Im Himmel kann ich Schlitten fahren - Michael Martensen - E-Book

Im Himmel kann ich Schlitten fahren E-Book

Michael Martensen

4,8

Beschreibung

"Sophias Geschichte beginnt da, wo jedes Menschenleben beginnt, bei der Geburt. Sie kam am 24. September 1998 als unser zweites Kind auf die Welt. Im Moment des ersten Hautkontaktes wusste ich, dass ich etwas sehr Besonderes auf meinen Händen trug. Dennoch, bei Sophia war es anders, so wie ihr ganzes Leben in anderen Bahnen verlaufen sollte. Eigentlich hatte ich mir einen Jungen gewünscht. Aber wie sagt man? 'Hauptsache gesund!' So beginnt die berührende Geschichte einer besonderen Beziehung: Sophia, ein Vaterkind - erkrankt an einer aggressiven Leukämie: Der Vater hofft bis zuletzt, auch gegen alle Hoffnung. Bis auch er loslassen muss. Vom Auf und Ab der Gefühle, von Menschen, die geholfen haben, von Enttäuschungen und wunderbaren Fügungen erzählt er in diesem Buch. Und von Sophia, dem ganz besonderen Kind, die mit ihrer Weisheit und ihrem Wissen Spuren in den Herzen der Menschen hinterlässt und dem Vater schließlich das Unausweichliche nahe bringt. Seit Sophias Tod sind mehr als 10 Jahre vergangen. Der Autor ergänzt seine Geschichte um ein berührenden Kapitel. Darin lässt er die vergangen Jahre Revue passieren. Kann die Zeit die Wunden heilen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 373

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
12
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michael Martensen

Im Himmelkann ich Schlitten fahren

Das kurze Lebenunserer Tochter Sophia

Impressum

Titel der Originalausgabe: Im Himmel kann ich Schlitten fahren

Das kurze Leben unserer Tochter Sophia

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © Privat / © alinamd – Fotolia.com

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): ISBN 978-3-451-80331-6

ISBN (Buch): ISBN 978-3-451-06753-2

Vorbemerkung

Ich bin der Vater Sophias, die mit vier Jahren an Leukämie verstarb. Sophia wurde am 24. September 1998 geboren. Am 5. 2. 2003 ist sie gestorben. Bereits 14 Tage nach ihrem Tod habe ich angefangen, die Geschichte ihres kurzen Lebens aufzuschreiben. Ein Jahr habe ich an diesem Buch gearbeitet, immer mittags und abends, nach meiner eigentlichen Tätigkeit in einem kaufmännischen Beruf. Glauben Sie mir: Sehr oft, wenn ich an den dunklen Momenten der Krankheit und des Schmerzes war, wäre es viel einfacher gewesen, dem Laptop aus dem Weg zu gehen. Aber dann wäre ihr Leben nie zu Papier gebracht worden, und damit auch nicht ihr Strahlen, ihr Lebenswille und ihre Intensität. Sophia hat sich nie von der Angst beherrschen lassen. Allen, die ein trauriges, wehklagendes Buch über ein krebskrankes Kind erwarten, sei gesagt: Sophia war eine Kämpferin. Und sie hat ihren Kampf gewonnen. Aber auf eine andere Art, als ich es damals dachte und mit allen Kräften wollte. Ich habe das erst langsam lernen müssen. Diese Lektion war für mich sehr schmerzlich.

Heute weiß ich, es ist eine Lektion, die uns alle betrifft. Wie oft lassen wir uns von der Angst oder Unsicherheit bei allen möglichen Entscheidungen lähmen? Wovor haben wir eigentlich Angst? Und wieso? Wir alle werden sterben, früher oder später. Kommt es nicht einzig und allein darauf an, wie wir unser Leben füllen? Darauf, wie viel Strahlen wir in unser Leben lassen, mit wie viel Energie wir es leben, wie viel wir in unserem Leben zum Positiven verändern? Und darauf, welche Spur wir durch unser Dasein bei anderen hinterlassen, wie viel wir im Herzen und im Denken von anderen verändern können? Sophia hat dies getan, jede Sekunde ihres Lebens. Sie hat uns verändert, ihr Umfeld und sogar Menschen, die sie vielleicht nur kurz kennen lernte. Auf ihren Grabstein ließen wir schreiben: „Es spielt keine Rolle, wie alt man wird, es spielt eine Rolle, wie man gelebt hat“. Das klingt abgehoben? Theatralisch? Eins weiß ich bestimmt: Das Leben von Sophia war genau so, wie ich es hier niedergeschrieben habe. Sophia bedeutet in der Übersetzung „die Weisheit“. Vielleicht war sie weiser als mancher Mensch, der reich an Jahren die Augen schließt. Intensiv zu leben und „Spuren“ zu hinterlassen, die nachwirken – das hat sie in ihrem kurzen Leben geschafft. Nehmen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, ein Stück aus Sophias Leben mit in Ihre eigene Welt, „denken“ Sie ein bisschen mehr mit dem Herzen als mit dem Verstand – ich bin sicher: Es wird sich einiges ändern, auch für Sie.

Eine besondere Bindung

Sophias Geschichte beginnt da, wo jedes Menschenleben beginnt, bei der Geburt. Sie kam am 24. 9. 1998 als unser zweites Kind auf die Welt. Ihre große Schwester Sarah war damals drei Jahre alt. Sophias Geburt verlief so schnell, dass meine Frau und ich es gar nicht glauben konnten. Ich werde nie das verdutzte Gesicht von Karen vergessen, nach dem Motto: „Wie, das war’s schon?“

Sophia schrie aus Leibeskräften, ich nahm sie hoch, und die Bande waren geknüpft. Im Moment des ersten Hautkontaktes wusste ich, dass ich etwas sehr Besonderes auf meinen Händen trug. Das wird wahrscheinlich jeder stolze Papa denken. Dennoch, bei Sophia war es anders, so wie ihr ganzes Leben in anderen Bahnen verlaufen sollte. Eigentlich hatte ich mir einen Jungen gewünscht. Aber wie sagt man? „Hauptsache gesund!“

Was sich auch als Irrtum herausstellte.

Meine Frau hatte schon in der Klinik kräftig mit Sophia zu tun. Karen stillte unseren neuen Familienzuwachs, aber selbst wenn Sophia satt und glücklich in den Armen ihrer Mama lag, quittierte sie es umgehend mit lautem Geschrei, wenn sie von der Brust genommen wurde. Selbst wenn sie schon müde die Augen geschlossen hatte, Sophia wachte sofort wieder auf, wenn Karen versuchte, sie von ihrer Brust zu lösen.

Sarah war mächtig stolz auf ihre kleine Schwester. Ständig wollte sie Sophia auf dem Arm tragen. „Jetzt bin ich nicht mehr alleine“, sagte sie. „So eine hübsche Schwester habe ich gekriegt.“ Das wiederholte sie immer wieder voller Stolz.

Der Tag der Klinikentlassung war schnell da. Nun stand Sophia der erste Kontakt mit unseren beiden Berner Sennhunden „Jerry“ und „Cindy“ bevor. Die Tragetasche mit dem kostbaren Inhalt stellten wir gleich nach unserer Ankunft auf den Wohnzimmerboden. Und da kamen sie auch schon, diese riesigen, behaarten Vierbeiner und beschnupperten den neuen Hausbewohner. Während Jerry, der etwas behäbige Rüde, sich sofort wieder seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Schlafen, zuwandte, ging in unserer Hündin Cindy eine totale Veränderung vor: Wirklich „nervige“ Mutterinstinkte waren geweckt. Sobald in den folgenden Tagen und Monaten Sophia nur den geringsten Muckser machte, stand Cindy sofort auf, guckte besorgt und lief ständig hin und her. Nun wissen wir ja alle, wie oft ein Baby schreit und quengelt. Zusätzlich hatte man nun also auch noch diesen nicht gerade kleinen Hund zwischen den Füßen. Wir hofften inständig, dass sich das „Bemuttern“ irgendwann legen würde. Nichts da, Cindy blieb dran!

Sophia entwickelte sich in den ersten Monaten zu einem, gelinde gesagt, „durchsetzungsfähigen Charakter“. Ein kleines Beispiel von vielen: Um fit zu bleiben, besuchte Karen regelmäßig ein Gymnastikstudio. Während die Frauen trainierten, passte Mima, die Mutter der Besitzerin, auf die Kinder auf. Wobei es im Allgemeinen keine Probleme gab. Das galt nicht für Sophia. Lautes Geschrei, sobald Karen sich entfernte. Auch mit allerlei Ablenkungsmanövern war bei Sophia nichts zu machen, Mama musste her, erst dann gab sie Ruhe. Manchmal war meine Frau verständlicherweise nicht bereit, ihr Training zu unterbrechen. Dann schrie Sophia unermüdlich bis zum Ende der Stunde, sie gab nicht auf.

Diese immense Willenskraft sollte auch für ihr weiteres Leben bezeichnend sein.

Als mir der Gedanke kam, Sophias Leben aufzuschreiben, habe ich mir geschworen, meine Gefühle ehrlich wiederzugeben, so wie sie waren. Und deshalb sage ich auch ganz offen, dass meine Beziehung zu Sophia enger war als die zu meiner ersten Tochter Sarah. Zum besseren Verständnis meiner engen Beziehung zu Sophia möchte ich ein kleines Beispiel nennen:

Wenn sie wieder mal tobte, war auch meine Frau oft ratlos. Mir jedoch gelang es meist mit allerlei Tricks und Kniffen, Sophia zu beruhigen. Gab es Probleme, so horchte ich in mich hinein und hatte dafür die Lösung. Weil ich wusste, was in ihr vorging – denn sie war wie ein Spiegel meiner selbst.

Karen und ich ergänzten uns als Elternteile ideal: Sarah war das „Mamakind“, Sophia das „Papakind“. Vielleicht ist das gar nicht so ungewöhnlich. Ich denke, dass es in vielen Familien so ist. Nur geben es wenige zu.

Die Katastrophe

Wir hatten zwei gesunde Kinder, viele Freunde, wir waren sehr, sehr glücklich miteinander. Doch nicht lange. Sophia war gerade neun Monate alt, als die Katastrophe über uns hereinbrach. Im Mai 1999 entdeckten wir einen roten Punkt unter Sophias linkem Nasenflügel. Unser Kinderarzt untersuchte Sophia und vermutete einen Insektenstich. Das beruhigte uns für kurze Zeit. Was sollte schon Schlimmes sein? Sophia war ein robustes Kind, sie entwickelte sich doch prächtig! In den nächsten Wochen jedoch wuchs der rote Punkt bedrohlich. Eigentlich wollten wir im Juni zu einer Hochzeit nach Norddeutschland fahren, wo Verwandte von mir leben, aber dieser mittlerweile etwa zwei Zentimeter große Fleck ließ uns keine Ruhe. Eine nicht greifbare Bedrohung lag in der Luft. Unser Kinderarzt war im Urlaub, seine Urlaubsvertretung schickte Karen mit Sophia in die Uni-Klinik Ulm. Nach stundenlangem Warten wurde der Fleck flüchtig von einem Professor begutachtet. „Das ist ein Blutschwamm“, sagte er, „kein Grund zur Sorge, das geht von allein wieder weg.“

Der Termin für die Hochzeit rückte näher, aber ich konnte das warnende Gefühl in meiner Seele nicht mehr abschütteln. Karen erzählte mir, wie sehr sie sich schon freue, alle meine Verwandten im Norden Deutschlands zu treffen. „Wir werden sehen“, war meine Antwort. Ich hatte die innere Gewissheit, dass wir nicht reisen würden. Wir einigten uns darauf, vorher doch noch einen Termin bei unserem Kinderarzt zu machen, dessen Urlaub mittlerweile beendet war. Wir sahen es seinen Augen an, dass ihm das Gewächs Sorgen machte. Er überwies uns an die Uni-Klinik München. Der dortige wirklich kompetente Arzt erkannte auf den ersten Blick, dass die Ulmer Diagnose falsch war. Er schwieg sich jedoch über seine Schlussfolgerung aus. Er wollte weitere Untersuchungen abwarten.

Ein zweitägiger Aufenthalt in der Klinik folgte. Meine Frau blieb bei Sophia. Als die beiden wieder nach Hause kamen, regnete es in Strömen. Ein düsterer Tag, wie eine Vorschau auf das, was uns noch erwartete.

Bis zur Diagnose verging eine Woche. Ich war unten im Keller, werkelte in meinem kleinen Büro am Computer herum, als ich oben das Telefon klingeln hörte. Kurz darauf kam Karen herein, völlig fassungslos, mit Tränen in den Augen. „Leukämie“, sagte sie. „Sophia hat Leukämie.“

Ich stand auf und nahm meine Frau in den Arm. In dieser Sekunde war ich unfähig, auch nur einen Gedanken zu fassen. Der erste, der mir durch den Kopf ging, war: „Tod. Sophia muss sterben.“

Wie viele hatten auch wir irgendwo mal in der Zeitung oder im Fernsehen irgendetwas über Leukämie und Krebs mitgekriegt, aber das betraf ja immer andere, hatte nichts mit uns zu tun. Und nun plötzlich doch. Wie ein böser Schatten verdunkelte diese Krankheit den Raum. Karen ging sofort wieder rauf, ich folgte ihr. Sie schlug im Haushaltsmedizinbuch den Begriff „Leukämie“ nach, um sich zu vergewissern. Es war wirklich das, was wir dachten: Blutkrebs.

Karen erzählte mir den Rest des Telefongesprächs, soweit dies in diesem Augenblick, wo alles stillzustehen schien, überhaupt möglich war. „Wir müssen morgen nach München in die Uni-Klinik, um alle weiteren Schritte zu besprechen. Sophia muss auf die Kinderkrebsstation.“ Mein Gehirn reagierte auf eine seltsame Weise. Ich war mir sicher: Morgen stellt sich alles als Irrtum heraus und wir können wieder nach Hause. Nicht unser Kind, das konnte und durfte nicht sein!

Im Halbtrancezustand riefen wir meine Schwiegermutter an, die dann sofort zu uns kam. Sarah wurde gleich bei ihr einquartiert. Roger – damals noch ein Bekannter, heute mein bester Freund – sagte zu, sich um die Hunde zu kümmern.

Wir weinten und versuchten uns vorzustellen, was auf Sophia zukommen würde. Alles, was uns damals durch den Kopf ging, ließ uns nur einen Bruchteil von dem ahnen, was uns wirklich erwarten sollte. Mir fiel ein, was ich aus Erzählungen wusste. Vor Jahren – ich war sechs oder sieben – hatte eine Schwester meines verstorbenen Vaters in Norddeutschland auch ein Kind durch Krebs verloren. Meine Cousine Beate wurde nur 18 Jahre alt. Sie wurde etliche Male operiert und medikamentös behandelt. Vergeblich. Die Schmerzen zum Ende hin müssen extrem gewesen sein. Drohte Sophia das gleiche Schicksal? Nein, nein, nein, das war ja fast zwei Jahrzehnte her, die Medizin war doch heute so viel weiter! In den Medien wurde ja auch immer über die großen Überlebenschancen bei Leukämie berichtet. Das war doch keine Krankheit mehr, an der man sterben musste, oder? Wir sollten die Wahrheit kennen lernen.

Karen und ich legten Sophia in ihr in fröhlichen Janosch-Farben gestrichenes Bettchen, zum letzten Mal für eine lange Zeit. Mit rotgeweinten Augen versuchten wir, Schlaf zu finden. Und ausgerechnet da sagte Sophia ihr erstes richtiges Wort: „Mamamam“. Es klang fast wie ein Wimmern, immer wieder: „Mamamam, mamamam“.

Irgendwann fielen wir in einen Dämmerzustand. Das Aufstehen am nächsten Morgen glich einer Tortur. Ich versuchte, die Augen aufzumachen, aber meine Lider waren durch das Weinen verklebt. Als ich sie endlich geöffnet hatte, brannten meine Augen so, dass ich mich nur blinzelnd ins Bad vorwärts tasten konnte. Mein Blick traf den Spiegel. Tiefrote Augäpfel, ein paar Äderchen waren geplatzt. Meine Seele hatte selbst im Schlaf weitergeweint, anders kann ich es mir nicht erklären. Karen stand mittlerweile auch in der Badezimmertür, ihr Anblick erschreckte mich noch mehr als meiner. Leichenblass und die Augen im gleichen Zustand. Die einzige, die trotz des ganzen Chaos lächelte, war Sophia.

Die Bahnfahrkarten waren schnell gekauft. Mit Sophia im Kinderwagen standen wir auf dem Bahnsteig. Dass wir von den anderen Wartenden gemustert wurden, war bei unserem Aussehen kein Wunder. Während wir da standen und auf den Zug nach München warteten, beherrschte mich nur noch Angst, pure, nackte Angst. Im Zugabteil saß Karen mir gegenüber, der Kinderwagen zwischen uns. Unsere Blicke trafen immer wieder das lächelnde Gesicht von Sophia. Doch ihr Lächeln saß schief – durch das Gewächs am linken Nasenflügel. Innerhalb von nur zwei Tagen hatte es sich so vergrößert, dass die Nase nach rechts weggedrückt wurde. Ich fühlte eine immense Liebe in der einen Seite meiner Seele, im anderen Teil herrschte Panik vor dem Ungewissen. Die siebzigminütige Zugfahrt dehnte sich und wollte kein Ende nehmen.

Im Münchner Hauptbahnhof hoben wir den Kinderwagen aus dem Zug und machten uns auf den Weg zum Haunerschen Kinderspital in der Uni-Klinik. Dort begann für Sophia, Karen und mich eine Tortur, die all unsere Vorstellung sprengte.

Die Kinderkrebsstation war im Moment unserer Ankunft überfüllt. Kurzerhand mussten wir uns in der chirurgischen Abteilung einfinden.

Gleich am ersten Tag folgte Untersuchung auf Untersuchung. Dabei wurde Sophia ununterbrochen mit Nadeln gepiesackt. Sie schrie aus Leibeskräften, völlig zu Recht. Ich will hier nur eine Begebenheit von vielen erzählen.

Eine junge Ärztin suchte lange vergeblich nach sichtbaren Adern. Als endlich eine gefunden war und die Nadel eindrang, kam kein Blut. Durch die Krampfung beim Schreien wurde es zurückgehalten. Da kam die Ärztin auf die Idee, es am Kopf zu probieren. Was dies für uns bedeutet hat, kann man sich vorstellen: Weit weg von Zuhause, herausgerissen aus dem normalen Leben.

Das Liebste wird unzählige Male gestochen! Sophia schreit wie am Spieß vor Angst und Schmerz! Wir Eltern wissen immer noch nicht, was passieren wird. Und dann soll die Nadel auch noch am Kopf angesetzt werden. Ich war kurz davor, der Ärztin an den Hals zu gehen, Sophia zu schnappen, meine Frau an die Hand zu nehmen und durch Flucht diesen Alptraum hinter uns zu lassen. Meine Nerven lagen total blank. Irgendwann waren die Untersuchungen zu Ende. Nun saßen wir wieder auf den orangefarbenen Plastikstühlen im Gang der Kinderkrebsstation Intern 3, völlig verloren. Ich beobachtete die vorbeilaufenden Kinder. Kahle Schädel, bleiche Gesichter. Ständer mit Infusionsflaschen im Schlepptau. Hinter einer Zimmertür schrie ein Kind aus Leibeskräften. Hier konnten, wollten wir nicht bleiben! Wie an einen Lichtschein in der Dunkelheit dieses schrecklichen Tages klammerte ich mich an die Hoffnung, dass sich die Diagnose als Irrtum erweisen würde.

Nach einer unendlich langen Wartezeit wurden wir schließlich in das Ärztezimmer gebeten, vor uns saßen ein Psychologe und zwei Ärzte, die all unsere Hoffnungen zerstörten. „Es sieht nicht gut aus für Ihre Tochter, der Leukämieverdacht hat sich bestätigt. Schon durch ihr geringes Alter hat Sophia schlechte Chancen, erfolgreich therapiert zu werden. Sie muss mit einer Chemotherapie behandelt werden. Dieses Chemotherapieprotokoll ist ganz neu, und wir hoffen, damit einen Erfolg zu erzielen. Aber wie gesagt, die Chancen stehen äußerst schlecht.“

Meine Frau weinte bereits, auch Sophia begann zu weinen, angesteckt durch Karen. Meine beiden so zu sehen war so schrecklich für mich, dass ich es nicht beschreiben kann. Ich weinte nicht. Weil ich gar nichts verstanden hatte, und auch nichts verstehen wollte. „Was heißt das nun“, fragte ich, „muss Sophia sterben?“ – „Ja“, lautete die Antwort, „aller Wahrscheinlichkeit nach, ja.“ Nun brachen in mir alle Dämme. Ich weinte und zitterte wie noch nie in meinem Leben. Dunkelheit, die von ganz unten zu kommen schien, schoss in meinem Inneren hoch. Karen und Sophia fest an mich gedrückt, saßen wir da, mit dieser nun ausgesprochenen Möglichkeit. Stand der Tod tatsächlich bei uns vor der Tür?

Irgendwann waren wir draußen auf dem Gang, unser Anblick muss noch mitleiderregender gewesen sein als der von den Patienten. Wir bekamen ein Krankenzimmer zugewiesen. „Dein neues Zuhause für Wochen?“ Nicht fassbar. „Vielleicht kann Sophia doch schneller nach Hause?“ Meine Gedanken waren an Naivität nicht zu überbieten. Trotz meines Schockzustands schaute ich mir sogleich das schriftliche Chemotherapieprotokoll durch: Wir mussten mit fast einem ganzen Jahr Intensivchemoblöcken rechnen. Das nahm mir einen großen Teil meiner Illusionen über ein baldiges Ende dieses Alptraumes. Für morgen war schon die Operation zum Einsetzen des Hickman-Katheters angesetzt: ein Schlauch, der am Herzen endet und über den sämtliche Medikamentengaben und Blutentnahmen erfolgen.

Am Abend stellte sich nun die Frage, wo ich die Nacht verbringen sollte. Im Krankenhaus war nur eine Begleitperson gestattet; Karen würde bei Sophia bleiben, weil sie noch gestillt wurde. Mit einem Ohr hörte ich von einer Übernachtungsmöglichkeit einer kirchlichen Organisation auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Als die Besuchszeit endete, ging ich dorthin. Ich fiel aufs Bett und schlief sofort ein, obwohl ich kurz vorher noch sicher war, nichts könnte mich dazu bringen, die Augen zuzumachen. In der Nacht wachte ich öfters auf, da in diesem Haus ein paar Menschen wohnten, die von Nachtruhe nicht viel hielten.

Zum Warten verdammt

Am nächsten Morgen war ich, gleich um acht Uhr, wieder in der Klinik. Karen starrte mir müde und leer entgegen. Sie sagte, Sophia habe fast die ganze Nacht geschrieen und sei nur durch Stillen zu beruhigen gewesen. Heute war nun der Tag der Operation für den Hickman-Katheter. Sophia musste nüchtern bleiben, bekam nichts zu trinken, nichts zu essen. Sophia schrie, sie weinte vor Hunger. Erst um die Mittagszeit bekam sie dann ihr Schlafmittel und wurde mit dem Bett weggebracht. Hilflos liefen wir neben ihr mit, vor dem Operationssaal war der Weg für uns zu Ende. Wir waren wieder zum Warten verdammt.

Auf dem Klinikgang erzählte mir ein Vater, der schon länger mit seinem krebskranken Sohn hier war, etwas über den Krankenhausalltag. Er gab mir einen kleinen Überblick für die nächste Zeit.

Sein Sohn starb später während Sophias Chemoblöcken.

Nach endlosen anderthalb Stunden bekamen wir unsere immer noch schlafende Sophia zurück. Das Aufwachen ging schnell, zwei Stunden später durfte sie endlich gestillt werden. Es war so seltsam und befremdlich, diesen Schlauch aus ihr herausragen zu sehen, ein Fremdpartikel, das dort eigentlich nicht hingehörte. Ich dachte damals, dass ich mich nie an diesen Anblick gewöhnen würde. Doch der Katheter wurde zur Gewohnheit, oft nahm ich ihn gar nicht mehr wahr.

Am darauf folgenden Tag sollte die Chemotherapie beginnen. Die ganze Nacht lag ich in meinem Bett und flehte innerlich: „Nicht sterben, Sophia, nicht sterben! Halte die Therapie durch! Wir sind bei dir! Halte durch, nicht sterben, bitte! Nicht du, meine Mausi! Ich habe dich so lieb.“ Der Verstand war einfach nicht bereit, die Geschehnisse aufzunehmen. Es war, als liefe ein Film ab. Man spielte mit, aber das war doch nicht echt. Die Realität wurde unreal. Obwohl ich sehr müde war, riss der Geräuschpegel in diesem unruhigen Haus mich immer wieder aus dem Schlaf.

Am nächsten Morgen sah ich mit großer Sorge, wie schlecht Karen aussah: müde Augen, tiefe Ränder darunter. Sophia hatte wieder fast die ganze Nacht geschrieen, lange würde meine Frau das nicht mehr durchhalten.

Am Vormittag sollte die erste Blutentnahme durch den Katheter stattfinden. Vorher musste sein Sitz in der Röntgenabteilung überprüft werden. Die Schwester war unfreundlich, geradezu bissig. „Legen Sie das Kind da hin, und sorgen Sie dafür, dass es still liegt! Ansonsten müssen wir es ruhig stellen.“ Sophia schrie natürlich wie am Spieß, und die Dame machte es durch ihre hektische und unwirsche Art noch schlimmer. Da war das Maß für mich voll. Ich wurde laut und vergaß den normalen Umgangston. „Unsere Tochter hat in den letzten Stunden genug mitmachen müssen, und wenn Sie nicht augenblicklich aufhören, sie wie ein Stück Fleisch zu behandeln, raste ich aus! Dann lernen Sie mich kennen!“ Sie schaute mich an, sah die Wut in meinem Blick und wurde plötzlich freundlich. Nachdem die Spannung gewichen war, beruhigte sich auch Sophia ein wenig, und die Röntgenaufnahme konnte gemacht werden.

Die Chemotherapie begann. Tag um Tag zog an uns vorbei. Stark in Erinnerung sind mir die stundenlangen Spaziergänge auf dem Klinikgang. Sophia schlief oft nur ein, wenn sie im Kinderwagen geschoben wurde. Eigentlich nichts Besonderes. Doch für uns war nichts mehr normal. Schon das Hineinlegen gestaltete sich als äußerst schwierig, da Sophia ja mit den Katheterschläuchen verbunden war. Sie waren immer verdreht, weil sie sich darin verhedderte, sobald sie sich umdrehte oder wenn sie im Bett herumrobbte. Also war ich zunächst damit beschäftigt, die Kabel wieder zu entwirren.

Danach ging der Kampf mit dem Infusomatenständer los. Hatte ich alles soweit in Position gebracht, konnte Sophia endlich in den Kinderwagen. Eine Hand am Wagen, die andere am Ständer begann das Auf und Ab auf dem Klinikgang. Sophia tolerierte nicht den kürzesten Stopp. Auch wenn sie eingeschlafen war und ich wirklich sehr vorsichtig anhielt, merkte sie es sofort, und das Geschrei fing wieder an. Auf und ab. Ab und auf. Stundenlang.

Bald konnte ich nachempfinden, wie sich ein Gefängnisinsasse bei Freigang im Hof fühlen musste. Mit dem Unterschied, dass Gefangene wenigstens draußen an der frischen Luft laufen dürfen. Diesen Luxus hatten wir nicht. Die Freiheit draußen zu genießen, war durch die Chemotherapie und die damit verbundene Abwehrschwäche nicht möglich. Während dieser Tage, als immer wieder Flaschen mit giftigen Substanzen, langsam, Tropfen für Tropfen, durch den Katheter in Sophias Körper liefen und dort gute wie schlechte Zellen zerstörten, lag die Welt draußen auf einem anderen Planeten – Lichtjahre entfernt.

Beim Stillen ließ Sophia ihre Wut immer mehr an Karen aus. Das heißt: Sie biss richtig fest zu. Wir konnten uns dieses massive Aggressionsverhalten nicht erklären. Erst viel später erfuhren wir, dass regelmäßig verabreichtes Cortison bei manchen Kindern Wesensveränderungen bewirkt. Die Schmerzen durch die Bisse waren schlimm, das sah ich Karen an. Aber wie sollte ich ihr helfen? Stillen ist ja nun nicht gerade eine Männerdomäne. Mehr als die Spaziergänge mit Sophia auf dem Gang konnte ich nicht beisteuern, um Karen eine Pause zu verschaffen.

Durch das Cortison schwemmte Sophias Körper schrecklich auf, sie wurde kugelrund. Aber es ließ auch den Tumor an ihrer Nase sehr schnell schrumpfen. Nach fünf Tagen war er fast völlig verschwunden. Die Freude und Hoffnung wuchs mit jeder erkennbaren Besserung, trotz des aufgeschwemmten Körpers. War alles doch nur ein böser Alptraum gewesen? Würden wir vielleicht doch vorzeitig nach Hause können? Im Nachhinein kommen mir diese Gedankengänge ziemlich idiotisch vor, aber damals erfasste uns Euphorie. Wir waren noch viel zu unwissend in Bezug auf den Verlauf der Krankheit und was die Wirkungsweise der Medikamente anging.

Einer unserer Lieblingsärzte, der wahrscheinlich bemerkt hatte, wie glücklich wir waren, holte uns zurück auf den Boden der Tatsachen. Der Rückgang des Tumors sei zwar erfreulich, habe aber nichts mit der eigentlichen Erkrankung, der Leukämie, zu tun, erklärte er uns. Ob eine Vollremission – keine nachweisbaren Leukämiezellen mehr im Körper – erreicht sei, lasse sich erst in ein paar Wochen feststellen.

Warten, warten, warten. Warten auf weiteres Leben? Darauf hoffen? Es herbeizwingen? Das einzige Wort, das mir dazu einfällt, ist: grausam.

Während Sophia mit Medikamenten vollgepumpt wurde und durch die Hölle ging, konnten wir nichts anderes für sie tun, als bei ihr zu bleiben und zu versuchen, sie zu stärken.

Das Leben in Memmingen ging ja auch weiter. Unsere große Tochter Sarah war gut bei meinen Schwiegereltern untergebracht. Ich hoffte, dass sich die Belastung, die Sarah tragen musste, durch die liebevolle Betreuung von Oma und Opa in Grenzen halten würde. Jerry und Cindy kamen in eine Hundepension, die Roger gefunden hatte. Ich wollte unbedingt bei Karen und Sophia in München bleiben.

Um dies mit meinem Arbeitgeber zu klären, fuhr ich nach Hause. Die Filiale, in der ich beschäftigt bin, liegt ca. 25 Kilometer vom Stammsitz der Firma in Memmingen entfernt. Als ich zum Gesprächstermin bei meinem Chef in Memmingen erschien, ihm unsere Situation schilderte und ihn um vier Wochen unbezahlten Urlaub bat, sah ich schon an seinem Mienenspiel, dass er nicht damit einverstanden war. Zu wenig Personal, kein Ersatzmann für mich, waren seine Argumente. Im Übrigen sei meine große Tochter ja gut versorgt, und in der Klinik müsse ich ja nicht unbedingt dabei sein. Seit fünfzehn Jahren arbeitete ich in dieser Firma, und nun das! Ich war wütend und dachte laut über meine Bereitschaft zur Kündigung nach. Schließlich ging ich doch mit der Bewilligung für unbezahlten Urlaub hinaus. Das war geklärt, ich konnte zurück nach München.

Ich glaube, es war am neunten oder zehnten Tag der Therapie, als ich am Morgen aus meiner Unterkunft kam, Karen sah und wusste, dass es so unter keinen Umständen weitergehen konnte. Meine Frau war durch den dauernden Schlafmangel am Ende. Sie reagierte kaum noch, wenn man sie ansprach. Bei der Visite fragte ich den Dienst habenden Arzt, ob meine Frau nachts irgendwo anders zu Kräften kommen könne. „Natürlich“, lautete die Antwort, „es gibt spezielle Elternwohnungen! Haben Sie das nicht gewusst?“

Ich war total perplex: Nein, das hatte ich nicht gewusst, kein Mensch hatte uns diese Information gegeben! Gleichzeitig meldete sich das schlechte Gewissen. Konnten wir Sophia über Nacht alleine lassen? Würde das ohne Stillen gut gehen? Die Schwestern auf der Station halfen uns bei der Entscheidung. Sie informierten uns darüber, dass die Elternwohnungen über Telefon verfügen. Wenn Sophia sich absolut nicht mehr beruhigen ließe, würden sie uns sofort anrufen.

Die erste Nacht, die Sophia alleine im Krankenhaus verbringen sollte, stand bevor. Karen und meine Blicke trafen sich, als sie eingeschlafen war, wir fühlten uns beide sehr schlecht. Auf Zehenspitzen gingen wir aus dem Zimmer, vor dem Krankenhaus beschleunigten wir unsere Schritte, um schnell in die Wohnung und zum Telefon zu kommen. Die Schwestern würden anrufen, ganz bestimmt. Sophia schreit bestimmt schon, dieser Gedanke ließ uns fast schon rennen. Als wir ankamen, wären wir trotz der Erschöpfung am liebsten gleich wieder zurückgelaufen. Wir bezogen unsere Betten, legten uns hin, wollten schlafen, aber es dauerte doch noch Stunden, bis unser Warten auf einen Anruf von der Müdigkeit besiegt wurde.

Am Morgen, als der Wecker klingelte, waren die Sorgen um Sophia sofort wieder da. Schnelles Anziehen, hektisches Verlassen der Wohnung, im Eilschritt zur Klinik. Auf der Station war der erste Weg gleich in Sophias Zimmer. Ich schaute hinein: Sie war nicht da! Sofort liefen wir ins Schwesternzimmer. Wir fassten es nicht: Dort lag sie friedlich in ihrem Kinderwagen, den Infusomatenständer daneben, umringt von den Stationsschwestern. Sie berichteten uns, Sophia habe in der Nacht sehr viel geschrieen, die Nachtschwester sei schon fast am Telefon gewesen, um uns anzurufen. Doch weil meine Frau dringend Schlaf brauchte, habe sie davon abgesehen und Sophia im Kinderwagen mit ins Schwesternzimmer genommen. Und siehe da: Sie war zufrieden! Die restliche Nacht verlief ohne große Probleme.

Als wir Sophia wieder in ihr Bett gebracht hatten, waren wir über unsere Entscheidung, in der Elternwohnung zu übernachten, sehr froh. Bereits nach einer Nacht Schlaf ohne Störung hatten wir wieder Kraft geschöpft. Sophia schien uns nicht böse zu sein, sie lachte uns an, und dieses wunderschöne Wort kam wieder über ihre Lippen: „Mamamam.“

Das süße Gesicht meiner Tochter hatte keine Konturen mehr, aber wenn sie lachte, erschien es mir wie ein wunderschöner Sonnenaufgang. So viel Licht. So viel Wärme. So viel Liebe. Dann erinnerte nichts an die dunkle Seite in ihr: die durch Cortison bewirkten Aggressionen. Sophia war ja gerade mal ein Dreivierteljahr alt! Eigentlich sollte sie sich in irgendeiner Krabbelgruppe die Hosen durchrutschen. Stattdessen saß sie in einem Gitterbett, ihr ganzer Körper aufgebläht. Auch jetzt, beim Schreiben, laufen mir die Tränen übers Gesicht, so tief ist dieses Bild in mein Herz gebrannt.

Auf der Station war Sophia das jüngste Kind, irgendein altersgerechter Kontakt war nicht möglich. Weil sie so klein war, belastete sie vieles – zum Beispiel der Haarausfall – nicht so wie ältere Kinder. Doch tief in ihr entstanden Wunden, die äußerlich nicht sichtbar waren. Oft kuschelte sie sich in meinen Arm und schlief ein. Während Sophia in meinem Arm lag, die Augen geschlossen, weinte ich oft leise die Wut und den Schmerz über ihr Schicksal heraus. Trotz und Kampfeswille erwuchsen daraus, nichts würde Sophia besiegen. Ihre Stärke war mächtiger als der Krebs. „Diesen Kampf verliert das mächtige Monster Leukämie.“ Sicherheit darüber beherrschte meine Gedanken: Wir als Familie, als Einheit, als Bollwerk. Unbesiegbar und unzerstörbar. Der Krebs konnte nur verlieren.

Vanille- und Schokobrei

Durch das Cortison änderte sich auch Sophias Essverhalten drastisch. Sie entwickelte einen Heißhunger auf Schokoladen- oder Vanillebrei. Wehe, sie bekam nicht schnell genug etwas davon! Dann saß sie mit geballten Fäusten in ihrem Kinderstuhl, lief rot an und rastete total aus. Weder gutes Zureden noch Strenge halfen. Erst wenn der Brei vor ihr auf dem Tisch stand, war sie zufrieden und der Zorn vorbei, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Diese Szene spielte sich acht- bis neunmal am Tag ab. Oft versuchten wir, Sophias Speiseplan ein wenig in „gesunde“ Bahnen zu lenken. Nichts da, Sophia wollte. Sophia setzte durch.

An manchen Tagen wurde ich das Gefühl nicht los, gar nicht mehr mein Kind vor mir zu haben, so aggressiv war sie. In der nächsten Sekunde keine Spur mehr davon. Mit einer betroffenen Mutter von der Station kam ich ins Gespräch über die Cortisonbehandlung, und auch sie erzählte, dass sich das Verhalten ihres Sohnes dadurch verändert habe. Im normalen Leben ein liebenswerter Junge, schrie er seine Mutter nun nur noch an und spie ihr die schlimmsten Schimpfwörter entgegen.

Auch Sophias körperliche Entwicklung verzögerte sich durch die Therapie. Vor der Behandlung war sie damit beschäftigt gewesen, sich überall hochzuziehen, um auf die Beine zu kommen. Jetzt lag sie nur noch, rutschte mal ein Stück auf dem Bauch oder Rücken, aber sich hochziehen, das versuchte sie nicht mehr.

Das Medikament MTX hat besonders verheerende Nebenwirkungen: unter anderen die Auflösung der Schleimhäute, auch im Darm. Das war mit sehr starken Schmerzen verbunden. Als Karen einmal Sophias Windel wechselte, war eine längliche Haut dabei: Es löste sich also die Innenwand des Darms. Beim Wickeln zog immer ein fürchterlicher Geruch durch den Raum. Wegen der giftigen Ausscheidungen sollten wir unbedingt Gummihandschuhe tragen, wenn wir Sophias Windeln wechselten. Das eigene Kind mit Gummihandschuhen anfassen? Nein, das taten wir nie!

Die ersten vier Wochen waren angefüllt: tägliche Blutentnahmen, Ultraschalluntersuchungen und Medikamentengaben. Man gewöhnte sich an die Klinik, man freundete sich mit anderen Eltern an. Der ständige Druck, der Schmerz wurde Alltag. Tod? Nicht mehr präsent, verdrängt. Der Kampf um das Leben führte nur in ein Ziel, die Heilung.

Eines Tages saß ich am vergitterten Fenster in Sophias Krankenzimmer, schaute nach draußen, wo die Sonne schien. Mein Blick fiel auf ein jungverliebtes Pärchen, engumschlungen, lachend. Uns trennten vielleicht fünfzig Meter, und doch lagen Welten zwischen uns. Das Pärchen stand in der hellen Sonne; wir waren im Schatten. Heftig traf mich das Gefühl von Neid. Sich so unbekümmert zu bewegen und zu fühlen, das war für uns vorbei. Das Paar lief lachend weiter, Hand in Hand, und wir blieben in unserem Gefängnis zurück. Unbekümmertheit ist eine Gnade – wir hatten sie verloren.

Endlich – nach Hause?

Der erste Heimaturlaub rückte näher, die letzten Tage wollten kein Ende nehmen. Vor dem ersehnten Tag wurden uns noch etliche Verhaltensregeln mitgeteilt. Es sei sehr wichtig, Menschenansammlungen und größere Kindergruppen zu meiden. Wer Sophia besuchen wolle, müsse zuerst gefragt werden, ob er eine Erkältung oder Ähnliches mit sich herumtrug. Die Chemotherapie hatte das Immunsystem zerstört. Darum konnte für Sophia jeder noch so kleine Schnupfen gefährlich werden. Auch Katzen und Vögel, falls vorhanden, sollten weg. Von unseren Hunden mussten wir uns laut Auskunft der Ärzte nicht trennen, glücklicherweise. Ganz wichtig: das Fiebermessen mehrmals am Tag. Sollte die Temperatur zweimal auf 38 oder einmal über 38,5 Grad steigen, dann sofort zurück in die Klinik: fünf Tage Antibiotika unter stationärer ärztlicher Aufsicht.

„Na ja, das wird schon nicht passieren“, dachte ich naiv. „Diese eine Woche Therapiepause wird uns ja wohl vergönnt sein.“

Am Morgen der Entlassung, gleich nach der Visite, standen wir ungeduldig vorm Arztzimmer. Jetzt konnte es nicht schnell genug gehen. Der große Moment war da, der Infusionsautomat abgekoppelt. Sophia war frei. Als wir im Taxi saßen und in Richtung Memmingen fuhren, konnten wir unser Glück nicht fassen. Doch als wir unser Haus betraten, fühlten wir uns plötzlich unsicher ohne die Schläuche und ohne den Klinikgeruch. Sophias Ärzte waren nun 110 Kilometer weit weg. Hoffentlich würden wir, auf uns allein gestellt, alles richtig machen.

Karen setzte sich als erstes auf die Bank vorm Kachelofen und weinte. Es waren Freudentränen. Trotz der zwiespältigen Gefühle war sie froh, einfach nur froh, endlich wieder zu Hause zu sein. Ich brachte Sophia nach oben, um sie für ein Mittagsschläfchen in ihr Bettchen zu legen. Sie fühlte sich anscheinend wohl, denn ihre Augen fielen gleich zu. Unten im Wohnzimmer saßen wir uns eine ganze Weile stumm gegenüber. Ich denke, wir brauchten beide eine gewisse Zeit, um auch innerlich wieder „heimzukommen“.

Nachdem Sophia ausgeschlafen hatte, fuhren wir sofort los, um zuerst Sarah und danach die Hunde abzuholen. Es war so schön, wieder eine komplette Familie zu sein. Sarah strahlte übers ganze Gesicht, und die zwei Berner Jerry und Cindy hörten mit dem Schwanzwedeln gar nicht mehr auf. Alle rein ins Auto und ab in unseren geliebten Eisenburger Wald! Beim Aussteigen füllten wir erst mal gierig unsere Lungen mit dieser herrlichen frischen Luft. Balsam für Körper und Seele nach dem Großstadtgestank in München. Wir liefen mit Sophia im Kinderwagen unsere alten Wege entlang, für Passanten eine ganz „normale“ Familie auf einem Waldspaziergang. Uns schien jeder einzelne Schritt einfach nur paradiesisch.

Am Abend, als Sarah und Sophia in ihren Betten lagen, saßen wir im Wohnzimmer und konnten es immer noch nicht glauben: Wir waren zu Hause, und eine ganze Woche Freiheit stand bevor! Am nächsten Morgen besuchten wir meine Schwiegereltern und meine Mutter, die Freude über das Wiedersehen war riesengroß. Nachmittags ging’s wieder in den Wald. Auch diesen Spaziergang genossen wir aus vollen Zügen. Es ist schon seltsam, wie diese vermeintlich kleinen Dinge in so einer Lage eine riesige Bedeutung bekommen können.

Am nächsten Tag war der Traum von Freiheit ausgeträumt. Das zweite Fiebermessen ergab 38,0. Das bedeutete, wir mussten nach einer Stunde erneut messen. Würde diese verdammte Zahl wieder auf dem Thermometer auftauchen, musste Sophia zurück in die Klinik. Panik und Unglauben machten sich breit. Der Zeiger auf unserer Wohnzimmeruhr wollte die Stunde bis zum Nachmessen nicht vergehen lassen. Karen hatte keine Ruhe, die Stunde war noch nicht ganz um, als sie die Temperatur erneut kontrollierte: 38,3! Ich war schon am Telefon, um die Klinik zu informieren. Dann rief ich das Taxi. Karen rannte nach oben, um die Reisetasche zu packen.

Sarah war verwirrt über diese plötzliche Hektik. Meine Älteste weinte, ich nahm sie in den Arm, um sie zu trösten. Aber so richtig wollte mir das nicht gelingen. Wie denn auch? Sarah hatte sich darauf eingestellt, nach vier langen Wochen der Trennung wenigstens für eine Woche wieder alle bei sich zu haben, und nun wurde die Familie schon am dritten Tag wieder auseinander gerissen.

Ich konnte nicht mit nach München. Am nächsten Tag musste ich wieder zur Arbeit, mein unbezahlter Urlaub war zu Ende und wir benötigten mein Gehalt. Karen war traurig, aber ich wusste, dass sie einen starken Charakter hat: Sie würde es auch ohne mich schaffen. Ich versprach ihr, am Wochenende in die Klinik zu kommen, bis Samstag waren es ja nur noch zwei Tage.

Das Taxi fuhr vor. Karen und Sophia stiegen ein. Sarah und ich blieben mit den Hunden zurück. Wir standen ziemlich verloren im Hauseingang. Als das Auto wegfuhr, weinten wir zusammen.

Nachdem ich Sarah zu meinen Schwiegereltern gebracht hatte, saß ich allein in unserem Wohnzimmer. Wut stieg in mir hoch. So viel Wut auf diese Krankheit, die uns zwang, getrennt voneinander zu leben und nichts mehr planen zu können. Wie sich wohl meine zwei Süßen in München fühlten? Ich griff zum Telefon und wählte die Nummer der Klinik. Als ich die Stimme meiner Frau hörte, ließ die Spannung ein wenig nach. Das Antibiotikum war angehängt, Sophia ging es gut. Sie brabbelte fröhlich im Hintergrund. Als wir unser Gespräch beendet hatten, ging es auch mir wieder besser.

Geteiltes Leben

An meinem ersten Arbeitstag quartierte ich Jerry und Cindy im Lager ein. Der Laden ist gleich angrenzend, nur getrennt durch eine Tür, so konnte ich immer nach den zweien schauen. Jerry war sichtlich froh darüber, in meiner Nähe zu sein. Die eigentlich lebhaftere Cindy wirkte lethargisch, auch beim Fressen hielt sie sich zurück. Ich wusste, was in ihr vorging. Wenn ich sie fragte „Wo ist Sophia?“, schaute sie mich mit traurigen Augen an und dann mit verlassenem Blick zur Tür. Bei der Hündin spürte man deutlich, dass sie Sophia vermisste. Vielleicht spürte Cindy ja damals schon viel mehr von dem, was die Zukunft bringen würde.

Während der Arbeit fiel es mir schwer, mich auf meine Kunden zu konzentrieren. Wenn sie mich fragten, ob ich diese oder jene Fassade so oder anders streichen würde, fragte ich mich, wie es den beiden in München geht. Viele Stammkunden wussten über meine Lage Bescheid. Ob im Geschäft oder anderswo, die Menschen in unserem Umfeld teilten sich in solche, die wegschauten, und solche, die Anteil nahmen. Ein Stammkunde schenkte mir ein Stofftier für Sophia mit einer Schokoladenkugel um den Hals. „Vielleicht freut sich deine Tochter darüber. Es ist nur eine Kleinigkeit, aber irgendetwas wollte ich tun.“ Es ist unglaublich, wie viel Wärme und Güte mit einem Stofftier über die Ladentheke wandert.

Auch der zweite Arbeitstag verging, danach brachte ich Cindy und Jerry in die Hundepension, wo sie übers Wochenende bleiben würden. Cindy wollte nicht aus dem Auto raus. Als das geschafft war, blickte sie mich auf dem Weg zum Zwinger mit so unendlich traurigen Augen an. Tränen rollten meine Wangen herab. Was sollte ich denn tun? Unsere Familie zersplitterte in lauter kleine Teile.

Eigentlich hatte Sarah das Wochenende mit mir in München verbringen wollen, doch als ich sie am Samstagmorgen abholen kam, hatte sie sich anders entschieden. „Ich bleibe lieber bei der Oma.“ Vielleicht wollte sie einfach nicht schon wieder eine Trennung nach zwei Tagen erleben und unbewusst ihr Innerstes schützen. Das hatte ich zu akzeptieren, dieser Selbstschutz war das einzig Richtige für sie. Sarah brauchte Konstanten in ihrem Leben. Wir konnten das für die nächste Zeit nicht mehr bieten. Oma und Opa boten ihr ein geregeltes Leben.

Auch Karen verstand es, aber die Enttäuschung darüber, dass Sarah nicht mitgekommen war, sah ich in ihren Augen. Sophia ging es weiterhin gut, die Antibiotika-Therapie schlug an, lief noch bis Sonntag. Sarah meldete sich per Telefon, das Strahlen in den Augen meiner Frau während des Anrufs, Balsam für die Seele. Ich hoffte, dass ich die beiden wenigstens noch für zwei Tage Pause mit nach Memmingen nehmen konnte, bevor der nächste Chemo-Block begann. Doch die Ärzte wollten gleich Montag damit loslegen.

Die Wochen vergingen, der dauernde Wechsel zwischen Arbeit und Klinik wurde Alltag, fast schon Gewohnheit. Und dann kam der wichtige Tag, an dem sich entschied, ob Sophia in Vollremission war. Wieder warteten wir. So groß die Anspannung, Krebszellen noch vorhanden? Ja oder Nein, es war kaum zu ertragen. Würde man uns wieder eine Hiobsbotschaft überbringen? Die Nachricht konnte nicht besser sein: momentan keine nachweisbaren Leukämiezellen in Sophias Körper! Jaaaaa!!!! Uns fiel ein Stein, ein Fels, ein ganzer Berg vom Herzen. Ich hätte tanzen können vor Freude. Den behandelnden Ärzten war ebenfalls die Freude ins Gesicht geschrieben. Wer der Doktoren hätte bei der finsteren Erstdiagnose dieses Ergebnis erwartet?

Die Chemotherapie ging weiter, alles lief planmäßig, bis der Hickman-Katheter zu streiken begann. Bei Blutentnahmen ging fast nichts mehr heraus und bei Medikamentengaben fast nichts mehr hinein. Im oberen Bereich war das Hauptlumen stark verdreht, weil Sophia sich ständig drehte. Von einer jungen Ärztin bekamen wir den „hilfreichen“ Rat, dafür zu sorgen, dass unsere Tochter sich nicht so viel bewegt. Ich fragte sie daraufhin, ob sie selber Kinder hat, was sie verneinte. „War klar! Sonst würden Sie so was Sinnloses gar nicht vorschlagen.“

Sollten wir Sophia etwa im Bett festbinden? Das Wenige an Bewegung, dieses bisschen Lebensqualität durch Fesseln einschränken? Verbal konnten wir uns nicht mit ihr auseinandersetzen. Dafür war Sophia zu klein. Sie verstand nicht, wenn man ihr sagte: „Bleib bitte liegen, rühr dich nicht, dreh dich nicht um!“

Das Problem lag eher am Hickman-Katheter selber. Er war für Patienten geschaffen, die älter als Sophia waren und wenigstens schon laufen konnten. Der Morgen, an dem nichts mehr rein- und rausging, kam. Der Arzt, der die Blutentnahme durchführte, wurde zunehmend unruhig. Er versuchte immer wieder, die Lumen mit Flüssigkeit gangbar zu machen. Der Arzt gab sein Bestes, ich weiß noch, dass der Schweiß auf seiner Stirn stand, aber er erreichte nichts. Was nun folgte, war klar: Ein neuer Hickman-Katheter musste eingesetzt werden. Sophia wurde wieder in Tiefschlaf versetzt und in den Operationssaal geschoben. Nach dem Eingriff war nun ein weiterer Schnitt, eine weitere Narbe dazugekommen. Die Therapie lief weiter, mit all ihren Qualen für Sophia.

Es näherte sich ein ganz besonderer Tag in Memmingen: der Fischertag. Männliche Bewohner, die in unserer Stadt geboren waren, durften sich mit einem Fischernetz bewaffnen, laut johlend durch die Straßen ziehen und anschließend in den Stadtbach hüpfen, um zu fischen. Mein Schwiegervater, mein Schwager und ich sprangen alljährlich im Juli kurz vor den Sommerferien mit hinein. Freitags nach der Arbeit sagte mein Schwager: „Michael, komm, mach mit! Ein bisschen Ablenkung und Freude tut dir gut.“ Karen empfahl mir am Telefon das Gleiche. Aber mir war nicht nach Ablenkung und Freude. Sophia war kurz vorher in einer Therapiepause wieder mit Fieber in die Klinik gekommen. Und da sollte ich lustig im Stadtbach fischen? Statt um acht Uhr in den Bach zu springen, kümmerte ich mich um Sarah und fuhr nach München.

So oft gab es die Enttäuschung: Endlich wieder Heimaturlaub, Sophia und Sarah waren zu Hause und ich fieberte dem Ende meines Arbeitstages entgegen. Prompt rief mich Karen in der Firma an: Die Temperatur sei wieder angestiegen, sie habe schon das Taxi bestellt. Der dauernde Druck durch dieses ständige Fieber, das immer wieder nach zwei bis drei Tagen auftrat, wenn Sophia zu Hause war, lastete schwer auf unserer ganzen Familie.

Trotz ihres zeitweiligen Entwicklungsstopps machte Sophia langsam Fortschritte. Ihre ersten unsicheren Schritte machte sie an der Hand meiner Frau, die gleichzeitig den Infusomatenständer nebenherschob. Ich kam gerade aus dem Zimmer, als die kleine Maus halb stolpernd, aber zielsicher ein Füßchen vor das andere setzend den Klinikgang zum ersten Mal auf ihren eigenen zwei Beinen erkundete. Es war so schön, Sophia laufen zu sehen. Nicht, dass sie sich gleich wieder auf den Hosenboden plumpsen ließ, nein, sie hielt tapfer durch, richtig lange! Andere Kinder machten ihre ersten Schritte vielleicht auf dem Rasen, bei frischer Luft und Sonnenschein. Sophia auf dem Linoleumboden, inmitten von abgestellten Infusomaten und nicht benötigten Klinikbetten. All das Leid, all die Schmerzen hielten sie nicht davon ab, ihre ersten Schritte ins Leben zu tun. „Diese Kämpferin kann nichts besiegen“, waren meine Gedanken, als sie Schritt für Schritt, mit konzentriertem Gesicht auf mich zukam.

Ferdinand – du schaffst es!

Die anderen Kinder auf der Station waren älter als Sophia, daher fehlten ihr die Kontakte zu Gleichaltrigen. Das änderte sich mit der Ankunft von Ferdinand, er war zwei Monate jünger als Sophia, hatte das gleiche Schicksal, dieselbe Erkrankung. Karen und Ferdinands Mama verstanden sich recht gut und wechselten sich beim Aufpassen auf die Kinder ab. Die Therapie verlief vom Protokoll her ähnlich wie bei Sophia, die nun endlich nicht mehr das jüngste Kind auf der Station war.

Meine Erinnerungen an diesen Jungen sind sehr intensiv. Ich sehe ihn immer noch vor mir, wie er in seinem Kinderwagen liegt und mich anschaut mit seinen unglaublich großen, rehbraunen Augen, die sehr erwachsen, gleichzeitig traurig wirkten. Dieser hübsche Kerl musste es einfach schaffen! Der Tod konnte und durfte ihn nicht holen, nein, das würde ihm niemals gelingen! Doch Ferdinands Kraft reichte nicht aus, die Leukämie war stärker. Er starb ein paar Wochen später. Seine Mama brachte ihn für seine letzte Zeit nach Hause. In seiner vertrauten Umgebung schloss er seine wunderschönen Augen für immer.

Als Karen mir sagte, Ferdinand habe es nicht geschafft, wollte ich nichts hören. Mein Innerstes zumauern, vergeblich. Die Tränen liefen aus Wut und Verzweiflung. Aus diesen Tränen entstand in der nächsten Minute Trotzigkeit gegenüber der Krankheit. „Ferdinand hat es nicht geschafft, aber Sophia kriegst du nicht, du Monster“, meine Gedanken gaben dem Gegner Leukämie fast körperliche Form. Sophias zäher Wille würden den Krebs in die Knie zwingen, ganz bestimmt. Der Tod wurde auf der Station nicht erwähnt. Wenn ein Kind starb, bemühte man sich, dass andere Patienten und Eltern nichts davon mitbekamen. Doch man spürte es an der niedergedrückten Stimmung. Die Schwestern und Ärzte versuchten, sich nichts anmerken zu lassen, aber das gelang ihnen so gut wie nie. Die Reaktionen gerade in diesen Fällen trennten das Personal in diejenigen, die nicht nur mit ihrem Wissen und Können, sondern auch mit ihrem Herzen dabei waren, und diejenigen, die nur vordergründig einen medizinischen Verlust empfanden.

Sophia kämpfte sich weiter durch die Therapie, sie verlief entgegen der Erstdiagnose sehr, sehr gut. Dennoch wurde damit begonnen, für eine eventuell anstehende Knochenmarktransplantation einen passenden Spender in der Familie zu suchen. Karen und mir wurde Blut abgenommen und Sarah natürlich auch.