A, den Vorzug einer üppigen 85C genoss. Das war eine schlechte Wahl. Die Unattraktive hütete ihre Halbmelonen eifersüchtig und verbot allen Naschhaften, sich ihnen zu nähern: Die dreizehnjährige rundliche Obstauslage war sich ihrer Trümpfe wohl bewusst und wollte überzeugt werden, dass man sie um ihrer selbst willen liebte, aber der gleichaltrige Arthur Dreyfuss verstand sich nicht besonders auf höfliche, poetische und trügerische Worte. Er hatte nie Rimbaud gelesen und auch die honigsüßen Worte der Lieder von Francis Cabrel oder die noch älteren eines gewissen C. Jérôme nicht behalten (Beispiel: Nein, gib mich nicht auf, sondern gib dich mir hin).

Als er erfuhr, dass Alain Rogier, sein damaliger Freund, die bescheidenen Äpfel der bezaubernden Joëlle Ringuet unter den Fingerspitzen, dann an den Lippen und schließlich ganz und gar im Mund gehabt hatte, glaubte er, verrückt zu werden, und fragte sich, ob er seine Busenerwartungen nicht drastisch korrigieren solle. Nach unten.

Mit siebzehn fuhr er mit dem stolzen Alain Roger nach Albert (drittgrößte Stadt des Departements Somme), um mit seinem ersten Lohn einen draufzumachen. Er wählte eine Straßennutte mit großzügig ausgestattetem Balkon, um seine Unschuld zu verlieren und den Taumel zu erleben, aber seine Ungeduld war so groß, dass er auf der Stelle seine Baumwollhose benetzte. Er entfloh ruiniert und voller Scham, ohne auch nur die Gelegenheit gehabt zu haben, so, wie er es sich tausendfach geschworen hatte, die opalgleichen Schätze zu liebkosen, zu betasten, zu küssen, zu zerfetzen. Und dann zu sterben.

Dieses Ungeschick dämpfte seine Inbrunst. Rückte die Dinge wieder an ihren Platz. Er las zwei Liebesromane der Amerikanerin Karen Dennis, in denen er entdeckte, dass das Verlangen manchmal aus einem Lächeln, einem Duft oder sogar einem bloßen Blick entsteht; das erlebte er sechs Monate später bei Dédé la Frite, dem Bar-Tabak-Anglerbedarf-Lotto-Zeitungsladen des Dorfes. Die Angler interessierten sich vor allem für die Bar: Das rote Jupiler-Schild war ihr Morgenstern in der endlosen und eisigen Winterdämmerung und zog die Raucher an, denn hier war das Gesetz von 2006 außer Kraft gesetzt.

Bei Dédé la Frite geschah etwas ganz Einfaches: Als die neue Serviererin ihn fragte, was er wolle, hob Arthur Dreyfuss seinen Blick bis zu ihren Augen. Er fand sie verwirrend, regengrau; er mochte den Klang ihrer Stimme, ihr Lächeln, ihr rosiges Zahnfleisch, ihre weißen Zähne, ihr Parfum, all die hübschen, von Karen Dennis beschriebenen Kleinigkeiten. Er vergaß, ihre Brust anzuschauen, und zum ersten Mal fand er es völlig unwichtig, ob sie unauffällig oder appetitlich war. Ebene oder Hügel.

Da hatte er eine Offenbarung. Es gab nicht nur Brüste im Leben. Die die Anmut einer Frau ausmachten.

Er war zum ersten Mal verliebt. Und hatte seine erste aurikulare Extrasystole – eine Art Herzrhythmusstörung.

Aber mehr als das passierte nicht zwischen ihm und der neuen Serviererin, weil man eine Liebesgeschichte nicht am Ende anfangen kann, und vor allem, weil die Serviererin mit den regengrauen Augen einen Liebsten hatte. Einen Fernfahrer, der nach Belgien und Holland fuhr, ein breitschultriger, stämmiger Kerl mit kleinen zupackenden Händen, untersetzt, mit ernstzunehmendem Bizeps, auf den der Vorname der Angebeteten tätowiert war: Éloïse; ein Eifersüchtiger, einer mit Besitzanspruch. Arthur Dreyfuss kannte von Karate und anderen Fernöstlichkeiten nur die Lehren des blinden Meisters in Kung Fu (des unvergesslichen Meister Po) und den wilden Schrei von Pierre Richard in Der große Blonde kehrt zurück (Regie: Yves Robert). Deshalb zog er es vor, die Poesie von Éloïses Gesicht, das feuchte Grau ihrer Augen, das Rosa ihres Zahnfleischs zu vergessen, er trank morgens nicht mehr seinen Kaffee bei ihr und hörte sogar auf zu rauchen, um das Risiko zu vermeiden, den eifersüchtigen Fernfahrer zu treffen.

Zusammengefasst erklärt dieses erste Kapitel, warum ein gedrungener, misstrauischer Fernfahrer, die kleine Gemeinde Long, 687 Einwohner, Longiniens genannt, gelegen im Departement Somme (mit seinem Schloss aus dem 13. Jahrhundert, seinem Kirchturm – sic –, seinen Johannisfeuern, seiner Cavaillé-Coll-Orgel und seinen von ein paar aus der Camargue importierten Pferden ökologisch gepflegten Sümpfen) sowie der Beruf eines Automechanikers, der die Finger fettig und schwarz macht, schuld daran sind, dass Arthur Dreyfuss, zwanzig Jahre alt, obwohl ein hübscher Junge – laut Éloïse sah er aus wie Ryan Gosling, nur besser –, allein in einem kleinen, einzeln stehenden Häuschen am Ortsausgang, an der Landstraße D32 Richtung Ailly-le-Haut-Clocher wohnte.

Für jene, die Ryan Gosling nicht kennen, das ist ein kanadischer Schauspieler, geboren am 12. November 1980, der 2011, ein Jahr nach dieser Geschichte, mit dem wunderbaren und tiefschwarzen Film Drive von Nicolas Winding Refn weltweiten Erfolg hatte.

Aber das ist unwichtig.

An dem Tag, wo dieses Buch beginnt, klopfte es an seiner Tür.

Arthur Dreyfuss sah gerade eine Folge von Die Sopranos (Staffel 3, Folge 7: »Onkel Junior wird wegen seines Magenkrebs operiert«). Er zuckte zusammen. Rief: Wer ist da? Es klopfte erneut. Also ging er aufmachen. Und traute seinen Augen nicht.

Vor ihm stand Scarlett Johansson.

Abgesehen von einem ordentlichen Besäufnis bei der dritten Hochzeit von Pascal Payen, genannt PP, seinem Chef – ein Gelage, das ihn, nebenbei bemerkt, in eine solche Betäubung versetzte, dass er zwei Tage lang eine Wassermelone auf den Schultern trug –, trank Arthur Dreyfuss nicht. Vielleicht abends mal ein Kro, ab und zu, vor einer Fernsehserie.

Die halluzinatorische Vision von Scarlett Johansson auf der Schwelle seiner Tür ließ sich also nicht den üblen Folgen des Alkohols zuschreiben.

Nein.

Arthur Dreyfuss hatte bis dahin ein normales Leben geführt. Um es schnell abzuhaken, bevor wir zu der umwerfenden Schauspielerin zurückkehren: Geburt 1990 (das Jahr, in dem der Roman Jurassic Park erscheint und Tom Cruise und Nicole Kidman ihre rührende zweite Liebesheirat feiern) in der Geburtsklinik Camille-Desmoulins in Amiens, Departementshauptstadt und Hauptstadt der Picardie; Sohn von Dreyfuss, Louis-Ferdinand und Lecardonnel, Thérèse Marie Françoise.

Einzelkind bis 1994, als Noiya Dreyfuss geboren wird. Noiya bedeutet Schönheit Gottes.

Und erneut Einzelkind ab 1996, als Inke, der kräftige Dobermann eines Nachbarn, die Schönheit Gottes mit der Verlockung seines Futters verwechselt. Das Gesicht und die rechte Hand der Kleinen werden verschlungen, kommen auf der anderen Seite als Kot des canis lupus familiaris wieder heraus und bleiben im milden Schatten des Hinterrads eines großen Renault Scénic liegen. Die ganze Gemeinde unterstützt die verzweifelte Familie. Der kleine Arthur Dreyfuss weint nicht, weil seine Tränen auch die der Mutter zum Fließen bringen, sie entsetzliche Dinge über die Welt, die vermeintliche Schönheit der Dinge und die unsägliche Grausamkeit Gottes sagen lassen. Das erneute Einzelkind behält seinen Schmerz für sich, wie Murmeln in der Tiefe einer Hosentasche; Glassplitter.

Man hat Mitleid, man wischt sich die Hände an seinen Haaren ab, man tuschelt der Arme oder der arme Junge oder das ist hart für den Kleinen. Es ist eine gleichzeitig traurige und fröhliche Zeit. Bei den Dreyfuss isst man viel Dattelpralinen, Baklava und Baba Ganoush, und, um der pikardischen Seite der Familie gerecht zu werden, Käseküchlein, Charlotte mit Kaffee und Zichorie; der Zucker lässt den Schmerz wachsen und schmelzen.

Die amputierte Familie zieht um, lässt sich in der kleinen Gemeinde Saint-Saëns (Departement Seine-Maritime) nieder, am Fuße des Staatsforstes von Eawy, ö-ah-wi ausgesprochen, wo Louis-Ferdinand Förster wird. Manchmal kommt er abends mit Fasanen, Rothühnern und Kaninchen zurück, die die pikardische Gattin in Pasteten, Filets oder Ragouts verwandelt. Einmal bringt er einen toten Fuchs mit, um daraus einen Pelzmuff zu machen (der Winter naht), aber Thérèse brüllt totenbleich, dass sie nie, gewiss nie mehr die Hände in eine Leiche stecken werde.

Eines Morgens, wie jeden Morgen, bricht der Wilderer auf, seinen Beutel und ein paar Fallen über der Schulter. Auf der Schwelle sagt er, wie jeden Morgen: Bis heute Abend! Aber an diesem Abend wird er nicht mehr gesehen und auch an keinem anderen. Die herbeigerufenen Gendarmen brechen die Suche nach zehn Tagen ab; sind Sie sicher, dass er keine kleine Freundin in der Stadt hatte, eine Jüngere? Wegen so was verschwinden die Männer oft: Das Würstchen juckt, unbezwingbare Naschhaftigkeit, das Bedürfnis, sich lebendig zu fühlen, so was gibt es oft. Keine Spur, kein Fußabdruck, keine Leiche. Thérèse verliert daraufhin rasch das bisschen Lebensfreude, das ihr noch geblieben ist, und tröstet sich mit Martini, erst abends, zu der Zeit, wenn der Förster nach Hause kam, dann immer früher, bis sie in der frühmorgendlichen Stunde beginnt, wenn er aufbrach. Der Wermut (18% vol) verschafft ihr zunächst viel geistige Nahrung (Arthur Dreyfuss wird mit stummer Wehmut daran zurückdenken), dann allmählich ein immer schlimmeres Delirium, in dem sie wie in Sakis The open window zu den unpassendsten Zeiten das Gespenst des Försters auftauchen sieht. Und andere Gespenster.

Einen fleischfressenden Vierbeiner.

Eine amerikanische Schauspielerin, die Kleopatra spielte.

Fleisch um die Unterarme.

Lider voller Staub.

Arthur Dreyfuss weint manchmal abends in seinem Zimmer, wenn er die traurige und raue Stimme von Edith Piaf in der Küche hört und die Finsternis der Mutter ahnt. Er traut sich nicht, ihr zu sagen, dass er Angst hat, sie auch noch zu verlieren, Angst, allein zu bleiben. Er kann ihr nicht sagen, dass er sie lieb hat, das ist so schwierig.

In der Schule ist Arthur Dreyfuss im Mittelfeld. Er ist ein umgänglicher Kamerad. Unschlagbar beim Knöchelchenspiel, das eine Zeit lang wieder in Mode kommt. Die Mädchen haben ihn gern, er wird zum zweitniedlichsten Jungen der Klasse gewählt; der Champion ist ein großer Düsterer, ein Grufti mit durchsichtiger Haut, vielfach durchbohrten, wie perforierten Ohren, einer tätowierten Kette um den Hals (die Zeichnung einer geflochtenen Schnur, gestochen nach der alkoholgetränkten Lektüre der Ballade der Gehenkten) und vor allem ein Dichter; verschämte Reime, nebulöser Klang, idiotische Worte. Beispiel: Leben heißt modern, sterben ist modern. Die Mädchen lieben das.

Arthurs einzige bekannte Schwäche zeigt sich beim Sportunterricht: Als er eines Tages eine gewisse Liane Le Goff, 80E (schwindelerregende Körbchengröße, Jayne Mansfield, Christina Hendricks) über das Pferd springen sieht, fällt er in Ohnmacht.

Sein Supraorbitalknochen knallt auf den Metallhuf des Pferdes, die Haut reißt, eine Blutträne quillt hervor. Er wird elegant genäht und bewahrt seither unter der Braue eine diskrete Erinnerung an den wunderbaren Taumel.

Er hat nichts gegen lesen, ganz im Gegenteil; er sieht gern Filme – vor allem Serien, weil man Zeit hat, Bindungen zu entwickeln, die Figuren zu mögen, eine kleine Familie – er nimmt auch gern alles auseinander (und setzt zusammen), was einen Motor oder eine Mechanik hat. Also gibt man ihm Texte über Motoren und Mechanik zu lesen. Die Schule findet für ihn einen Ausbildungsplatz bei Pascal Payen, genannt PP, typenoffener Autoschlosser in Long, wo er eines Tages ein Buch mit Gedichten und einen wunderbaren Beruf entdecken wird, bei dem man fettige und schwarze Finger bekommt und der die Damen, denen er aus der Patsche hilft, sagen lässt: Du bist ein Genie, mein Schatz, und obendrein ein hübscher Junge, und die Herren, denen er aus der Patsche hilft: Mach hin, mein Junge, ich hab noch was anderes zu tun; ein Beruf der ihm ziemlich schnell genug einbringt, um auf Kredit ein Häuschen zu kaufen (zwei Etagen, 67 Quadratmeter), am Ortsausgang, an der D32, die nach Ailly-le-Haut-Clocher führt, wo an Tagen mit viel Wind der Duft warmer Croissants und Brioches mit braunem Zucker aus der Bäckerei Leguiff das Land überzieht – aber an dem tragischen Morgen wird kein Wind wehen –, ein Häuschen, an dessen Tür eines Tages Scarlett Johansson klopfen wird.

Da ist sie wieder, endlich.

Scarlett Johansson sah erschöpft aus.

Ihr Haar von undefinierbarer Farbe war zerzaust. Es fiel herab, floss schwer, wie in Zeitlupe. Ihr fleischiger Mund trug nicht den berühmten Lipgloss. Die Wimperntusche war unter ihre Augen gerutscht wie ein Kohlestrich und zeichnete ihnen düstere Ringe. Und zu Arthurs großem Unglück trug sie einen weiten Pullover. Einen Pullover wie ein Sack, eine Ungerechtigkeit: Er offenbarte nichts von den Formen der Schauspielerin, die bekanntlich höchst bezaubernd sind, einen geradezu verhexen.

Sie trug eine Vuitton-Tasche in grellen Farben über dem Unterarm, die wie eine Fälschung aussah.

Arthur Dreyfuss war in seinem Lieblingsfernsehaufzug: weißes Unterhemd und Schlumpf-Boxershorts; weit entfernt davon, wie Ryan Gosling auszusehen, nur besser. Obwohl.

Aber in der Sekunde, als sie sich ansahen, lächelten sie.

Fanden sie sich schön? Beruhigend? Hatte er, als es an der Tür klopfte, mit einem Notfall gerechnet, einer kaputten Zylinderkopfdichtung, einem Problem mit dem Durchflussmesser? Hatte sie, als man ihr die Tür öffnete, mit einem Perversen gerechnet, einer Warzenhexe, einem alten Kindergesicht? Fest steht, dass diese beiden, der eine so unwahrscheinlich wie die andere, sich zulächelten wie einer schönen Überraschung, und dem trockenen Mund von Arthur Dreyfuss, den der zweite Liebesblitz traf (feuchte Hände, Herzjagen, Schweißperlen, kleine eisige Skalpelle im Rücken, dicke, klebende Zunge), seinem Mund entschlüpfte ein unbekanntes Wort.

Comine.

(Für anspruchsvolle Linguisten und andere Amateurgeographen unter den Lesern ist zu präzisieren, dass es tatsächlich eine Stadt namens Comines gibt, sie befindet sich im Kanton Quesnoy-sur-Deûle, im Norden, nahe der belgischen Grenze – vermutlich eine kleine, recht lethargische Stadt, in der es nicht weniger als fünf Festkomitees gibt, die sie aufzurütteln versuchen –, aber sie hat mit dieser Geschichte nichts zu tun.)

Instinktiv erschien Arthurs schüchternes comine ihm in der Sekunde, da er Scarlett Johansson auf seiner Türschwelle entdeckte, das Vernünftigste, das Höflichste, das Netteste, was er sagen konnte; den Untertiteln zufolge, die ihn bei den Serien begleiten, die er in OmU sieht, bedeutet es Kommen Sie herein.

Und welcher Mann auf der Welt, selbst in Unterhemd und Schlumpf-Boxershorts, hätte zu der phänomenalen Schauspielerin aus Lost in Translation nicht Kommen Sie herein gesagt?

Die phänomenale Schauspielerin hauchte Thank you, ließ beim th die rosa Spitze ihrer Zunge zwischen den Lippen auftauchen und kam herein.

Als er mit feuchten Händen und einer erneuten aurikularen Extrasystole – ja, er würde sterben, ja, jetzt konnte er sterben – leise die Tür schloss, sah er flüchtig nach draußen, ob dort Kameras und/oder Bodyguards und/oder eine gemeine Fernsehfalle lauerten, dann schloss er die Tür ab, so wenig beruhigt, wie er war.

Zwei Jahre zuvor hatte die Gendarmerie bei PP die Karosse eines Peugeot 406 zur Begutachtung abgeladen, den auf der D112 in Höhe von Coquerel (2,42 km Luftlinie von Long entfernt) ein Fünftonner überrollt hatte.

Es war nachts passiert.

Der Fahrer war gerast, hatte offenbar die Kontrolle verloren, getäuscht von der trügerischen Feuchtigkeit, die wie eine nasse durchsichtige Alge auf dem unebenen Asphalt der Landstraße lag, die an den Étangs des Provisions entlangführte. Die beiden Autoinsassen waren auf der Stelle tot. Die Feuerwehrleute mussten dem Mann die Beine abschneiden, um ihn aus dem Fahrzeug zu ziehen. Das Gesicht der Beifahrerin war an der Windschutzscheibe zerquetscht worden, und in den sternförmigen Rissen waren eine blonde Haarlocke und ein Blutstropfen hängengeblieben. Arthur Dreyfuss hatte auf Verlangen von PP das Innere des Wracks untersucht und unter dem Beifahrersitz ein Buch mit Gedichten gefunden. Er hatte es sofort, geradezu reflexartig, in einer der großen Taschen seiner Latzhose verschwinden lassen. Was hatte ein Gedichtband in einem Auto zu suchen, in dem gerade zwei Menschen gestorben waren? Hatte sie ihm ein Gedicht vorgelesen, als das Auto plattgemacht wurde? Wer waren sie? Trennten sie sich? Fanden sie sich wieder? Hatten sie beschlossen, zusammen Schluss zu machen?

Am selben Abend hatte er allein in seinem kleinen Haus das Buch aufgeschlagen. Seine Finger zitterten etwas. Das Buch trug den Titel Exister, und der Autor war ein gewisser Jean Follain. Viel Weiß auf jeder Seite und in der Mitte kurze Zeilen, kleine, vom Pflugschar der Buchstaben gezogene Furchen. Er las einfache Wörter, die sehr tiefe Dinge zu beschreiben schienen; wie diese, die ihn an seinen Vater erinnerten:

Und unter seinem starken Arm

Ohne einen Blick für die Bäume

Hielt er unverrückbar

Die Gestalten der ganzen Welt.

Und diese sprachen von Noiya und ihrer Mutter:

Und hier dann die, die jung gestorben

Und die, die einsam bleibt zurück.

Es gab kein Wort, das er nicht verstand, aber die Anordnung der Wörter begeisterte ihn in höchstem Maße. Er hatte plötzlich das vage Gefühl, dass Wörter, die er kannte, auf bestimmte Weise aufgereiht imstande waren, die Wahrnehmung der Welt zu ändern. Die Schlichtheit zu veredeln.

Er genoss andere wunderbare Zusammensetzungen von Wörtern auf den folgenden Seiten, in den folgenden Monaten, und dachte, sie seien Geschenke, um das Außergewöhnliche zu zähmen, falls es zufällig eines Tages an deine Tür klopfen sollte.

Wie an jenem Mittwoch, dem 15. September 2010, um 19.47 Uhr, als die überwältigende Scarlett Johansson, amerikanische Schauspielerin, geboren am 22. November 1984 in New York, plötzlich vor dir steht, Arthur Dreyfuss, fassungsloser französischer Autoschlosser aus Long, geboren 1990.

Wie war das möglich?

Warum fielen ihm keine poetischen Worte ein? Warum lähmen die Träume, wenn sie wahr werden? Warum war das Erste, was Arthur Dreyfuss zu fragen imstande war, ob sie Französisch spreche? Weil mir nämlich, fügte er langsam, errötend und auf Französisch hinzu, Englisch total Spanisch vorkommt.

Scarlett hob anmutig den Kopf und antwortete fast akzentfrei oder mit einer ganz subtilen Spur, köstlich wie eine Ladurée-Delikatesse, einem Akzent an der Schnittstelle von Romy Schneider und Jane Birkin: Ja, ich spreche Französisch, wie meine Freundin Jodie.

Jodie Foster!, rief ein zutiefst beeindruckter Arthur Dreyfuss, Sie kennen Jodie Foster!, aber dann zuckte er mit den Schultern und murmelte wie zu sich selbst, natürlich, natürlich, ich bin ja blöd; denn bei derartigen Begegnungen, ganz am Anfang, siegt die Intelligenz nur sehr selten über die Fassungslosigkeit.

Aber Frauen haben die Begabung, Männern mit Nachsicht zu begegnen, sie wieder aufzurichten, ihnen ihre Selbstsicherheit zurückzugeben.

Scarlett Johansson lächelte ihn an, dann zog sie mit einem leisen Seufzer ihren weiten, handgestrickten Pullover mit Muschelmuster aus, voller Anmut, genauso wie Grace Kelly in Fenster zum Hof, als sie ihr Musselinnachthemd aus der winzigen Handtasche zieht.

Es ist schön warm bei Ihnen, hauchte die Schauspielerin. Das Herz des Autoschlossers raste erneut. Obwohl nur sehr leicht bekleidet, begann er plötzlich selbst zu schwitzen. Er schloss einen Augenblick die Augen, wie von Schwindel übermannt, ebenso sanft wie beängstigend; seine Mutter, die nackt durch die Küche tanzte. Als er sie wieder öffnete, trug die New Yorkerin ein kleines, enges, perlweißes, seidiges Bustier mit Spitzenträgern, das ihren Busen wie ein Handschuh umschloss (er schlug die nackten Beine übereinander, unterdrückte eine beginnende Erektion), außerdem zeichnete sich darunter, und das schockierte den Autoschlosser geradezu und rührte ihn, eine kleine Wulst in Höhe des Nabels ab; ein kleiner Kupferring, wie ein gut genährter Donut.

Es ist schön warm bei Ihnen, hauchte die Schauspielerin.

Ja, ja, stammelte Arthur Dreyfuss und bedauerte plötzlich die Abwesenheit guter Dialogautoren im wahren Leben; ein männlicher Monolog von Michel Audiard, ein paar kraftvolle Repliken von Henri Jeanson.

Dann sahen sie sich erneut an; er etwas blass, zu dunkelrot wechselnd; sie mit furchterregend rosigem Teint, eine kleine perfekte Barbie. Sie husteten im selben Moment und im selben Moment begannen beide zu reden.

Bitte schön, sagte er.

Nein, Sie zuerst, sagte sie.

Er hustete noch ein bisschen, um Zeit zu gewinnen, seine Worte zu sammeln, sie dann zu einem hübschen Satz zu sortieren, wie der Dichter. Aber seine Autoschlosserseele trug den Sieg davon. Sie … Soll ich Sie abschleppen?, fragte er. Scarlett Johansson lachte. Mein Gott, wie schön ihr Lachen ist, dachte er, und ihre weißen Zähne.

Nein, nicht nötig, antwortete sie.

Weil, ich arbeite in einer Werkstatt und ich … schleppe die Leute ab.

I didn’t know, sagte sie.

Das heißt, die Autos, haspelte er, ich meine, Autos, die eine Panne haben.

Ich habe kein Auto, sagte sie, nicht hier. Ich bin mit dem Bus gekommen. Drüben, in Los Angeles, habe ich einen hybrid wie alle, aber der hat nie eine Panne, weil er gar keinen richtigen Motor hat.

Dann raffte der Sohn des schweigsamen Vaters, des Vaters, dessen Körper verschwunden war, seine wachsenden Manneskräfte zusammen, stand auf und sagte mit einer Stimme, die kaum zitterte: Was machen Sie hier, Scarlett? Pardon. Ich meine: Madame Johansson.

Kurze Auffrischung.

Die Trägerin des Titels »Schönster Busen Hollywoods« der amerikanischen Fernsehshow Access Hollywood (für Neugierige und Liebhaber: Salma Hayek wurde zweite, Halle Berry dritte, Jessica Simpson vierte und Jennifer Love Hewitt fünfte) hatte von 2004 bis 2006 eine love story und tantrischen Sex mit dem Schauspieler Josh Hartnett.

Dann traf sie 2007 in einem New Yorker Kino Ryan Reynolds.

Die Idylle begann.

Zum einunddreißigsten Geburtstag ihres neuen Liebsten schenkte ihm Scarlett Johansson (damals dreiundzwanzig) den Weisheitszahn, der ihm gezogen worden war, nicht ohne ihn vorher in Gold getaucht zu haben, sodass er ihn als Anhänger tragen konnte; das war schick und trendy, viel besser als ein Haifischzahn. Wer annimmt, so ein Geschenk könne die Eleganz einer aufkeimenden Liebe mindern, muss sich eines Besseren belehren lassen: Im Mai 2008 verlobten sich die beiden Turteltauben zum großen Ärger von Scarletts Mama, Melanie. Hatte die Schauspielerin nicht im Januar 2008 bei allen Göttern geschworen, dass sie noch nicht reif für die Ehe sei? »I am not ready for the Big Day.« Egal. Im September 2008 heiratete der Kanadier die Amerikanerin in Vancouver. Das Paar erlebte die vollkommene Liebe, und auch wenn das siebente Jahr das verflixte ist, hatte die Liebe bei diesem Paar schon lange vorher einen Knacks.