Im Land der gefiederten Schlange - Carmen Lobato - E-Book

Im Land der gefiederten Schlange E-Book

Carmen Lobato

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Beschreibung

Voller Hoffnung wandert die Familie der jungen Katharina in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Mexiko aus, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Doch Mexiko ist nicht das Land, in dem Milch und Honig fließen, und Heimweh und die schwierigen Lebensbedingungen machen ihren Verwandten das Einleben schwer. Katharina jedoch ist fasziniert von diesem Land, vor allem von dem jungen Benito, der sie in die Sagenwelt seiner Vorfahren einführt, in der er noch tief verwurzelt ist. Katharina, die nach Sicherheit und Geborgenheit sucht, beneidet Benito um dieses Zugehörigkeitsgefühl – vor allem da ein dunkles Geheimnis um ihre Herkunft sie zutiefst verstört …

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Seitenzahl: 1105

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Carmen Lobato

Im Land der gefiederten Schlange

Roman

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Inhaltsübersicht

WidmungMottoPrologDas Fest war zu [...]Erster Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. KapitelZweiter Teil6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. KapitelDritter Teil28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. KapitelVierter Teil40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. KapitelFünfter Teil50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. KapitelEpilogVera Hartmann starb Anfang [...]GlossarPersonenverzeichnis

 

 

Für Julian und Ellie

 

 

»Wir könnten blühende Städte errichten, Nationen erschaffen und das Universum ergründen.

War es nicht das Gemisch zweier Rassen, dem die Titanen entsprangen?«

JOSÉ CLEMENTE OROZCO

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Prolog

Veracruz Herbst 1831

»Als ich die Stadt verließ, o mein Gott,

Niemand sah, wie ich aufbrach …«

Das Fest war zu Ende. Auf einen Schlag erloschen die Lichter, und die todmüden, erhitzten Gäste taumelten hinaus in die Stille, ins trügerische Samtblau der mexikanischen Nacht. Wie schwanger hing die Luft von den orangeroten Blüten an dem Strauch, der die Siedlung begrenzte. Der Duft war wie alles in diesem von Gott verfluchten Land – zu bittersüß und zu betörend, zu heftig und zu unauslöschlich.

Marthe war entsetzlich übel. Es fehlte nicht viel, und sie hätte sich noch einmal übergeben, nur dass hier draußen niemand auf sie achtete, während sich drinnen, im Saal, aller Augen auf sie gerichtet hatten. Dieser Saal, in dem sie die Hochzeit von Marthes Bruder gefeiert hatten, war in Wahrheit höchstens ein Salon, sosehr ihr Vetter Kurt, der im Begriff stand, das Haus zu erben, versuchte damit Staat zu machen. Vollgestellt und eng war er, so dass man einander nicht ausweichen konnte und ein jeder alles mitbekam.

Ein jeder hatte mitbekommen, dass Marthe aufgesprungen war, um zu brüllen wie eine der Marktschreierinnen, die auf dem Malecon fauliges Gemüse verkauften. Nie zuvor hatte sie sich derart gebärdet, und vermutlich hatte es ihr, die als die kühle der beiden Schwestern galt, auch niemand zugetraut. All das Aufgestaute, den Schmerz und den Zorn, hatte sie aus sich herausgeschrien, und zum Schluss war ihr der schaumige Pulque, den sie seit Stunden in sich hineingeschüttet hatte, aus dem Mund geschwappt. Was danach geschehen war, verschwand im Nebel. Fiete hatte ihr geholfen, sich auf dem Sofa niederzulegen, mehr wusste sie nicht. Nur, dass sie etwas getan hatte, das sich nicht rückgängig machen ließ, dass ihr Leben, so wie es gewesen war, nicht weiterging.

Und dabei war von ihrem Leben ohnehin so wenig übrig, seit sie in dieses Veracruz gekommen waren, in die ewige Hitze, die Luft, die süßlich roch, nach Krankheit und Verwesung, nie nach Salz und nach dem nahen Meer. Ein halbes Jahr war das her, damals war Mai gewesen, und jetzt war Oktober, doch noch immer ließ die Hitze nicht nach. Marthes Atem ging schwer, und ihr Leib, auf dem die Kleider klebten, kam ihr vor, als quölle er vor Wärme auf. Sie versuchte nach oben zu sehen, in das endlose Blau, das nie schwarz wurde und ihr dennoch dunkler erschien als jeder Himmel in Hamburg. Die gefächerten Wedel einer Palme begannen sich hoch über ihr zu drehen, ihr wurde schwindlig, und sie schwankte gegen eine Häuserwand.

Warum war sie so einsam, warum half ihr niemand? Welches Mädchen hätte in Hamburg allein durch die Nacht taumeln dürfen? Nicht Marthe Hartmann, niemals Marthe Hartmann! Ein Mann ihrer Familie hätte sie begleitet, doch eine Familie, die diesen Namen verdiente, besaß sie nicht mehr. Was davon übrig war, lebte am anderen Ende der Welt. Sie waren auf sich gestellt, ihre Schwester Vera, ihr Bruder Christoph und sie, denn dass sie der Sippe ihres Onkels eine Last waren, hatte Marthe auf grausame Weise begreifen müssen, kaum dass der vergiftete Atem des fremden Landes sie im Hafen umfangen hatte.

Wir hatten nur einander, und jetzt haben wir niemanden mehr. Ihr war noch immer übel, doch ihr Kopf war erfüllt von gefährlicher Klarheit. Irgendwie musste sie weiterkommen, um die Ecke und in die finstere Gasse, zu dem schmalbrüstigen Häuschen, in dem sie eine Kammer mit ihrer Schwester teilte. Nicht heute Nacht, durchfuhr es sie. Heute Nacht würde sie mit niemandem die Kammer teilen, und wenn die Schwester im Dunkeln aus dem Bett stieg, wäre keiner da, um ihr zu folgen. Sie leidet doch an Mondsucht! Ich muss ihr doch folgen, um sie zu beschützen.

Marthe stieß sich von der Wand ab und ging weiter. Die Zunge klebte ihr am Gaumen, und das Festkleid hing in Fetzen um die Schenkel – wie eine von der Straße sah sie aus, wie eine der Dirnen aus dem Hafen. Wie konnte sie so ruhig sein? Hatte sie nicht alles verloren? Zuerst ihr Zuhause und dann, in dieser einen Nacht, den Rest. Den Mann, den sie liebte. Ihre Würde. Und Vera.

Vielleicht würde sie nicht einmal in dem Häuschen bleiben dürfen. Im Geist sah sie sich auf einem der menschenleeren Pfade, die aus dem Sumpfloch von Stadt hinaus und dem Ring der uralten Wälder, der Kette der eisblauen Berge und dem weiß drohenden Kegel des Vulkans entgegenführten, die Füße wund, der Nacken der Sonne ausgesetzt. Die Vorstellung schreckte sie nicht. Es war doch alles vorüber. In diesem Augenblick trunkener Klarheit glaubte Marthe tatsächlich, dass ihr nichts mehr etwas anhaben konnte.

Nur ins Haus wollte sie. Schlafen, trotz der Wärme und der fortwährend summenden Insekten, vergessen, was hinter ihr lag. Die Tränen, die sie auf den Wangen spürte, waren Tränen der Erschöpfung. In ihrem Schädel drehten sich Bilder, und an den Schläfen begann ein Pochen. Wieder taumelte sie gegen eine Wand, und diesmal versagten die Beine ihr den Dienst. Sie, Marthe Hartmann, die Starke, Unerschütterliche, sackte zusammen wie ein Bündel Lumpen. Das fremde Land, in dem die Vögel nicht sangen, sondern brüllten, hatte sie in die Knie gezwungen. Sie schlang die Arme um sich und ertastete den Riss an der Schulter ihres Kleides, der von Peters Händen stammte. Bei Gott, der sanfte Peter! Sie lehnte den Kopf an die Mauer, doch der Stein verschaffte ihr keine Kühlung. Nie im Leben hatte sie sich so allein gefühlt.

»Marthe?«

Sie zuckte zusammen. Die Stimme gehörte ihrem Bruder, aber wie konnte das sein? Christoph war nicht hier, er war in einem Gasthaus im Hafen, um mit Inga, dem verhuschten Ding, das er geheiratet hatte, die Hochzeitsnacht zu begehen, ehe sie in zwei von den Lutenburgs gemietete Zimmer zogen. Sie hatten ja nichts. Kein Haus, um die Braut heimzuführen, kein Geld für Hochzeitsnächte. Nicht einmal einen Pfarrer und kein bisschen Segen.

»Marthe«, wiederholte der Bruder. »Du musst ins Bett. Hier auf der Straße kannst du nicht bleiben.«

Sie blickte auf.

»Ich helfe dir«, sagte er, jedoch ohne ihr den Arm zu reichen. Stattdessen starrte er sie an, als würde er in dem Mädchen mit dem verheulten Gesicht und dem zerrauften Haar nicht seine Schwester erkennen, sondern La Llorona, den Geist der weinenden Frau aus den Legenden der Eingeborenen.

Marthe wollte etwas sagen, doch sie brachte nicht mehr hervor als: »Vera.«

Christoph schüttelte den Kopf. In der blauen Nacht war sein Gesicht so bleich wie vorhin, als es vor Entsetzen alle Farbe verloren hatte. »Sie ist im Kontor, wo Kurt sie eingeschlossen hat. Er will, dass sie dort bleibt, bis sie in die Heirat einwilligt.«

»Ich muss zu ihr!«

»Nicht heute Nacht.« Endlich entschloss sich Christoph, Marthe beim Arm zu nehmen und die Gasse entlangzuführen. »Du kannst jetzt nichts ausrichten. Gesagt worden ist ohnehin zu viel.«

Sie gingen weiter. Jeder Schritt erforderte Mühe. »Was machst du überhaupt hier?«, rang Marthe sich ab. »Wo ist Inga?«

»Im Hafen.«

»Wartet sie auf dich?«

Er zuckte traurig mit den Schultern. »Sie hat gesagt, sie weiß, dass meine Schwestern immer an erster Stelle stehen werden. Ich soll gehen, hat sie gesagt, denn in Gedanken bin ich ohnehin bei euch.«

»Es tut mir leid«, murmelte Marthe.

Christoph sagte nichts mehr. Sobald sie das Haus erreichten, schloss er auf und schob Marthe hinein. »Kommst du zurecht?«

Sie nickte, ohne zu wissen, ob er es im Dunkeln sah. Er zögerte, doch als sie sich schwankend zur Treppe begab, trat er vor die Tür der Kammer, die er seit Mai bewohnt und jetzt, mit seiner Hochzeit, aufgegeben hatte. »Christoph«, rief sie, »gehst du nicht wieder zu Inga?«

»Ich denke, ich bleibe besser hier«, gab er ausdruckslos zurück.

Um wen hatte er Angst? Heute Nacht gab es keine Vera zu bewachen, und außerdem hatte das immer Marthe getan. »Du glaubst doch auch, dass ich es ihnen sagen musste, oder? Ich habe es für uns getan, Christoph. Für die Familie.«

Er gab keine Antwort. »Leg dich schlafen.«

Marthe blieb stehen, bis seine Tür zuschlug, dann ging sie nach oben in ihre Kammer, zündete keine Kerze an, sondern zerrte sich das Kleid im Dunkeln vom Leib. In Unterröcken warf sie sich aufs Bett, fand jedoch keinen Schlaf. Im Zimmer war es noch stickiger als draußen, und ein Fenster durfte man nicht öffnen, weil dann die Nacht von Veracruz hereindrang – Insektenschwärme, Gegröle betrunkener Matrosen und warmer, wie vergifteter Wind.

Noch heftiger quälten sie Gedanken. Sie sah Vera vor sich, das kleine Mädchen mit dem schönen Haar, das stumm und seltsam in ihrem Hamburger Haus umhergegangen war, seine Schritte leicht wie Flügelschläge und sein leises Lachen ein Taubengurren. Das Haus hatte sie beschützt, der scheinbar florierende Handel des Vaters, das geordnete Leben, von dem Marthe geglaubt hatte, es würde auf alle Zeit so weitergehen. Dann aber war ihre Welt ins Wanken geraten. Auf einen Schlag hatten sie Halt und Heimat verloren, und der zarten Vera blieben nur mehr ihre Geschwister zum Schutz.

Sie muss denken, wir hätten sie verraten, Christoph und ich. Ich bin auf sie losgegangen, und er stand dabei und schwieg. Vor nicht einmal zwölf Stunden hatte Marthe geglaubt, sie habe auf der Welt keinen Wunsch als den Sohn der Lutenburgs, und jetzt schien er ihr geradezu bedeutungslos. Mit beiden Händen fuhr sie in ihr stumpfes, störrisches Haar. Wie hatte sie überhaupt so verblendet sein können zu glauben, ein Peter Lutenburg werde sich mit ihr als Ersatz begnügen? Sie wünschte sich nichts mehr als einen Weg zu Vera. Aber wie kann es einen geben? Nach allem, was geschehen ist, wie könnten wir einander verzeihen?

Durch die Stille der Nacht schnitt ein Heulen, zu grauenhaft, um menschlich zu sein. Marthe glaubte zu spüren, wie ihr das Blut in den Adern gefror. La Llorona, durchfuhr es sie. Der Geist der weinenden Frau, die in den Legenden der Indios ihre ermordeten Kinder beklagte. Und zugleich La Malinche, die Verräterin, die ihr Land an die Spanier verschachert hatte. Benimm dich nicht närrisch, schalt sie sich. Sie war keine abergläubische Mexikanerin, sondern eine Hartmann aus Hamburg, vernünftig und abgeklärt. Gewiss war es nur ein Kojote, der durchs Dunkel heulte, nicht der ruhelose Geist einer von Schuld gequälten Frau.

Leg dich wieder hin, befahl sie sich. Ihr Kopf schmerzte höllisch, sie brauchte unbedingt Schlaf. Während das Geheul sich entfernte und ihre Gedanken ihre Schärfe verloren, wiederholte sie sich wie ein Gebet: Morgen früh wird mir etwas einfallen, morgen früh finde ich einen Weg zu Vera. Ich werde ihr erklären, dass ich nicht anders konnte, dass die Familie über alles geht – der Rest von Familie, das Einzige, was uns in der Wildnis Halt gibt.

In der Finsternis sah sie Veras Augen, die ihr fremd und vertraut zugleich waren, und über diesem Bild schlief sie ein.

 

Am nächsten Morgen rächte sich der Genuss des Pulque, des aus Agaven gepressten Weins, den Kurt gekauft hatte, weil echter Wein zu teuer war. Sie würde ihn nie wieder anrühren. In Marthes Kopf tobten Kampfstiere, und ihre Zunge schmeckte, als wäre ein Tier darauf verendet, doch das Schlimmste war die Scham. Die wirren Bilder der Nacht standen in blendender Leuchtkraft vor ihr. Am liebsten hätte sie sich unter die Decke verkrochen und geschlafen, bis der Tag vorüber war.

Aber Marthe war kein Feigling. Wenn es die leiseste Hoffnung gab, das Zertrümmerte zu kitten, dann würde sie sie nutzen. Sie trat vor den Waschtisch und wusch sich mit schalem Wasser das Gesicht, schlüpfte in Rock und Bluse und machte sich auf den Weg. Froh war sie, dass sie keinem begegnete, nicht Christoph und schon gar nicht den Lutenburgs. Als sie die Tür aufschob, schlug ihr trotz der frühen Stunde Schwüle entgegen. Die ist schuld, dachte Marthe, diese Hitze, die nie nachlässt. Die macht uns krank im Kopf. Auf der Gasse herrschte schon Leben. Maultiertreiber zerrten ihre Tiere in Richtung Hafen, Frauen schleppten Schüsseln mit Eingemachtem, das sie zu verkaufen hofften, Schuhputzer stellten ihre Bänkchen und Bürsten auf. Marthe wünschte, es hätte ein Gesetz gegeben, das diesem Volk verbot, die Straßenzüge, in denen Deutsche wohnten, zu betreten. All das Fremde hatte ihr vom ersten Tag an Furcht eingejagt – und hatte ihre Furcht sich nicht auf grausamste Weise als berechtigt erwiesen?

Kurz hielt sie inne, sah zwischen zwei Häusern hindurch nach Norden, auf die eisweiße Spitze des Vulkans. Sternenberg nannten sie ihn oder Berg der Weiße. Er war wie dieses Land, fand Marthe, zu hoch, um ihn je zu ersteigen, fremd und gewaltig und voll todbringender Geheimnisse. Das Küstenland, aus dem Marthe stammte, war weithin überschaubar und besaß keine Berge.

Sie bog in die Straße ein, in der ihr Onkel Sievert und die Lutenburgs ihre Häuser hatten. An deren Ende stand das einzige Lagerhaus des Onkels, der sich ein Kontor im Hafen nicht länger leisten konnte. Es war ein fensterloses Gebäude mit Flachdach, ein Klotz aus Stein, von dem ihr Vetter Fiete behauptete, er habe in der Kolonialzeit als Gefängnis gedient. Hier herrschte Stille. Die indianischen Arbeiter, die Sievert bezahlte, damit sie ihm Waren hinunter zum Meer schafften, würden erst später kommen. Sie hatten, wie ihr Vetter Kurt sagte, die Morgenstunde nicht erfunden.

Marthe hatte befürchtet, das Lager verschlossen zu finden, doch zu ihrem Glück stand das Tor mit den schweren Riegeln, die Kurt gestern vorgeschoben hatte, nur angelehnt. Schrill quietschten die Angeln, als sich Marthe durch den Spalt zwängte. Mit schwacher Stimme rief sie ins Dunkel: »Vera?«

Aus der Schwärze drang keine Antwort. Auf einmal beschlich Marthe eine dumpfe Ahnung, eine Angst, die ihr das Herz zusammenpresste. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und wäre davongerannt. »Vera?«, rief sie noch einmal und zwang sich, einen Schritt in das Gebäude zu setzen. Auch diesmal blieb die erhoffte Antwort aus.

Aller Angst zum Trotz rannte Marthe zwischen Kisten und Fässern in den Gang. »Vera, wo bist du?« Jetzt schrie sie, stieß einen der Stapel um und schrie Veras Namen in das dröhnende Gepolter. Nichts als das Echo des Lärms ertönte als Erwiderung. Jäh begriff sie: Vera war fort.

»Zu Hilfe!«, hörte sie sich schreien. Irgendwie musste Vera das Tor geöffnet haben und entflohen sein. Sie mussten die Stadt durchkämmen, jeden verpesteten Winkel, den Hafen, in dem die größte Gefahr lauerte, und die tiefschwarzen Wälder mit ihren Schlangen und brüllenden Affen. »So helft doch«, rief sie wieder, »meine Schwester ist weg!«

Ein Augenblick der Stille folgte, dann regte sich etwas. »Komm nicht näher, Marthe«, vernahm sie eine erloschene Stimme aus dem Dunkel. »Lass niemanden ein.«

Marthe aber war längst näher gekommen. Sie hatte sich an den Baumwollballen vorbeigedrängt und blieb stehen, als das Licht einer Stalllaterne sie blendete. Der gelbe Schein fiel auf das, was am Boden lag. Ein wachsbleiches Gesicht, verzerrte Züge, vor Entsetzen geweitete Augen. Blut, eher schwarz als rot, durchtränkte hellen Stoff. Der Schrei blieb Marthe in der Kehle stecken. Neben der Wunde blitzte die Klinge des gekrümmten Messers, der Machete, die die Indios benutzten, um Mais und Zuckerrohr zu schneiden. In der toten Hand glitzerte etwas. Die verfluchte Kette mit der Taube.

Er war es, wollte Marthe schreien, er ist ein Mörder. Sie wollte laufen und nach Hilfe rufen. Ihr Blick aber hing wie gefesselt an der goldenen Kette, und aus ihrer Kehle drang kein Laut.

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Erster Teil

Veracruz Herbst 1838

»Niemand sah, wie ich aufbrach,

Nur ich allein und ein liebliches, kluges Mädchen …«

1

Das, was ihr als Sechsjährige im Hafen von Veracruz widerfahren war, hatte sich so tief in Katharinas Gedächtnis gebrannt, dass sie noch Jahre später davon träumte. Der Schrei der einzelnen Möwe, von der ihre Mutter behauptet hatte, dass es eine Taube war, blieb ihr als Echo für alle Zeit im Ohr.

Sie war mit ihrer Mutter in den Hafen gefahren, im Einspänner mit dem lustigen Pony. Es war das erste Mal, dass ihre Mutter sie mitnahm. Schon damals hatte Katharina ihre Kinderfrau gehabt, eine steife, strikte Person namens Lise, die aus der Heimat stammte, sich ständig räusperte und bis zum Kinn geschlossene Blusen trug. Wenn Katharinas Mutter unterwegs war, blieb sie bei Lise, die ihr allerlei Nützliches beibrachte. Dass sie hübsche Augen hatte, brachte Lise ihr bei, aber grässliches Haar, und dass das grässliche Haar in Zöpfen an den Kopf geflochten werden musste, während die Augen bleiben durften, wie sie waren.

An jenem Morgen war Lise krank gewesen. Zu Katharina sagte sie häufig, Krankheit sei etwas für Faulpelze, doch in der Stadt grassierte ein Fieber, und Katharinas Vater verlangte, dass jeder, der Anzeichen verspürte, in seiner Kammer blieb. »Und was soll ich nun anfangen?«, hatte ihre Mutter ihn angeherrscht. »Ich habe Besorgungen zu machen, wo soll ich hin mit dem Kind?«

»Es ist ohnehin besser, wenn du daheimbleibst, solange das Fieber herrscht«, hatte ihr Vater, der sich durch Gezeter nie aus der Ruhe bringen ließ, erwidert. Dann hatte er seinen Hut aufgesetzt und sich wie jeden Morgen auf den Weg in sein Kontor gemacht.

Nichts wünschte Katharina sich sehnlicher, als ihre Mutter begleiten zu dürfen. Wo würden ihre Besorgungen sie wohl hinführen, etwa auf die berüchtigte Uferpromenade? Von jener Straße, die die Einheimischen Malecon nannten und die sich kilometerlang am silberblau glitzernden Meer erstreckte, träumte Katharina, seit ihr Freund Ben ihr davon erzählt hatte. Es gab Palmen dort, die in den Himmel ragten, Händler, die Süßigkeiten feilboten, Musikanten und weiße Schiffe, die mitunter sogar aus der Heimat kamen. Wenn Ben vom Malecon sprach, sah Katharina ein kunterbuntes Paradies vor sich, in den Worten der Mutter hingegen war die Promenade ein finsterer Ort, an dem man sich todbringende Seuchen holte oder Verbrechern in die Hände fiel. Sie würde Katharina, der es streng verboten war, an dem hohen Strauch vorbeizulaufen und die Siedlung zu verlassen, gewiss nicht dorthin mitnehmen. Schließlich bekundete sie oft genug, keine zehn Pferde brächten sie in dieses Loch voll Schlamm.

Die Mutter hätte auch die Tanten bitten können, auf Katharina aufzupassen, Tante Inga, Tante Dörte oder Tante Traude, ohnehin wurden die Kinder der Familie ständig gemeinsam gehütet. Katharina, die außer einem Toten keine Geschwister hatte, genoss die Gesellschaft der Vettern und Basen, wenn ihr auch keiner so lieb war wie ihr Freund Ben. An diesem Tag aber bat die Mutter keine der Tanten um Hilfe. Es kam Katharina vor, als sollte niemand erfahren, dass sie so dringlich aus dem Haus wollte.

Noch immer zeternd, packte sie Katharina in einen zu warmen Mantel und befahl Ben, den Einspänner vorzufahren. Der Vater hatte Ben und seinen Bruder Miguel als Lagerarbeiter eingestellt, doch da die Mutter nicht noch mehr Indios in ihrem Dienst wollte und deutsche Kutscher nicht zu bekommen waren, blieb Ben im Stall und kümmerte sich um Pferde und Wagen. An dem seltsamen Morgen scheuchte die Mutter ihn mit einem Schwenk der Peitsche vom Bock. »Pack dich, ich fahre selbst. Komm mir ja nicht nah!«

Ben gehorchte. Die Mutter stieg auf den Bock und setzte Katharina neben sich. Sie war nicht zimperlich wie Tante Traude oder kränklich wie Tante Inga, und dass sie einen Wagen lenken konnte, machte Katharina stolz. Staunend bemerkte sie, wie die Häuser ihrer Siedlung mit ihren spitzen Dachgiebeln Reihen von niedrigen Bauten mit Flachdächern Platz machten, wie die Gassen enger wurden und sich mit Menschen füllten. Darüber vergaß sie jedoch nicht, was gesagt werden musste. »Ich mag nicht, wenn du so grob mit Ben sprichst, Mutter. Ben ist mein Freund.« Noch weniger mochte sie, wenn die Sanne, ihre Köchin, Ben mit dem Lederriemen schlug, auch wenn sie sagte, dass er es verdiene.

Die Mutter zog die Zügel an und verlangsamte die Fahrt. »Unser Bursche ist der. Solche Freunde haben wir nicht.«

»Ich schon«, widersprach Katharina. Sie wusste, dass Tante Traude dazu gesagt hätte, dem Kind gebühre eine Ohrfeige, aber sie wusste auch, dass ihre Eltern sie nicht schlugen. Weshalb sollten sie? Was sie sagte, war die Wahrheit, und dass ein deutsches Mädchen nicht log, hatte Lise ihr beigebracht. »Ben ist mein Freund«, wiederholte sie trotzig. »Und ich will, dass du nett zu ihm sprichst.«

Ihre Mutter seufzte. »Man spricht auch nicht nett mit Kojoten«, sagte sie. »Und außerdem versteht der Kerl sowieso kein Wort. Ich wollte, wir bekämen unsere eigenen Leute für die Arbeit und bräuchten nicht die Wilden dazu.«

Solches Gerede war natürlich Unsinn. Ben war kein Wilder. Er war im Haus, solange Katharina denken konnte, und ihre Sprache verstand er so gut wie seine eigene. Er erzählte ihr Geschichten, die bunter und geheimnisvoller waren als Onkel Fietes Märchen – von der tapferen Heldin Johanna Ortiz, die sieben Männern das Leben rettete, indem sie durch ein Schlüsselloch eine Warnung flüsterte, von den Zwillingsvulkanen Popocatepetl und Iztaccihuatl, die aus Liebe zueinander für immer brannten, und von dem Schlangengott mit den Federn, der aus seinem eigenen Blut den Menschen Leben schenkte. Ohne Ben, seine Geschichten und seine Wärme wäre Katharinas Leben farblos und trotz all der Menschen um sie ein wenig einsam gewesen.

Jäh schwenkten ihre Gedanken um, denn in diesem Augenblick erreichten sie wahrhaftig den Malecon. Die Gasse, die das brodelnde Treiben ihnen ließ, war zu schmal für den Wagen, der sich seinen Weg förmlich erkämpfen musste. Sand und Kiesel knirschten unter den Rädern, und die Massen, die sich zu beiden Seiten drängten, schienen zu wogen, zu summen und zu singen. Frauen in farbenfrohen Rebozos hielten ihnen Früchte entgegen, und Katharina wusste nicht, was sie mehr fesselte, die leuchtenden Farben der Waren, die stacheligen Kaktusglieder und zarten Kürbisblüten oder die Gesichter der Frauen, die dunkel und scharf wie mit der Machete geschnitten waren.

Sie musste sich auf dem Kutschbock aufrichten, um über die Köpfe hinwegzusehen. An den Rändern der Uferstraße, unter den Kronen der Palmen, reihten sich Stände, auf denen sich Pyramiden der eigentümlichsten Güter häuften – haarige Nüsse, laubgrüne, hartschalige Birnen, blutrote Schoten und duftende Bündel von Kräutern. Hinter den Ständen, schlecht geschützt von einer niedrigen Ufermauer, verloren sich ein paar Häuser und Blechhütten, und dahinter erstreckte sich das Meer. So erhaben nahm sich das Bild des endlosen Wassers gegen den kümmerlichen Hafen aus, dass Katharina den Atem anhielt. Dort also lag sie, die Naturgewalt, die sie von der Heimat trennte. Wie seltsam das war! Kaum eine Viertelstunde Fahrt lebte sie von dieser Pracht entfernt und hatte doch den Eindruck, in einer anderen Welt zu sein.

Auf der silbrigen Fläche des Meeres, über dem Nebelschwaden wie Schleier hingen, tanzten Schiffe, und weit draußen ragte die Festung San Juan de Ulúa auf. Der Vater hatte Katharina erzählt, sie sei auf eine der Küste vorgelagerte Insel gebaut, doch durch die Nebel hatte es den Anschein, als erwüchsen die trutzigen Mauern geradewegs aus dem Wasser. Wie schön das aussah, wie erhaben!

Das Schimpfen der Mutter rief sie aus ihren Träumen. Sie zockelten schleppend voran, weil sich immer wieder Leute in den Weg drängten. Wolken würzigen Rauchs pufften aus den Öfen der Tortillabäcker, die einander überschrien, um ihre Waren anzupreisen. Vor dem Stand eines Mannes, der hundert Jahre alt sein musste und einen riesigen Strohhut trug, ballte sich eine Traube von Kindern, und vor ihm auf dem wackligen Tisch lag ein Berg zimtbrauner Schoten. Gebannt beobachtete Katharina, wie der Alte mit einer flinken Bewegung seines Messers das Fruchtmark aus der Schote schälte, einen Stock ins Mark steckte und es in einen Topf mit goldenem Sirup tauchte, dessen Anblick ihr den Mund wässrig machte. Grob riss die Mutter sie am Arm herum. »Sieh da nicht hin!«

Empört setzte Katharina zu einer Erwiderung an. Zwar war ihre Mutter nicht so sanft wie ihr Vater, doch von beiden war sie nicht gewohnt, dass sie ihr Schmerz zufügten. Die Mutter aber gebot ihr Schweigen. »Sieh nicht hin«, wiederholte sie. »Wenn wir heimkommen, macht die Sanne dir Fruchtsülze, aber von dem Zeug da holt sich ein Christenmensch den Tod. Kannst du dir vorstellen, was die vor kaum vier Wochen hier verkauft haben? Totenschädel, Fratzen mit hohlen Augen, die haben sie sich in die Mäuler gestopft. Mir wird übel, wenn ich nur daran denke.«

Katharina beschloss, der Mutter zu verschweigen, dass sie einen solchen aus Zuckerzeug geformten Schädel schon gesehen hatte. Ben hatte ihr den gezeigt, am 2. November, dem Dia de los Muertos, und er hatte sie ein Stückchen davon abbeißen lassen. Der Schädel schmeckte süß und scharf zugleich, er war köstlicher als Heißwecken, Schmalzkuchen und sämtliche anderen Süßigkeiten, die aus der Heimat stammten und Katharina gestattet waren. Indem man ihn esse, ehre man einen Toten, hatte Ben erklärt, und dazu koche man dem Toten sein Leibgericht und verzehre es an seiner Stelle. Unwillkürlich musste Katharina an Labskaus, das Leibgericht ihres Vaters, denken, das sie aus tiefstem Herzen hasste. Wie gut, dass ihr Vater nicht tot war. Den Zuckerschädel hätte sie hingegen gern für ihn vernascht, aber das blieb besser ein Geheimnis zwischen Ben und ihr.

Die Mutter hetzte das Pony durch die Massen. Wenn Katharina ihr am Straßenrand etwas zeigen wollte, sah sie nicht hin, sondern blickte starr geradeaus, und von der Stirn troff ihr Schweiß, obwohl es Ende November und nicht mehr sonderlich heiß war. Vor Anstrengung presste sie die Lippen zusammen, und in den Augen brannte ihr Angst. Angst wovor?, fragte sich Katharina. Was konnte imstande sein, ihrer kaltschnäuzigen Mutter Angst einzujagen?

Menschen versuchten nach ihrem Wagen zu greifen, andere wiesen hinaus aufs Meer und sprachen erregt über die Reihe der Schiffe, die vor der Festung auf den Wellen tanzten. Über der ganzen Szene lag eine eigentümliche Spannung, über die Katharina nicht länger nachdenken konnte, da ihre Mutter das Pferd mit einem scharfen Ruck zum Stehen brachte. »Du bleibst hier sitzen, hörst du?« Ihre Stimme klang drohend. »Du rührst dich nicht vom Fleck, bis ich wiederkomme.«

Ehe sie antworten konnte, sprang die Mutter ab und stürmte durch die Menge davon. Katharina sah noch, dass sie ein buckliges Päckchen an die Brust drückte. Woher hatte sie das genommen? Sie musste es unter ihrem Cape verborgen haben, aber was konnte darinnen sein, dass es die Tochter nicht sehen durfte? In der buntgekleideten Menschenmenge stach das dunkle Kleid ihrer Mutter heraus. Katharina verfolgte, wie sie sich eine Schneise schlug und auf einen Mann zusteuerte, der wie unbeteiligt an der Ufermauer lehnte.

Es war einer jener Männer, mit denen ihre Mutter sonst nicht sprach. Katharina hatte angenommen, sie könne gar nicht mit ihnen reden, da ihre Sprache im Haus verboten war. Der Mann hatte schwarzes Haar, dunkle Haut und um die Hüften eine Schärpe, die Ben Faja nannte. Er war zweifellos kein Deutscher, nicht einmal ein Kreole, aber die Mutter sprach mit ihm und übergab ihm das Päckchen, das sie so beschützend an die Brust gedrückt hatte. Der Mann klemmte es sich unter den Arm, und als die Mutter den Kopf schüttelte, stopfte er es sich in den Hemdausschnitt.

Katharina stellte sich auf die Zehenspitzen. Die Mutter nestelte unter der Jacke einen Beutel hervor, den sie dem Mann entgegenhielt. Der senkte die Nase, als wollte er daran riechen. Enthielt der Beutel Schnupftabak? Nein, das, was der Mann herauszog und in seine Hand zählte, waren eindeutig Münzen.

Die Mutter überbrachte diesem Mann eine Ware und zahlte ihm dafür noch Geld? Ein Geräusch ließ Katharina herumfahren. Jemand machte sich am Geschirr des Ponys zu schaffen, versuchte mit einer Art Zange einen silbernen Beschlag zu entfernen. »Heda!«, entfuhr es Katharina, und sogleich sah der Mann zu ihr auf. Es war gar kein Mann, es war ein Junge wie Ben, das Haar pechschwarz, die Augen angstvoll aufgerissen.

Ein paar Männer, sämtlich Weiße in Uniformen, sprangen hinzu, einer packte den Jungen, und ein zweiter riss die Kutscherpeitsche aus der Halterung. Er holte aus, dass die Menge auseinanderstob, und schlug auf den Jungen ein. Der stürzte zu Boden, und Katharina wusste nicht, wer lauter schrie, der Junge oder sie selbst. Wieder holte der Soldat aus und versetzte dem am Boden liegenden Jungen einen Peitschenhieb, der ihm das Hemd über der Brust zerriss. Der vergilbte Stoff färbte sich rot. »A la mierda, ladron!«, fluchte der Mann und holte von neuem aus. »Zum Teufel mit euch, Diebsgesindel.«

Katharina versuchte ihm die Peitsche wegzureißen und stürzte vom Bock. Schmerzhaft landete sie auf Händen und Knien. Der Junge erhielt weitere, immer schnellere Hiebe, bis endlich ein Soldat den Stiel der Peitsche ergriff und dem Rasenden Einhalt gebot. »Es ist nicht erlaubt, die Biester auszupeitschen«, sagte er zu seinem Kameraden. »Gib’s ihm mit dem Knüppel, damit handelst du dir keinen Ärger ein.«

Irgendwer aus der Menge reichte dem Schläger eine Holzlatte. Katharina glaubte sich gelähmt vor Schreck. Noch einen Blick erhaschte sie auf das Gesicht des Jungen, seine Lippe war aufgeplatzt, ein Auge schwoll zu, und aus der Nase rann Blut, dann sauste der Prügel auf ihn nieder. Sie hörte keinen Menschen schreien, nur eine einzelne Möwe, die über ihren Köpfen kreiste und schrill und klagend in den Morgen kreischte.

Katharina wollte aufspringen, da drängte sich jemand durch die Schar der Gaffer, packte sie bei den Schultern und riss sie zu sich hoch. Ihre Mutter schlang die Arme um sie und drückte sie so fest an ihren Leib, dass sie kaum Luft bekam. »Hat er dir etwas getan, mein Herz? Ich bringe ihn um, wenn er dir etwas getan hat, mit meinen Händen bringe ich ihn um.«

Dann hörte Katharina nur noch den Aufprall der Schläge auf dem Körper des Jungen und sein leiser werdendes Wimmern. Nein, er hat mir nichts getan, wollte sie rufen, und dafür, dass er das bisschen Geglitzer stehlen wollte, darf man ihn doch nicht derart prügeln. Aber das Erlebte war zu entsetzlich für Worte. Sie brachte keines heraus.

»Ich lass dich nie wieder allein, hörst du?« Ihre Mutter presste sie noch fester an sich. »Du bist doch alles, was ich habe. Ich bringe dich nie wieder an diesen schrecklichen Ort.«

Ob die Soldaten den Jungen totgeschlagen hätten, sollte Katharina nie erfahren, denn in diesem Augenblick geschah etwas, das ihn rettete. Der Soldat mit der Latte hielt inne, die Gaffer drehten sich um, und der Geprügelte war frei, sich aufzurappeln und in irgendeine Gasse zu fliehen. Ein Geräusch hatte die Ereignisse zum Stillstand gebracht und aller Blicke nach vorn aufs Meer gelenkt. Katharina kannte das Geräusch. Sie war damit aufgewachsen, die umkämpfte Hafenstadt hallte in manchen Nächten davon wider. Geschützfeuer. Der Donner von Schüssen, der die Luft zerschnitt.

Sooft dieser Lärm sie aus dem Schlaf riss, kam ihr Vater zu ihr und versicherte ihr, dass die Kämpfe weit weg waren und ihrer Siedlung keine Gefahr drohte. Jetzt aber war der Donner nah und laut wie nie zuvor. Katharina konnte nichts erkennen, weil vor ihr Erwachsene standen, doch eine Frau schrie auf Spanisch: »Es sind die Franzosenschiffe, sie beschießen uns!«

Der Wachsoldat, der dem anderen geraten hatte, den Jungen mit einem Knüppel zu prügeln, fasste die Mutter am Arm. Die zuckte zurück und riss Katharina mit sich. »Sie müssen hier weg, Señora«, beschwor sie der Soldat. »Der Hafen wird abgesperrt. Warten Sie nicht auf Ihren Kutscher, steigen Sie auf, ich fahre Sie.«

»Scher dich weg, Carbon«, versetzte die Mutter zu Katharinas Verblüffung in schmutzigstem Spanisch, hob sie auf den Bock und sprang hinterdrein. Die Möwe schrie noch einmal. »Die Taube«, stieß die Mutter aus, »die verdammte Taube«, dann trieb sie das Pony mit schlagenden Zügeln in den Galopp, dass die Menschen nach allen Seiten flohen. Der Stand mit den zimtbraunen Schoten stürzte um. »Die Sanne kocht dir Süßes«, zischte sie, »so viel du willst, aber du sagst keinem Menschen, was wir heute getan haben, hörst du? Keinem Menschen!«

Katharina nickte. Ein deutsches Mädchen log zwar nicht, aber Katharina hatte seit längerem begriffen, dass es zuweilen wichtiger war, ein kluges als ein deutsches Mädchen zu sein. Unter dem schwellenden Kanonendonner und den Schreien der Menschen fuhren sie aus dem Hafen, durch das Gewirr der Gassen, schließlich am mannshohen Strauch vorbei und in die Siedlung mit den Giebeldächern. »Hier sind wir sicher, hier kann uns nichts mehr geschehen.« Aus tiefer Kehle atmete ihre Mutter auf. Ein Blick in ihr Gesicht verriet Katharina, dass sie geweint hatte.

 

Was an jenem Novembertag begann, sollte als Guerra de los Pasteles – Kuchenkrieg – in die Geschichte Mexikos eingehen. Eine französische Flotte war in die Bucht von Veracruz eingedrungen, hatte die Festung mit Granaten beschossen und den Hafen besetzt. Angeblich beruhte dieser Angriff auf der Klage eines französischen Kuchenbäckers, der von mexikanischen Soldaten beraubt und nicht entschädigt worden war, doch in Wahrheit war der Konflikt zwischen Frankreich und dem jungen Staat Mexiko viel undurchsichtiger und älter. Die Blockade des Hafens sollte acht Monate dauern und dazu führen, dass Katharinas Mutter unentwegt nörgelte, weil sich nirgendwo grüne Heringe auftreiben ließen. Die meisten Händler der Stadt erlitten Schlimmeres als Mangel an Heringen, denn sie konnten ihre Waren nicht ausführen und mussten schmerzliche Verluste hinnehmen.

Die deutschen Kaufleute überstanden die Krise, obgleich sie schwer zu kämpfen hatten. Es war schließlich nicht die erste. Seit zwanzig Jahren jagte in Mexiko ein Aufruhr den anderen, und obendrein saß ihnen die Konkurrenz der Engländer und Franzosen im Nacken, aber mit Ordnung, Fleiß und Geschäftssinn hatten die Männer der Siedlung sich bisher nach jedem Rückschlag wieder aufgerappelt. Solche Zusammenhänge begriff Katharina jedoch erst wesentlich später, und an jenem Novemberabend, als sie sich zu Ben in den Stall schlich, quälten sie viel mehr die Bilder, die sie mit angesehen hatte, ehe das Geschützfeuer losbrach.

Ben stand in einer der Boxen und striegelte die falbe Stute ihres Vaters. Er war schon zehn Jahre alt und Katharina erst sechs, aber wenn sie an ihre Vettern dachte, wurden Mädchen schneller reif als Jungen, und ihrer Freundschaft hatte der Unterschied im Alter nichts an. Bei ihrem Vater fühlte Katharina sich geborgen, von ihrer Mutter wusste sie sich umsorgt, und mit den Vettern und Basen vergnügte sie sich, aber reden, richtig reden konnte sie nur mit Ben. Mit hämmernden Sohlen rannte sie durch den Gang und rief den Freund beim Namen. Dann schlug sie sich die Hand vor den Mund. Wie oft hatte er ihr gesagt, sie solle im Stall weder trampeln noch rufen, damit sie die Pferde nicht erschrecke?

Ben wandte den Kopf, aber er hörte nicht auf, der Stute in ruhigen Strichen den Hals zu striegeln. Katharina erschrak. Sein dunkles Gesicht, das anders als bei ihren Vettern nichts Kindliches, Rundes an sich hatte, erinnerte sie jäh wieder an den Jungen im Hafen, und in Bens Blick schien die Angst des Fremden zu flackern. »Ich muss mit dir sprechen«, rief sie hastig, um das Beklemmende niederzukämpfen. »Jetzt sofort.«

Beruhigend legte Ben dem Pferd die Hand auf die Nüstern, um sich zu verabschieden. Auf Pferde verstand sich keiner wie er, weshalb ihr Vater ihn schätzte und nur selten bestrafte. Katharina stapfte voran, und Ben folgte. Sie gingen an ihren geheimen Ort, in die Sattelkammer, in der es nach Leder, Heu und Pferden roch und dunkel und behaglich war. Kein anderer kam je hierher. Es war ihre Ben-und-Katharina-Höhle, ihr verborgenes Reich.

Katharina setzte sich auf ihren angestammten Platz, das Fass mit der Sattelseife, und Ben ließ sich mit gekreuzten Beinen zu ihren Füßen nieder. »Ich war auf dem Malecon«, platzte sie heraus, »heute Morgen, mit der Mutter! Sie hat einem Mann ein Päckchen gegeben und ihm sogar Geld dafür gezahlt, und mir hat sie Süßes versprochen, bis mir schlecht wird, wenn ich keinem Menschen etwas davon sage.«

Ben verzog den Mund. »Daran hältst du dich ja vorbildlich.«

Katharina winkte ab. »Du zählst nicht.«

Sogleich bemerkte sie, wie falsch das klang, aber ehe sie etwas hinzufügen konnte, senkte Ben den Kopf und sprach zum Boden: »Nein, natürlich nicht. Ich zähle nicht als Mensch.«

»Ach, Ben, du weißt doch, wie ich’s meine! Die Mutter glaubt, du kannst nicht einmal Deutsch, wie kann sie also etwas dagegen haben, wenn ich auf Deutsch auf dich einschwatze?«

Zum Glück spielte Ben nicht lange den Gekränkten, sondern musste grinsen. »Deutsch hast du eben aber nicht geschwatzt. Ich hätte alles verstanden.«

Tatsächlich merkten die Kinder oft kaum, wie sie zwischen Deutsch und Spanisch wechselten oder die Sprachen mischten, und zuweilen flocht Ben noch Worte in einer dritten Sprache ein, die nur sie beide kannten und die Katharina ihre Geheimsprache nannte. So sagte er zu ihr manchmal Ichtaca – den Namen hatte er sich für sie ausgedacht, und wenn sie ihn fragte, was er bedeute, lachte er. Katharina mochte ihn noch lieber als Palomita, Täubchen, den Kosenamen, bei dem ihr Vater sie rief.

Jetzt aber wollte sie nicht länger von Sprachen reden, sondern das Erlebte loswerden, das ihr wie ein Klumpen in der Kehle saß. Nicht das seltsame Verhalten der Mutter war das Wichtigste, nicht der Malecon und nicht das Feuer der Kanonen, sondern der Junge, der durch ihre Schuld verprügelt worden war. »Hätte ich nicht ›Heda!‹ gerufen, hätten sie ihn nicht erwischt«, klagte sie sich an, nachdem die Geschichte aus ihr herausgesprudelt war. »Nur weil ich so ein Theater aufgeführt habe, ist das alles passiert.«

»Glaubst du denn, er hätte nicht geprügelt werden sollen?«, fragte Ben bedächtig. »Er hat doch versucht euch zu bestehlen – muss er dafür nicht bestraft werden?«

Katharina überlegte. Wie so oft gelang es ihr nicht, in Bens Miene zu lesen, sein Gesicht wirkte verschlossen, als ließe ihn die Sache kalt. »Bestraft werden schon«, erwiderte sie schließlich. »Die Sanne hat dem Hermann den Hintern versohlt, weil er ihr Korinthen geklaut hat, und Onkel Fiete hat gesagt, er nimmt’s ihr nicht übel, denn der Hermann hat’s redlich verdient. Aber der Hermann hat doch nicht geblutet! Geheult wie ein Wickelkind hat er und sich den Hosenboden gehalten, aber er lag nicht am Boden, und seine Lippe war nicht dick und wund!« Katharina stockte. Erneut vom Schrecken der Bilder gepackt, sah sie dem Freund ins Gesicht und glaubte auf einmal sein Auge schwellen und seine Lippe bluten zu sehen, während ihm das Haar schweißnass an der Stirn klebte.

»Das ist einfach zu erklären«, bemerkte Ben ausdruckslos. »Dein Vetter Hermann ist kein Nahua. Wenn ein ordentlicher weißer Junge etwas stiehlt, braucht er ein bisschen Zucht, wenn’s aber ein Nahua-Junge tut, ist der ein Bandito, den man besser totschlägt.«

Nahua war das Wort ihrer Geheimsprache, mit dem er Indios meinte. Aber wie konnte er so reden und dabei so unbeteiligt dasitzen? »Das ist falsch, was du sagst!«, rief sie. »Man schlägt doch kein Kind tot, weil es etwas nimmt, das man gar nicht braucht.«

»Tut man das nicht?« Spöttisch hob er die Brauen.

»Hör auf, dich über mich lustig zu machen«, herrschte sie ihn an. »Weißt du überhaupt, was das Schlimmste an dem Ganzen war?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Der Junge«, schrie sie, »der Junge, den sie verprügelt haben, er sah aus wie du!« Dass ihr Tränen übers Gesicht liefen, bemerkte sie jetzt erst, und es ärgerte sie. Wenn er sich bei mir entschuldigt, werde ich ihn nicht so leicht davonkommen lassen, beschloss sie. Wenn er mir die Hand reicht, stoße ich sie weg und bin bestimmt bis heute Abend böse mit ihm.

Ben reichte ihr nicht die Hand. Er entschuldigte sich auch nicht, sondern stand auf und klopfte sich die Hosen ab. »Gewiss doch«, sagte er noch immer ohne Ausdruck. »Ich bin ja einer von denen, und wir sehen alle gleich aus. Schwarze Haare, schwarze Augen, drecksbraune Haut. Jetzt gehe ich besser, denn die Sanne braucht Holz, und du weißt ja, wir Drecksgesichter handeln uns nur allzu schnell Prügel ein.«

Damit verließ er die Sattelkammer. Fassungslos starrte Katharina ihm nach, und zum ersten Mal fiel ihr auf, wie groß er war, wie gerade er sich hielt und dass er schon Schultern wie ein Mann bekam.

 

Hatten Katharina und Ben zuvor gestritten, so hatten sie sich im Nu wieder versöhnt, aber dieses Mal ging er ihr drei geschlagene Wochen lang aus dem Weg. Um sie herum spielte sich ab, was die Erwachsenen die Blockade des Kuchenkriegs nannten, jeder schimpfte über Waren, die er nicht ausliefern, oder Lebensmittel, die er nicht einkaufen konnte, doch Katharina erlebte ihre eigene Blockade. Ihr liebster Freund war so unzugänglich wie der Hafen von Veracruz. Er hatte eine Mauer um sich gezogen und erlaubte ihr keinen Blick hindurch. So sehr verletzte er sie damit, dass sie entschlossen war, es ihm heimzuzahlen, aber als er an einem Januarmorgen in der Box des Falben stand und ihren Gruß erwiderte, war sie derart erleichtert, dass sie ihre Rachepläne vergaß und die Arme um ihn schlang. »Mach das nie wieder mit mir. Nie und nie und nie.«

Geschmeidig löste er sich aus ihrer Umarmung und strich ihr das grässliche Haar glatt, das aus den Zöpfen quoll. »Manchmal muss ich das tun, Ichtaca«, sagte er. »So wie ein Tier, weißt du? Wenn es verletzt wird, zieht es sich in seinen Bau zurück, bis es ihm bessergeht.«

»Aber ich habe dich nicht verletzt«, fuhr Katharina auf. »Ich habe dich lieb, ich würde dir im Leben nicht weh tun.«

Ben erwiderte nichts, sondern lächelte nur mit verschlossenen Lippen und hob die Brauen, wie es seine Art war, wenn er eine Frage stellte. Die Frage blieb stumm. Sie redeten nicht mehr darüber und waren Freunde wie bisher, aber das Ereignis brannte sich in Katharinas Gedächtnis, so dass sie noch Jahre später davon träumte. Jedes Mal, wenn der Traum sie heimsuchte, kreischte darin die einzelne Möwe oder Taube, und jedes Mal hatte der Junge Bens Gesicht.

2

»Es lässt sich nun einmal nicht machen, Inga.« Christoph Hartmann stand in der Tür seiner Schlafstube und sah seiner Frau beim Ankleiden zu. Er fand sie noch immer schön, aber davon sagte er ihr schon seit Jahren nichts mehr.

»Und warum nicht?« Sie unterbrach ihre Tätigkeit und drehte sich zu ihm um.

»Weil Marthe und Peter den Platz haben, der uns fehlt«, entgegnete Christoph schärfer als beabsichtigt. »Zudem finde ich es äußerst großherzig von meiner Schwester, dass sie uns allen ein Essen auftischt. Möchtest du das vielleicht an ihrer Stelle tun? Nach einem Jahr wie diesem, wo wir manchmal kaum wissen, was wir den Kindern auf den Tisch stellen sollen?«

Inga entgegnete nichts. Sie wandte sich ab und beschäftigte sich wieder mit den Knöpfen ihres grauen Kleides, die sie einen nach dem anderen schloss. Christoph seufzte. Er wäre gern zu ihr gegangen, hätte ihr den Arm um die Schultern gelegt und ihr gesagt, dass er sie verstand. Irgendwann aber waren solche Gesten zwischen ihnen zum Erliegen gekommen, und ihren Wunsch konnte er nicht erfüllen, so bescheiden er sich ausnahm. Einmal Weihnachten feiern wollte sie – im eigenen Haus und am eigenen Tisch, mit einem Essen, das nicht Marthes Köchin, sondern sie selbst gekocht hatte.

Sie war eine gute Frau. Sie beklagte sich nie und hätte mit dem wenigen vorliebgenommen, das ihr Mann nach der lähmenden Blockade auftreiben konnte. Wäre es nach ihr gegangen, so hätten sie beide sich mit den Zwillingssöhnen Torben und Friedrich und mit der Tochter Josephine zu einem einfachen Mahl gesetzt und ihren Weihnachtsabend in stiller Frömmigkeit verbracht. Christoph war es, der sie Jahr um Jahr beschwor, sie müssten mit allen Verwandten im Haus seines Schwagers feiern, denn in der Fremde sei nichts so bedeutsam wie die Familie und ihr Zusammenhalt.

Natürlich hatte er damit recht. Sie konnten ihren Kindern keine Heimat bieten. Diese Siedlung mit kaum hundert Bewohnern, die an ihrer deutschen Herkunft und Sprache festhielten, die Familie, die füreinander einstand, war alles, was sie besaßen, und ihre Kinder hatten ein Anrecht darauf. Besonders meine Jo, durchfuhr es ihn, und der Gedanke an die Sechsjährige, seine Erstgeborene mit dem feinen Haar und der zärtlichen Stimme, machte ihn ein wenig fröhlicher. Der Hort der Familie würde ihm die Tochter behüten in dieser feindlichen Welt, in der einem morgen geraubt werden konnte, was man heute aufgebaut hatte. Es war gut, dass sie zu Peter und Marthe gingen, heute wie an allen Feiertagen. »Leg doch die Silberkette um«, murmelte er so leise, dass Inga es schwerlich hören würde. »Die mag ich gern an dir.« Damit verließ er das Schlafzimmer, ging hinüber in die Schreibstube und stellte sich ans Fenster, um hinaus in die Heilige Nacht zu starren.

War sie denn nicht heilig? In der Fremde nicht weniger als in der Heimat, auch wenn kein Schneegestöber, sondern Wärme und Blütenduft sie erfüllten – war es nicht auch hier eine Nacht, die Wunder wirken konnte?

Christoph Hartmann war in der Hansestadt Hamburg zur Welt gekommen und hatte als einziger Sohn eines Kaufmanns geglaubt, sich um die Zukunft nicht sorgen zu müssen. In Wahrheit war dem Handelshaus Hartmann bereits während der Handelskrise von 1799 ein schwerer Schlag versetzt worden, und 1810, im Jahr von Christophs Geburt, hatte es den eigentlichen Todesstoß erhalten. Damals hatte Napoleon seine Kontinentalsperre gegen Großbritannien verhängt, und Männer wie die Brüder Torben und Sievert Hartmann, die auf Kolonialwaren angewiesen waren, erlitten Verluste, von denen sie sich nicht mehr erholten. Während aber Sievert entschlossen nach einem Ausweg suchte, lebte Christophs Vater weiter wie bisher, gab Geld aus, das er nicht besaß, und wiegte seine Kinder in Sicherheit.

Als Mexiko 1821 die Unabhängigkeit von Spanien errang und dem internationalen Handel seine Pforten öffnete, reifte in Sievert der Plan, das nahezu bankrotte Unternehmen in die Neue Welt zu verlegen und mit seiner Familie nach Mexiko auszuwandern. Sievert hatte den Reisebericht Alexander von Humboldts gelesen, der von fruchtbarer Erde und unermesslichen Bodenschätzen schwärmte, und sein Entschluss stand fest. Wenige Jahre später ging er in Liverpool an Bord und ließ die Heimat hinter sich. Natürlich wollte er zurückkehren. All die Menschen, die in der Siedlung lebten, wollten zurückkehren. Sie sprachen davon wie von der Regenzeit, von der sie zwar nie genau wussten, wann sie anbrach, von der sie aber sicher waren, dass sie kam.

Sievert war nicht zurückgekehrt. Er lag in Veracruz begraben. Der Abschluss der Handelsverträge, die die Hansestädte mit Mexiko abzuschließen hofften und die den Kaufleuten Schutz gewähren sollten, wurde wieder und wieder hinausgezögert, und das von Kämpfen zerrissene Land nahm mehr, als es geben konnte. Sievert Hartmann hatte ums Überleben seiner Familie ringen müssen. Die Mittel, die zur Rückkehr nötig waren, hätte er nie und nimmer aufgebracht.

Werden wir zurückkehren? Noch immer stand Christoph reglos am Fenster und sah hinaus in die Schatten der Nacht. Etwas in ihm glaubte zu wissen, dass sie nie zurückkehren würden, dass all die Geschichten von der Heimat dem inhaltslosen Gesäusel glichen, mit dem man Kinder tröstete. Dieses Land war ihr Schicksal geworden. Die jungen Leute, die im April des Jahres 1831 die Vertrautheit Europas verlassen hatten, existierten nicht mehr.

Christophs Vater war aus seiner Scheinwelt erst aufgeschreckt, als es zu spät war – das Erbe des Sohnes verloren, die Mitgift der Töchter verspielt. In seiner Not hatte er nach dem letzten Strohhalm gegriffen und sich des Bruders in der Ferne erinnert. War Mexiko nicht das fruchtbare Land des ewigen Frühlings, in dem die Berge im Sonnenlicht glänzten, weil so viel Silber sich darin verbarg? Gewiss war doch Sievert längst ein gemachter Mann, der, obwohl er selbst zwei Söhne hatte, einen Neffen im Geschäft gut brauchen konnte. Zudem hieß es allenthalben, die Scharen der Auswanderer, die ihr Glück gemacht hatten, sehnten sich nach Frauen, um ihren Wohlstand mit ihnen zu teilen.

Torben Hartmann nutzte den letzten Kredit, den man ihm gab, und kaufte seinen Kindern Schiffspassagen. Onkel Sievert werde alles richten, versprach er ihnen zum Abschied, er werde Christoph eine angemessene Stellung und Marthe und Vera Ehemänner verschaffen, sie brauchten sich um nichts zu sorgen. Dass es anders gekommen war, dass der deutsche Bergwerksverein, in den Sievert investiert hatte, vor dem Konkurs stand und der Onkel kämpfen musste, um seinen Söhnen und ihren frisch gegründeten Familien das Nötigste zu verschaffen, hatte der Vater vermutlich nicht gewusst. Christoph seufzte und öffnete das Fenster, obwohl Marthe ständig davor warnte. Die zu schwere, zu warme Luft trug eine Seuche in sich, die die Spanier Schwarze Kotzerei nannten, weil der Erkrankte sich pechschwarz erbrach, bis kein Funken Kraft mehr in ihm war und er elend starb. Auch davon hatte der Vater gewiss nichts gewusst. Wie mochte es ihm gehen? Stand er in Hamburg an einem Fenster und atmete die eisklare Luft, die ihm der Seewind hereintrug? Christoph hatte ihm nie geschrieben und auch nie einen Brief erhalten.

Hatte er an das Paradies unter Zypressen, das der Vater ihm versprach, an die riesigen Märkte, die in Mexiko auf ausländische Waren warteten, geglaubt? Vermutlich hatte er es getan, hatte sich an der Hoffnung festgehalten und die sonnendurchfluteten Bilder beschworen, noch als sich ihr Schiffsplatz als Koje auf dem Zwischendeck entpuppte und er sich das erste Mal Flöhe und Krätze zuzog. Es war Marthe, die nie daran geglaubt hatte, auch wenn sie nicht hatte wissen können, dass das Schiff sie in ein Land trug, das sich in ständigen Kriegen und Aufständen zerfleischte und Auslandsschulden aufhäufte, die es niemals würde zurückzahlen können.

Ihr Paradies unter Zypressen war keine Hölle, dazu war seine seltsame, bittere Schönheit zu begehrenswert. Aber es erwies sich als ein Fegefeuer, in dem jeder, der nicht aus feuerfestem Stahl war, verglühte. Weder Christoph noch seine Schwester Vera waren aus feuerfestem Stahl gewesen.

Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. »Bist du fertig? Holst du die Kinder? Ich richte rasch Blumen für deine Schwester.« Inga hatte den Kopf in den Türspalt gesteckt und zog ihn schon wieder zurück.

Christoph blies die Kerze aus und ging hinüber zur Kinderstube. Eine Zeitlang hatten sie ein Mädchen für die Kinder gehabt, doch nach dem Kuchenkrieg hatten sie es entlassen müssen. Daher war Josephine angewiesen worden, auf ihre wilden Zwillingsbrüder achtzugeben, und Christoph war überzeugt, dass sie diese Aufgabe hervorragend meisterte. Seine Kleine war zart wie ein Kind von fünf Jahren, jedoch vernünftig wie eines von zehn. So beschwerlich Christoph den Umgang mit seinen Söhnen und Neffen fand, so erfreulich fand er ihn mit seiner sanften Tochter und seinem Patentöchterchen, dem Irrwisch Katharina.

Er zog die Tür der Kinderstube auf, und Jubel schlug ihm entgegen. »Ist es so weit? Gehen wir zur Bescherung?« Die beiden Jungen, die sich vor Aufregung kaum zu halten wussten, stürzten ihm entgegen, und hinter ihnen stand mit ihrem ruhigen Lächeln Josephine. Im Handumdrehen hellte seine Stimmung sich auf. Mit welchem Recht blies er Trübsal, hatten sie nicht schon vieles erreicht? Seit Peter Lutenburg in die Familie eingeheiratet und sowohl Christoph als auch seinem Vetter Fiete unter die Arme gegriffen hatte, war es aufwärtsgegangen – und mit Fleiß und Zähigkeit würde es weiter aufwärtsgehen.

Auch wenn die ständigen Kämpfe und Revolten zermürbten, auch wenn sie derzeit wieder jeden Peso dreimal wenden mussten – besaßen sie nicht ihr eigenes Haus und Geschäft, waren ihre Kinder nicht so gut geraten wie Hamburger Kinder, würden sie bei Peter und Marthe nicht Gans mit Grünkohl essen und um eine Bergtanne sitzen wie in der Heimat um die duftende Fichte?

Man muss auch einmal vergessen können, gebot er sich. Einen Strich ziehen und ruhen lassen, was nicht mehr zu ändern ist. »Ja, es ist so weit«, gab er mit betonter Munterkeit seinen Söhnen Antwort. »Auf die braven Kinder wartet die Bescherung, doch den schlechten, denen wird es übel ergehen …« Dabei lachte er, um seinen Kindern zu zeigen, dass sie nichts zu fürchten hatten.

 

»In diesem Liverpool sind wir also an Bord gegangen, auf einen Windjammer, der bei der kleinsten Welle quietschte und knatterte.« Fiete Hartmann strahlte beifallheischend in die Runde, ehe er Atem holte und weitersprach. »Unsere Königinmutter behauptete steif und fest, sie halte es keine zwei Stunden aus, doch was meint ihr wohl, wie lange es gedauert hat, bis wir wieder festen Boden unter den Füßen hatten? Na? Wie lange hat es gedauert?«

Jemand stöhnte. Christoph wandte den Kopf und sah, dass es Traude war, die die Geschichten ihres Schwagers vermutlich noch häufiger gehört hatte als alle Übrigen. Seine Mutter Hille thronte in der Tat wie eine Königinmutter im Sessel und sah mit verächtlicher Miene zur Seite, als würde dieser Sohn nicht zu ihr gehören. Es war immer dasselbe mit Fiete. Er erzählte seine ewig gleichen Anekdoten und Histörchen, sobald er das erste Glas Alkohol geleert hatte. Es war, als würde ein Pfropfen in dem Mann stecken, und sobald der gezogen war, sprudelte eine Fontäne heraus. Von den Erwachsenen hörte keiner zu, aber die Kinder, die inmitten von Spielzeug und Naschwerk zu Fietes Füßen saßen, hatten ihren Spaß. Christoph wusste, dass Katharina Fiete den lustigen Onkel und ihn den traurigen nannte.

Sie war ihm entgegengesprungen und hatte schon auf der Treppe gerufen: »Frohe Weihnacht, trauriger Onkel Christoph! Weißt du was? Die Sanne und ich haben den Kuchenmännern Lachgesichter gemalt, damit du heute nicht traurig bist.« Christoph musste schmunzeln, als er nach den Kuchenmännern sah, die zwischen Kerzen an der deckenhohen Tanne baumelten. Die Wärme der Flammen ließ den Sirup tropfen, so dass die Teiggesellen mit ihren hängenden Mundwinkeln einem traurigen Onkel Christoph ähnlicher sahen als einem lustigen Onkel Fiete.

Dabei war er doch heute gar nicht traurig. Er hatte sich vorgenommen, den Abend zu genießen, die Nähe seiner Familie, den Lichterglanz des Baums und die Uhr, die auf dem Kaminsims stand und, sooft sie jemand aufzog, »Ich steh an deiner Krippen hier« spielte. Marthe hatte sie sich aus der Heimat schicken lassen, um der Familie eine Spur vom Geist der Weihnacht herzuholen. Die Uhr sollte als Ersatz für Kirchenglocken und Andacht dienen, denn protestantische Gottesdienste gab es nicht in Mexiko. Genau genommen war die Ausübung ihrer Religion sogar verboten, doch niemand kümmerte sich darum, nach welcher Vorschrift Ausländer beteten.

Marthe konnte keinen Gottesdienst abhalten, aber sie hatte doch alles getan, um für diesen einen Abend die Heimat heraufzubeschwören. Die Kinder waren eins nach dem anderen mit einem silbernen Glöckchen zum Baum gerufen worden, sie hatten in ordentlichem Deutsch ein Verslein aufgesagt und dafür ihr Geschenk erhalten. Anschließend war ein Essen aufgetischt worden, das duftete, als läge draußen kniehoch Schnee und als würde das Meer in einem Wintersturm toben.

Christoph hatte sich bemüht, sich den Gänsebraten schmecken zu lassen, und von dem goldenen Rheinwein erhoffte er sich ein wenig Leichtigkeit. Vergessen können, einen Strich ziehen und ruhen lassen, was nicht mehr zu ändern ist. Einmal kein trauriger Onkel sein.

Der lustige Onkel trieb sein Spiel mit den Kindern. »Nein, nicht du, Hermann, nicht immer der mit dem vorlautesten Mundwerk. Du, Josephine, von dir will ich diesmal die Antwort hören. Also, wie lange waren wir wohl auf See?«

Im Licht der Kerzen sah Christoph, wie seine Tochter bis unter die weißblonden Haarwurzeln errötete. Sie war schüchtern wie ein Fluchttier, und weder Ermunterung noch Strenge halfen.

»Ich höre nichts, liebe Jo!«, flötete Fiete und legte sich die Hand ans Ohr. »Nichts und wieder nichts!« Seine älteren Söhne – Hermann und Sievert – lachten, und Felix, der Jüngste, blickte von der Schachtel mit Farbstiften, die er einem der Mädchen entwendet hatte, auf. Die arme Josephine wurde noch röter, und Christoph verspürte den brennenden Wunsch, ihr zu Hilfe zu eilen.

»Lass doch Jo in Frieden, Onkel Fiete!« Katharina, die im selben Alter, aber alles andere als schüchtern war, trat zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern. »Sechs Wochen wart ihr auf See, und unterwegs sind euch von der Hitze die Bierflaschen geplatzt, das erzählst du uns doch jedes Mal. Weshalb soll also Jo es dir sagen?«

Alles lachte, selbst die meisten Erwachsenen. »Nicht von schlechten Eltern, die Krabbe«, brummte Hille Hartmann. Von der Königinmutter war das ein beachtliches Kompliment.

Einzig Traude fand nichts zu lachen. »An Zucht fehlt’s dem Balg«, hörte Christoph sie hinter sich murmeln. »Mit Geschenken wird sie überhäuft wie ein Engelchen, dabei bekämen Prügel ihr weit besser.«

Christoph wollte für Kathi in die Bresche springen, versagte aber, wie er bei seiner Tochter versagt hatte. Stattdessen sprach Peter, ein Mann, der so ruhig war, dass man jedes Mal erschrak, wenn er die Stimme hob. »Meine Palomita ist ein Engelchen«, hielt er fest. »Sie ist das Licht in meinem Haus, und an Geschenken bekommt sie, was sie sich wünscht.«

»Glaubst du, du tust dem Kind damit Gutes?«, fauchte Traude.

»Aber ja doch«, erwiderte Peter. »Und du schimpfst mein Kind nie wieder ein Balg, oder du bist unter meinem Dach nicht mehr Gast.«

Mit einem Schlag wich die Farbe aus Traudes Gesicht. Jetzt bricht sie den Pakt, durchfuhr es Christoph. Den Pakt, der uns aneinanderschmiedet wie mit Ketten – und was geschieht mit uns, wenn sie zerreißen?

»Du musst wissen, was du tust.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Zischen. »Aber bürde nicht eines Tages uns die Folgen auf, wenn aus dem Kind geworden ist, was in ihm gärt.«

Ein paar Augenblicke lang herrschte so völliges Schweigen, dass Christoph glaubte, ein jeder müsse das Hämmern seines Herzens hören. Dann erhob sich ein wenig schwankend Fiete vom Stuhl. »Nennt ihr das Weihnacht?«, fragte er. »Herumhocken und über Albernheiten streiten? Kommt, Kinder, besser der alte Onkel Fiete erzählt euch noch eine Geschichte.« Nie war Christoph der geschwätzige Vetter so lieb gewesen – zumindest bis er anhob, die Geschichte zu erzählen. »Passt auf, hier habt ihr eine, die euch das Gruseln lehrt. Gewiss hat doch jeder von euch schon einmal des Nachts das Geheul gehört, das hier durch die Gassen weht, und gewiss habt ihr euch gewundert, wer das wohl ist, der da umherzieht und so zum Steinerweichen heult. Vielleicht habt ihr ja eure Eltern gefragt, aber die sind zu sehr mit ihrem Gezänk beschäftigt, um euch Antwort zu geben. Also werde ich es euch sagen. La Llorona ist es, die nächtens um unsere Häuser streift, die weinende Frau, die um ihre verstorbenen Kindchen bittere Tränen vergießt und niemals Ruhe findet.«

La Llorona, die Verräterin aus Liebe. Dass sie um die Häuser ihrer Siedlung strich und bitterlich weinte, hatte Christoph tatsächlich nie verwundert. So wenig, wie ihn die Taube wunderte, die damals gegen ihr Fenster geflattert war und Marthe einen Todesschrecken versetzt hatte.

»Jetzt reicht es.« Mit einem Satz sprang Marthe auf. In ihrem dunklen Kleid, die Hände in die Hüften gestemmt, sah sie aus wie das Inbild des Zorns. »Findest du das taktvoll? In meinem Haus von gestorbenen Kindchen zu reden, und das in der Heiligen Nacht?«

»Gemach, gemach! Von kleinen Jungen, die an Seuchen sterben, ist doch keine Rede.« Beschwichtigend hob Fiete die Hände und machte damit alles nur noch schlimmer. Marthes kleiner Sohn Hannes, der mit kaum drei Monaten gestorben war, wurde niemals erwähnt. Marthe wollte es so, und die Übrigen respektierten ihren Wunsch. Lasst ihr doch endlich Frieden, dachte Christoph, der den Blick nicht vom erstarrten Gesicht seiner Schwester wenden konnte. Hatte Marthe nicht genug gelitten? Wieder fiel ihm der Abend mit der Taube ein. So vor Entsetzen starr hatte sie auch damals ausgesehen. Es war, als wäre der Schrecken jener Augenblicke niemals ganz gewichen. Marthe hatte es schwerer als sie alle, obwohl sie keine Sorge um Geld kannte. Nach Hannes’ Tod war ihr kein Kind mehr geschenkt worden, und um Katharina, ihren Augapfel, lebte sie in ständiger Furcht.